Das Mädchen an der Grenze - Thomas Sautner - E-Book

Das Mädchen an der Grenze E-Book

Thomas Sautner

4,8

Beschreibung

Malina, die mit ihrer Familie in einem alten Zollhaus an der Grenze lebt, nimmt das Leben wahr, wie niemand sonst es zu erkennen vermag – und wird deshalb für verrückt gehalten. Sie kippt in eine Welt, in der die gängigen Wahrheiten keinen Halt mehr bieten. Ist das Leben nur ein Traum, eine Illusion? Oder im Gegenteil: mehr, als wir je zu denken wagten? Thomas Sautners Roman öffnet den Blick auf ein Leben, wie es zuvor nicht gedacht wurde. Was ist Wahrheit? Wohin führt Verstand? Und wie weit reicht Liebe? Ein Roman wie ein Leben ohne Sicherheitsnetz: hochriskant, schwindel­erregend und betörend schön.

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THOMAS SAUTNER

Das Mädchen an der Grenze

Copyright © 2017 Picus Verlag Ges.m.b.H., WienAlle Rechte vorbehaltenGrafische Gestaltung: Dorothea Löcker, WienUmschlagabbildung: © plainpicture/Mohamad ItaniISBN 978-3-7117-2047-4eISBN 978-3-7117-5338-0

Informationen über das aktuelle Programmdes Picus Verlags und Veranstaltungen unterwww.picus.at

Thomas Sautner wurde 1970 in Gmünd geboren. Als Journalist führten ihn ausgedehnte Reisen in die USA, nach Russland, Japan, Afrika und Südostasien. Heute lebt er als Autor in seiner Heimat, dem nördlichen Waldviertel, sowie in Wien. Neben zahlreichen Essays und Erzählungen erschienen im Picus Verlag seine Romane »Fuchserde«, »Milchblume« und zuletzt »Die Älteste« sowie das Buch »Waldviertel steinweich« und, gemeinsam mit Thomas Kriebaum, das Kinderbuch »Rabenduft« (2016).

www.thomas-sautner.at

THOMAS SAUTNER

Das Mädchen an der Grenze

ROMAN

PICUS VERLAG WIEN

Mir träumte letzte NachtIch stand vor einer unbekannten Grenze. War am Beginn eines Buches angelangt. Seine ersten Seiten öffneten sich lebensgroß vor mir, mächtige Lettern aber warnten: Keinen Schritt weiter! Ich achtete nicht darauf, schritt einfach voran, schritt ins Buch. Welch Leichtfertigkeit, welch verstörender Fehler. Welch Leben!

Inhalt

ERSTER TEIL Die Grenze

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

ZWEITER TEIL Jenseits der Grenze

DRITTER TEIL Zenons Zelt

VIERTER TEIL Malinas Buch

Dank

ERSTER TEIL

Die Grenze

– 1 –

Als Kind bemerkte ich, dass die Dinge nur existierten, wenn ich an sie glaubte. Es geschah, dass ein Apfel, eine Puppe, manchmal ein ganzes Zimmer, eine ganze Landschaft vor meinen Augen zu flimmern und zu zittern begann. In solchen Momenten befand sich die Welt zwischen den Möglichkeiten, zwischen Sein und Nichtsein. Ich musste nur hinsehen und sie als jene Täuschung wahrnehmen, die sie im Grunde war, dann verschwand sie ganz.

Die Sonne half mir. Ihre Strahlen griffen wie glitzernde Finger nach den Dingen. Sie berührten mein Wasserglas auf dem Frühstückstisch und schon begann es zu flirren und zu schwingen. Form und Farbe … zerwackelten. Sie verblassten oder verschwanden nicht einfach, sie zerwackelten. Aus schimmernden Plättchen bestand das Wasserglas dann. Nach und nach zerfiel es in immer kleinere Plättchen und schließlich ging es ganz schnell, die Plättchen teilten und teilten sich, und: verschwunden waren die Dinge. Das Glas Wasser vor meiner Nase. Weg.

»Wieso trinkst du nichts?«, fragte Mutter. Sie griff ins Leere, was sie nicht zu bemerken schien, schob auf der Tischplatte ihre hohle Hand zu mir. »Du sollst mehr trinken, das weißt du doch. Trink dein Wasser.«

»Hörst du deine Mutter nicht?«, fragte Vater streng. »Du sollst dein Wasser trinken.«

Ich starrte ins Leere.

»Verdammt, bist du taub oder willst du uns ärgern? Trink dein Wasser!«

Ich fühlte, wie die Angst mich starr machte und blickte in Vaters Gesicht. Warum war er nur so zornig wegen nichts? Ich wollte ihm helfen, mir helfen, auch Mutter, und meinen Schwestern, die ihre Köpfe einzogen. Ich griff dorthin, wo meiner Erinnerung nach Mutters Hand gewesen war.

»Ist das Mädel blind?!«, schrie Vater, fuhr über den Tisch in meine Richtung und dann sah ich, und zwar so, als würde die Zeit gebremst, seine aufgerissenen Augen, seine hervortretenden Adern, seine behaarte Hand, wie sie langsam, ganz langsam auf mich zukam und vor mir niederging. In Vaters Hand bekam das Glas Wasser wieder seine Form. Er knallte es so heftig vor mich hin, dass die Hälfte des Inhalts auf die Tischplatte schwappte und von dort auf meine schöne rote Strumpfhose rann, die ich zum Geburtstag bekommen hatte. Ich erschrak vor der Macht der Dinge, der Geschwindigkeit der Zeit. Ich trank.

Wenn ich alleine war und niemand etwas herbeidachte, blieben die Dinge verschwunden.

In meinem Zimmer etwa. Ich saß auf dem Bett und schloss für eine Weile die Augen. Dann öffnete ich sie. Und schloss sie wieder. Ich weiß nicht mehr, weshalb ich es tat, womöglich verglich ich meine äußeren mit meinen inneren Bildern.

Etwas Wind kam auf. Wenn ihm danach war, griff er durch die weit geöffneten Flügelfenster bis an mein Gesicht, meine Haare und ließ, obwohl es gar nicht kalt war, eine Gänsehaut auf meinen Armen entstehen. Der Wind spielte auch mit den Gardinen und der schimmernden Krähenfeder, die ich mit einem violetten Faden an die Vorhangstange gebunden hatte. Lange saß ich reglos und stumm, mit untergeschlagenen Beinen.

Im Zimmer wurde es allmählich klar. Schräg hereingleitende Sonnenstrahlen begannen, einen Teil der gemusterten Tapete zu erhellen, das Regal über meinem Bett, die Giraffe darauf, mein lackiertes Holzmännchen Jakob, die Bilderbücher und die Schneekugel mit dem betenden Mädchen darin, das ich, die Kohlrabenschwarze, immer für seine unglaublich blonden Haare beneidet hatte.

Es begann mit Jakob. Ich war im Irgendwo gewesen, in Gedanken, und bemerkte im Augenwinkel, dass das Holzmännchen zu zerwackeln begonnen hatte. Als ich ganz hinsah, war es kaum noch zu erkennen – und weg. Ich wusste, was weiter geschehen würde, und blickte zur Giraffe, die auch zu flimmern begann, in Plättchen und immer kleiner werdende Plättchen zerfiel, bis sich ihr Bild aufgelöst hatte. Dasselbe geschah mit den Büchern, dem blonden Schneekugelmädchen, dem Holzregal, und nun lösten sich auch Flecken in der gemusterten Tapete direkt neben mir, und mit ihr zerflimmerte, zerwackelte die ganze Wand. Ich blickte ins Freie, konnte nun bis zum Wald sehen, auch ganz deutlich die Wiese erkennen und die Sandstraße, die zu unserem Haus führte. Mutter stand dort, sprach mit einem von Vaters Zollwachekollegen, ich bemerkte, dass es jener war, den Vater nicht mochte, und sah rasch weg, zurück in mein Zimmer, doch das gab es nicht mehr, es war schon zerwackelt. Nichts hielt meinen Blicken stand, überall verschwanden die Dinge, selbst der Wald rundum löste sich auf, bis weit zum Horizont flirrte, flackerte, zerfiel die Welt. Alles, was rund um mich blieb, war bis in die tiefsten Tiefen gestaffeltes, nachtschwarzes Nichts. Heute wundere ich mich darüber, wie ruhig ich es nahm. Mit einer gelassenen Neugier beobachtete ich die Auflösung der Welt. Nicht besorgt, nicht verunsichert oder gar ängstlich war mir zumute. Berührt war ich, ja, sonderbar berührt, wie eine Erwachsene, eine Großmutter, und nicht wie ein kleines Mädchen, über das Ende der Dinge. Unzweifelhaft schien mir, dass die Auslöschung echt war und nicht bloß meiner Fantasie entsprang, kein oberflächlicher Traum war es, keine Illusion. Die Illusion, das war der Zustand davor gewesen.

Ich schaute an mir nach unten, doch selbst mein Körper bestand nicht mehr. Mein Sehen ging nicht länger von meinen Augen aus, es schien höher, wie über mir zu sein und war nicht mehr von nur optischer Art, sondern zu einem auslotenden Gefühl, einem Wahrnehmen geworden. Zuschreibungen wie rechts oder links, klein oder groß hatten ihren Sinn verloren. Um mich nämlich war Dunkel, war Nichts. Meine einzige Überlegung lautete, ob ich darin gefangen war oder Teil davon. Ich schloss, so fühlte es sich an, meine Augen und ließ mich fallen, weil ich einverstanden war. Allem stimmte ich zu, allem was kommen mochte, und da wurde es so flammenhell weiß um mich, dass ich zu weinen begann vor Dankbarkeit. Nicht nur die Welt und die Dinge, auch das Dunkel und das Nichts waren Illusion gewesen.

Als ich erwachte, oder soll ich besser sagen: wieder einschlief – schwer zu entscheiden, von welcher Seite aus ich es benennen soll –, sah ich Vater auf mich blicken. Er wirkte aufgewühlter noch als sonst. Wie beiläufig merkte ich, dass er an mir rüttelte, und dann schlug er mir mit der Hand ins Gesicht.

»Was heißt, du hast mich nicht gesehen und nicht gehört?!« Er war außer sich, schrie mich an: »Mit offenen Augen, Malina, mit offenen Augen hast du mich angestarrt! Bist du verrückt, oder was soll das?« Vater zitterte. Wie leid er mir tat.

– 2 –

Das Haus, in dem wir wohnten, gehörte dem Staat. Es lag weit drinnen im Wald, nahe der Grenze. Am Arsch der Welt, wie Mutter zu Vater sagte, wenn sie dachte, wir hörten es nicht. In meiner Erinnerung war unser Haus eine Burg. Drei Stockwerke hatte es und darüber lag, hinter einer Eisentür, ein riesiger, auch tagsüber düsterer Dachboden, auf dem sich nebeneinander ein Jude und ein Nazi erhängt hatten, wie Lilli wusste, meine älteste Schwester.

Im Haus wohnten noch drei andere Familien von Zollwachebeamten, außerdem zwei alleinstehende Grenzer. Einer von ihnen war deutlich älter als Vater, ein dicker, gutmütiger, onkelhafter Glatzkopf, den fast alle Herr Major nannten, nur Vater sagte Horst. Der andere war jung, etwa so wie Mutter. Er hatte Haare wie aus Heu, ein Grinsen wie aus der Zahnpastawerbung und hieß Kolja, weshalb er Kosake gerufen wurde. Er war es, den Vater nicht leiden konnte. Lange blieb mir rätselhaft weshalb. Noch unverständlicher schien, wieso Vater den Major bat, für die Schicht durch den Wald, weit abseits vom Haus, ausgerechnet ihn zugeteilt zu bekommen. Lilli hatte die Vermutung, Vater bewache nicht nur die Grenze, er bewache auch den Kosaken. Und Mutter fand es lächerlich, dieses Wort gebrauchte sie, lächerlich, dass Vater den Kosaken nicht aus den Augen ließ.

Wir Kinder wuchsen auf wie die Rüben. Frei und wild. Ein einziges Gesetz bläuten uns die Erwachsenen ein: Alles dürft ihr machen, nur geht ja nicht über die Grenze!

Die Grenze. Sie musste der Scheitelpunkt von etwas geheimnisvoll Großem sein, womöglich verbarg sie eine alte, in Vergessenheit geratene Welt. Die Menschen schienen sicherheitshalber jede Berührung mit ihr zu meiden, nie ließ sich jemand von außerhalb bei uns blicken. Niemand aus den umliegenden Dörfern, niemand aus der Stadt. Wir schrieben das Jahr 1988, es war die Zeit des Kalten Krieges und keine hundert Meter von unseren Kinderzimmern entfernt lief jene Linie, von der es hieß, sie habe Bedeutung für die gesamte Welt: jene Grenze, die Demokratie und Diktatur säuberlich auseinanderhielt, Freiheit und Unterdrückung, den Westen und den Osten. 1989, das Jahr der Öffnung, war – obwohl so nah – undenkbar weit weg, niemand sah es kommen. Schon gar nicht wir, mitten im Wald.

Mutig genug für die Grenze waren nur unsere Väter und wir Kinder. Unsere Mütter blieben lieber im Haus, wagten sich nur bis in den Gemüsegarten und auf die große Wiese mit der Hollywoodschaukel und den Gartensesseln, den Wäscheleinen und dem Holzschuppen. Mitunter griff die Sorge der Mütter auf uns Kinder über. Dann markierte die Grenze auch für uns das Ende der Welt.

Die Grenze. Wir standen vor ihr, saßen vor ihr im Moos und begriffen sie nicht. »Achtung Staatsgrenze!«, stand auf rot geränderten Schildern. Und alle hundert Meter oder, wenn die Grenze Haken machte öfter, war ein Grenzstein im Waldboden vergraben. Davor verlief der ausgetretene Pfad, den unsere Väter tagein, tagaus abgingen, um die Linie in unseren Köpfen zu bewachen. Je länger sie es taten, desto mehr stellte sich heraus, dass ihre Arbeit sinnvoll war, denn zusehends begriffen wir die Grenze besser. Diesseits gab es Leben, jenseits nur den Schatten davon. Diesseits waren wir, jenseits regierte das Fremde.

Dabei sah der Wald drüben genauso aus wie bei uns. Keine Spur vom viel beschworenen elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun, keine Spur von Minenfeldern, Stolperdrähten und Wachtürmen. Gewiss, all das, die Väter wurden nicht müde, uns daran zu erinnern, verbarg sich Hunderte Meter hinter dem Wald. Und wir dürften uns keinesfalls täuschen lassen, gefährlich sei schon die Idylle unmittelbar hinter dem Grenzpfad. Trügerisch sei das Fremde.

Wir glaubten es. Und glaubten es doch nicht. Da drüben wuchsen, so weit wir sehen konnten, exakt die gleichen Heidelbeersträucher und Brombeeren, dasselbe Moos und dasselbe Wollgras. Die Fichten, Föhren und Buchen waren Abbilder der unseren. Und obwohl also alles ganz gleichartig schien, reizte uns nichts mehr, als die Grenze zumindest probeweise zu übertreten, da die Väter doch sagten, dass das Drüben ganz und gar anders war.

An jenem Tag, an dem wir die Grenze erstmals überschritten, zuerst nur einen Fußbreit, dann in einem ständigen Hin und Her uns immer weiter und weiter vorwagend, hatte ich offenbar zu wenig Wasser getrunken. Ich verlor das Bewusstsein, kippte wie leblos zu Boden und blutete aus der Nase. Die anderen bekamen es mit der Angst zu tun, ich habe Verständnis dafür, es schien ihnen wie ein Zeichen, eine Strafe, dass ich ausgerechnet zusammenbrach, als wir taten, was uns einzig verboten war. Während meine Schwestern und die anderen Kinder hektisch besprachen, was zu tun sei, kamen die beiden Gestalten aus dem Schattenreich, jenem Teil des Waldes, in dem das Nichts wohnte, die Illusion. Kreischend liefen alle davon, selbst Lilli, die Älteste, unsere Heldin. Ich indes lag hingestreckt auf dem Waldboden. Aus meiner Nase sickerte immer noch Blut. Ich spürte nicht, dass ich aufgehoben und davongetragen wurde.

Auf der Lichtung, abseits von unserem Haus, lagen eine Feuchtwiese und ein kleiner Teich. Ich war gerne an diesem Ort, er hatte etwas Fürsorgliches. Ich spürte eine sanfte Lebendigkeit von ihm ausgehen, sie umgab mich, bettete mich in Stille. Nach feuchtem Waldboden roch es hier, nach ledrigem Moos, frischem Harz.

Seit Vater mich einmal mitgenommen hatte, ging ich gerne alleine hin. Und beim Teich den langen Steg hinaus. Draußen dann, ganz am Ende, setzte ich mich, ließ die Beine nach unten baumeln und sah aufs Wasser. Vom Torf und den Baumrinden, die sich am Grund auflösten, war der Teich tiefdunkel. Seine Oberfläche aber spannte sich so spiegelglatt und lichthell, dass ich sie nur mit dem Zeh anzutupfen brauchte, um die hoch vorüberschwebenden Wolken zu berühren.

Ich mochte den Teich. Er zog an meinen Waden, als wollte er mich zu sich holen. Und ich mochte den Himmel, der mein Gesicht zu sich hob. Nur weil beide mich riefen, das Wasser und der Himmel, fiel ich nicht. Nicht nach unten und nicht nach oben.

Als Kind war ich gewiss, dass der Himmel, von dem doch der Regen kam, und der Spiegel des Teiches, der diesen Regen aufnahm, ein und dasselbe waren, ein einziges Wesen mit zwei einander zugewandten Gesichtern. Erstaunlich nur, dass aus der undurchdringlich dunklen Tiefe des Teiches eine so zarte, so strahlend helle Oberfläche wachsen konnte. Es schien mir stimmig, als ich später erfuhr, dass es sich mit dem Himmel ebenso verhielt. Der Himmel nämlich reichte nicht unendlich weit bis zu Gott und den Engeln. Sein lichtes Blau war nur ein zarter Schein, vergleichbar mit der hauchdünnen Oberfläche des Teiches. Dahinter lag, hier wie dort, das Dunkel.