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Der ehemalige Starfotograf Joseph Wasserstein und der Tänzer Hakim Elvedin wohnen Garten an Garten am Rande Wiens. Sie erhalten eines Tages Besuch von Julia, die erfahren hat, dass Joseph Wasserstein ihr leiblicher Vater sein könnte. Unter dem Vorwand, an einer Publikation über den Fotografen zu arbeiten, verbringt sie einen Sommer bei den skurrilen alten Männern, die ihr langsam zur Familie werden. Eines Abends aber ist alles nicht wie sonst und in Folge hält ein nie dagewesenes überirdisches Ereignis die ganze Welt wochenlang in Atem. Auch die drei stehen im Bann des Unbekannten und ahnen nach und nach, dass es im Universum mehr geben muss, als der Menschheit begreifbar ist. Thomas Sautners neuer Roman über das Altwerden und das Altsein, über ewig währende Kindheit und den absurd schönen Sinn des Lebens.
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Seitenzahl: 144
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Copyright © 2023 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
Umschlagabbildung:
© Ja’Crispy /iStockphoto
ISBN 978-3-7117-2132-7
eISBN 978-3-7117-5484-4
Informationen über das aktuelle Programm des Picus Verlags und Veranstaltungen unter
www.picus.at
THOMAS SAUTNER
ROMAN
PICUS VERLAG WIEN
ERSTER TEIL
Kapitel 0
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
ZWEITER TEIL
Kapitel 0
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
EPILOG
DANKSAGUNG
DER AUTOR
Die Erde stürzte um die Sonne, Dunkles ums Licht, als Joseph Wasserstein ein Gefühl von Endzeitlichkeit ergriff. Einst war er berühmt gewesen, einst Fotograf. Und was war er nun? Alt. Dreiundachtzig. Er saß im Garten seiner Wiener Villa und fluchte leise. Gerne hätte er laut, richtig laut geflucht.
Die Erde indes schoss mit Höllentempo vorwärts. Ein torkelndes Sechs-Trilliarden-Tonnen-Ei, das wie zum Zeitvertreib zentrifugal im Kreis gejagt wurde, an nichts als am Gravitationsfaden eines Sterns hängend. Ein ungeheuerlicher Zaubertrick war das, eine tollkühne Zirkusnummer Gottes. Zu lange vorgeführt freilich, um noch als Wunder zu gelten. Niemand verlangte jubelnd nach einer Zugabe.
»Es reicht«, sagte Joseph Wasserstein laut. »Es reicht, alter Mann.«
Sprach er zu sich? Oder pöbelte er gegen den Allmächtigen? »Ja, alter Mann, es reicht!«
Frühlingsschnee. Plötzlich kam er wie Theaterwatte vom Himmel.
»Trotzdem«, sagte Wasserstein. »Trotzdem reicht es.«
Er trug ein schwarzes Hemd wie immer. Das hatte er sich aus seiner fotografischen Zeit beibehalten, als er im Schwarz der Kleidung aus dem Licht verschwand.
Schneeflocken landeten auf seinen Hemdsärmeln. Welch schöne Unmöglichkeit, Schneeflocken im Juni; zwei, drei, vier sickerten ein. Fünf, sechs, sieben Schneeflocken landeten auch auf Joseph Wassersteins geäderten, faltengezeichneten Handrücken. Acht, neun, zehn. Und in seinem langen, nach hinten gestrichenen weißen Haar.
Hakim Elvedin schnippte mit den Fingern, wirbelte singend um sich selbst und wie selbstverständlich ging dabei kein Tröpfchen seines bis zum Goldrand gefüllten Mokkas verloren.
»Habibi, es schneit!«, rief er mit heller Stimme und aufgerissenen Augen, als wollte er seine drei Katzen anstecken mit der guten Laune. Ataraxia, die weiße, blinzelte; Aponia, die schwarze, zuckte im Schlaf mit dem Ohr; Eudämonia, die rote, sah kurz auf.
Hakim Elvedin lehrte freien orientalischen Tanz. In seine Kurse kamen zumeist Frauen und zumeist waren diese Frauen um die fünfzig und auf der Suche nach sich selbst wie alle Menschen. Hakim war sechsundsiebzig, aber er tanzte wie ein geschmeidiger Vierzigjähriger. Und im Kopf tanzte Hakim Elvedin nicht etwa wie ein noch jüngerer, im Kopf tanzte er wie jemand jenseits der Zeit.
»Was für ein Geschenk!«, rief Hakim. »Es schneit!«
Er blickte durch die hohe, aus verschiedenen alten Rahmen gezimmerte Fensterfront seines Häuschens, sah Joseph Wasserstein drüben im anderen Garten und winkte. Joseph aber stierte bloß grimmig vor sich hin und bekam nichts mit.
Hakim kam die Idee, sich selbst zu persiflieren – und kombinierte sein rhythmisches Winken zum griesgrämigen Nachbarn mit bauchtänzerischen Bewegungen. Beim dritten Hüftschwung stellte er fest, dass jemandem zu winken – führte es zu solch herrlicher Blödelei – gar keiner Reaktion bedurfte. Alles steckte in der Idee selbst. Was für eine Wunderbarherrlichkeit!, dachte Hakim Elvedin und seine braunen Augen schimmerten wie Bernstein bei Fackellicht.
»Servus, Nachbar!«, rief Hakim. »Danke, dass ich dir winken durfte! Du eignest dich außerordentlich gut, um dir zu winken. Hast du das gewusst? Dass du ein außergewöhnlich gut anzuwinkender Mensch bist?«
Joseph Wasserstein hatte wie so oft keine genaue Vorstellung, was Hakim Elvedin ihm sagen wollte. Das konnte nicht daran liegen, wie Hakim sprach, sondern musste daran liegen, wie Hakim dachte, vermutete Joseph Wasserstein. Sein Nachbar nämlich sprach perfektes österreichisches Deutsch und seine Muttersprache, das Arabische, brach sich bei Hakim nicht als Akzent Bahn, sondern floss als melodiöser, honigsüßer Singsang zutage, samt Wortkombinationen und Satzpirouetten, von denen Joseph Wasserstein nie zu sagen wusste, ob sie Hakim passierten oder ob er sie kunstvoll ersann.
Mit einer Decke unterm Arm spazierte Hakim durchs Gartentor, das die beiden Grundstücke verband: Hakims liebevoll mit Rosenbögen und Jasmin gestaltetes Gärtlein und Joseph Wassersteins grob vernachlässigten Villenpark, in dem das Gras unkrautumwuchert und kniehoch stand.
Hakim Elvedin, sechsundsiebzig, freudig federnden Schrittes, präsentierte Joseph Wasserstein, dreiundachtzig, mürrisch und stocksteif, die gefaltete Decke, als läge darauf die Königskrone.
»Es ist Juni«, knurrte Wasserstein. »Im Juni brauch ich keine Decke mehr.«
»Juni hin oder her. Es schneit, Joseph, schau doch nur, wie wunderherrlichbar es schneit!« Hakim breitete Joseph die Decke über Rücken und Schultern, tänzelte um den steinern Sitzenden, zupfte mit seinen schlanken Fingern an dieser und an jener Falte und überprüfte sein Werk aus wechselnden Perspektiven, sich hin und her und auf und ab wiegend wie ein Maître Coiffeur um seine Kundschaft.
»Mir wird ganz schwindelig, wenn du so herumturnst«, grummelte Joseph Wasserstein – was Hakim zu einer neuerlichen Umrundung motivierte.
Hakim Elvedin trug eine Pluderhose wie aus Tausendundeiner Nacht, dazu ein karamellfarbenes, rosa geblümtes Leibchen und darüber eine waldgrüne Joppe, als stammte er nicht aus Damaskus, sondern aus den Alpen. Um den Hals lag dem alten Tänzer ein Schaltuch, das er unter seinem langnasigen Gesicht zu einem Doppelknoten gebunden hatte. »Der Schal soll dir wohl was Künstlerisches geben«, hatte Joseph Wasserstein einmal gestichelt und Hakim pfiffig geantwortet: »Künstlerisch, genau! Und ich kann, weißt du, dahinter meinen ein ganz klein bisschen schon schrumpeligen Schildkrötenhals verschalen.«
Hakims Füße steckten – als wäre die übrige Kleidung nicht eindrucksvoll genug – in regenbogenfarbenen Wollsocken. Und die steckten bis zum Anschlag in Plastik-Flip-Flops. So besaß Hakim bei schnellem Hinsehen in jeder Sandale nur zwei absurde Wollzehen. Die Socken-Füßchen des Tänzers: die einer Kinder-Comic-Figur.
»Hakim, um Himmels willen, bitte hör mit dem Herumgehopse um mich auf. Du brauchst mich nicht so zu bemuttern. Außerdem tust du, als wäre ich ein alter Knacker.«
»Du bist ein alter Knacker, mein Lieber!«, flötete Hakim.
Joseph Wasserstein rollte mit den Augen.
Von den Wolken aus besehen, die in diesen Minuten über Wien zogen, wirkten die beiden alten Männer wie kuriose Wesen, die in einer sonderbaren Beziehung zueinander stehen mochten. Ihre Gärten, der im Okzident liegende Joseph Wassersteins und der Richtung Orient weisende Hakim Elvedins, waren vom Himmel aus besehen eins, der Zaun zwischen den Grundstücken nicht existent. Zentral und eindeutig hingegen der altehrwürdige Lindenbaum in der Mitte des einst ungetrennten, die gesamte Gegend einnehmenden Gartens. Diesem Baum schienen alle Himmelsrichtungen gleich lieb, harmonisch griffen seine Äste in die Weite. Der Umfang des Stammes mochte drei, vier doppelte Armlängen messen. Ohne es voneinander zu wissen, hatten sich Hakim und Joseph, als sie jünger gewesen waren, an ein und demselben Tag mit dem Rücken gegen diesen Stamm gelehnt – Hakim von der einen, Joseph von der anderen Seite kommend. Beide empfanden Dankbarkeit und ein Gefühl des Angekommenseins, als sie nach oben blickten ins magnetische Blau zwischen den Zweigen, ins austreibende Grün dieses würdevollen, damals schon betagten Baumes.
»Es ist fast elf«, sagte Joseph Wasserstein. »Frühschoppenzeit. Wenn du heute schon so unausstehlich aktiv sein musst, hol uns wenigstens zwei Flaschen Bier aus der Küche.«
»Wirklich? Jetzt schon Bier? Glaubst du, das tut uns gut?«
»Ich bin ein alter Knacker, hast du doch gerade festgestellt. Soll ich mit dem Bier warten, bis ich tot bin?«
»Na also«, sagte Joseph Wasserstein Minuten später.
»Prost«, sagte Hakim Elvedin.
»Prost«, gab Joseph Wasserstein zurück.
Die beiden alten Männer stießen die Bierflaschen aneinander. Nach ihrem Ritual an den Seiten der Flaschenhälse, zweimal schnell, einmal langsam. Klack-klack. Klack. Leise klang es durch ihre Gärten, leise über die Linde hinweg, und ein Fünkchen leiser noch über alle Himmel. Die Erde indes, samt ihnen darauf, drehte sich ungebremst mit Überschall.
Die Leute behaupteten, im Alter verlaufe das Leben schneller, Joseph Wasserstein aber wusste, dass das Schwachsinn war und Tatterer wie er sich täuschten. Bloß von der Schlappheit in Kopf und Gliedern rührte der Eindruck. Bloß weil sie selbst daherkamen wie die Schneckenpost, glaubten sie, dass das Leben rundum immer rascher ablief. Das war alles, verdammt aber auch!
Das Spannendste zuletzt waren noch seine Träume gewesen. Geträumt hatte Joseph sie in grobkörnigem Schwarz-Weiß – jenem Stil, in dem er während seiner besten Zeit fotografiert hatte, Aufnahmen in einem Spektrum von hellstem Tag bis dunkelster Nacht und dazwischen eine unerschöpfliche Vielfalt aus Grau. Wie oberflächlich Farbaufnahmen doch waren. Schwarz-Weiß-Fotografien hingegen führten das Sehen ins Essenzielle, offenbarten den Kern der Menschen und der Dinge. Und nun also träumte er in Schwarz-Weiß.
Die Frau in seinem Traum war sympathisch gewesen, entspannt und natürlich; Typ breitschultrige, sommersprossige Wassersportlerin. Sie hatte einen selbstsicheren, freundlichen Blick. Mit dieser Natürlichkeit kam sie auf ihn zu und befriedigte ihn mit der Hand. In Schwarz-Weiß.
Und was war nun das Ikonografische an diesem Bild, was die tiefere Bedeutung? Als sich Joseph Wassersteins Aufwühlung gelegt hatte, war die Nachricht zu erkennen. Nicht eigentlich um Sex ging es in diesem Traum. Sondern um Barmherzigkeit. Um letzte Gnade. Darum, nur noch darum.
»Hakim, wir kennen uns doch jetzt schon eine Zeit lang.«
»Vierzig Jahre, mein Freund. Vierzigmal Frühling, Sommer, Herbst und Winter.«
Joseph Wasserstein nickte träge.
»Weißt du was, Hakim?«, sagte er schließlich.
»Was denn, mein Alter?«
»Mich freut’s nicht mehr.«
»Was freut dich nicht mehr?«
»Das Leben.«
Hakim stemmte eine Hand in die Hüfte. »Bist du deppert? Das Leben freut dich nicht mehr? Und das sagst du ausgerechnet, wenn wir miteinander ein Bier trinken?«
»Ja, aber gleich trinken wir es nicht mehr. Dann ist das Schöne auch schon wieder vorbei für den Tag. Dann kommt nichts mehr.« Joseph Wasserstein blickte in seinen verwilderten Garten, als blickte er in eine verstörende Welt. »Hakim, seien wir uns ehrlich, ich hab da einfach nichts mehr zu suchen.«
»Wenn du nichts mehr zu suchen hast, kannst du trotzdem was finden. Ich zum Beispiel finde, du könntest deinen verschrumpelten Tattergreispopo heben und endlich wieder einmal fotografieren!«
Joseph Wasserstein schüttelte den Kopf. »Ich bring kein gutes Bild mehr zusammen.«
»Oder du machst es wie alle Pensionisten und ziehst dir oberflächlich lustige Serien rein, sentimentale Schnulzen, Softpornos.«
»Hab schon alles gesehen. Viel zu viel hab ich schon gesehen.«
»Oder! …« Hakim hob erfreut die Augenbrauen und setzte sein mitreißendstes Gesicht auf. »Oder du suchst dir eine Freundin!«
»Ich bin schon froh, wenn ich mit meiner Prostata halbwegs zurechtkomme und mir nicht in die Unterhose mach. Was soll ich da mit einer Frau?«
»Nicht für Sex, Joseph. Für« – Hakim Elvedin breitete die Arme aus – »für Liiiiiiebe!«
»Unsinn.«
»Ich kann für dich suchen. Eine Freundin, Joseph. Im Internet. Eine liebe. Ich kann das, Joseph. Ich mach das für dich!«
»Nein, such mir lieber die Nummer für den Notar raus, ich vermach dir meine Bude. Und davor noch die Nummer einer Sargfirma. Ich will einen ordentlichen Sarg.«
»Ich will deine Villa nicht. Viel zu groß. Da musst schon selbst drinnenbleiben. Und in einen kleinen, gemütlichen Sarg kommst du noch früh genug.«
In diesem Augenblick brach ein Sonnenstrahl durch die Wolkendecke. »Schau!«, jubelte Hakim. »Die Sonne kommt zu uns! Jetzt beginnt der Sommer, darauf wett ich mit dir um ein Bier. Gerade fiel noch Schnee und jetzt … der Sommer, Joseph! Bald schaust du meinen Mädels und mir wieder beim Tanzen zu, gut? Gut, Joseph?« Hakim vollführte eine Drehung, schwang die Arme komödiantisch zum Himmel, stellte sich in seinen wollbesockten Flip-Flops en pointe auf die Zehen, als imitierte er eine Ballerina und suchte während seiner Aufmunterungsnummer vergebens Joseph Wassersteins Augen, Joseph Wassersteins mit einem Mal tränenfeuchte Augen.
»Du machst das richtig, Hakim, mit deiner Kasperei und Tanzerei und so.« Joseph lächelte müde. »Genau so muss man mit dem Leben umgehen, Hakim, genau so wie du. Aber mir, weißt du, mir liegt das nicht. Ich sitz nur noch blöd herum, immer noch in Schwarz angezogen, als gäb’s ein Werk zu vollbringen, und dabei bring ich nicht einmal mehr den Willen auf, laut zu fluchen, wie es sich gehören würde, auf die ganze Scheiße.«
»Scheiße sagt man nicht«, entgegnete Hakim, bewegte rügend den Zeigefinger vor Josephs Gesicht. »Kreuzkümmelnocheinmal. Das darfst du sagen, Joseph. Versuchs einmal. Kreuzkümmelnocheinmal! Na komm, einmal nur! Ganz laut und wild! Kreuzkümmelnocheinmal!«
…
…
»Joseph … komm schon! Einmal wenigstens sag es! Kreuz!KümmelNoch!Ein!Mal!«
»Kreuzkümmelnocheinmal«, flüsterte Joseph.
Hakim besah ihn. »Kreuzkümmelnocheinmal, bist du ein schlechter Verflucher.«
»Flucher.«
»Was?«
»Flucher. Man sagt Flucher. Nicht Verflucher.«
»Flucher passt für dich nicht. Du bist ein schlechter Verflucher.«
»Kreuzkümmelnocheinmal!«, brummte Joseph Wasserstein.
»Na also«, sagte Hakim Elvedin.
Als er jung gewesen war – und jung waren in Joseph Wassersteins dreiundachtzigjährigen Augen alle Rotzlöffel bis fünfundsechzig –, war das Leben eine Kinderkarussellfahrt gewesen. Er selbst war impulsiv und laut und lässig gewesen, hatte die Dinge fest im Griff und die Zukunft exakt im Blick gehabt, kurzum: Er war beschenkt gewesen mit dem Zauber der Fehleinschätzung. Ach, es war herrlich gewesen! Er und seinesgleichen hatten die Welt regiert. Was für eine unbeschwerte Zeit!
Damals hatte er die wichtigsten und spannendsten Leute fotografiert, was sie in den Augen dritter noch wichtiger und noch spannender gemacht hatte und ihn, den Fotografen, zum Starfotografen – und damit selbst zum Star. Es war ein simpler Taschenspielertrick gewesen. Business, Showbusiness.
Freilich mochten darüber hinaus horizontweite Dinge existieren. Dinge, die größer waren als die eigene Pracht und Vorstellungskraft. Fernab des Lichtes der Berühmten, Reichen und Schönen war er ja auch tatsächlich über Menschen gestolpert, die ihm still imponierten; Menschen, die, ohne etwas zu tun, über allen Mächten zu stehen schienen: erhabene Alte.
Joseph Wasserstein glaubte damals, etwas zu sehen in ihren oft milchigen, oft geheimnisvoll funkelnden Augen. Diese Alten schienen weit hinauszublicken über unser Erdendasein. Es verlieh ihnen eine Aura der Weisheit und – so empfand es Joseph damals und so empfanden es die Betrachter seiner großformatigen Porträts – es verlieh ihnen eine Aura unnachahmlicher Gelassenheit.
Heute freilich wusste Joseph es besser, denn heute war er alt, wie sie es damals gewesen waren. Die Knacker, die auf seinen Fotos dieses geheimnisvoll Sphärische hatten, drückte garantiert nur ein Darmwind. Und das verklärte Leuchten ihrer Augen rührte daher, dass sie sich diebisch darauf freuten, gleich gewaltig einen fahren zu lassen. »Weisheit! Na klar! Auf dass der Geist mit Karacho himmelwärts aus uns fahre!«
Was war er nur für ein Häufchen Mensch. Sein Leben schien nur noch aus dem notdürftigen Zusammenhalten seines Körpers zu bestehen, aus Inkontinenz, Mattigkeit, Vergesslichkeit, aus permanenten Wehwehchen, unterbrochen von echten Schmerzen und der erbärmlichen Glorifizierung der seit Jahrmillionen vergangenen Jugend. Und dann auch noch diese Rührseligkeit! Zum aus der Haut Fahren! Schier alles konnte ihn rühren. Weil ihn alles an die zerbrechliche Schönheit des Lebens erinnerte. Die nichtigste Beobachtung trieb ihm Tränen in die Augen. Aber Hauptsache, er trug noch seine löwenprächtige Mähne! Als ob er noch immer der wilde Hund von damals wäre! Eine Glatze sollte er sich rasieren lassen wie diese Verrückten in den Irrenanstalten. Eine Stoppelglatze und dazu rund um die Uhr einen Anstaltspyjama tragen und Filzpantoffel. Oder Birkenstocksandalen, ja, noch besser krankenhausweiße Birkenstocksandalen, die wären noch beschissener, noch authentischer. Authentizität! Die hatte er doch stets großmäulig gefordert und für seine Arbeit beansprucht – als … Starfotograf! Was für ein Schwachsinn! Verdammte Kreuzkümmel-Scheiße!
Der sporadische Kontakt mit früheren Freunden und Bekannten machte die Sache nicht besser. Alle waren sie wie er: Jammerlappen. Erzählten von ihren Bypässen, Stents, Herzschrittmachern anstatt von Liebschaften, Cocktailabenden, Reisen. Parkinson und Oberschenkelhalsbruch statt Theater- und Literaturabende. Bluthochdruck, Schwindelanfälle und Reizdarm statt Kino, Tanz und Oper. Verflucht noch einmal! Allesamt waren sie wie schrottreife Autos, die nur noch infolge aufwendigster Services und Reparaturen notdürftig dahineierten anstatt im herrlichsten Fahrtwind neue Wege zu befahren, schöne Ziele zu erreichen. Ziel war nur noch die Schrottpresse.
Immerhin, zwei Gruppen von alten Bekannten und Freunden gab es ja doch, die Joseph Wasserstein schätzte. Die erste Gruppe, die, wenn schon nicht wöchentlich, so doch beinahe monatlich wuchs – und schließlich konnte er alles auch positiv sehen, wie sein Psychotherapeut ihm geraten hatte –, diese erste Gruppe bildeten die Toten. Die Toten respektierte Wasserstein zutiefst. Sie waren so würdig, so gelassen. Ganz gleich, ob sie nun im Himmel sein mochten oder Humus. Beides war schlicht, beides war okay. Positiver konnte man das doch gar nicht sehen. Augenscheinlich hatte sein Therapeut gute Arbeit geleistet, und das trotz nur einer einzigen, noch dazu abgebrochenen Sitzung.
Die zweite Gruppe, die Joseph Wasserstein mochte, wuchs kein bisschen und bestand aus einer einzigen Person. Diese Person hieß Hakim. Hakim Elvedin. Sein Freund und Nachbar. Wenn er an ihn dachte und an das, was Hakim hingebungsvollen Tanz nannte, also sein hüftschwingendes Herumgehopse, wurde Joseph – Kreuzkümmelnocheinmal! – sentimental zumute. Dachte er gar daran, dass Hakim vor ihm abdanken könnte, wurde es Joseph Wasserstein regelrecht schlecht.
Trost. Trost und Gnade. Seine Lieblingsworte sagen mehr über einen Menschen aus als alle ihn beschreibenden Worte. Gnade und Trost. Joseph dachte gerne diese Worte, dachte oft an die Gnade der Auslöschung im rechten Moment.
Da müsste doch nachzuhelfen sein. Er könnte sich vor einen Lkw werfen. Aber das gehörte sich nicht, was konnte der Lkw-Fahrer dafür? Das Gleiche galt für Zug, U-Bahn, Straßenbahn und sämtliche andere Verkehrsmittel. Eine Überdosis Medikamente? Zu unsicher. Von einer Brücke springen? Bevor er das Geländer mit seinen alten Knochen überwinden könnte, käme garantiert einer dieser verdammten Jogger und zerrte ihn zurück. Erschießen