Das Mädchen aus Herrnhut - Elisabeth Büchle - E-Book

Das Mädchen aus Herrnhut E-Book

Elisabeth Büchle

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Beschreibung

Der Historiker Daniel Ritter ist fasziniert von einer Holzfigur, die ein junges Mädchen mit Umhang darstellt. Denn diese Figur gibt einige Rätsel auf. Ihre Spur führt zurück bis ins Mittelalter und sie ist gesäumt von mysteriösen Todesfällen und seltsamen Verstrickungen. Was verbindet Luise, eine Frau, die im 18. Jahrhundert in der Herrnhuter Gemeinschaft lebte, mit der jungen, modernen Lehrerin Emma Fischer? Daniel, der schon bald auch von Emma fasziniert ist, macht sich gemeinsam mit ihr an die Nachforschungen. Doch dann geraten beide in große Gefahr ... Ein vielschichtiger Roman, der in das historische Herrnhut entführt.

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Seitenzahl: 628

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Über die Autorin

Elisabeth Büchle ist Mutter von fünf Kindern im Alter zwischen 5 und 16 Jahren. Die gelernte Bürokauffrau und examinierte Altenpflegerin ist seit ihrer Kindheit ein Bücherwurm und hat schon früh angefangen, selbst zu schreiben. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern im süddeutschen Raum.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

© 2016 Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614 Asslar,Die Bibelzitate wurden, sofern nicht anders angegeben,der folgenden Bibelübersetzung entnommen: Hoffnung für alle – Die Bibel, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1986, 1996, 2002 by International Bible Society, USA. Übersetzt und herausgegeben durch: Brunnen Verlag Basel, Schweiz 1. Taschenbuchauflage 2016ISBN 978-3-96122-008-3V001Umschlaggestaltung: Michael WenseritSatz: DTP-Verlagsservice Apel, Wietzewww.gerth.de

Für Michal

Bei den Schülern des Gymnasiums der Zinzendorfschulen in Königsfeld möchte ich mich entschuldigen, dass ich ihnen in diesem Roman – neben den Fremdsprachen, die sie ohnehin erlernen – auch noch das Fach Italienisch zugemutet habe! Bedanken möchte ich mich . . .. . . bei den Angestellten des Tagungs- und Erholungsheims der Ev. Brüder-Unität in Herrnhut für die freundliche Betreuung während meines Aufenthaltes dort im Februar 2009.. . . bei Ellie Kornelsen für deine wertvollen Tipps und Korrekturen beim Vorablesen des Manuskripts. . . . bei Mirjam Kocherscheidt für deine unermüdliche und wertvolleArbeit beim Lektorieren. Deine Geduld hätte ich gerne!. . . bei Deborah Marzusch dafür, dass ich dein wunderschönes Gedicht verwenden darf (das übrigens im Alter von 15 Jahren verfasst wurde),und ganz besonders bei meinem Mann, Christoph. Das, was du für mich bist, lässt sich gar nicht in Worte fassen!

Einführung

Geschichtlicher Ursprung der Herrnhuter Gemeine (Moravian Church, Brüder-Unität):

Jan Hus, der im Jahr 1415 aufgrund seiner Kritik an den Missständen in der damaligen katholischen Kirche als Ketzer verbrannt wurde, gilt als der Vater der Böhmischen Brüder, einer vorreformatorischen Gemeinschaft. Trotz grausamer Verfolgungen wuchs die Gemeinschaft der Mährisch-Böhmischen Brüder in den Jahren nach 1457 zu einer bedeutenden Kirche heran. Ihre theologischen Lehren stimmten größtenteils mit denen des deutschen Reformators Martin Luther überein, sodass sehr bald Verbindungen aufgenommen wurden.

Mitte des 16. Jahrhunderts wanderten viele Mitglieder der Böhmischen Brüder nach Polen aus, da sie massiven Anfeindungen durch die habsburgische Herrschaft ausgesetzt waren. Den endgültigen Untergang dieser Glaubensgemeinschaft besiegelte der Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges. Allerdings überlebte eine kleine Anzahl von Familien unter schwierigsten Bedingungen im Untergrund.

Im Frühjahr 1722 kam, nach einer gefährlichen Reise über das unwegsame Grenzgebirge, eine Gruppe deutschsprachiger Nachkommen der Böhmischen Brüder in die sächsische Oberlausitz. Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf sicherte den Flüchtlingen eine Aufnahme auf seinen Ländereien zu. Am 17. Juni 1722 fällte Christian David den ersten Baum in einem bewaldeten Stück Land nahe der Landstraße Löbau-Zittau, um mit dem Aufbau der Ortschaft Herrnhut zu beginnen, die vielen Glaubensflüchtlingen Zuflucht gewähren sollte.

Heute:

Weltweit gibt es die Moravian Church (Mährische Kirche) in 30 Ländern. Ihr heutiger Hauptsitz ist nach wie vor Herrnhut in der Oberlausitz, Sachsen, sowie das württembergische Bad Boll. Mitteleuropäische Gemeinden finden sich hauptsächlich in Mittel- und Westdeutschland, zwei in Süddeutschland, vier in der Schweiz und einige in den Niederlanden. Die gut erhaltene Siedlung von Christianfeld in Dänemark gehört zum Weltkulturerbe. Die Hauptorte in Nordamerika sind Bethlehem (Pennsylvania) und Winston-Salem (North Carolina).

Historische Personen:

Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf:

26.05.1700, Dresden–09.05.1760, Herrnhut

Erfinder der Herrnhuter Losungen, dem heimlichen Bestseller im deutschen Buchhandel. Allein von der deutschsprachigen Ausgabe werden pro Jahr über eine Million Exemplare verkauft, weltweit erscheinen die Losungen in etwa 50 Sprachen.

Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf war der Begründer der Herrnhuter Missionshilfe, die heute noch in 17 Ländern auf vier Kontinenten tätig ist. Außerdem war er Autor vieler Gedichte und Lieder, die heute noch in vielen Gesangbüchern zu finden sind. Sein wohl bekanntester Choral ist „Herz und Herz vereint zusammen“.

Graf von Zinzendorf war seiner damaligen Zeit in vielem weit voraus.

Die Missionare, die ab 1732 aus „seinem“ Herrnhut ausgesandt wurden, brachten das Evangelium in die fernen Länder, indem sie, anders als damals üblich, mit den Menschen dort (Sklaven auf der Jungferninsel St. Thomas, Westindien) gemeinsam lebten und arbeiteten und zuerst einmal ihre Sprache erlernten.

Frauen, die im 18. Jahrhundert viel mehr wie Eigentum denn als eigenständige Persönlichkeiten behandelt wurden, betraute er in seiner Gemeinschaft mit den gleichen Aufgaben und Verantwortungen wie die Männer, da er ihnen ebenso viel zutraute wie dem männlichen Geschlecht und sie dementsprechend förderte.

Zinzendorf schuf in Herrnhut einen Ort, in dem trotz aller Unterschiede der verschiedensten Glaubensrichtungen eine einzigartige, durch Liebe geprägte Gemeinschaft wachsen konnte.

Allerdings führten gerade seine für diese Zeit ungewöhnlichen Ansichten und sein Tun zu heftigem Misstrauen und Kritik vonseiten des Adels wie auch von den Vertretern der Kirche. Eine Folge davon war, dass der Graf mehrmals aus dem Staat Sachsen ausgewiesen wurde.

Seine häufigen Reisen führten den Grafen unter anderem auch nach Dänemark, Holland, England, auf die Insel St. Thomas und nach Nordamerika.

Erdmuthe Dorothea Gräfin von Zinzendorf:

07.11.1700, Ebersdorf–19.06.1756, Herrnhut

Die Ehefrau des Grafen von Zinzendorf hatte die wirtschaftliche Führung der Siedlung Herrnhut und weiterer, nachfolgender Niederlassungen inne. Dadurch hielt sie ihrem Ehemann den Rücken frei, damit dieser seinen Ideen und seiner Leidenschaft für die Gemeinde und die Mission nachgehen konnte. Gerade während seiner Verbannungen und seiner Reisen war sie unersetzlich. Sie galt als Hausmutter Herrnhuts und dichtete ebenfalls eine Reihe von Kirchenliedern.

Anna Nitschmann:

24.11.1715, Kunewald (heute: Okres Nový Jicín, Tschechien)– 21.05.1760, Herrnhut

Anna Nitschmanns Familie gehörte zu den Böhmischen Brüdern, die in ihrer Heimat ihres Glaubens wegen verfolgt wurden. Ihr Vater und ihr älterer Bruder wurden eingesperrt, konnten jedoch nach Herrnhut fliehen, wo sie ab 1725 lebten.

Im Alter von 14 Jahren wurde Anna Nitschmann per Los zur Ältesten der unverheirateten jungen Frauen gewählt. Ihre Gruppe wuchs schnell an und stellte viele Missionarinnen. Anna Nitschmann selbst ging 1740 nach Amerika und gründete dort die Gemeinschaften von Bethlehem und Nazareth (Pennsylvania), kehrte später aber wieder nach Herrnhut zurück.

Nach dem Tod der Gräfin von Zinzendorf heiratete sie am 27.06.1757 Graf Nikolaus von Zinzendorf. Sie verfasste mehrere Liedtexte für die Herrnhuter Brüdergemeine.

1213

* * *

St. Pietro, Sardinien

Prolog

Die Tränen auf seinen Wangen funkelten im blassblauen Licht der Abenddämmerung, doch während die Wellen des Mittelmeeres laut donnernd auf die zerklüfteten Felsen schlugen und ein paar Möwen kreischend am Himmel die letzten Runden vor Einbruch der Dunkelheit zogen, lösten sich seine geballten Hände.

Er war zu spät gekommen.

Nikodemus erhob sich langsam, nachdem er eine ganze Weile oberhalb der Klippen gesessen hatte, und wandte sich dem Landesinneren der Insel zu. Weit breitete sich das grüne Hügelland vor ihm aus und es schien an seiner höchsten Stelle mit dem dunkler werdenden Himmel in Berührung zu stehen.

Obwohl er noch keine zwanzig Jahre zählte, waren seine Schultern gebeugt von Trauer, und um seinen Mund hatten sich harte Züge in sein Gesicht eingegraben. Er griff nach der Ledermappe, die neben ihm am Boden lag, und hob sie auf.

Müde trat er den langen, beschwerlichen Rückweg in die Bucht an, die ihrem kleinen Segelschiff Zugang zu der Insel gewährt hatte.

Als er den Sandstrand erreichte, war das vorher azurblaue Wasser nur noch eine einzige schwarze Fläche, die brodelnd über dem Strand auslief. Wie ähnlich war sie seinem Inneren!

Die Fischer, die ihn auf die Insel gebracht hatten, sprangen von ihrem einsamen kleinen Feuer auf und verbeugten sich ungelenk. Nikodemus winkte ihnen, dass sie sich wieder setzen sollten.

Er legte keinen Wert auf derlei Ehrerbietung. Zwar war er in einem der vielen deutschsprachigen Adelshäuser aufgewachsen, doch seine Entscheidung für ein einfaches Mädchen aus dem Volk hatte ihn in eine Art Verbannung geführt; da zählte auch ein Titel nicht mehr.

Der junge Mann setzte sich zwischen die einfachen Fischer an das Feuer und zog die Dokumente aus der Ledertasche, die diese vor Wind und Wetter geschützt hatte. Mehrere Seiten, dicht beschrieben und mit Zeichen und Zeichnungen versehen, raschelten in der frischen Meeresbrise auf, während Nikodemus aus seiner Tasche eine Schreibfeder und das Tintenfässchen zog. Mit aufgestützten Füßen, damit seine Oberschenkel dem Pergament Halt gaben, begann er zu schreiben.

Seiner Feder entwuchs als Erstes das Tau, ein t-förmiger griechischer Buchstabe. Franz von Assisi, der gelegentlich als radikal verschriene Glaubensmann, verwendete es als persönliches Symbol und trug es auf seinen Kleidungsstücken. Nikodemus war diesem Zeichen in den letzten Wochen seiner Reise mehrmals begegnet. Ein Kreuz, in Form eines Tau, das Zeichen des Heiligtums und der wundersamen Kraft.

Er war diesem Zeichen von Cöln über die Alpen bis nach Piacenza gefolgt, hatte dort aber die Spur verloren. Gerüchte erreichten ihn aus Cremona, aus Genua, aus Brindisi und auch aus Marseille, und er war an alle diese Orte geeilt, obwohl die Strapazen der Reise seiner Gesundheit heftig zugesetzt hatten. Doch es war vergebens gewesen.

Nikodemus hob den Kopf und blickte in die orange und blau zuckenden Flammen des prasselnden Feuers. Der Schmerz in seinem Inneren schien auch ihn zu verbrennen – wie das Feuer das trockene Holz.

Kräftig kniff er die Augen zusammen und betete, ehe er die Feder erneut in die schwarze Tinte tunkte und als eine der letzten Eintragungen schrieb: Isola di San Pietro.

Teil 1

* * *

1731/1732

Liebender Vater Ich halte nicht an, drehe mich nicht um, will nur weg von dir, Gott. Enttäuschung, Wut, Verzweiflung und Selbstversagen drängen mich weg, ziehen mich in die Dunkelheit, fort von dir. Immer düsterer wird es um mich, doch ich halte nicht an. Dort vorne ist der Abgrund, es ist zu spät. Doch was ist das? Von weit her höre ich eine Stimme . . . Mein geliebtes Kind, komm her zu mir! Ich werde dir Trost schenken für deine Enttäuschung. Ich werde dir Liebe schenken für deine Wut. Ich gebe dir Hoffnung für deine Verzweiflung und unerschöpfliche Vergebung. Ich halte an, drehe mich um und sehe dich in weiter Ferne. Soll ich es wagen? Da streckst du deine Arme aus und ich zögere nicht länger. Ich laufe zurück zu dir, in deine liebenden Arme. Hier finde ich Geborgenheit und Liebe. Warum bin ich fortgelaufen? Ich weiß es nicht mehr, denn auch du hast es schon längst vergessen.

Deborah Marzusch

Kapitel 1

Dunkle Wasserlachen auf dem Boden deuteten darauf hin, dass jemand von draußen in die Eingangshalle getreten war. Luise bemerkte sie einen Augenblick zu spät.

Sie rutschte aus und schlug hart auf dem Fußboden auf. Die stabile Holzkiste, die sie in den Händen gehalten hatte, entglitt ihrem Griff, schlitterte davon und krachte laut gegen ein paar weitere Kisten und Gepäckstücke, die im Eingangsbereich abgestellt worden waren.

Die junge Frau zog die Nase kraus, als sie mit ansehen musste, wie einige der aufgetürmten Gepäckstücke ins Wanken gerieten und polternd übereinanderstürzten. Ein Tintenfass fiel aus einer Tasche, schwere, in Leder gebundene Bücher und ein paar in Tücher gewickelte Päckchen folgten. Auch der Inhalt ihrer eigenen Kiste verteilte sich weitflächig auf dem Boden.

Eilige Schritte näherten sich aus einem der Flure. Luise stand schnell auf und versuchte hektisch, zumindest die persönlichen Gegenstände des Gastes, dessen Gepäck hier abgestellt worden war, zurück in die Koffer und Kisten zu legen.

„Luise!“, hörte sie einen erschrockenen Ausruf. Greta, ein anderes Dienstmädchen, war von dem Lärm angelockt worden. Luise atmete erst einmal erleichtert auf.

„Was ist dir denn schon wieder passiert?“, wurde sie von der Frau gefragt, ehe diese sich, ungeachtet der Nässe auf dem Boden, neben die verstörte Luise kniete.

„Ich bin ausgerutscht.“

„Hast du denn nicht gesehen, wie nass der Boden hier im Eingangsbereich ist?“

Luise, die noch immer dabei war, die verschiedenen Sachen in eine vornehme, mit Lederriemen eingefasste Reisekiste zu stapeln, schüttelte betroffen den Kopf.

Greta half ihr und sah dabei immer wieder den Flur entlang, aus dem sie selbst zuvor gekommen war.

Diese große Menge an Reisegepäck und die offensichtlich teuren Koffer und Kisten deuteten auf einen adeligen Gast der Franckeschen Anstalten* hin. Vielleicht war es jemand, der selbst einmal das Pädagogium durchlaufen hatte.

„Ist das deins?“, erkundigte sich Greta und hielt ein in Tücher eingepacktes Buch in die Höhe.

Luise warf einen kurzen Blick darauf und nickte zustimmend.

Greta räumte ein paar weitere Gegenstände in Luises Kiste und half ihr dann, die großen, kunstvoll gearbeiteten Bücher ordentlich in einem Koffer zu verstauen.

Noch ehe sie damit fertig waren, näherten sich Schritte dem Eingangsbereich. Luise hielt erschrocken die Luft an und ihre Hände arbeiteten noch schneller. Dabei entglitt ihr ein Buch, das mit einem dumpfen Schlag auf den Rand des Koffers fiel, wobei die Seiten mit leisem Rascheln aufblätterten, ehe das Buch zu Boden rutschte.

„Was ist hier los?“, donnerte eine tiefe, aufgebrachte Männerstimme.

„Vorsicht, der Boden ist nass!“, warnte Luise, woraufhin der Mann tatsächlich langsamer wurde. Als er die beiden knienden Frauen erreichte, baute er sich drohend über ihnen auf.

Luise griff nach dem Buch und drückte es an sich, während sie sich langsam aufrichtete. Eine Hitzewelle jagte durch ihren ganzen Körper.

„Was habt ihr an meinem Gepäck zu schaffen?“, herrschte der Mann die beiden Frauen an, die demütig die Köpfe gesenkt hielten.

Luise spürte eine heftige Bewegung neben sich, als der Herr sich mit seinem Dreispitz gegen die Kniehosen schlug, um seinem Ärger Luft zu machen. Das Buch fest an sich gepresst, damit es ja kein zweites Mal ihrem Griff entglitt, wandte sie den Kopf. Die Silberschnallen an den Schuhen, das elegant geschnittene dunkelblaue Justaucorps und das darunter hervorschauende Gilet mit den großen, kunstvoll verzierten Pattentaschen ließen keinen Zweifel daran, dass es sich hier um einen sehr reichen Herrn handelte. Luise wagte, ihren Blick zu heben, um den Mann anzusehen, doch sein noch junges, aber hartes Gesicht mit den buschigen, wütend zusammengezogenen Augenbrauen ließ die Angst in ihr noch anwachsen.

„Bitte entschuldigen Sie –“, murmelte sie, wurde von der herrischen Stimme jedoch sofort unterbrochen.

„Sprich lauter.“

„Ich bitte um Entschuldigung“, stammelte Luise und zwang sich, lauter zu reden, obwohl ihr dabei vor Furcht das Herz zu zerspringen schien. Eine schreckliche Furcht überfiel sie. Was würde geschehen, wenn der Mann sie des Diebstahls bezichtigen würde?

„Ich bin auf dem nassen Boden ausgeglitten und –“

„Baron?“ Eine weitere männliche Person machte sich bemerkbar.

Luise schloss gequält die Augen. Es handelte sich um Gotthilf August Francke, der seit dem Tod seines Vaters die Leitung der Franckeschen Anstalten übernommen hatte.

„Gibt es Schwierigkeiten?“

„Diese beiden haben sich an meinem Gepäck vergriffen.“

Entsetzt über diesen Vorwurf blickte Luise erst den Fremden, dann Gotthilf August Francke an, doch sie hatte gelernt zu schweigen. Vor allem in der Gegenwart von so ehrenwerten Herren – gleichgültig, welchen Rang oder Titel sie trugen.

Innerlich aufgewühlt beobachtete sie, wie Gotthilf Francke sie und Greta musterte und dabei die Stirn runzelte. Schließlich hielt er seinen missbilligenden Blick auf sie gerichtet, und sie wusste auch, weshalb. Erst vor drei Tagen war sie ihm negativ aufgefallen, da sie in der Gegenwart von Gästen ein Tablett mit Gläsern hatte fallen lassen. Noch heute spürte sie den Schmerz in der rechten Schulter, mit der sie gegen den Türrahmen gestoßen war, was das Unglück heraufbeschworen hatte.

„Dein Name?“, fragte er knapp.

„Luise“, erwiderte sie kaum hörbar.

„Und weiter?“

Sie zog die Schultern in die Höhe. Sie kannte ihren Familiennamen nicht. Vor sechzehn Jahren war sie als kleines Mädchen vor den Franckeschen Anstalten aufgefunden worden, und da sie allein gewesen war, hatte man sie aufgenommen und im Kinderheim der Anstalten aufwachsen lassen.

„Was macht ihr an dem Gepäck des Reichsfreiherrn?“

„Ich bin ausgeglitten und meine Kiste traf die Koffer. Dabei fielen ein paar der Gepäckstücke herunter und sprangen auf. Greta hat mir lediglich geholfen, alles aufzuräumen und einzupacken. Ich entschuldige mich vielmals für das Missgeschick.“ Bittend blickte sie zu dem Fremden.

Der ignorierte sie jedoch vollkommen und winkte mit einer Hand einen seiner Diener herbei, der vor ihr in die Hocke ging und ihr vorsichtig das Buch aus den Händen zog.

„Tritt zurück“, flüsterte der Diener ihr zu. Sorgsam legte er das Buch in den Koffer und schob ihr mit dem Fuß ihre kleine Holzkiste zu. Schnell ergriff sie diese, stand auf und wäre beinahe, als sie von den Koffern weggehen wollte, gegen Greta gestoßen.

„Pass auf!“, zischte die Frau erschrocken. „Was machst du hier überhaupt mit der Kiste?“

„In unserem Zimmer ist so wenig Platz. Hier sind alle Dinge drin, die ich nicht so dringend brauche. Ich wollte sie auf dem Dachboden bei den Reisekoffern unterbringen“, erklärte Luise flüsternd, damit die Männer sie nicht hörten, und wünschte sich, schnell gehen zu können. Aber während der junge Mann das Einpacken seiner Güter beaufsichtigte, trat Francke zu ihr und Greta.

„Euch ist schon bewusst, wonach das hier aussieht?“

„Wir wollten nichts Böses. Ich bin auf den Wasserlachen ausgerutscht. Und Greta hat mir nur geholfen“, verteidigte Luise sich und ihre freundliche Helferin schnell.

Der Leiter der Anstalten bedeutete Greta mit einer Handbewegung, dass sie gehen könne, was diese erleichtert tat.

Luise blieb mit gesenktem Kopf stehen und wartete auf das, was der Mann ihr zu sagen hatte.

„Das ist nicht das erste Mal, dass du unangenehm auffällst, Luisa“, begann er seine Strafpredigt.

Luise biss sich auf die Lippen, um ihn nicht zu verbessern. Keinesfalls wollte sie den Mann noch mehr gegen sich aufbringen. Dass er ihren Namen nicht behalten konnte, war im Augenblick wirklich nicht wichtig.

Herr Francke verschränkte die Hände hinter seinem Rücken in den Falten des Herrenrocks und ging mit bedächtigen Schritten auf und ab. „Was soll ich jetzt mit dir tun?“

Luise öffnete den Mund, doch der Mann gebot ihr mit einer kleinen Handbewegung zu schweigen.

„Du hast hier in Halle eine christliche Erziehung genossen. Deshalb bin ich mir sicher, dass du soeben die Wahrheit über das unglückliche Missgeschick erzählt hast. Dennoch kann es nicht so weitergehen, dass dir in Gegenwart unserer Gäste ständig solche Dinge passieren. Sollte es erneut einen Vorfall dieser oder ähnlicher Art geben, müssen wir ein anderes Aufgabenfeld für dich finden. Etwas abseits von den Gästen, den Lehrkörpern und vor allem von den adeligen Schülern.“

Luise nickte betroffen. Sie war zwei Jahre lang als Waschfrau tätig gewesen und hatte anschließend in der Küche gearbeitet, ehe sie einer Hauswirtschafterin unterstellt worden war. Sie hatte Freude an ihren momentanen Aufgaben. Sie mochte es, die Zimmer zu säubern und herzurichten, die Speisen aufzutragen und die Menschen zu betreuen, denen sie zugewiesen war. Keinesfalls wollte sie in die heiße Küche zurück, wo der unfreundliche Küchenchef sie herumkommandiert hatte, oder gar wieder zu den Waschfrauen, die Tag für Tag in einem anderen Haushalt die Wäsche der vornehmen Leute zu reinigen hatten. Die harte Arbeit hatte ihr nichts ausgemacht, doch sie hatte die Isolation gehasst, ebenso wie das mürrische Schweigen der anderen Waschfrauen und die Schwierigkeit, Beziehungen aufzubauen, die mit den ständig wechselnden Einsatzorten einherging.

„Ich werde versuchen, Ihnen keinen Kummer mehr zu bereiten“, flüsterte sie.

„Das ist alles? Dieses Mädchen vergreift sich an meinem Eigentum und soll mit einer Ermahnung davonkommen?“ Die Stimme des Gastes hallte laut durch den hohen Eingangsbereich und die Wände schienen seine Worte zurückzuwerfen.

Luise duckte sich ängstlich.

Gotthilf August Francke antwortete nicht; stattdessen drehte er sich abrupt um und bedeutete dem Besucher, ihm zu folgen. Während die beiden Männer den Flur entlangmarschierten, hörte Luise noch, wie Herr Francke sagte: „Baron von Freienstein, der Vorfall ist mir sehr unangenehm. Ich möchte mich für die Tollpatschigkeit des Mädchens bei Ihnen entschuldigen. Da aber nichts beschädigt wurde, denke ich . . .“ Die weiteren Worte verhallten im Flur.

Unschlüssig stand Luise da, hielt die Kiste krampfhaft gegen ihren Körper gedrückt und sah den beiden Männern nach, bis sie aus ihrem Blickwinkel verschwanden.

Im Haus war es so still, als lauschten alle ebenso angespannt wie sie auf das Gespräch. Nur die Geräusche, die der bedächtig aufräumende Diener bei seiner Arbeit machte, waren zu hören. Umso mehr erschrak sie, als dieser sie plötzlich ansprach: „Pack am besten schon mal deine Sachen, Mädchen.“

„Wie? Aber der Herr Francke spricht doch mit . . .“

„Das wird wenig Sinn haben. Der Reichsfreiherr lässt Vergehen nicht einfach auf sich beruhen. Und da die Franckeschen Anstalten sowohl auf sein Wohlwollen als auch . . .“

Luise hörte nicht länger zu. Mit gesenktem Kopf wandte sie sich ab und ging davon. Erneut wurde sie von einer überwältigenden Welle von Furcht übermannt, die ihr jegliche Kraft zu rauben schien. Plötzlich wurde ihr die Holzkiste in ihren Armen viel zu schwer. Sie blieb stehen und stellte sie auf einem der tiefen Fenstersimse, die den Flur säumten, ab. Nach einer kleinen Pause straffte sie ihre Schultern und nahm ihre Last wieder auf, wobei ihr eine einzelne Träne über die Wange kullerte.

Sie würde die Franckeschen Anstalten verlassen müssen. Doch wohin sollte sie gehen? Sie lebte nun schon seit 16 Jahren hier in Halle. Ob sie irgendwo noch Familie hatte, die sie unter Umständen aufnehmen würde, wusste sie nicht, und auf ein wohlwollendes Empfehlungsschreiben, das ihr vielleicht die Tür zu einer Anstellung in einem anderen Haushalt öffnen würde, konnte sie wahrscheinlich nicht hoffen.

* * *

„Wenn nur jemand hier wäre, der für dich sprechen könnte, Luise, sich für dich einsetzen würde“, jammerte die kleine Nele und umarmte sie. Luise drückte das jüngere Mädchen noch einmal an sich und trat dann zurück. Sie warf einen letzten Blick in ihr kleines Zimmer, das sie mit vier weiteren Bediensteten geteilt hatte, bevor sie diesem den Rücken zukehrte. Greta folgte ihr bis an die kleine, unscheinbare Nebentür, die jetzt im Winter fest verriegelt war.

„Wo wirst du hingehen?“, fragte Greta sie leise.

Luise zuckte hilflos mit den Schultern, wodurch ihr Umhang leicht verrutschte. Schnell zog sie ihn wieder enger um ihre schmalen Schultern, denn durch die Ritzen der einfachen Holztür zog der kalte Wind herein und brachte sie zum Frösteln. Wenn sie hier drin schon so fror, wie kalt würde es ihr dann erst draußen sein?

„Ich dachte, ich versuche es in Herrnhut“, erklärte sie ihrer Freundin.

„Du willst zu diesem Zinzendorf? Hier wird nicht sonderlich gut über diese Nachahmereinrichtung der Franckeschen Anstalten gesprochen, Luise“, wandte Greta erstaunt ein.

„Ich habe kein Empfehlungsschreiben bekommen, Greta. Kein Haushalt wird mich nehmen. Ich bin darauf angewiesen, dort unterzukommen, wo ich aus Nächstenliebe aufgenommen werde. Wo sollte ich also sonst hin?“

„Vielleicht hast du recht. Dort scheinen ja Leute aller Art aufgenommen zu werden. Aber bitte lass mich wissen, wenn du angekommen bist. Lass mir eine Nachricht zukommen, damit ich dir dein restliches Gepäck nachschicken kann.“

„Es ist nur die Kiste. Vielleicht sollte ich sie doch einfach hier –“

„Es ist schon gut, Luise. Du brauchst dich von diesen Dingen nicht zu trennen. Ich lasse sie dir gerne mit einer Postkutsche nachkommen. Das ist wenigstens etwas, das ich für dich noch tun kann.“

„Vielen Dank, Greta!“, seufzte Luise und umarmte die Freundin, bevor sie mit zitternder Hand die Tür öffnete.

Eisiger Wind schlug ihr entgegen. Ihr Umhang blähte sich auf, und auch die Haube auf ihrem Haar zerrte kräftig an den Bändern, mit denen sie diese unter ihrem Kinn befestigt hatte.

Luise wandte sich noch einmal zu Greta um, doch die Tür war bereits hinter ihr geschlossen worden. Betroffen schaute sie auf das raue, von Wind und Wetter nahezu schwarz gewordene Holz. Dies war nicht mehr ihr Zuhause. Sie musste tatsächlich gehen.

Langsam wandte sie sich wieder um und trat auf die unter ihren Stiefeln knirschenden Schottersteine hinaus, die einen schmalen Pfad durch das vom eisigen Wind starre Gras bildeten. Die kalte Luft brannte auf ihren Wangen, und so zog sie das Tuch, das sie sich um den Hals geschlungen hatte, bis über ihre Nase.

Als Luise aus dem Schutz der Häuser hervortrat, erfasste sie der Wind mit voller Wucht, und unwillkürlich schnappte sie nach Luft. Ihre Hände, die jetzt schon eiskalt waren, fest um ihre Reisetasche gekrallt und mit gesenktem Kopf, um ihr Gesicht nicht dem beißend kalten Wind aussetzen zu müssen, ging sie voran.

Warum nur kreiste ständig der Gedanke in ihrem Kopf herum, dass sie sich hätte wehren müssen? Weshalb fühlte sie sich so schlecht bei dem Gedanken, dass sie widerspruchslos das Urteil angenommen hatte, das dieser Reichsgraf und die Hausleitung beschlossen hatten? Vielleicht, weil sie bei diesen ersten Metern durch den eisigen Wintertag spürte, dass dieser Marsch ihr Todesurteil bedeuten könnte?

* Pädagogische Einrichtungen in Halle (Saale)

Kapitel 2

Luise zitterte vor Kälte. Ihre Schritte wurden immer kleiner. Längst schon hatte sie kein Gefühl mehr in ihren Händen, und immer wieder rang sie mit sich selbst, ob sie ihr Gepäckstück nicht einfach im frisch gefallenen Neuschnee liegen lassen sollte.

Doch sie klammerte sich daran fest, als würde sie ohne diesen Halt in dem weißen, eisigen Meer, das sich um sie herum ausbreitete, ertrinken.

Unter ihren durchnässten Stiefeln wirbelte der vom Mondlicht bläulich beschienene Schnee auf, und die Bäume ragten dunkel vor ihr in die Höhe auf, als wollten sie sich ihr in den Weg stellen.

Es war die fünfte Nacht ihrer Reise. Die zweite Nacht, in der sie nicht schlief, und der Hunger in ihrem Inneren rumorte.

Sehnsüchtig betete sie den neuen Tag herbei, damit sie wenigstens etwas sehen konnte. Vielleicht gab es in der Nähe einen Bauernhof, auf dem sie gegen Arbeit um eine kleine Mahlzeit und ein paar Stunden Schlaf in einem Stall bitten konnte. Sie hatte Leipzig, Wurzen, Riesa und Großenhain hinter sich gebracht. Jetzt, so schätzte sie, musste sie in der Nähe von Bautzen sein, doch was brachte ihr dieses Wissen, wenn sie nicht endlich einen Platz fand, an dem man ihr einen Unterschlupf gewährte? Ob sie in Bautzen starb oder irgendwo sonst – was machte das schon für einen Unterschied?

Luise taumelte und stieß gegen eine junge Tanne. Der noch schlanke, biegsame Stamm wehrte sich gegen die rüde Behandlung, indem er seine kalte weiße Fracht auf die erschöpfte Frau entlud. Der weiße Schneenebel hüllte sie ein und kroch ihr kalt und nass unter den Kragen, um eisige Tropfen über ihren Nacken und den Rücken hinunterrinnen zu lassen.

Luise erschauderte. Bewegungslos blieb sie stehen. Sie konnte nicht mehr. Ihre Beine zitterten unkontrolliert und schließlich knickten ihre Knie ein. Sie fiel hin und der pulvrige Schnee stob in die Höhe. Wie ein Leichentuch legte er sich auf sie, als sie bewegungslos liegen blieb.

* * *

Etwas ungeheuer Scharfes, Beißendes rann in ihren Mund und ihre Kehle hinunter. Es schmeckte ekelhaft, doch genau das erweckte ihre Sinne zu neuem Leben. Weit riss sie ihre Augen auf, sie würgte und hustete. Ein paar kräftige, behandschuhte Hände hielten sie an den Oberarmen fest, um sie aufrecht zu halten.

Ihr war schrecklich kalt. Sie bebte am ganzen Leib und konnte nur mühsam ihre Augen offen halten. Dennoch nahm sie zwei Männergesichter wahr, die sie besorgt ansahen.

„Was meinst du, Bruder Christian?“, fragte einer der beiden. Er hatte eine sehr prägnante Nase und trug einen guten Reisemantel über den Schultern.

„Wir haben sie gerade noch rechtzeitig entdeckt, Bruder Lutz.“

„Gottes Bewahrung!“, sagte der Erste nun wieder, bevor er sich aus der Hocke erhob, und es klang wie ein Dankgebet.

Waren diese Worte der Grund, weshalb Luise zuließ, dass der andere fremde Mann sie einfach auf die Arme nahm und zu einer vornehmen Kutsche trug? Oder lag es an ihrer völligen Erschöpfung und der Gleichgültigkeit, die Besitz von ihr ergriffen hatte und jeden Wunsch zur Gegenwehr fortwischte, wie der Wind den losen Schnee vor sich hertrieb?

Als sie vorsichtig auf die weich gepolsterte Bank in der Kutsche gesetzt wurde, war sie sogar zu schwach, um sich aufrecht zu halten, sodass ihre Schulter und ihr Kopf gegen die hölzerne Kutschwand rutschten. Der Mann, der sie getragen hatte, hüllte sie in eine dicke, warme Reisedecke. Während Luise teilnahmslos sein Tun beobachtete, stellte sie fest, dass er intensiv nach Feuchtigkeit und Pferd roch.

Nachdem er das schaukelnde Gefährt verlassen hatte, setzte sich der besser gekleidete Mann ihr gegenüber auf die Bank. Er schenkte ihr ein kurzes, aber freundliches Lächeln, ehe er sich ebenfalls in eine Decke hüllte. Luise wollte auf ihre Tasche hinweisen, die noch draußen im Schnee liegen musste – immerhin enthielt sie ihren ganzen Besitz, abgesehen von den Sachen in ihrer Kiste, die sich noch in Halle befand –, doch ihr heftiges Zähneklappern hinderte sie am Sprechen.

Jemand machte sich hinten an der Kutsche zu schaffen. Ob der Kutscher ihre Reisetasche doch noch entdeckt hatte und sie jetzt auflud? Und wenn nicht, ist es jetzt auch gleich, dachte sie und schloss ermattet die Augen. Wie konnte man sich nur so schwach und ausgeliefert fühlen wie sie im Augenblick?

Das Gefährt neigte sich leicht zur Seite, als sich jemand auf den Kutschbock schwang.

Langsam öffnete sie ihre schweren Lider und musterte den Fremden ihr gegenüber. Er wirkte gepflegt und vornehm. Sie war überrascht festzustellen, dass er sie – so schmutzig und durchnässt, wie sie war – mitleidsvoll, ja sogar besorgt ansah.

Die Kutsche fuhr sanft an, dennoch hatte Luise Mühe, sich auf ihrer Bank zu halten. Einen Augenblick kämpfte sie um ihr Gleichgewicht, und als sie endlich wieder aufrecht saß, war sie einer Ohnmacht nahe.

„Wie heißt du?“, erkundigte sich der Mann bei ihr.

Luise gelang es trotz intensiver Bemühungen nicht, ihre Augen offen zu halten, und schließlich hörte sie auf, gegen ihre schweren Lider anzukämpfen. „Luise“, flüsterte sie mit bebenden Lippen.

„Nur Luise?“, fragte er, und sie konnte anhand seiner Stimme erahnen, dass er dabei lächelte.

„Ja.“ Ihre Zähne klapperten so heftig aufeinander, dass sie nicht mehr zu sagen wagte. Außerdem fühlte sie sich dazu viel zu erschöpft. Sie wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden und schlafen – gleichgültig, wohin die beiden Männer sie bringen würden.

* * *

Als Luise die Augen aufschlug, saß sie nicht mehr aufrecht und ihr Kopf ruhte auf dem Schoß des Mannes.

Wann hatte er sich neben sie gesetzt? Und wieso lag sie hier?

Erschrocken wollte sie sich aufrichten, doch die ruckartige Bewegung jagte unerträgliche Schmerzwellen durch ihren Kopf. „Bitte entschuldigen Sie“, stammelte sie, während sie sich langsam aufsetzte, obwohl der Schwindel in ihrem Kopf sie in einen schwarzen Strudel hineinzureißen drohte.

„Entschuldigen Sie, Luise. Ich wollte Sie nicht erschrecken, doch ich befürchtete, dass Sie auf den Boden fallen würden.“

„Danke. Vielen Dank für Ihre Hilfe.“ Luise wollte noch viel mehr hinzufügen. Sie hätte gerne gewusst, wer dieser Herr war und wohin sie fuhren. Aber sie fühlte sich noch immer zu elend, auch wenn ihr nun nicht mehr so entsetzlich kalt war.

„Wir sind gleich in Herrnhut, Luise. Dort können Sie sich erst einmal aufwärmen und erholen.“

„Herrnhut?“, flüsterte sie und schloss erleichtert die Augen. Sie würde ihr Ziel erreichen! In diesem Moment kam es ihr vor, als würde sie jetzt schon die himmlische Pforte durchschreiten und ins Paradies eintreten dürfen, so schön und sicher hörte sich der Name dieser Ortschaft an: unter der Hut des Herrn. Allerdings fühlte sie sich so schwach, dass sie daran zweifelte, ob sie sich tatsächlich von dem Marsch, der hinter ihr lag, erholen würde. Aber im Augenblick war ihr das gleichgültig.

„Und Sie werden gesund werden und wieder zu Kräften kommen, Luise. Denn ich glaube fest, dass Gott mit Ihnen noch etwas Besonderes vorhat. Sonst hätte er nicht das Unmögliche möglich gemacht, dass Bruder Christian Sie in der Dunkelheit und unter der Schneeschicht, die Sie bedeckte, entdecken konnte.“

Kurze Zeit später änderte sich der Untergrund, wie am Geräusch der Räder zu erkennen war. Der Wagen rollte jetzt gleichmäßiger dahin – ein Zeichen dafür, dass sie in eine sorgfältig gepflegte Straße eingebogen waren. Schließlich hallten die Huftritte der Pferde laut von der Wand eines großen Gebäudes wider, und die Kutsche fuhr einen kleinen Bogen, ehe sie stoppte.

Der Mann erhob sich, um wieder auf der gegenüberliegenden Bank Platz zu nehmen. Luise senkte beschämt den Kopf. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie sehr sie sich noch gegen den Körper des Mannes gelehnt hatte.

Draußen wurden Stimmen laut. Trotz der sehr frühen Morgenstunde waren schon viele Menschen auf den Beinen und jemand rief laut: „Der Herr Graf ist zurück!“

Luise blickte ihr Gegenüber erschrocken an. Während das Fahrzeug heftig schaukelte, als der Kutscher abstieg, blieb der Mann in aufrechter Haltung sitzen und schaute an den Vorhängen des Fensters vorbei in den frischen Morgen. Ein Lächeln lag auf seinem Gesicht. Er schien sich zu freuen, diese einfachen Menschen, die dort draußen zusammenliefen, zu sehen.

Der Graf? War das tatsächlich der Gründer Herrnhuts, Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf? Und sie hatte es gewagt, sich an ihn zu lehnen, ja, sogar ihren Kopf auf seinen Schoß zu betten, um zu schlafen?

Entsetzt über diese Erkenntnis schlug Luise ihre kalten, zitternden Hände vor ihr Gesicht und wünschte sich, sich ganz klein machen zu können.

In diesem Moment öffnete der Kutscher schwungvoll die Tür und klappte den Tritt aus.

„Bruder Christian, wenn du dich bitte um Luise kümmern würdest. Sie kommt unter die Pflege der lieben Hausmutter persönlich.“ Der Graf erhob sich und stieg aus.

Kurz darauf erschien Christians Gesicht in Luises Blickfeld und er musterte sie unverhohlen aus warmen, zimtfarbenen Augen. Noch immer schoss ihr das Blut mit lautem Rauschen durch den Kopf. Was hatte sie nur getan?

Ein Räuspern ließ sie zusammenzucken. Die ersten sanften Sonnenstrahlen der winterlichen Morgensonne fielen auf ihr Gesicht. Täuschte sie sich oder lag auf dem von Bartstoppeln übersäten Gesicht des Kutschers ein belustigtes Lächeln? Immerhin wusste er um ihren Zustand und ahnte vermutlich, dass der männliche Fahrgast sie hatte stützen und halten müssen. Zwar war in Halle gewaltig über Graf Zinzendorf gewettert worden, doch sie war sich sicher, dass dieser Mann Gottes nicht leichtfertig mit Frauen umgehen würde. Ganz im Gegensatz zu manchen anderen Adeligen dieser Zeit, deren Leben sich um August den Starken, das märchenhafte Wasserschloss Pillnitz, den berühmten Zwinger in Dresden und ihre prachtvollen Festlichkeiten, Maskeraden und Tierhetzen drehte.

„Können Sie nach vorne rutschen?“, unterbrach der Kutscher ihre Überlegungen. „Ich trage Sie in das Haus.“

Luise stützte sich auf das Polster, um sich nach vorne, auf die Tür zuzuschieben. „Ich kann bestimmt selber gehen“, murmelte sie dabei halblaut vor sich hin.

„Bestimmt nicht“, erwiderte er trocken und ihre zitternden Arme gaben ihm recht.

Als sie endlich vorne an der Tür angekommen war, war ihr schon wieder schwindelig. Sie schloss die Augen und fühlte, wie der Kutscher eine zweite Decke um sie wickelte und sie sich dann, sehr unsanft, wie einen Kartoffelsack über seine Schulter legte.

Ihre dicke dunkle Haarpracht, die wenige Stunden zuvor noch mit Schnee- und Eiskristallen bedeckt gewesen war, fiel über ihren Kopf nach vorne und schwankte nass bei jedem seiner großen Schritte hin und her.

„Wer ist denn das?“, hörte sie eine weibliche Stimme fragen.

„Ob Bruder Lutz und Bruder Christian sie unterwegs gefunden haben?“, fragte eine andere.

Luise war sich nicht sicher, ob die Stimmen amüsiert oder vielmehr mitleidig klangen. Krampfhaft kniff sie die Augen zusammen, als könne sie auf diese Weise alle Eindrücke von außen ausschließen. Sie fühlte sich gedemütigt, wie sie da, gleich einem vom Jäger erlegten Wild, über die Schulter gelegt davongetragen wurde.

Schließlich verlangsamten sich die Schritte des Kutschers, bevor er ein paar Stufen hinaufging. Eine Tür wurde geöffnet und der Mann brachte sie in das Innere eines Hauses. Das Nächste, was Luise wahrnahm, war Wärme. Wärme, die einerseits wohlig und angenehm war und andererseits dazu führte, dass ihre Finger und ihr Gesicht schmerzhaft zu brennen begannen.

Kapitel 3

Christian bedankte sich bei Theodor mit einem knappen Nicken. Sein jüngerer Kumpan hatte für ihn die Kutsche in den Stallbereich gefahren und bereits alle vier Tiere ausgeschirrt, während er die junge Frau ins Warme gebracht hatte.

„Gut, dass ihr zurück seid“, sagte Theodor zu seinem Freund, der sich nun der Pflege der müden Tiere widmete. „Eine nächtliche Fahrt bei Schnee und Eis ist nicht ungefährlich.“

„Ja“, stimmte Christian knapp zu und dachte an Luise. Er konnte nicht sagen, wie er sie entdeckt hatte, denn sie war vollkommen mit einer Schicht Neuschnee bedeckt gewesen. Er hatte nur eine kleine, unregelmäßige Erhöhung am Wegesrand gesehen, wie es sie auf der Strecke zu Tausenden gab. Dennoch war sie seiner Aufmerksamkeit nicht entgangen.

Theodor half ihm, die nassen Stuten mit Stroh trocken zu reiben. Die Tiere dampften und verströmten einen herben, fast süßlichen Geruch. Der junge Bursche schwieg, wohl wissend, dass Christian von der Reise erzählen würde, wenn ihm danach war.

Christian wurde es bei der Arbeit warm. Er zog den Kutschrock aus und hängte ihn vorsichtig über einen gepolsterten Holzbalken, der immer sauber gehalten wurde, damit das Kleidungsstück nicht verschmutzte oder gar zu Schaden kam. Als er zur nächsten Stute wechselte, bemerkte er den neugierigen Blick Theodors auf sich. Ein leichtes Lächeln umspielte Christians Lippen. Natürlich hatte sein Freund bereits von ihrem Findling gehört und brannte darauf, die dazugehörende Geschichte zu hören.

„Sie lag unter einer Schneeschicht am Wegesrand – halb erfroren“, erklärte er in seiner knappen Art.

Christian klopfte dem Tier leicht den Hals und griff nach dem Wassereimer, um ihn draußen am Brunnen zu füllen. Sein Freund forderte keine weiteren Erklärungen ein. Er kannte ihn inzwischen viel zu gut, um auf mehr Einzelheiten über die Person oder das ganze Ereignis zu hoffen. Dennoch schien eine unausgesprochene Frage in seinem Gesicht zu liegen.

Mit großen Schritten verließ Christian den angenehm warmen Stall. Die Morgensonne war inzwischen höher gestiegen, warf ihr Licht auf die weißen Wiesenflächen und ließ den Schnee auf den Tannen und den kahlen Ästen der Laubbäume hell erstrahlen. Sein Atem bildete kleine weiße Wölkchen, die dem strahlenden Blau des Himmels entgegentrieben. Jetzt, nachdem die Schneewolken davongezogen waren, hatte es erst richtig abgekühlt. Wenn das Mädchen . . .

Christian untersagte sich diese Überlegung und trat an den von einer dünnen Eisschicht bedeckten Brunnen. Sie hatten sie gefunden, und das allein zählte. Er erinnerte sich an ihren erschrockenen Gesichtsausdruck, als ihr klar geworden war, dass sie mit einem Grafen in einer Kutsche gesessen hatte. Christian grinste. Die Frau konnte ja nicht wissen, dass der Herr Graf sich ebenfalls an die in Herrnhut eingeführten Sitten hielt, ja, dass er seinen Schwestern und Brüdern sogar die Füße wusch. Er war einer von ihnen. Ein Bruder. Christian stellte den schweren, mit Eisenringen beschlagenen Holzeimer auf den vereisten Boden.

Als er in den Wagen geschaut hatte, waren die ersten weichen Sonnenstrahlen auf das Gesicht des Mädchens gefallen. Und obwohl ihr Zustand ihn viel mehr an einen nassen Lappen als an eine junge Frau erinnert hatte, war ihm eines sofort aufgefallen: Sie war wunderschön.

Er rieb sich die kalten Hände, während sein Blick zum Hutberg hinüberwanderte. Ein leichter Windhauch brachte die Äste der Bäume dort in Bewegung, und winzige Schneekristalle trieben, von der Sonne zum Funkeln gebracht, davon.

Christian bückte sich und hob den vollen Eimer auf, bevor er, weiterhin in Gedanken versunken, zurück zur Stalltür ging.

Seit mehr als drei Jahren verspürte er den Wunsch, eine Familie zu gründen. Seitdem betete er für eine Frau, die zu ihm passen würde. Drei lange Jahre, in denen er sich fortlaufend die Frage gestellt hatte, ob sein Wunsch falsch war. Ob Gott für ihn nicht doch einen anderen Weg vorgesehen hatte – einen ohne Gehilfin an seiner Seite.

Theodor wartete unter dem offenen Scheunentor auf ihn. Er hatte sich mit der Schulter an das dunkle Holz gelehnt und seine Hände spielten mit ein paar Strohhalmen.

„Und?“, fragte er, als Christian, schweigsam wie immer, an ihm vorbeiging.

„Ich werde sie heiraten!“

„Das dachte ich mir schon.“

* * *

Luise durfte zwei lange Tage nicht das Bett verlassen. Zwei Frauen, Katharina und Friederike, und sogar die Gräfin Erdmuthe selbst kümmerten sich um sie. Die Gräfin unterschied sich von ihren Helferinnen sowohl durch ihre weitaus vornehmere Kleidung als auch durch ihre bessere Aussprache und Wortwahl. Dennoch war sie ebenso hilfsbereit und freundlich wie die anderen und ihr aufmunterndes und warmherziges Lächeln tat Luise unendlich gut.

Nachdem festgestellt worden war, dass Luise die beiden kalten Nächte relativ unbeschadet überstanden hatte, durfte sie zum ersten Mal das Bett verlassen.

Sie trat mit unsicheren Schritten an eines der hohen Fenster. Fasziniert blickte sie in einen großen, schneebedeckten Garten, dessen geometrische Muster unter der weißen Schneedecke gut zu erkennen waren. Die gepflanzten Zierbüsche waren akkurat gestutzt und schienen ihre Schneehaube mit angemessener Würde zu tragen.

Langsam wandte Luise sich um, und ihr Blick glitt über die vornehmen, aus einem dunklen Holz hergestellten Möbel, die eine angenehme Wärme ausstrahlten. Warum man sie wohl im Herrenhaus untergebracht hatte, wo es in der kleinen Ortschaft doch auch andere Unterkünfte gab? Lag es daran, dass der Graf sie persönlich hierher gebracht hatte?

Auf einem Stuhl entdeckte sie frische Kleider, die offensichtlich für sie dort bereitgelegt worden waren. Zögernd nahm sie die Haube mit dem blauen Haubenband in die Hand. Die Farbe des Bandes machte deutlich, dass die Trägerin unverheiratet war, so viel hatte sie schon erfahren.

In diesem Moment wurde hinter ihr eine Tür geöffnet. Schnell legte sie die Haube auf die niedrige Kommode mit den vielen kleinen Schubladen und ihren im Tageslicht schimmernden verschnörkelten Messinggriffen. Mit der anderen Hand zog sie den vornehmen Morgenrock, den man ihr gegeben hatte, fester um ihren Leib.

„Du bist aufgestanden – wie schön!“, begrüßte Katharina sie. Die junge Frau stellte eine filigrane weiße Porzellantasse, gefüllt mit dampfendem Tee, auf den Nachttisch.

Luise nickte nur. Ihr war aufgefallen, dass die Menschen sich hier mit Bruder und Schwester ansprachen und einander allesamt duzten – der Graf und die Gräfin eingeschlossen. Das war ihr fremd, also schwieg sie lieber.

Katharina lächelte sie ermutigend an und richtete ihr Bett.

Luise selbst stand währenddessen verlegen da und rieb sich die Hände. Sie war völlig verunsichert. Wie sollte sie sich verhalten? Das war doch eigentlich ihre Aufgabe. Allerdings traute sie sich nicht, etwas zu sagen.

„Lustig, dass ausgerechnet Bruder Christian dich gefunden hat“, ergriff nun Katharina wieder das Wort. „Das muss so etwas wie Seelenverwandtschaft sein.“

„Bitte?“, presste Luise verwirrt hervor.

„Christian. Das ist der Kutscher, der dich gefunden hat.“

Luise nickte. Sie konnte sich daran erinnern, dass Graf Zinzendorf den Kutscher mit Christian angesprochen hatte.

„Siehst du, du nickst auch nur.“ Katharina lachte, doch Luise begriff immer noch nicht, was eigentlich so lustig war.

„Christian redet auch nur das Allernötigste“, wurde ihr prompt erklärt, ehe Katharina wieder nach der Tasse griff, die noch immer unangetastet auf dem Nachttisch stand, und sie der ratlosen Luise in die Hand drückte. „Trink doch, Luise. Und dann zieh dich an. Ich soll dir dein neues Zuhause zeigen.“

„Mein neues Zuhause?“

„Ja, du kommst in eine Wohngemeinschaft mit anderen unverheirateten Frauen.“ Katharina zögerte und fragte schließlich: „Oder willst du gar nicht hierbleiben?“ Sie sah Luise an, als könne sie eine Entscheidung gegen Herrnhut keinesfalls nachvollziehen.

„Doch, doch, ich wollte ohnehin hierherkommen und fragen, ob ich hier eine Arbeit bekommen kann“, erklärte Luise.

„Ein ganzer Satz!“, lobte Katharina fröhlich und klatschte auffordernd in ihre kräftigen Hände.

Luise stellte die noch halb volle Tasse auf die Kommode und begann unter den kritischen Blicken der anderen Frau, die für sie bereitgelegten Kleider anzuziehen.

Katharina nickte zufrieden und half ihr in ihren alten Umhang, der sorgfältig gewaschen und gebügelt worden sein musste.

„Die Gräfin lässt fragen, was du bisher gearbeitet hast“, sagte Katharina, während sie Luises Reisetasche in die Hand nahm und ihr voran durch die Tür und in einen langen Flur hineinging.

„Ich habe einige Zeit als Waschfrau gearbeitet, dann war ich in einer Einrichtung in der Küche und zuletzt als Dienstmädchen beschäftigt“, erklärte Luise. Weshalb sie die Franckeschen Anstalten verschwieg, wusste sie selbst nicht so genau. Vielleicht weil dort nicht gerade freundlich über Zinzendorf und Herrnhut gesprochen wurde und sie fürchtete, dass man hier ebenfalls keine hohe Meinung von den Anstalten in Halle hatte.

Eilig folgte sie Katharina durch die Gänge und ein paar Treppen hinunter bis zu einem Hinterausgang des Herrenhauses.

Seit dem Tag ihrer Ankunft in Herrnhut war kein Schnee mehr gefallen, doch die eisigen Temperaturen, die trotz des täglichen Sonnenscheins herrschten, hatten verhindert, dass die Schneedecke schmolz. Die Wiesen und Wege lagen in einem strahlenden Weiß vor ihr und selbst die Bäume und Hecken trugen noch ihren kalten Schmuck. Weiter entfernt entdeckte sie einen schneebedeckten bewaldeten Hügel, der sich trotz seiner nicht gerade überragenden Größe majestätisch über die kleine Stadt erhob.

„Es ist wunderschön hier“, murmelte Luise voller Bewunderung über die Landschaft und die gepflegten Straßen und Häuser, aber Katharina schien sie nicht gehört zu haben. Sie fing an, Luise zu erläutern, wer oder was in dem jeweiligen Gebäude, an dem sie gerade vorbeigingen, zu finden war.

Schließlich bogen sie vom Hauptweg ab und gingen auf ein zweistöckiges Steinhaus zu, dessen hohes Ziegeldach zwei rauchende Kamine trug.

Vor der Tür blieb Katharina stehen. „Hier ist das Haus der ledigen Schwestern“, erklärte sie. „Anna Nitschmann ist vor zwei Jahren per Los zur Ältesten gewählt worden und –“

„Eine Frau hat hier die Leitung?“ Luise starrte Katharina ungläubig an.

„Ja. Es gibt viele seelsorgerliche oder diakonische Ämter hier in Herrnhut. Und alle sind sowohl von Frauen als auch von Männern besetzt. Da gibt es zum Beispiel die Aufseher und Ermahner und die Lehrer. Die Aufseher, so hat der Graf gesagt, sollen alles, was in der Gemeine geschieht, mit seelsorgerlichem Blick beobachten. Sie sollen Augen und Ohren nach überallhin offen halten, den Mund dagegen zu.“ Katharina kicherte und fuhr dann fort: „Deshalb ist Christian auch ein hervorragender Aufseher. Und da er selbst nicht gerne redet, ist sein Freund Theodor sozusagen seine Stimme, die die beobachteten Missstände dann ausspricht, damit Klatsch, Überheblichkeit, Vorurteile und so weiter gar nicht erst Einzug halten können.“

Luise nickte verwirrt, obwohl sie sich nicht sicher war, ob sie wirklich alles, was Katharina ihr zu erklären versuchte, richtig verstanden hatte. Konnte es wirklich sein, dass Graf Zinzendorf gestattete, dass Frauen nicht nur diakonische Aufgaben, sondern auch Leitungsaufgaben übernahmen? Und wieso redete sie ständig von diesem Christian?

Schließlich schob Katharina die schwere Holztür auf und bedeutete Luise, ihr zu folgen.

Aus dem Inneren des Hauses waren vergnügte Stimmen zu hören, die lauter wurden, als Katharina eine weitere Tür öffnete. In einem großen, einfach eingerichteten Wohnraum saßen mehrere junge Frauen um einen dunklen Holztisch. Obwohl es draußen helllichter Tag war, hatten sie zwei Lampen an der Decke entzündet, um ihre Näh- und Strickarbeiten besser sehen zu können.

In einer Ecke stand ein Spinnrad, und die junge Frau, die dahintersaß, war die Erste, die den Kopf hob und ihr und Katharina zulächelte. „Ist das Christians Findling?“, fragte sie, ohne dass ihre Finger aufhörten, die Spindel zu bewegen.

Luise bekam von Katharina einen kleinen auffordernden Stups in den Rücken, woraufhin sie zwar einen Schritt weiter in den Raum hineintrat, sodass sie von allen gemustert werden konnte, jedoch brachte sie kein Wort heraus. Schweigend stand sie da, den Kopf schüchtern gesenkt.

Das Klappern von Stricknadeln und das leise Surren des Spinnrades waren die einzigen Geräusche, die den Raum erfüllten. Luise hob den Kopf und schaute über ihre Schulter hinweg zu Katharina. Warum half sie ihr nicht? Warum stellte Katharina sie nicht einfach vor und erklärte den anderen, weshalb sie sie hierher gebracht hatte?

In diesem Moment wurde eine weitere Tür geöffnet, und ein Mädchen, kaum älter als sechzehn Jahre, trat ein. Sie musterte die schweigsame Gesellschaft mit ihren wachen kleinen Augen und lächelte dann.

Sie schien die Situation sofort zu erfassen, kam auf Luise zu und nahm sie in die Arme. „Schön, dass du wieder aufstehen kannst, Schwester Luise“, sagte sie mit sanfter Stimme. „Und herzlich willkommen in unserem Chor**. Mein Name ist Anna Nitschmann. Komm, ich stelle dir die anderen Frauen vor.“

Als Anna sie aus ihren Armen entließ, sah Luise sie mit großen Augen an. Sie war überrascht von der Herzlichkeit, mit der diese Anna sie begrüßte. Und noch mehr überrascht war sie darüber, wie jung sie war. Dieses Mädchen, gut vier Jahre jünger als sie selbst, war also die „Älteste“ dieser Gemeinschaft unverheirateter Frauen?

Katharina hatte inzwischen Luises Reisetasche in eine Ecke gestellt und legte nun ihre Hand sanft auf Luises Schulter. „Du wirst dich hier sicher wohlfühlen. Und wenn du mal jemand anderen zum Reden brauchst – du weißt ja, wo du mich finden kannst.“

Luise nickte schweigend und schon war Katharina verschwunden. Weshalb hatte sie es so eilig zu gehen? Ob sie zurück an ihre Arbeit musste?

„Luise, das ist Schwester Edelgard“, begann Anna ihr die Frauen vorzustellen.

Die Frau hinter dem Spinnrad lächelte ihr ein weiteres Mal freundlich zu. Luise schätzte sie auf Anfang dreißig. Wahrscheinlich war sie die älteste der Frauen im Haus.

Der Reihe nach wurden ihr die anderen Frauen vorgestellt, die alle ein freundliches Wort, ein Lächeln oder sogar eine kurze Umarmung für sie bereithatten. Allmählich wich die furchtsame Aufgeregtheit von ihr. Sie erfuhr, dass es noch weitere Frauen gab, die in dem Haus wohnten und zu diesem Chor gehörten, die aber in anderen Häusern Herrnhuts arbeiteten.

Schließlich griff Anna nach Luises Tasche und nahm die junge Frau mit in die zweite Etage hinauf, um ihr das Zimmer zu zeigen, das sie mit zwei anderen Mädchen – Kornelia und Sarah – bewohnen würde.

„Ist das dein ganzes Gepäck, Schwester Luise?“, wollte Anna wissen, als sie auf die kleine, abgeschabte Reisetasche blickte, die Luise ihr nun abnahm und fest an sich drückte, als müsse sie ihr Hab und Gut vor der jungen Frau schützen.

„Eine Freundin möchte mir noch meine Holzkiste nachschicken. Ich sollte ihr per Post meine Adresse zukommen lassen. Wo habe ich denn die Möglichkeit dazu?“

„Das werde ich dir nachher gerne zeigen. Ich sollte dich ohnehin noch durch ganz Herrnhut führen. Außerdem müssen wir eine Aufgabe für dich finden. Was kannst du denn besonders gut?“

Luise stellte erst einmal ihre Tasche vor dem Bett, das Anna ihr zuwies, auf den Boden. So gewann sie ein wenig Zeit – allerdings bei Weitem nicht genug. Sie wusste nicht, was sie besonders gut konnte. In letzter Zeit hatte man ihr eher das Gefühl vermittelt, dass sie zu nichts zu gebrauchen sei, weil sie zu unkonzentriert, unachtsam und fahrig war. Bedrückt über ihre mangelnden Begabungen und ihre Ungeschicklichkeit hielt sie den Kopf gesenkt.

Anna Nitschmann wartete schweigend eine geraume Zeit ab, ehe sie sich einen Stuhl heranzog, sich setzte und Luise mit einer Geste bedeutete, auf dem Bett Platz zu nehmen.

„Was hast du zuletzt gearbeitet, Luise? Gibt es etwas, das du sehr gerne machst?“, fragte sie geduldig nach.

Luise hob unsicher den Kopf und schaute dem jüngeren Mädchen ins Gesicht. Dann entschloss sie sich, vollkommen ehrlich zu sein. In knappen Sätzen berichtete sie von ihrem Leben im Waisenheim, von ihrem Waschfrauendasein, der Küche und ihrer Dienstbotenstellung und verschwieg auch ihre Missgeschicke der letzten Wochen und ihren Rauswurf aus den Franckeschen Anstalten nicht.

Die Älteste hörte geduldig zu und ergriff, nachdem Luise ihren Bericht beendet hatte, ihre rechte Hand. „Wir werden eine Aufgabe für dich finden, Luise. Es eilt ja nicht. Ein paar Tage können wir dich durchaus mit durchtragen. Solange kannst du uns beim Nähen, Stricken oder Flachs- und Baumwollspinnen helfen. Vielleicht entdecken wir da ja sogar schon eine besondere Begabung an dir. Und jetzt werde ich dich herumführen und dir alle anderen Werkstätten und Geschäfte zeigen.“ Anna lächelte ihr aufmunternd zu, stand auf und zog sie mit sich in die Höhe.

Als sie das Haus verlassen hatten und über den verschneiten Weg gingen, fragte Anna: „Nachdem du mir schon von deiner Entlassung aus Halle erzählt hast – darf ich dich fragen, ob die Person, deren Koffer du umgeworfen hast, ein Baron von Freienstein war?“

Luise blieb abrupt stehen. Sie hielt den Atem an, während sie ihre Begleiterin überrascht anschaute. Wie kam Anna auf diesen Namen?

Die Älteste hakte sich bei ihr unter und drängte sie weiterzugehen, denn nur so konnten sie ihre Füße warm halten. „An dem Tag bevor der Graf und Bruder Christian mit dir hier ankamen, war ein Baron von Freienstein hier. Er kam direkt von den Franckeschen Anstalten und war sehr aufgeregt. Er erklärte, er habe erfahren, dass eine junge Frau auf dem Weg zu uns sei. Er suche sie dringend. Da du von dort kommst, habe ich mich jetzt einfach gefragt, ob du womöglich die Gesuchte bist.“

Luise lief ein eiskalter Schauer den Rücken herunter. Natürlich war sie die Person, nach der der Reichsfreiherr gefragt hatte. Aber weshalb suchte er sie? War eines seiner kostbaren Bücher beschädigt worden oder bezichtigte er sie gar noch immer des Diebstahls und wollte sie nicht so ohne Weiteres davonkommen lassen?

Luise atmete schwer. Was sollte sie tun? Sollte sie zurück nach Halle gehen, um die Umstände aufzuklären? Oder einfach hier abwarten, was weiter geschehen würde?

* * *

Christian und Theodor führten je zwei Pferde über die verschneite Straße Herrnhuts. Wenn von der gräflichen Familie niemand unterwegs war, hatten die Zugtiere und die Pferde der Vorreiter, auf die die Gräfin von Zinzendorf nach wie vor ungern verzichtete, viel zu wenig Bewegung. Deshalb wurden sie von den Stallknechten zu einer umzäunten Wiese gebracht, auf der sie sich würden austoben können.

Die Hufe der Tiere drückten sich bei jedem Schritt geräuschvoll in den verharschten Schnee. Da er tief in Gedanken versunken war, überhörte Christian den Warnruf Theodors von vorne und wäre beinahe in eine der vorausgehenden Stuten, die sein Freund an den Zügeln führte, hineingelaufen, als diese sehr abrupt stehen blieb.

Einen Moment kämpfte er mit seinen beiden Tieren, um sie noch rechtzeitig zum Stehen zu zwingen, bevor er sich neugierig an dem gewaltigen Pferdehintern vorbeidrückte, damit er sehen konnte, weshalb sein Freund angehalten hatte.

Er sah Theodor, wie er seine Kappe zog, um zwei Frauen zu begrüßen, die ihnen Arm in Arm entgegenkamen. Die eine war Anna Nitschmann. Doch wer war die Frau in ihrer Begleitung?

Anna Nitschmann sagte etwas und deutete dann auf ihre Begleitung. Offensichtlich stellte sie Theodor das andere Mädchen vor, denn dieser verbeugte sich daraufhin leicht in ihre Richtung. Anschließend wandten sich die beiden jungen Frauen ihm zu, um auch ihn zu grüßen.

Erst jetzt erkannte er Luise. Nun, wo ihre Wangen eine gesunde rosige Farbe hatten, war sie noch schöner, als er sie in Erinnerung hatte. Und – sein Herz schlug ein bisschen schneller – sie trug das blaue Haubenband der ledigen Frauen! Er lächelte. Seine leise Befürchtung, Luise könnte schon verheiratet sein, zerschlug sich damit.

Theodor, der energisch an den beiden Führstricken der Stuten riss, um die ungeduldig in Richtung Koppel drängenden Tiere unter Kontrolle zu halten, erkundigte sich bei Luise nach ihrem Befinden. Christian lauschte der leisen, angenehmen Stimme, als diese seinem Freund mitteilte, dass es ihr gut ginge. Christian betrachtete Luise fasziniert, denn in der Nacht, als er sie gefunden hatte, war ihre Stimme rau und tonlos gewesen.

Während Theodor sich nun Anna zuwandte, trat Luise zu ihm. Einen kurzen Augenblick musterte sie ihn, vielleicht um sicherzugehen, dass sie sich nicht in der Person irrte, dann senkte sie den Kopf. „Ich hatte noch nicht die Gelegenheit, mich bei Ihnen zu bedanken.“

„Wir sind hier eine Familie, Luise“, erinnerte Anna sie und lächelte ihr zu, um sich gleich darauf wieder Theodor zuzuwenden.

„Entschuldigung, das ist noch ungewohnt für mich“, murmelte Luise. Sie hob erneut kurz den Kopf, um ihn anzusehen, senkte ihn aber schnell wieder. „Ich danke dir, dass du mich gerettet hast“, fuhr sie fort.

Eine der Stuten, die Christian am Führstrick hielt, machte ein paar Schritte rückwärts, und er wurde mit nach hinten gezogen. Trotzdem ließ er Luise nicht aus den Augen, während er das Tier sowie das andere, das nun ebenfalls unruhig wurde, wieder unter seine Kontrolle brachte. „Das ist nicht mein Verdienst, Luise“, erwiderte er schließlich und wünschte sich, sie würde ihn ansehen, doch sie hielt noch immer ihren Kopf geneigt. Es tat ihm fast weh zu sehen, mit welcher Demut sie ihm begegnete.

„Komm, Luise, lass uns weitergehen“, forderte Anna sie schließlich auf, ihre Runde durch Herrnhut fortzusetzen. „Du wolltest doch noch einen Brief aufgeben.“ Damit setzte die junge Frau sich in Bewegung und verabschiedete sich im Gehen von den beiden Stallknechten.

Christian hob verwundert die Augenbrauen. Eine einfache Frau, die schreiben konnte? Das war ungewöhnlich. Die meisten Frauen hatten sich damit zu begnügen, das Nähen, Kochen und weitere hausfrauliche Tätigkeiten erlernen zu dürfen.

Luise machte zum Abschied einen Knicks in seine Richtung und folgte eilig der anderen jungen Frau. Dabei streifte sie allerdings unsanft an einer seiner beiden Stuten entlang. Das Tier drehte den Kopf in ihre Richtung und Christian sah Luise erschrocken zusammenzucken. Sie trat hastig beiseite und stolperte dabei über einen kleinen Schneeberg, der am Straßenrand zusammengeschoben worden war. Mühsam nur konnte sie sich auf den Beinen halten und taumelte hinter Anna her.

Ein Grinsen lag auf Theodors Gesicht, als er seinen Freund anblickte. „Du scheinst auf sie ja einen gewaltigen Eindruck zu machen.“

Christian sah den beiden Frauen nach, wie sie mit vorsichtigen Schritten über die glatte Straße gingen. „Na, ich weiß nicht . . .“, meinte er.

„Aber sie scheint nett zu sein. Schweigsam und still – wie du. Vielleicht solltest du sie tatsächlich heiraten.“

„Das denke ich auch“, erwiderte Christian ruhig und amüsierte sich dabei über Theodors Gesichtsausdruck, der deutlich seine Verwunderung über sein Festhalten an diesem Vorhaben zeigte.

„Ihr wärt das schweigsamste Ehepaar auf Gottes schöner Erde“, brummte Theodor schließlich, ehe er seinen Stuten zuschnalzte, damit sie weitergehen konnten.

**Wohn- und Lebensgemeinschaft. Z. B. gab es den Chor der ledigen jungen Schwestern, den Chor der Witwen, der Kinder etc.

Kapitel 4

Luise gewöhnte sich allmählich in Herrnhut ein, wobei ihr die immer gleichen Rituale der Gemeinschaft halfen, sich zurechtzufinden. Die in die Häuser gebrachten Losungen, Lied- oder Bibelverse, die der Graf selbst heraussuchte, der tägliche Morgensegen um fünf Uhr und die Singstunde nach Feierabend strukturierten das Leben in der jungen Stadt. Auch die Menschen in der Gemeinschaft machten es ihr leicht, sich hier wohlzufühlen, und nach und nach legte sie sogar ihre Schüchternheit ab. Dennoch gab es Dinge, die ihr Wohlbefinden trübten. Immer wieder dachte sie an den Reichsfreiherrn, der hier nach ihr gefragt hatte. Außerdem passierten ihr nach wie vor viele Missgeschicke. Ständig lief sie gegen etwas und holte sich blaue Flecken. Dazu kam, dass sie in der letzten Zeit häufig unter Kopfschmerzen litt, und noch immer war keine sinnvolle Aufgabe für sie gefunden worden. Sie hatte sich, wie Katharina vorgeschlagen hatte, an verschiedensten Handarbeiten versucht, doch wie sich herausstellte, waren ihre Hände dafür nicht geschickt genug. Fortlaufend verletzte sie sich mit den Nadeln, und das Ergebnis ihrer Arbeit war auch nicht so zufriedenstellend, dass man die Stücke hätte verkaufen können.

Aus diesem Grund blieb ihr zwischen den festen Veranstaltungen der Brüdergemeine viel Zeit zum Nachdenken. Inzwischen war der Schnee von den hochgewachsenen Tannen, den Wiesen und Feldern verschwunden und nur im Schatten von Büschen, Hügeln und Gebäuden lagen noch kleine weiße Flecken.

An einem weiteren Tag, der von diesem unfreiwilligen Müßiggang geprägt war, hüllte Luise sich in ihren Umhang und schlenderte die eisüberzogene Straße entlang, um Katharina einen Besuch abzustatten, die ihr in der kurzen Zeit, die sie nun hier war, bereits zu einer guten Freundin geworden war. Unter jedem ihrer vorsichtig gesetzten Schritte brachen hörbar die unregelmäßig verlaufenden Eisriefen und aus den Werkstätten drangen diverse Arbeitsgeräusche nach draußen.

Vor einem der Gebäude stand eine Transportkarre, vor die zwei schwere Kaltblüter gespannt waren. Es hatte sich herumgesprochen, dass Güter, die in Herrnhut hergestellt wurden, von hoher Qualität waren, was zahlreiche Kunden aus dem Umland, aber auch aus entfernt gelegenen Ortschaften anlockte. Luise überquerte die Straße, um auf das Herrschaftshaus zuzugehen. Sie wollte sehen, ob Katharina Zeit für sie hatte und ob endlich ihre Kiste aus Halle angekommen war, um die sie Greta schriftlich gebeten hatte.

Ein paar Meter weiter die Straße hinunter unterhielten sich zwei Frauen, neben ihnen am Straßenrand spielte ein kleines Mädchen, dessen Haube verrutscht war und so eine Flut von schwarzen Locken frech zum Vorschein kommen ließ.

Luise blieb stehen und beobachtete das Kind lächelnd. Es stocherte mit einem Stock in den verschieden großen grauen Kieselsteinen herum, die an dieser Stelle nicht mehr von einer Eisschicht bedeckt waren.

„Du bist Schwester Luise, nicht wahr?“, sprach eine der beiden Frauen sie an.

Luise ging auf sie zu und grüßte mit einem kleinen Knicks.

„Hast du dich einleben können?“, fragte die Ältere der beiden und warf einen kurzen Blick auf ihre Tochter, die jetzt mitten auf der Straße stand und mit dem Stock auf das Eis klopfte, was seltsam hoch klingende Geräusche verursachte.

„Ja, danke. Ich fühle mich sehr wohl hier. Alle sind so nett zu mir.“