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"Klimaschutz ist eine Menschheitsaufgabe, und uns fällt nichts anderes ein als Marktlösungen." Äußerst treffsicher hat der Ökonom Elmar Altvater unsere hilflose Reaktion auf die wohl größte Herausforderung unserer Zeit formuliert. Denn nicht nur die etablierte Politik, auch ein Großteil der Ökoszene setzt auf ein routiniertes "Weiter so". Mithilfe erneuerbarer Energien und stetiger Innovation soll unsere Wirtschaft immer weiter wachsen – ökologisch nachhaltig natürlich. Der Ökosozialist Bruno Kern entlarvt diese Illusion gründlich. Dabei stellt er nicht nur den Kapitalismus mit seinen eingeschriebenen Verwertungszwängen infrage, sondern die Industriegesellschaft selbst! Industrielle Abrüstung ist das Gebot der Stunde; weniger Verbrauch statt Profit um jeden Preis. Das weit verbreitete Märchen vom "grünen Wachstum", das uns einreden will, es gäbe eine "Entkoppelung" von Wirtschaftswachstum und Ressourcen- bzw. Energieverbrauch, dient letztlich nur dem Zweck, der eigentlichen politischen Herausforderung auszuweichen. Nämlich der Frage: Wie schaffen wir eine solidarische Gesellschaft, die bereit ist, mit wesentlich weniger materiellen Ressourcen auszukommen?
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© 2019 Rotpunktverlag, Zürich
www.rotpunktverlag.ch
eISBN 978-3-85869-859-9
1. Auflage 2019
Für Saral
Einleitung
1. Das Märchen vom »grünen Wachstum«
2. Die Grenzen marktkonformer Steuerungsinstrumente
3. Sackgassen und Umwege
4. Auf dem Weg zu einer ökosozialistischen Gesellschaft
5. Warum wir keine Marxisten sind
6. Alle Räder stehen still, wenn den Ramsch keiner mehr will!
Anhang
Der Autor
Die Begriffe unserer menschlichen Sprache sind nicht unschuldig, und so manche von ihnen tragen eine schwere geschichtliche Hypothek mit sich. Das gilt gerade für die »großen Worte«, in denen sich die stärksten Hoffnungen und Träume unserer Spezies kondensieren. Und doch können wir auf sie nicht verzichten. Im schwierigen Prozess, uns über unsere Zukunft zu verständigen, tut Klarheit not. Postmoderne Beliebigkeit, Verschleierungsvokabular und begriffliche Unschärfe tragen nichts bei zur Erhellung unserer Situation, zur Plausibilität unserer Alternativen und zur Ermutigung eines entsprechenden Engagements. Gerade vonseiten der in den verschiedenen Umweltbewegungen und -organisationen engagierten jungen Menschen, auf die ich selbst meine stärksten Hoffnungen setze, sehe ich mich mit dem misstrauischen Verdacht konfrontiert, »Ökosozialismus« sei nichts weiter als der Versuch, einem längst gescheiterten Modell aus dem 19. Jahrhundert einen frischen grünen Anstrich zu verleihen. Und wie alle, die einen undogmatischen, demokratischen, partizipatorischen und humanistischen Sozialismus vertreten, bin ich es längst leid, mich ständig abgrenzen zu müssen von all den politischen Abenteurern, die diesen Begriff für sich reklamierten. Der »linkskatholische« Journalist Walter Dirks war es aber nicht zuletzt, der uns kurz vor seinem Tod im Rückblick auf die Bemühungen der Nachkriegszeit um eine neue Wirtschaftsordnung im persönlichen Gespräch zu bedenken gab: »Unsere Sache war ab dem Zeitpunkt verloren, als wir glaubten, aus Opportunitätsgründen auf den Begriff ›Sozialismus‹ verzichten zu müssen.« Und so gebe ich wiederum meinen jungen Freunden und Weggefährten aus der Ökobewegung zu bedenken, ob sie mit ihrer begrifflichen Enthaltsamkeit nicht ungewollt der herrschenden Ideologie aufsitzen, dass das kapitalistische System der Geschichte letzter Schluss sei, dass es alternativlos sei und dass die dringend nötigen Veränderungen innerhalb der kapitalistischen Marktwirtschaft, unter intelligenter Ausnutzung ihrer Mechanismen, zu bewerkstelligen seien. Von dieser gefährlichen Illusion wird in diesem Buch noch ausführlich die Rede sein.
Eine andere beliebte Immunisierungsstrategie besteht darin, dass man sich insgesamt in makroökonomischer Abstinenz übt, sich auf die Handlungsansätze im kleinen Bereich konzentriert – die ich übrigens für wichtig genug halte – und es von vornherein für müßig erachtet, sich mit den schwierigen Fragen der ökonomischen Transformation auseinanderzusetzen – was wiederum nur jenen in die Hände spielt, die die Ökonomie im Interesse einer kleinen Elite organisieren und dafür unsere Überlebenschancen aufs Spiel setzen.
So nehme ich denn lieber die historische Hypothek auf mich, mache mir die Hände schmutzig und rede Klartext. Sozialismus heißt, dass wir unsere Ökonomie nicht mehr den blinden Gesetzen und Sachzwängen des Marktes und der Konkurrenz, des Zwangs zum Profit um jeden Preis, der Notwendigkeit eines richtungslosen, auf Dauer gestellten Wachstums unterwerfen, sondern dass wir den Anspruch haben, uns gemeinsam darauf zu verständigen, wie wir unsere Bedürfnisse befriedigen, wie, wie viel und was wir produzieren wollen. Sozialismus heißt, dass wir den »Sachzwängen« einer Ökonomie, die wir längst nicht mehr kontrollieren können, einen vernünftigen, partizipatorischen Verständigungsprozess, einen politischen Aushandlungsprozess darüber entgegensetzen, wie wir das Nötige für ein anständiges Leben aller herstellen wollen. Es wäre eine Beleidigung der Vernunft zu meinen, bewusstes menschliches Planen vermöge weniger als blinde Marktkräfte.
Sozialismus heißt also, die Produktionsmittel unter die Kontrolle der Gesellschaft zu bringen und sie für deren Interessen und Bedürfnisse einzusetzen. Sozialismus heißt, die Anarchie einzelner Profitinteressen durch eine koordinierte Planung zu ersetzen.
Diese Klarstellung mag vorläufig genügen. Die nötigen Präzisierungen und Begründungen werden im Verlauf dieses Buches geliefert. Eines ist mir aber vorweg noch wichtig: Erst wenn die ökonomische Basis nicht mehr den Sachzwängen der Kapitalkonkurrenz und der Profiterwirtschaftung um jeden Preis folgen muss, kann der Anspruch der Demokratie überhaupt eingelöst werden. Die bewusste Koordination unserer Produktion ist die Voraussetzung – wenn auch noch nicht die Garantie – für echte demokratische Teilhabe. Solange unsere Ökonomie den Sachzwängen des Kapitals unterworfen ist, haben demokratisch legitimierte Instanzen wie etwa Parlamente überhaupt nur einen geringen Entscheidungsspielraum, können sie im Wesentlichen nur das nachvollziehen, was ihnen die kapitalistische Ökonomie als »Sachzwang« vorgibt. Und solange die Menschen in ihrer materiellen Existenz abhängig sind vom Wohlwollen derer, die über die Produktionsmittel verfügen, sind sie auch in ihrer Wahlentscheidung nicht frei. Die neuerdings modisch gewordene Rede von der »marktkonformen Demokratie« ist entlarvend genug und bringt klar zum Ausdruck, wer der eigentliche Souverän ist. Auf dem Boden des Kapitalismus kann Demokratie aber – entgegen allen ideologischen Beteuerungen – nie und nimmer gedeihen.
Es ist mir hier keineswegs darum zu tun, mit einem erschöpfenden geschichtlichen Abriss des »Ökosozialismus« zu langweilen.1 Mir geht es ja insgesamt in diesem Buch darum, ein bestimmtes Konzept, einen bestimmten Vorschlag in die Diskussion einzuspeisen, nämlich den der Initiative Ökosozialismus2. Die Redlichkeit gebietet es aber schon, darauf aufmerksam zu machen, dass wir nicht die Ersten waren und auch nicht die Einzigen sind, die für sich beanspruchen, »Ökosozialisten« zu sein. So sollen wenigstens ein paar Hinweise darauf gegeben werden, wer in welchem Sinne bisher von »Ökosozialismus« gesprochen hat. Das ist bereits die erste Gelegenheit, in Anknüpfung und Widerspruch dazu das eigene Profil klarer hervortreten zu lassen.
Wenn jemand im deutschen Sprachraum für sich das Copyright auf den Begriff »Ökosozialismus« in Anspruch nehmen kann, dann ist das – zumindest nach meinen Recherchen – der bayerische Romancier und Essayist Carl Amery. In einem kleinen Aufsatz aus dem Jahr 19763 verwendet er ihn zum ersten Mal. Was er selbst darunter genauer versteht, hat er dann in einem umfangreicheren Buch4 dargelegt. In Anlehnung an Karl Marx’ Thesen über Feuerbach fasst er darin in elf Thesen das zusammen, was er – im Gegensatz zum bisherigen, inkonsequenten Materialismus – den »ökologischen Materialismus« nennt. Er geht dabei weit hinaus über eine bloße Bestreitung der kapitalistischen Ökonomie. Der Mensch habe sein spezifisches Potenzial einzufügen in die ökologischen Kreisläufe, seinen angemessenen Platz darin zu finden und seinen Herrschaftswillen gegenüber den übrigen Lebewesen entsprechend zurückzunehmen. Amery stellt damit also den neuzeitlichen Dualismus von Mensch und Natur und den daraus resultierenden Anthropozentrismus radikal infrage. Und: Nicht einfach der Kapitalismus, sondern das Industriesystem insgesamt widerstreitet der Logik des Überlebens der Menschheit. Für Amery gilt: »[…] entweder das Industriesystem bricht vor dem Ökosystem – oder das Ökosystem bricht vor dem Industriesystem zusammen.«5
An dieser Stelle darf ich bereits eine erste Gemeinsamkeit mit unserer Auffassung festhalten: Auch die Initiative Ökosozialismus unterscheidet sich von traditionelleren sozialistischen Strömungen gerade darin, dass sie über die sozialistische Organisation der Ökonomie hinaus nicht nur den Umbau, sondern den konsequenten Rückbau unserer Industriegesellschaft für nötig hält. Im Gegensatz zu Amerys etwas pauschalen Statements haben wir dazu detaillierte Argumente geliefert, die hier noch zur Sprache kommen werden. Amerys Kritik am Anthropozentrismus hat aus unserer Sicht ebenfalls ihre Berechtigung, wenn auch nicht in der apodiktischen Weise, in der Amery sie vorträgt. Der Anspruch, den Lebensraum anderer Spezies zu achten und deren Bedürfnissen Rechnung zu tragen, muss einer Anthropozentrik nicht widersprechen, die auf dem qualitativen Unterschied beharrt, der uns Menschen auszeichnet und der uns erst zu jenem »verantworteten« Umgang mit der übrigen Natur befähigt, der heute nottut. Und wenn Amery von der »Logik des Überlebens der Menschheit« spricht, dann ist dies unübersehbar ein anthropozentrisches Argument. Jedenfalls halten wir einen solchen »aufgeklärten Anthropozentrismus« für eine ausreichende Basis der gemeinsamen Verständigung auf das ökologisch Notwendige und müssen deshalb in unserem Zusammenhang diese philosophische Auseinandersetzung nicht weiterführen.
Anfang der 1980er-Jahre taucht der Begriff »Ökosozialismus« in Zusammenhängen auf, die weniger von spezifisch ökologischen Erwägungen motiviert zu sein scheinen als vielmehr vom Bedürfnis, einen »demokratischen« Sozialismus von autoritären staatssozialistischen Modellen abzugrenzen.6 Als genuine Elemente einer sozialistischen Neuorientierung werden hier benannt: eine Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, Basisinitiativen für ein herrschaftsfreies Leben und Arbeiten, Liberalität im Hinblick auf individuelle Lebensentwürfe, feministische Patriarchatskritik und so weiter. In diesem Zusammenhang versucht man auch, dem Bericht des Club of Rome, Die Grenzen des Wachstums,7 Rechnung zu tragen, und fordert die Einbeziehung einer wachstumskritischen, ökologischen Dimension in die Wirtschaftsdemokratie8 – mehr aber auch nicht. Die Bezeichnung »Ökosozialismus« scheint hier eher dem Bedürfnis nach Abgrenzung vom Staatssozialismus als der ernsthaften Reflexion der ökologischen Folgen unseres Wirtschaftens geschuldet zu sein. Wesentlich deutlicher am neu erwachten ökologischen Bewusstsein orientiert ist allerdings der recht einflussreiche Beitrag des Futurologen Ossip Flechtheim, den viele als den »Vater des ökosozialistischen Ansatzes« bezeichnen. In einem längeren Artikel in der Frankfurter Rundschau vom 20. September 1980 unter dem Titel »Der Ökosozialismus und die Hoffnung auf den neuen Menschen«9 legt er sein Programm dar. Ein Synonym für »Ökosozialismus« ist für ihn »Humansozialismus«, den er scharf abgrenzt von jeder Form von autoritärem Kollektivismus. Sozialismus in seinem Sinne ist aber recht verwässert zu einem »dritten Weg«, der jede über eine bloße Rahmenplanung hinausgehende staatliche Lenkung der Wirtschaft ablehnt und lediglich eine Politik der Vollbeschäftigung, die Beschränkung des Erbrechts und eine Begrenzung des privaten Profitstrebens einklagt. Im Gegensatz zu den Vätern des Sozialismus, Marx und Engels, sei jedoch heute nicht mehr mit einer unbegrenzt zur Verfügung stehenden »Fülle der Natur« zu rechnen. Das verbiete die Einsicht in die Grenzen des wirtschaftlichen und demografischen Wachstums. Es müsse vielmehr um eine Bedarfsdeckungswirtschaft gehen, die »in wichtigen Punkten stabil und stellenweise sogar stationär« sein wird. Flechtheim setzt seine Hoffnung darüber hinaus auf eine ökologisch rationalere und humane Technik, deutet aber andererseits immerhin auch an, dass die neue Gesellschaft »in manchem an vorindustrielle Verhaltensweisen und Werte anknüpfen« könnte. Im Gegensatz zu den Zukunftsvisionen der sozialistischen Gründerväter spricht er von einem Sozialismus, »der freilich in vielem durchaus frugaler zu sein hätte«.10
All das klingt noch wenig nach einem stringenten neuen Konzept. Es lässt vielmehr die Verunsicherung und Nachdenklichkeit erkennen, die Dennis Meadows’ Buch Die Grenzen des Wachstums ausgelöst haben. Immerhin: Im Gegensatz zur heftigen Polemik von links wie rechts, die sich weigerte, das Faktum der Begrenztheit unserer natürlichen Ressourcen zur Kenntnis zu nehmen, ist hier die intellektuelle Redlichkeit am Werk, der Situation wirklich Rechnung tragen zu wollen. Aus heutiger Sicht ist freilich festzuhalten, dass die Dramatik der Situation noch gar nicht im Blick war. Der Klimawandel etwa war damals nur einer kleinen Schar von Experten bewusst und noch weit von der heutigen öffentlichen Aufmerksamkeit entfernt. Natürlich sind, gemessen daran, auch die konkreten Forderungen von damals höchst unzulänglich. Die Diskussion um den Sozialismus allgemein wurde noch im Kontext der Systemkonfrontation im Kalten Krieg geführt, und die einzig wirkmächtige ökologische Basisbewegung war die Anti-AKW-Bewegung, die sehr bald über ihr ursprüngliches Anliegen hinaus zur Sammelbewegung von staatsskeptischen Kräften aller Art wurde.
Als einflussreich für die Debatten innerhalb der Linken erwies sich auch der aus Wien stammende und später in Paris lebende André Gorz. Auch er steht zunächst unter dem Eindruck des Berichts des Club of Rome, Die Grenzen des Wachstums. Die Weiterverfolgung des Zieles »materielles Wachstum« würde in eine Sackgasse münden. Deshalb plädierte Gorz für Recycling, langlebige Güter, Reparatur. Unter dem Eindruck der erheblichen Zunahme der Arbeitsproduktivität in den 1970er-Jahren aber knüpfte er seine Hoffnung auf eine emanzipierte Gesellschaft nicht länger an politische Prozesse, sondern immer stärker an die Entwicklung des technischen Produktionsapparats, projizierte die Produktivitätsentwicklung in die Zukunft, rechnete fantastisch anmutende Potenziale dieser Entwicklung hoch und erwartete von der »mikroelektronischen Revolution« die Befreiung des Menschen. Ein Bruchteil der verfügbaren Arbeitskraft würde nun reichen, um den Gesamtbedarf der Bevölkerung zu decken und damit das »Reich der Freiheit« im Gegensatz zum »Reich der Notwendigkeit« erheblich zu erweitern. Doch diese technische Revolution, die alles Vergangene in den Schatten stelle, führe nicht nur zur Abnahme der Gesamtmasse des fixen Kapitals und zur radikalen Abnahme der nötigen Arbeitskraft, sondern gleichermaßen zur Ersparnis von Ressourcen und Energie! Gorz blendet hier völlig aus, dass eine höhere Energie- und Ressourcenintensität gerade die notwendige Kehrseite der Automation und Fertigung mithilfe von Industrierobotern ist und dass ein gesteigerter Gesamtverbrauch von Energie zwangsläufig daraus folgt. Allein schon ein PC erfordert einen Materialverbrauch von fünfzehn bis neunzehn Tonnen! Industrieroboter und andere automatische Maschinen verbrauchen im Betrieb wesentlich mehr Energie als Prozesse mit stärkerer manueller Beteiligung. Gorz’ Einschätzung der Potenziale der mikroelektronischen Revolution trug auch wesentlich dazu bei, die Debatte um ein bedingungsloses Grundeinkommen neu zu beflügeln, das uns später noch ausführlicher beschäftigen wird (S. 124 ff.).11
In Deutschland verdankt der Begriff »Ökosozialismus« seine relative Bekanntheit – zu Unrecht, wie ich meine – der Tatsache, dass er einer bestimmten Strömung innerhalb der 1979 gegründeten Partei Die Grünen als Selbstbezeichnung diente. Die der Hamburger grün-alternativen Liste (GAL) zugehörenden Hauptprotagonisten dieser Strömung waren Rainer Trampert (zeitweise einer der Sprecher der Bundespartei) und Thomas Ebermann (zeitweise Bundestagsabgeordneter). Allerdings entsprach dieser Selbstbezeichnung keinerlei originäres Konzept von Ökosozialismus. Das Präfix »Öko-« diente offenbar nur dazu, eine grundsätzlich antikapitalistische Position innerhalb einer Partei zu legitimieren, deren ökologische Orientierung konstitutiver Bestandteil ihres Selbstverständnisses war.12
Auf internationaler Ebene ist sicherlich die Vierte (trotzkistische) Internationale heute eine der bedeutenderen Formationen, die ihrem Selbstverständnis nach ökosozialistisch ist. Im Jahr 2003 hat sie auf ihrem Kongress den eindeutig ökosozialistischen Text Ökologie und sozialistische Revolution verabschiedet. Vorausgegangen war dem ein im Jahr 2001 vom amerikanischen Philosophen Joel Kovel und vom brasilianischen Philosophen Michael Löwy verfasstes Ökosozialistisches Manifest, das im Jahr 2007 zur Grundlage des Internationalen Ökosozialistischen Netzwerks werden sollte. Daraus ging wiederum die Internationale Ökosozialistische Erklärung von Belém aus dem Jahr 2008 zur Erderwärmung hervor. Auch das in Deutschland beheimatete Netzwerk Ökosozialismus, dem unsere Initiative Ökosozialismus angehört, hat die Erklärung von Belém als Grundkonsens gewählt.13
Der entscheidende Vordenker in diesem Zusammenhang ist ohne Zweifel der in Brasilien geborene und bis zu seiner Emeritierung in Paris lehrende Philosoph Michael Löwy. Er kritisiert zunächst die Unzulänglichkeit rein kultur- und konsumkritischer Ansätze, wie sie zum Beispiel heute in der Degrowth-Bewegung zu finden sind, aber auch die Grenzen reiner Technikkritik. Dagegen beharrt er darauf, dass der kapitalistische Zwang zum Wachstum, der aus dem Konkurrenzverhältnis von Einzelkapitalien resultiert und eine Kapitalakkumulation auf immer höherer Stufenleiter erfordert, die entscheidende Triebkraft der ökologischen Zerstörung ist. Allerdings unterzieht er auch die eigene, marxistische Tradition einer gründlichen Revision. Gefordert sei heute eine umfassende Kritik der Auffassung, dass erst die höchstmögliche Entwicklung der Produktivkräfte eine sozialistische Gesellschaft ermögliche, wie dies Marx und Engels im Manifest der Kommunistischen Partei vertreten haben (vgl. dazu weiter unten, S. 193 ff.). Ein radikaler Bruch mit der Ideologie des linearen Fortschritts mit dem technologischen und ökonomischen Paradigma der modernen Industriezivilisation sei gefordert. Löwy verweist in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die grundsätzliche Infragestellung der Fortschrittsidee durch den Philosophen Walter Benjamin. Ziel der gesellschaftlichen Kontrolle über die Produktionsmittel ist nicht länger die »Beherrschung der Natur«, sondern vielmehr die bewusste Gestaltung des Verhältnisses von Mensch und Natur im Sinne der Lebensförderung und -erhaltung. Das kollektive Eigentum an Produktionsmitteln und eine demo-kratische Planung der Produktionsziele, der Investitionen und der technologischen Struktur der Produktivkräfte seien unabdingbar.
Löwy verabschiedet sich damit konsequent von allen produktivistischen Varianten des Sozialismus aus dem vorigen Jahrhundert. Allerdings ist seine Position – aus unserer Sicht – auch mit entscheidenden Schwächen und Fehleinschätzungen behaftet, die nach meinem Eindruck vor allem auf die mangelnde Auseinandersetzung mit dem empirischen Befund, etwa mit Potenzialen erneuerbarer Energien oder der Dimension der erforderlichen Reduktionen, zurückzuführen sind. Ein erstes analytisches Defizit sehe ich aber zunächst in Löwys Einschätzung der Rolle der (organisierten) Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften. Er bezeichnet sie nach wie vor als »eine grundlegende Kraft für jede radikale Systemveränderung und für die Entstehung einer neuen sozialistischen und ökologischen Gesellschaft«14. Eine solche Einschätzung hat wohl eher emotionale Wurzeln, als dass sie empirisch oder analytisch zu erhärten wäre. Löwys »Klassenstandpunkt« übersieht hier, dass es heute, da sich die Widersprüchlichkeit des Kapitalismus nicht mehr vornehmlich in der Verelendung der Industriearbeiter niederschlägt, sondern im brutalen Ausschluss großer Bevölkerungsmassen im globalen Süden einerseits und in einer rasanten Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen andererseits, keinen objektiven (!) Zusammenfall der Interessen mehr gibt, wie ihn etwa Karl Marx noch voraussetzen konnte, um die besondere Rolle des Industrieproletariats zu begründen (vgl. dazu weiter unten, S. 199 f.). Die unmittelbaren (!) eigenen Interessen der abhängig Beschäftigten in den Industrieländern decken sich keinesfalls mit dem, was heute eine Transformation der Gesellschaft so dringend nötig macht: dem Interesse an der Erhaltung unserer elementaren natürlichen Lebensvoraussetzungen. In den entscheidenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen im Ringen um unsere ökologische Zukunft steht ein Großteil der organisierten Arbeitnehmerschaft denn auch faktisch auf der anderen Seite. Dies wäre nüchtern zur Kenntnis zu nehmen und analytisch aufzuarbeiten, anstatt in Arbeiterbewegungsnostalgie zu schwelgen.
Löwy erspart sich die Auseinandersetzung mit den Details der notwendigen Reduktionen des Energie- und Ressourcenverbrauchs und gelangt so zu verharmlosenden Einschätzungen des bevorstehenden radikalen Bruchs. Die Lösung liege nicht in einer allgemeinen »Begrenzung« des Konsums, erforderlich sei lediglich eine Einschränkung des Luxus, der Verschwendung, unnützer und schädlicher Produkte. Löwy unterschlägt damit völlig, dass auch die Konsumgewohnheiten breiter Bevölkerungsmassen in den reichen Industrieländern, wie regelmäßige Urlaubsflüge oder der selbstverständliche Besitz eines Autos, mit den Zielen der Nachhaltigkeit völlig unvereinbar sind. Privat-autos zählt er zu den legitimen Bedürfnissen, er erspart sich die Auseinandersetzung im Detail und versteigt sich stattdessen zu entlarvender Polemik: »Es gibt keineswegs die Notwendigkeit – wie es einige puritanische und asketische ÖkologInnen zu glauben scheinen –, das Lebensniveau der europäischen oder nordamerikanischen Bevölkerungen in grundsätzlichem Sinne abzusenken.«15 Erstaunlich genug, dass bekennende Antiimperialisten, wenn es ums Eingemachte geht, zu glühenden Verfechtern unserer imperialen Lebensweise werden und das System der weltweiten ökologischen Ausplünderung ausblenden, das dieses »Lebensniveau« erst ermöglicht. So mutieren revolutionäre Marxisten plötzlich zu Verteidigern des american way of life.
Löwy unterstellt auch recht pauschal, ohne auch nur irgendwo eine detaillierte Analyse zu leisten, dass die konsequente Entwicklung erneuerbarer Energien lediglich an der mangelnden kapitalistischen Rentabilität gescheitert sei. Ebenso wie die Verfechter eines »grünen Kapitalismus« scheint er also stillschweigend davon auszugehen, dass ökologische Nachhaltigkeit rein technisch zu bewältigen wäre. Wozu aber dann noch Sozialismus? Könnte nicht gerade ein »aufgeklärter Kapitalismus« selbst die nötigen Veränderungen herbeiführen, wenn die brachliegenden Potenziale erneuerbarer Energien so Erfolg versprechend wären? Dass die mangelnde Rentabilität möglicherweise auch mit der wesentlich geringeren energetischen Dichte alternativer Energiequellen zu tun haben könnte – diese Frage stellt er erst gar nicht.
Gegenstand dieses Buches ist jene Auffassung von »Ökosozialismus«, wie sie die im Jahr 2004 gegründete Initiative Ökosozialismus vertritt. Als loser Zusammenschluss, dem sich in Deutschland, der Schweiz und Österreich einige Hundert Menschen zugehörig fühlen, versucht die Initiative Ökosozialismus, die politischen Auseinandersetzungen mitzubestimmen, ihre inhaltlichen Positionen publik zu machen und in die Debatten relevanter sozialer Bewegungen, Organisationen und Parteien mit einzuspeisen. Gründungsmitglied und Haupttheoretiker unseres Ansatzes ist der aus Indien stammende, in Deutschland lebende Aktivist und Autor Saral Sarkar. Er hat die Grundzüge seiner Überlegungen bereits vor mehr als zwei Jahrzehnten in einem Standardwerk16 dargestellt, das trotz der Zeitbedingtheit so mancher darin geführter Auseinandersetzungen und trotz der Tatsache, dass die Diskussion so mancher technischer Entwicklungen darin überholt ist, nach wie vor unsere Grundüberzeugungen widerspiegelt. Allerdings haben wir in der lebendigen Auseinandersetzung mit ökologisch engagierten Menschen und in unserer aktiven Teilnahme an der politischen Auseinandersetzung unsere Positionen immer wieder nuanciert und präzisiert. Eine Skizze unserer Auffassung sei als Orientierung für die Leserinnen und Leser hier thesenartig vorangestellt. Das im Folgenden in Grundrissen Dargestellte wird im Lauf dieses Buches näher erörtert und diskutiert, vor allem aber wird es in Auseinandersetzung mit anderen Auffassungen ein schärferes Profil gewinnen.
1. Die ökologische Krise unterscheidet sich qualitativ von allen bisherigen Krisensituationen der Weltgeschichte: Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ist es wahrscheinlich geworden, dass sich die Gattung Mensch innerhalb weniger Dekaden, also innerhalb eines für uns biografisch relevanten Zeitraums, selbst auslöscht. Das alles wird zum Negativvorzeichen aller Politik- und Lebensbereiche, schmälert den Spielraum der Gestaltung der Gesellschaft insgesamt und wird deshalb zur Hauptursache vielfältiger anderer Krisen und innergesellschaftlicher sowie zwischenstaatlicher Gewalt. Unter solchen Umständen wäre auch die Erhaltung eines Minimums an demokratischen Strukturen nicht mehr möglich. Das heißt: Die Prioritätensetzung innerhalb unserer politischen Agenda ist nicht beliebig. Mit der unmittelbaren Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit steht schlicht alles auf dem Spiel. Hier hat sich zu bewähren, wer überhaupt den Anspruch erhebt, in der politischen Auseinandersetzung ernst genommen zu werden. Alle Politikvorschläge sind am Maßstab zu messen, ob sie zu dieser fundamentalen Herausforderung etwas beitragen und ihr nicht irgendeinen, sondern den zentralen Stellenwert einräumen.
2. Die dringlichste soziale Frage weltweit ist die ökologische Frage! Gerade angesichts der wieder zunehmenden Tendenzen »linker« Strömungen, die soziale Frage nationalchauvinistisch zu verkürzen und ihren Blick lediglich auf die relativ ärmeren Bevölkerungsschichten in den reichen Industrieländern zu richten, ist darauf zu insistieren, dass Solidarität nur universal gedacht werden kann, dass deren Maßstab die Opfer jenes Scheinwohlstands sein müssen, an dem bei uns alle, wenn auch in recht unterschiedlichem Maß, partizipieren.
Das sich weltweit durchsetzende kapitalistische und großindustrialistische Wirtschafts- und Lebensmodell, die »imperiale Lebensweise« (Ulrich Brand), hat einen doppelten Zerstörungsprozess beschleunigt: den Prozess der Vernichtung unserer natürlichen Lebensgrundlagen und gleichzeitig den Prozess des Ausschlusses immer größerer Teile der Menschheit von den ökonomischen und sozialen Lebensvoraussetzungen. Beide Prozesse verstärken sich gegenseitig.
Die Existenzmöglichkeiten des Großteils der Menschheit heute und die der kommenden Generationen hängen auf mehrfache Weise eng zusammen: a) Die Hauptursache der Naturzerstörung einerseits und der weltweiten Prozesse der Verelendung beziehungsweise des ökonomischsozialen Ausschlusses andererseits ist dieselbe: das mittlerweile weltweit durchgesetzte, dem Zwang zum Wachstum unterliegende kapitalistische Wirtschaftssystem, zurzeit noch dazu in der Zuspitzung des neoliberalen Paradigmas. b) Unvermeidliche Überlebensstrategien von arm Gemachten ziehen oft zwangsläufig Naturzerstörung nach sich. c) Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich im Weltmaßstab drückt sich unmittelbar und am augenfälligsten in einem extrem asymmetrischen Verhältnis der Naturnutzung aus: Das reiche Fünftel der Weltbevölkerung ist verantwortlich für mehr als 80 Prozent des Verbrauchs von Energie und nicht erneuerbaren Ressourcen sowie für mehr als 80 Prozent des Schadstoffeintrags in die Biosphäre. d) Die Folgelasten des Naturverbrauchs in den reichen Industrieländern und der Veränderung des Weltklimas werden zum Großteil den arm gemachten Bevölkerungsmehrheiten im globalen Süden aufgebürdet. Eine Studie des Fraunhofer Instituts ging bereits im Jahr 1992 davon aus, dass, wenn nicht einschneidende Weichenstellungen vorgenommen werden, aufgrund der Verschiebung der Vegetationszonen bis zum Jahr 2030 mit 900 Millionen bis 1,8 Milliarden zusätzlicher Hungertoter zu rechnen ist – mit einer absoluten, nicht verteilungsbedingten Hungerkatastrophe also von bis dahin nicht gekanntem Ausmaß als direkter Folge der Klimaveränderungen.17 Nicht dazu gezählt sind dabei die Opfer der klimabedingten starken Ausbreitung von Krankheiten wie etwa Malaria oder die Opfer von Katastrophen wie Überflutungen, Wirbelstürmen und so weiter. Bereits heute haben die Verelendungsprozesse im globalen Süden neben ökonomischen und politischen Herrschaftsverhältnissen auch ökologische Zerstörung als unmittelbare Ursache. Seit Mitte der 1970er-Jahre etwa ist die Niederschlagsmenge in der Sahelzone (Afrika südlich der Sahara) aufgrund der Erderwärmung um rund 40 Prozent zurückgegangen. Die Verwüstung großer Teile Mittelamerikas durch den Hurrikan Mitch Ende der 1990er-Jahre und die Verstärkung des Klimaphänomens El Niño, das unter anderem Dürrekatastrophen in Südostasien auslöste, stehen vermutlich in direktem Zusammenhang mit der Erderwärmung und geben einen Vorgeschmack auf das, was den Menschen dieser Regionen droht. Von den Medien bei uns kaum kommentiert wurde, dass im Jahr 2019 die zweitgrößte Stadt Moçambiques (Beira), mit einer halben Million Einwohnern, durch eine vom Klimawandel bedingte Wetterkatastrophe fast völlig zerstört wurde. Hinzu kommt: In vielen Regionen bildet der Klimawandel den Hintergrund bewaffneter Konflikte. In Bezug auf den Südsudan sprachen viele Analytiker vom ersten Klimakrieg, und auch der schreckliche Bürgerkrieg in Syrien wurde durch eine anhaltende, klimabedingte Dürreperiode ausgelöst. Die sich ändernden klimatischen Verhältnisse werden zunehmend zur Fluchtursache. In den sogenannten MENA-Ländern (den Ländern, die sich vom Mittleren Osten bis über Nordafrika erstrecken) ist damit zu rechen, dass aufgrund der hohen Temperaturen bereits in wenigen Jahrzehnten keine für den Menschen ertragbaren Lebensbedingungen mehr herrschen – allein schon deshalb, weil die Temperaturregulation des menschlichen Körpers angesichts der immer länger andauernden Hitzeperioden versagt. Der Klimaforscher des Mainzer Max-Planck-Instituts, Jos Lelieveld, zieht daraus den Schluss: »Der Klimawandel wird die Lebensumstände im Nahen Osten und in Nordafrika weiter deutlich verschlechtern. Lang andauernde Hitzewellen und Sandstürme werden viele Gebiete unbewohnbar machen, was sicher zum Migrationsdruck beitragen wird.«18 Es sei daran erinnert, dass in der betroffenen Region derzeit 550 Millionen Menschen leben. Ein länger anhaltendes Überschreiten der »Kühlgrenztemperatur«19 wird, wenn der Erderwärmung nicht Einhalt geboten wird, im Lauf unseres Jahrhunderts das Überleben auf einem großen Teil der Landmasse des Planeten unmöglich machen. Das betrifft etwa die Amazonas-Region, Indien, große Teile Afrikas, Australien und den gesamten Südwesten der USA.20 James Lovelock, einer der führenden Experten für Atmosphärenchemie weltweit, gab gegenüber dem IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) zu Protokoll, dass eine Erderwärmung um mehr als 2 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau dazu führen könnte, dass ein Großteil der Landmasse Savanne und Wüste würde, ein Großteil der Ozeane kein Leben mehr bergen und ein Massensterben mehr als 80 Prozent der Weltbevölkerung dahinraffen könnte.21
Kein Zweifel also: Weltweit gesehen, ist die dringendste soziale Frage die ökologische Frage!
Der zentrale Begriff, der der Bilanzierung des Naturverbrauchs zugrunde gelegt werden kann, ist der des Umweltraumes. Er kann als jener Handlungsspielraum definiert werden, die Natur innerhalb der Grenzen ihrer eigenen Regenerierbarkeit zu nutzen, wobei wir gleichzeitig weltweit jedem Menschen das gleiche Maß an Naturnutzung zugestehen. Der Niederländer Hans Opschoor hat dieses Konzept ursprünglich entwickelt, und die von BUND und Misereor in Auftrag gegebene Studie Zukunftsfähiges Deutschland vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie hat es in der Weise weiterentwickelt, dass der Aspekt der weltweiten Gerechtigkeit besonders akzentuiert wird. Vier Kriterien definieren demnach den Umweltraum: ökologische Tragfähigkeit, Regenerationsfähigkeit, Verfügbarkeit von Ressourcen und weltweite Chancengleichheit, das heißt gleiche Nutzungsrechte für jeden Menschen, ob in den Niederlanden oder in Burkina Faso. Das Kriterium der globalen Gerechtigkeit ist hier also bereits in die Methode der Bilanzierung integriert. Insofern meine ich, dass dieses Konzept – völlig unabhängig davon, was etwa das Wuppertal Institut an politischen Konsequenzen zieht – von Linken unbedingt zu rezipieren ist.22
Die ökologische Wende ist also unmittelbar eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Unser Produktions- und Konsumtionsniveau ist nicht universalisierbar. Allein im bevölkerungsreichsten deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen sind mehr PKWs zugelassen als in Schwarzafrika, und wir gehören zu jenen lediglich 5 Prozent der Erdbevölkerung, die sich den Luxus des Fliegens (der Flugverkehr trägt ganz erheblich zu den Klimaveränderungen bei) leisten. Dazu kommen unmittelbare Folgeprobleme unserer Produktion und unseres Konsums, die wir den Bevölkerungsmehrheiten des globalen Südens aufbürden. Erwähnt seien hier nur die Folgen des Bergbaus zur Gewinnung von Bodenschätzen, wie etwa im Niger (Uran), im Kongo (z. B. Kolumbit und Tantalit: »Koltan«), in Brasilien (Bauxit, Eisenerz), und der Bodenerosion einer exportorientierten Landwirtschaft.
Wenn wir diesen globalen Horizont nicht ausblenden wollen, kommen wir um die Einsicht nicht herum: Mit unserer ökologisch nicht tragfähigen Lebens- und Produktionsweise beteiligen wir uns weltweit an einem chauvinistischen Selektionsprozess, der andere unmittelbar ihrer Lebenschancen beraubt. Die ökologische Wende muss deshalb für Linke, die für sich die Leitvorstellung »sozialer Gerechtigkeit« beanspruchen, Priorität haben.
3. Der entscheidende Motor der ökologischen Zerstörung ist der kapitalistische Wachstumszwang. Aufgrund des Konkurrenzmechanismus zwischen Einzelkapitalien unterliegt der Kapitalismus insgesamt einem in ihm selbst verankerten Zwang zum Wachstum. Um auf dem Markt zu überleben, ist das Einzelkapital gezwungen, einen möglichst großen Teil des Gewinns in kapitalintensivere Produktion zu investieren. Ein beschleunigter Kapitalkonzentrationsprozess, eine Aufwärtsspirale der Anhäufung von Kapital auf immer höherer Stufe und weltweite Expansion sind die zwangsläufigen Folgen. Der Zwang zur Kapitalakkumulation führt auch zu einer Veränderung der »organischen Zusammensetzung« (Karl Marx) des Kapitals. Das heißt, aufgrund der natürlichen Begrenzung der zur Verfügung stehenden menschlichen Arbeitskraft, die für das Wachstum eine natürliche Schranke darstellen würde, bedarf die Kapitalakkumulation eines immer höheren Anteils an – energieintensiverer – Maschinerie und technischer Ausstattung. Die kapitalintensivere Produktion und der entsprechende Konsum beschleunigen den Verbrauch von Energie und Rohstoffen.
Eine Wirtschaftsweise unter dem objektiven Zwang zur Profitanhäufung und Kapitalverwertung ist von sich aus unfähig, der Abhängigkeit der Menschen von den natürlichen Lebenszusammenhängen Rechnung zu tragen, weil sie die natürlichen Ressourcen in prinzipiell grenzenlos vermehrbaren Geldwerten ausdrücken und damit deren Endlichkeit ignorieren muss. Der kapitalistische Zwang zum Wachstum macht dieses zum Selbstzweck. Daraus ergeben sich unmittelbar jene Imperative, die uns als »Sachzwänge« begegnen: Expansion um jeden Preis, Senkung der Kosten der Produktionsfaktoren (wozu die menschliche Arbeitskraft ebenso gehört wie die Natur), technische Innovation (auch um den Preis unbeherrschbarer Risiken), Erzeugung künstlicher Bedürfnisse und eine Produktion »auf Verschleiß« (»geplante Obsoleszenz«).
Auch politische Zähmungsversuche wie die sogenannte soziale Marktwirtschaft lösen diesen Grundwiderspruch nicht auf, im Gegenteil: Sie sind darauf angelegt, wirtschaftliches Wachstum (im Sinne des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts) dauerhaft sicherzustellen, zu institutionalisieren. So heißt es bei einem der »Klassiker« der sozialen Marktwirtschaft: »Der Wettbewerb muss primär als eine Form, möglichst ungehindert den technischen und ökonomischen Fortschritt zu realisieren, begriffen werden. Seine Rechtfertigung ist daher die stete Produktionssteigerung. Eine Politik der sozialen Marktwirtschaft verlangt eine bewusste Politik wirtschaftlichen Wachstums.«23
Die heutige Suche nach einer stabilen Postwachstumsökonomie, die angesichts der Grenzen des Wachstums unausweichlich geworden ist, kommt an der Einsicht nicht vorbei, dass der entscheidende Wachstumstreiber die Kapitalverwertung als Selbstzweck ist. Unter dem Eindruck des ersten Berichts des Club of Rome (1972), der erstmals nachdrücklich auf die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen hingewiesen hat, hat der evangelische Theologe Helmut Gollwitzer deshalb auch zutreffend formuliert: »Wird heute, angesichts objektiv sichtbar werdender ›Grenzen des Wachstums‹, eine wirtschaftliche Wachstumsbeschränkung gefordert, so muss gesehen werden, dass dies eine das kapitalistische System aufhebende Forderung ist.«24
4. Die Geschichte des Kapitalismus war immer schon die Geschichte seiner Krisen. Es liegt in seiner selbstwidersprüchlichen Natur, dass er aus sich heraus Krisen gebiert und seine eigenen Verwertungsbedingungen untergräbt. Der Kapitalismus hat sich bislang immer als flexibel genug erwiesen, dass diese Krisen – ungeachtet des hohen Preises, den Mensch und Natur zu zahlen hatten – nicht in seinen Untergang führten. Nun aber steht der Kapitalismus weltweit zum ersten Mal vor einer unüberwindlichen Schranke, die ihm »von außen« gesetzt ist, die geologischphysikalischer Natur und deshalb endgültig ist: die Erschöpfung der nicht erneuerbaren Ressourcen sowie der ökologischen Tragfähigkeit der Erde. Aus dieser »Zangengriffkrise« kann er nicht entrinnen.