Das Marsprojekt (4). Die steinernen Schatten - Andreas Eschbach - E-Book

Das Marsprojekt (4). Die steinernen Schatten E-Book

Andreas Eschbach

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Beschreibung

Nachdem Carl die Höhle der Aliens entdeckt hat, verhängt der Statthalter des Mars eine Nachrichtensperre. Gleichzeitig widmen sich die Wissenschaftler auf dem Mars intensiv der Erforschung des Fensters - oder ist es ein Tor? - zu einem anderen Planeten, das sich bei einem der geheimnisvollen Türme geöffnet hat. Doch den Schlüssel dazu halten allein die Marskinder in der Hand: Es sind die Artefakte, die ihre Namen tragen. Als Elinn dem Ruf der Marsianer folgt, überschlagen sich die Ereignisse: Zuerst gelangt sie durch das Tor auf den fremden Planeten, dann folgen ihr Carl und Urs. Als sie schließlich entdecken, dass der Planet gar nicht so fremd und verlassen ist, wie sie dachten, stecken sie auch schon mittendrin in politischen Intrigen.

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Titel

Andreas Eschbach

Das Marsprojekt

__________

Die steinernen Schatten

Impressum

Erste Veröffentlichung als E-Book 2012© 2007 by Arena Verlag GmbH, WürzburgAlle Rechte vorbehaltenDieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische AgenturSchlück GmbH, 30827 GarbsenUmschlaggestaltung: Frauke Schneider unter Verwendung eines Fotos von © dreamstimeISBN 978-3-401-80152-0www.arena-verlag.deMitreden unter forum.arena-verlag.dewww.eschbach-lesen.de

Inhalt

1. Eine Reportage vom Mars

2. Schlüssel zu einer fremden Welt

3. Ziviler Ungehorsam

4. Eine unruhige Nacht

5. In geheimer Mission

6. Ein kleiner Schritt für einen Menschen

7. Die Stunde der Wahrheit

8. Rettungsaktion

9. Der Vorhang fällt

10. Die galaktische U-Bahn

11. In großer Not

12. Aufbruch ins Unbekannte

13. Anzeichen von Leben

14. Der jüngste Pilot des Sonnensystems

15. Verschollen

16. Weltuntergang

17. Eine verblüffende Entdeckung

18. On the road

19. Zeugen der Vergangenheit

20. Nachricht von der Erde

21. Kein Weg zurück

22. Unheimliche Kunstwerke

23. Unheil im Verzug

24. Streng geheim

25. Das Licht der Hölle

26. Eine harte Entscheidung

27. Die Welt hält den Atem an

28. Rettungsengel

29. Aufbruch

1. Eine Reportage vom Mars

Der Mann im Raumanzug trat an eine Stelle, an der er zuvor etwas von dem grauschwarzen Geröll beiseitegeräumt hatte, um einen festen Stand zu haben. Als er sich umdrehte, kippte gerade das Stativ mit der Kamera um.

»Es gibt Tage, da klappt einfach gar nichts«, murmelte er.

Er stapfte zurück, stellte das Dreibein wieder auf, zog sämtliche Schrauben nach und justierte das Objektiv. Dann löschte er, was das Gerät bis jetzt aufgezeichnet hatte, und startete die Aufnahme neu.

Wieder stellte er sich in Position, atmete durch, vergewisserte sich, dass das Mikrofon funktionierte, und sagte: »Mars. Löwenkopf. Siebter Versuch.«

Dann fiel ihm ein, dass er besser die Innenbeleuchtung seines Helms einschaltete, damit man sein Gesicht sah. Nicht auszudenken, wenn er den ganzen Bericht fehlerfrei hinbekam und am Ende nichts weiter zu sehen wäre als ein silbrig spiegelnder Helm! Er wartete noch ein paar Augenblicke, bis er sich ruhig genug fühlte, dann begann er.

»Guten Tag, meine Damen und Herren. Mein Name ist Wim Van Leer. Ich bin Reporter für alle großen Nachrichtennetze und ich berichte heute, wie Sie unschwer erkennen, vom Mars. In diesem Moment, da ich zu Ihnen spreche, schreiben wir Mittwoch, den 25. März des Jahres 2087. Ich habe die Erlaubnis, diesen Bericht aufzuzeichnen, doch zur Erde übertragen darf ich ihn nicht. Wann das, was ich Ihnen zu sagen habe, gesendet wird, ja sogar, ob es jemals gesendet wird, steht im Augenblick buchstäblich in den Sternen. Hier auf dem Roten Planeten haben sich in den letzten Tagen und Wochen Dinge von historischer, möglicherweise schicksalhafter Bedeutung ereignet – doch der Statthalter der Erdregierung hat eine Nachrichtensperre verhängt. Nichts von all dem darf im Moment zur Erde gelangen. Gegen diese Anweisung, die in meinen Augen illegal ist, habe ich mit allem Nachdruck protestiert, kann einstweilen aber nichts anderes tun, als mich ihr zu fügen und in der Hoffnung auf Besserung der Lage zu dokumentieren, was sich auf dem Mars zuträgt.«

Das Lämpchen über dem Objektiv der Kamera glomm grün. Das hieß, alles funktionierte. Der Reporter drehte sich zur Seite und deutete auf das kolossale Gebilde, das in einiger Entfernung hinter ihm in den Himmel ragte: Ein tiefblauer Zylinder, der vor dem trüben Dunkelbraun des Firmaments von innen heraus zu leuchten schien.

»Dieser Anblick dürfte Ihnen inzwischen vertraut sein: Einer der beiden blauen Türme. Genauer gesagt, der Ostturm. Dass es sich dabei um ein von fremden, nicht menschlichen Intelligenzen errichtetes Bauwerk handelt, brauche ich kaum zu erklären; schließlich beherrschen diese Gebilde seit ihrer Entdeckung vor fünf Monaten die Schlagzeilen. Sie wissen, dass die beiden Türme knapp zwei Kilometer voneinander entfernt stehen, dass jeder von ihnen etwa vierhundert Meter hoch ist und sich langsam um seine eigene Achse dreht, einmal in vierhundertelf Stunden, um genau zu sein. Woraus sie bestehen, ist immer noch unklar. Das Material sieht aus wie tiefblaues Glas, aber Glas ist es ganz bestimmt nicht.«

Wim Van Leer machte eine Pause. Sein Gesicht wirkte im Schein des Helmlichts blass, ein paar strohige Haare hingen ihm vorwitzig in die Stirn und zitterten im Luftstrom der Sauerstoffversorgung.

»Diesen Anblick allerdings«, fuhr er fort und trat einen Schritt nach links, »kennen Sie noch nicht.«

Die Kamera war auf einen kleinen Sender eingestellt, den er in der Tasche trug, folgte daher seiner Bewegung und schwenkte dabei so herum, dass der andere der beiden Türme ins Bild kam.

Nur dass von diesem Turm nichts mehr zu sehen war. Da, wo bislang ebenfalls ein schlanker, makelloser tiefblauer Zylinder gestanden hatte, schien nun ein Riss in der Landschaft zu klaffen, ein mehrere Hundert Meter hoher Spalt, durch den man hinübersah in eine andere Welt. Man sah einen Himmel voll bizarrer Wolken, darunter gelbbraunes Hochland, auf dem hier und da dürres Gestrüpp wuchs und das sich bis in endlose Ferne erstreckte, ehe es in dunklen Schatten, die Wälder sein mochten, verschwand.

»So sieht der Westturm seit gestern Abend neunzehn Uhr achtundvierzig Marszeit aus«, erklärte Van Leer. »Das war der Moment, in dem der Turm zum Stillstand gekommen ist. Seither bietet sich uns dieser Blick auf eine andere Welt, den Tom Pigrato, der Statthalter, und die Leitung der Marssiedlung Ihnen zu Hause auf der Erde vorenthalten.«

Der Reporter hob mahnend die Hand. »Wir wissen nicht, welchen Planeten wir dort sehen. Die Anhaltspunkte sind dürftig. Vor ungefähr einer Stunde ist die Nachtperiode auf der anderen Seite zu Ende gegangen, doch der Himmel über der Welt, die wir dort sehen, war die ganze Nacht von Wolken bedeckt, sodass man keine Sterne oder Sternbilder ausmachen konnte, die einen Rückschluss auf die galaktische Position des Planeten erlaubt hätten. Die Wissenschaftler arbeiten jedoch ohne Pause. Gut möglich, dass wir in einigen Tagen mehr wissen. Aber so sensationell der Anblick auch sein mag – es gibt einen anderen Gesichtspunkt, der das, was sich hier im Augenblick abspielt, wirklich brisant macht.«

Van Leer setzte sich auf eine Felskante, die er vor Beginn der Aufnahme sorgsam ausgewählt hatte. Die Kamera folgte ihm und stellte sich dabei so ein, dass das wissenschaftliche Lager am Fuß des Westturms ins Bild kam.

»Damit Sie verstehen, was ich meine, will ich Ihnen von den Dingen erzählen, die sich in den Wochen vor dem gestrigen Abend zugetragen haben«, sagte der Reporter. »Vor anderthalb Monaten startete eine Expedition zum östlichen Ende der Valles Marineris. So weit nichts Ungewöhnliches, schließlich ist die Marssiedlung in erster Linie der Forschung gewidmet. Schon eher ungewöhnlich war, dass eines der Marskinder daran teilnahm, ein Junge, dessen Namen Ihnen geläufig ist – Carl Faggan, der erste auf dem Mars geborene Mensch, der Sohn des Marsforschers James Faggan, der 2078 auf der Cydonia-Expedition ums Leben kam. Carl ist mittlerweile fünfzehn Jahre alt, und was unsereinem, der von der Erde auf den Mars kommt, wie ein Abenteuer erscheint – das Leben unter verringerter Schwerkraft, der Umgang mit Raumanzügen und so weiter –, ist für ihn, genau wie für die anderen Marskinder, alltägliche Routine. Er ist mit dem Roten Planeten und seinen Gefahren so vertraut, wie jemand mit einem Ort nur dann vertraut sein kann, wenn er dort geboren und aufgewachsen ist, und das macht ihn zu einem nützlichen Mitglied auf einer Expedition. Wenn weiter nichts geschehen wäre, wäre seine Teilnahme nicht der Rede wert.«

Van Leer verschränkte die Arme vor der Brust. »Doch es ist etwas geschehen. Im Lauf der Reise wurde ein weiteres Bauwerk entdeckt, offenbar die Ruine eines einstmals großen Gebäudes, sowie eine Höhle, die mit demselben glasartigen Material ausgekleidet ist, aus dem auch die Türme bestehen. In diese Höhle geriet Carl Faggan und stellte fest, dass es sich dabei um eine Art Mausoleum für einige Hundert extraterrestrische Lebewesen handelt – Aliens also. Sie sehen aus wie …nun ja, man denkt an Heuschrecken. Sie sind über drei Meter groß. Sie liegen in gläsernen Särgen. Wir wissen nicht, ob sie tot sind oder womöglich nur schlafen, denn wir haben nichts als die Fotos, die der Junge mitgebracht hat. Und die Art und Weise, wie Carl Faggan aus dieser Höhle wieder entkommen ist, muss uns alle beunruhigen. Mich. Uns hier auf dem Mars. Und Sie auf der Erde ebenfalls.«

Wim Van Leer reckte den Arm gen Osten. »Der Ort, an dem Carl Faggan in die Höhle geriet, liegt fünftausend Kilometer entfernt. Doch er musste nur einen einzigen Schritt tun, um hier an der Löwenkopf-Formation, mitten im Daedalia Planum, aufzutauchen. Um genau zu sein: Er kam aus einem der Türme.«

Der Reporter trat auf die Kamera zu, wartete, bis sich das Objektiv auf ihn eingestellt hatte.

»Deswegen, meine Damen und Herren«, erklärte er, »sind die Wissenschaftler hier auf dem Mars überzeugt, dass wir es beim Westturm in Wirklichkeit mit einer Passage zu tun haben. Dass der Turm zu einer Pforte geworden ist, durch die man von einem Planeten auf den anderen wechseln kann. Eine Pforte, die von unserer Seite aus verschlossen ist – doch wer sagt uns, dass nicht jemand auf der anderen Seite den Schlüssel dazu besitzt?«

Er verharrte eine Weile, dann beugte er sich nach vorn und schaltete die Kamera aus. Anschließend klappte er den Bildschirm aus und sah sich die Aufnahme noch einmal an.

»Na also«, murmelte er danach zufrieden auf Holländisch. »Geht doch.«

Er begann, die Kamera vom Stativ zu schrauben und seine ganze Ausrüstung zurück in die Tasche zu packen, was mit Fingern, die in den Handschuhen des Raumanzugs steckten, nicht ganz einfach war. Zehn Minuten später sah man ihn durch das dunkle Geröll stapfen, auf das Lager der Forscher zu, wo ein Flugboot für den Rückflug zur Marssiedlung beladen wurde.

Auf die Idee, dass auch jemand auf dem Mars über einen Schlüssel zum Westturm verfügen könnte, kam Wim Van Leer nicht.

2. Schlüssel zu einer fremden Welt

Elinn sah in den Augen der anderen nur Skepsis, Ablehnung, Furcht. Begriffen sie denn nicht? Es lag doch auf der Hand!

Sogar Ariana schüttelte den Kopf. Ariana, die immer ihre Freundin gewesen war. »Nein«, sagte sie und klang unnachgiebig. »Nein, Elinn. Das ist Unsinn.«

Was hatte sie denn so Ungeheuerliches gesagt? Doch bloß das, was sonnenklar war. Was sie tun mussten. Nämlich die Artefakte, auf denen ihre Namen standen, nehmen, wieder zum Löwenkopf fliegen und ausprobieren, ob sie mit deren Hilfe durch den Westturm hinübergehen konnten auf den anderen Planeten.

Was sonst konnte man tun?

»Ausgeschlossen«, sagte Carl. »Viel zu riskant.«

Elinn sah ihren großen Bruder an, hörte die Angst in seiner Stimme. Er hatte Angst, ja.

Angst, den Wesen wieder zu begegnen, die er in den gläsernen Höhlen gesehen hatte.

Urs räusperte sich. »Wir würden gar nicht an den Turm herankommen. Sie haben alles abgesperrt.«

War das so? Elinn spürte einen heißen Schrecken. Urs’ Vater war immerhin der Statthalter, deswegen wusste Urs meistens besser über Marsangelegenheiten Bescheid als andere.

Aber das durften sie nicht! Sie mussten den Weg freigeben. Die Marsianer riefen nach ihr, verstand das denn niemand?

Elinn streckte die Hände aus, berührte die Artefakte, die auf dem Tisch lagen: Flache, bunt schimmernde Steine, die wie Schmuckstücke aussahen. Manche so klein wie ein Daumennagel und von farbigen Schlieren überzogen, andere so groß wie ein Handteller und mit Mustern, die an fremdartige Schriftzeichen denken ließen.

Und dazwischen die vier Gebilde, auf denen deutlich lesbar Namen standen. Mit dem Stein, auf dem CARL stand, war Carl aus den gläsernen Höhlen entkommen.

Diese Artefakte waren Schlüssel, das stand praktisch fest.

»Wir müssen damit zu Professor Caphurna gehen«, sagte Carl und knetete nervös seine Hände. »So schnell wie möglich. Ich sage ihm einfach, dass mir das mit dem Artefakt erst jetzt eingefallen ist.«

»Wir können ja alle zusammen gehen«, schlug Ariana vor. »Damit er dir den Kopf nicht runterreißt.«

Ronny verzog keine Miene. Dabei wäre das jetzt so ein Moment gewesen, in dem er sonst gewiehert hätte vor Lachen. Elinn musterte ihn. Er sah finster drein, sah aus, als wäre er lieber woanders.

Carl nahm das Artefakt auf, das seinen Namen trug. Es war das kleinste der vier, kaum größer als ein Knopf, perlmuttfarben, mit dünnen schwarzen Buchstaben darauf. »Ich würde es gern am Westturm ausprobieren. Um sicher zu sein, dass es funktioniert, ehe ich zum Professor gehe. Bisher wissen wir nur, dass man damit durch den kleinen Turm gehen kann.« Er sah in die Runde. »Wir sind ihm mit den Artefakten so auf die Nerven gegangen, seit er da ist, dass ich ihm nicht bloß mit einer Theorie kommen möchte. Sonst hört er uns womöglich nie wieder zu.«

»Schwierig«, meinte Urs. »Man wird uns nicht zum Löwenkopf fliegen lassen. Die haben uns nicht umsonst gestern Abend alle Hals über Kopf zurück in die Siedlung gebracht. Man befürchtet, dass von den Türmen Gefahr droht.«

Carl rieb sich die Stirn. »Mist.«

»Carl«, sagte Elinn.

Ihr Bruder sah auf.

»Es ist eine Einladung«, fuhr sie fort. »Verstehst du nicht? Die Marsianer haben uns diese Artefakte zukommen lassen. Uns – nicht Professor Caphurna. Und jetzt haben sie das Tor geöffnet. Das heißt, dass wir kommen sollen.«

Ihr Bruder sah sie an. Das Deckenlicht flackerte. Meistens bemerkte man es nicht, aber manchmal schon.

»Angenommen, das stimmt«, erwiderte Carl so langsam, als sei seine Zunge schwer geworden, »dann können wir uns trotzdem nicht sicher sein, dass diese Wesen wirklich wissen, was sie tun. Wer immer sie sind. Marsianer oder sonst jemand.« Er beugte sich über den Tisch, ordnete die Artefakte nebeneinander an. »Wenn das Einladungen sind – wieso haben dann Ariana und Ronny keine erhalten?«

»Genau«, hörte sie Ronny sagen.

»Und wieso haben sie uns stattdessen das hier geschickt?« Carl hob das vierte Artefakt hoch, auf dem der Name CURLY stand. »Wer, bitte schön, ist Curly?«

Ronny fuhr sich durch die blonden Locken. »Ich bin das jedenfalls nicht, damit das klar ist. Ich lass mir nicht von diesen Marsianern einen so blöden Spitznamen geben.«

»Vielleicht ist etwas schiefgegangen, von dem wir nichts wissen«, gab Ariana zu bedenken. »Ich meine, ein Artefakt für mich war immerhin in Arbeit. Aber warum ist es zerfallen, bevor es fertig war?«

»Eben«, sagte Carl. »Und wenn das schon nicht funktioniert hat, wer weiß, was dann noch alles schiefgehen würde. Diese Wesen kennen uns offensichtlich nicht allzu gut.«

Die anderen nickten. Elinn spürte Verzweiflung aufsteigen, musste dagegen ankämpfen wie gegen einen Druck, der sich auf ihre Brust legte. Die alte Belüftungsanlage machte Geräusche, die klangen wie das Röcheln eines sterbenden Drachen.

»Ich glaube nicht, dass die Passage für immer offen stehen wird«, sagte sie. Ihre Stimme zitterte oder kam ihr das nur so vor? »Wahrscheinlich nicht einmal besonders lange. Das ist eine Chance, die vielleicht nie wieder kommt.«

Sie war allein. Man ließ sie im Stich.

»Das ist nichts, was wir ohne Hilfe machen können«, erklärte Carl in einem Ton, der klarstellte, dass für ihn die Diskussion beendet war. Er sah auf die Uhr. »Heute ist es schon zu spät. Ich werde Professor Caphurna morgen früh anrufen, und dann sehen wir weiter.«

Damit war die Entscheidung gefallen. Elinn spürte, dass sie verloren hatte.

»Gut«, sagte Ariana.

Urs nickte. »Einverstanden.«

Ronny sagte nichts. Aber sogar die geriffelten Metallwände ihres geheimen Verstecks sahen aus, als stimmten sie Carl zu. Was wohl die allerersten Marsforscher dazu gesagt hätten? Das hier war einmal ihre Unterkunft gewesen für lange, bange Jahre.

Elinn beugte sich vor, langte über den Tisch und nahm das Artefakt, das ihren eigenen Namen trug, an sich.

»Das«, erklärte sie, »kriegt der Professor nicht.«

Pigrato sah mit einem unguten Gefühl auf das Teeglas hinab, das Yin Chi ihm vorgesetzt hatte. In der dampfend heißen Flüssigkeit trieben winzige Blätter und ein scharfer Geruch stieg auf. Erst jetzt fiel ihm ein, dass allgemein vor Yin Chis grünem Tee gewarnt wurde.

Der ehemalige Leiter der asiatischen Marsstation schlürfte die zunehmend dunkler werdende Brühe allerdings mit sichtlichem Behagen. Vielleicht waren die Gerüchte ja übertrieben? Pigrato hob das Glas behutsam an und überwand sich, daran zu nippen.

Um Himmels willen. Ein Schluck hatte genügt, um ihm das Gefühl zu geben, gerade seine Zunge mumifiziert zu haben.

»Köstlich, nicht wahr?«, meinte Yin Chi mit verklärtem Lächeln. »Ein wahres Lebenselixier.«

Pigrato stellte die Tasse behutsam zurück auf den Tisch. »Denken Sie?«

»Die alten chinesischen Kaiser schrieben diesem Tee Wunderkräfte zu. Und sie reservierten ihn für sich; Normalsterblichen war der Genuss bei Todesstrafe verboten.«

»Tatsächlich?« Pigrato konnte nicht anders, er musste noch einmal probieren. Der zweite Schluck war jedoch eher noch schlimmer als der erste. Was für Geschmackssinne auch immer die alten chinesischen Kaiser besessen haben mochten, für einen Normalsterblichen war der Geschmack des Tees eigentlich schon Strafe genug.

Allerdings, wenn es so war, wie man immer sagte – dass alles, was gesund sei, schlecht schmecke –, dann mussten diesem Tee in der Tat Wunderkräfte innewohnen.

Yin Chi hob die Schultern. »Nun, das habe ich jedenfalls gelesen. Ob es stimmt? Keine Ahnung. Zum Glück sind diese Zeiten ja vorbei.« Er nahm einen großen Schluck, der, so überlegte Pigrato, seine Lebenserwartung um bestimmt zehn Jahre verlängern würde. »Ich habe Sie eingeladen, weil ich das Gefühl hatte, Sie könnten eine kurze Auszeit brauchen. Einen Moment der Ruhe und Besinnung, wie man ihn nur mit einer guten Tasse chinesischen Tees haben kann.«

Pigrato sah auf das Treiben der winzigen Blätter in seiner Tasse hinab. »Sie haben mich also nicht hergebeten, um noch einmal über das Marsflugzeug zu sprechen?«

Der alte Chinese lächelte spitzbübisch. »Das natürlich auch.«

»Einen Moment lang dachte ich schon, meine Menschenkenntnis hätte mich verlassen.«

Yin Chi fuhr mit der Hand über sein Teeglas, als streichle er es. »Sie werden zugeben müssen, dass die jüngsten Ereignisse meine Argumente stützen. Die Expedition von Doktor Spencer hat ein zweites Bauwerk nicht menschlichen Ursprungs gefunden. Und ich meine: Wo zwei sind, können auch noch mehr sein. Vom Weltraum aus nicht auszumachen, wie wir wissen. Also ist das Flugzeug unsere einzige Chance, weitere Bauwerke zu finden. Das einzige Fluggerät, das wir haben, das den Mars im Tiefflug umrunden kann.«

»Im Augenblick kann es nicht einmal fliegen.«

»Wir müssen es nur zum Katapult schaffen und die automatische Steuerung einsetzen. Eine Sache von einem Tag.«

»Und eine Sache von unannehmbarem Risiko.« Pigrato schüttelte den Kopf. »Die jüngsten Ereignisse stützen ganz im Gegenteil meine Gegenargumente. Die erwähnte Expedition ist bekanntlich in höchste Gefahr geraten. Ich frage mich immer noch, wie ich je so leichtsinnig gewesen sein konnte, so geradezu wahnsinnig, zu erlauben, dass der Junge auf diese Reise mitgeht . . .«

Yin Chi hob die Augenbrauen. »Carl, meinen Sie?«

»Ja. Seine Mutter ist jetzt noch am Ende ihrer Nerven. Nicht genug, dass sie ihren Mann bei einer Expedition verloren hat, nun auch beinahe eines ihrer Kinder . . . Das hätte ich mir nie verziehen.«

Der Chinese musterte sein Gegenüber mit bohrendem Blick. »Mister Pigrato«, sagte er, »es könnte noch Dutzende weiterer Türme wie die am Löwenkopf geben. Wir wissen nicht, ob es sie gibt, und wenn es sie gibt, wissen wir nicht, wo sie sich befinden, und vor allem nicht, was sich jetzt gerade dort ereignet. Wenn irgendeines dieser möglichen Ereignisse schwerwiegende Folgen für uns oder die Menschheit haben sollte . . . werden Sie sich das verzeihen können?«

Pigrato beugte sich vor. »Noch mal, Mister Yin: Die einzige Möglichkeit, das Marsflugzeug zum Katapult zu schaffen, ist, es hinzufliegen. Nach wie vor. Was kein Problem wäre, wenn Ihre Vorgesetzten seinerzeit daran gedacht hätten, nicht nur ein Flugzeug zum Mars zu schicken, sondern auch jemanden, der es im Notfall fliegen kann. Es ist mir unbegreiflich, dass das unterblieben ist.«

Der Chinese lächelte. »Das ist nicht so unerklärlich, wie Sie denken. Suchen Sie einmal nach Wissenschaftlern, die ein Flugzeug steuern können. Oder unter Motorpiloten jemanden, dessen Aufenthalt auf dem Mars von Nutzen wäre. Sie werden niemanden finden.«

Damit hatte Yin Chi vermutlich recht. Falls jemand, den es in den Weltraum zog, überhaupt eine Flugausbildung machte, dann für raketengetriebene Maschinen. Was ihm für ein Flugzeug rein gar nichts nützte.

Pigrato atmete scharf ein. »Das heißt, der einzige Pilot, der das Marsflugzeug zum Katapult bringen könnte, ist Ronald Penderton. Ein Junge von gerade mal dreizehn Jahren.« Er faltete die Hände. »Lassen Sie mich das klarstellen: Ich werde nach dem, was in letzter Zeit passiert ist, nicht zulassen, dass sich ein weiteres der Kinder in Gefahr begibt. Ende der Diskussion.«

Yin Chi musterte ihn stumm, nickte schließlich und trank den Tee in seinem Glas bis auf einen kleinen Rest aus. Mit einer raschen Bewegung schwenkte er diesen Bodensatz so, dass er sich über die Wände des Glases verteilte und etwas bildete, das mit einiger Fantasie wie chinesische Schriftzeichen aussah.

»›Große Erkenntnisse‹«, erklärte Yin Chi. »Ein gutes Omen, finden Sie nicht?«

Pigratos Kommunikator gab einen Piepston von sich. Eine Erinnerung, dass sein nächster Termin anstand.

»Ich sehe kein Omen«, erklärte er dem Chinesen, während er aufstand. »Ich sehe nur Teeblätter.«

»Ronny kann das Marsflugzeug fliegen. Das hat er bewiesen.«

»Wir werden warten, bis ein erwachsener Pilot von der Erde kommt, der es auch kann.«

»Das wird frühestens nächstes Jahr der Fall sein.« Vor Kurzem hatte wieder eine jener Perioden begonnen, in denen die Erde und der Mars so ungünstig zueinanderstanden, dass keines der verfügbaren Raumschiffe die Strecke bewältigen konnte. Ungefähr ein Jahr lang würden sie von der Erde abgeschnitten bleiben.

»Dann soll einer der Shuttlepiloten es lernen. So schwer kann das ja nicht sein.« Pigrato schob seinen Kommunikator zurück in die Tasche. »Ich muss weiter. Danke auf jeden Fall für die Einladung. Und den Tee.«

Yin Chi sah zu Pigratos Tasse hinüber, die nahezu unberührt auf dem Tisch stand. »Gern geschehen.«

Auf dem Nachhauseweg befiel Carl das Gefühl, dass sich etwas anbahnte. Große, bedeutsame Ereignisse. Es lag eine Art Warten in der Luft. In den Gängen war Unruhe zu spüren. Leute standen beisammen und redeten, was angesichts der normalerweise üblichen ständigen Geschäftigkeit des Lebens auf dem Mars ungewöhnlich war. Jeder von ihnen wirkte angespannt, sprungbereit; viele hielten die Schultern hochgezogen, als erwarteten sie einen Schlag in den Rücken.

Auf der Plaza hatte man den großen Bildschirm aufgestellt, der normalerweise im Fernsehraum stand und benutzt wurde, um Sendungen von der Erde anzuschauen. Jetzt war das Bild zu sehen, das eine Kamera vom Löwenkopf übertrug. Über der Siedlung brach gerade die Dämmerung an, aber da die Löwenkopf-Formation weiter westlich lag, im Daedalia Planum, ging dort die Sonne später auf und später unter, und im Moment war es noch hell.

Die Kamera war so aufgestellt worden, dass man das Lager der Wissenschaftler sah und den Westturm aus seiner momentan interessantesten Perspektive.

Man konnte um den Turm herumgehen und dabei auf dem anderen Planeten in alle Richtungen spähen, aber zum größten Teil sah man da einfach nur eine karge, spärlich bewachsene Hochebene, die irgendwann in einen wolkigen dunklen Horizont überging.

Doch in einer bestimmten Richtung sah man mehr: Eine Gruppe von Gebilden, die aussahen wie Bäume, deren Äste sich trichterartig in die Höhe erhoben. Große Kugeln hingen in diesen Wipfeln wie seltsame Früchte. Und dahinter ragten violette Dächer in die Höhe, wie die Spitzen von Zelten. Ob sie wirklich violett waren? Das konnte man nur vermuten; durch den Turm hindurch sah alles ein wenig verfärbt und verzerrt aus.

»Stell dir das doch bloß vor«, flüsterte Elinn neben ihm. »Nur ein Schritt und man wäre auf diesem fremden Planeten. Und wir könnten diesen Schritt tun!«

Carl, der als Einziger schon einmal einen solchen Schritt getan hatte und wusste, dass es mehr war als nur ein Schritt, sah auf seine kleine Schwester hinab. »Das können wir nicht so einfach tun. Nicht, ohne zu wissen, was uns dort erwartet.«

Elinns Augen schienen zu glühen. »Die Marsianer! Sie warten auf uns.«

»Ich glaube nicht, dass sie das tun.«

Auf dem Schirm wurden immer neue Informationen eingeblendet. Befunde der durchgeführten Untersuchungen, mit denen allerdings nur Fachleute etwas anfangen konnten. Aktuelle Änderungen der Flugpläne zwischen Siedlung und Löwenkopf. Und dazwischen Ermahnungen, die verhängte Nachrichtensperre zu beachten.

»Du misstraust ihnen«, meinte Elinn.

Carl musterte den Springbrunnen, betrachtete dessen ruhigen, gleichmäßigen Strahl. Ein interessanter Gedanke. Misstraute er den Fremden? »Ja«, sagte er. »Stimmt.«

Elinn strich ihre langen Locken aus dem Gesicht, die dieselbe rostrote Farbe hatten wie der Marsboden. »Da ist jemand, der nach uns ruft. Nach uns, Carl!«

»Und warum ausgerechnet nach uns?«

»Vielleicht, weil nur wir imstande sind, ihn zu hören?«

»Vielleicht. Aber was, wenn es anders ist? Wenn die, die nach uns rufen, schlechte Absichten haben? Wenn sie nur jemanden suchen, den sie dazu bringen können, ihnen die Tür zu öffnen?«

Er sah, wie der Schrecken in ihren Augen auftauchte, die Furcht, und es tat ihm leid, ihr Angst zu machen. Aber es musste sein. Sie war seine kleine Schwester und er musste sie beschützen.

Elinn schüttelte den Kopf, die Lippen zusammengepresst.

»Das ist nicht wahr. Sie haben keine schlechten Absichten.«

Carl seufzte. »Lass uns nach Hause gehen. Mom wartet bestimmt schon mit dem Abendessen.«

Es gab Fisch mit Kartoffeln und grüner Soße – ungewöhnlich für einen normalen Wochentag. Aber was war zurzeit schon normal?

Bis vor Kurzem hatte Mutter noch unter Hochdruck gearbeitet, Tag und Nacht beinahe. Sie war stellvertretende Bauleiterin und damit verantwortlich für den Ausbau der Marssiedlung und es hatten in aller Eile Quartiere für die neu von der Erde gekommenen Wissenschaftler und Techniker gebaut werden müssen. In der Zeit hatten Carl und Elinn das Essen meistens aus der Kantine geholt und sich um den Haushalt gekümmert und Mutter war, wenn sie nach Hause kam, oft vor Erschöpfung im Wohnzimmer eingeschlafen.

Das war nun vorbei. Die Arbeiten waren abgeschlossen. Jeder der Neuankömmlinge hatte eine Wohnung und die neuen Labors waren in Betrieb. Mutter hatte wieder Zeit, kochte wieder selber und hatte sogar angefangen, die Zimmer der Reihe nach neu zu streichen.

Doch alles in allem schien es ihr, seit sie nicht mehr so viel arbeiten musste, eher schlechter zu gehen. Es war, als komme sie nicht über die Ängste hinweg, die sie ausgestanden hatte, als Carl in den gläsernen Höhlen verschollen gewesen war.

Elinn hatte schweigend gegessen und auf Mutters Fragen nur einsilbig geantwortet. Nachdem sie ihren Teller leer hatte, stand sie auf, trug ihr Geschirr zur Spüle und sagte: »Ich gehe ins Bett.«

»Fühlst du dich nicht wohl, mein Schatz?«, fragte Mutter.

Elinn schüttelte den Kopf. »Ich bin bloß müde.«

Damit ging sie und an der Art und Weise, wie Mutter sich daraufhin ihm zuwandte, merkte Carl, dass sie nur auf eine solche Gelegenheit gewartet hatte.

»Carl«, sagte sie ernst, »du musst mir etwas versprechen.«

»Was denn?«

»Dass du und Elinn . . . Dass ihr nichts mehr tut, das euch in Gefahr bringt.« Mutter seufzte. »Zumindest in nächster Zeit. Ja, ich weiß. Doktor DeJones hat recht, wenn er sagt, dass das Leben hier auf dem Mars an sich schon gefährlich ist. Dass wir euch das schon immer zugemutet haben. Ich weiß. Aber zurzeit, mit diesen Türmen, diesen fremden Wesen . . .«

Sie fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, die dunkler waren als die Elinns und nicht ganz so rot, aber genauso dicht gelockt. »Aliens. Du meine Güte. Wer hätte denn an so etwas gedacht? Im Ernst, meine ich. Natürlich, wir haben uns immer gefragt, ob wir allein sind im Universum, und die Vorstellung, dass wir es sein könnten, hatte etwas Unheimliches. Aber jetzt wissen wir, dass wir’s nicht sind, und irgendwie, ich weiß nicht, ist das noch unheimlicher . . .«

Sie sah gedankenverloren vor sich hin. Carl wusste nicht, was er hätte sagen können.

»Doktor DeJones.« Sie nahm ihre Gabel auf, schob damit die Soßenreste auf ihrem Teller zusammen. »Man sieht ihn in letzter Zeit häufig zusammen mit dieser Assistentin von Pigrato, Cory MacGee. Würde mich nicht wundern, wenn die beiden . . . Na ja. Geht niemanden etwas an. Außerdem ist es ja wirklich lang genug her, seit seine Frau ihn verlassen hat.«

Carl nickte. Es war schon ein seltsamer Zufall, dass Ariana und ihr Vater sich fast zur gleichen Zeit verliebt hatten. Ariana und Urs waren neuerdings ein Paar und nun Dr. DeJones . . .

Obwohl, vielleicht war das auch kein Zufall. Und eigentlich war es auch nicht seltsam.

Seine Mutter legte die Gabel weg, mit einem klirrenden Geräusch, und sah ihn an. Carl erschrak über den Schmerz in ihrem Blick.

»Ich habe immer gedacht, ich sei drüber hinweg. Über den Tod eures Vaters, meine ich. Ich habe gedacht, dass irgendwann vielleicht sogar der Moment kommt, in dem ich mich wieder frei genug fühle für . . . Na ja. Jemand Neuen. Was auch immer.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber als du dann verschwunden warst, war alles wieder da. Als sei das Unglück erst gestern passiert. Ich bin nicht darüber hinweg. Überhaupt nicht.«

Einen Moment lang war es still im Esszimmer, ein großes, raumfüllendes Schweigen.

»Im Grunde«, fuhr sie leise fort, »habe ich noch nicht einmal akzeptiert, dass James tot ist. In mir ist eine Stimme, die seit acht Jahren sagt, dass er es nicht ist. Die darauf wartet, dass er wiederkommt . . .«

Eine Träne lief an ihrer Wange herunter. Sie holte ein Taschentuch hervor, wischte sie weg, putzte sich geräuschvoll die Nase und rief mit einer aufgesetzten Fröhlichkeit, die schwerer zu ertragen war, als sie weinen zu sehen: »Deshalb sollst du mir das versprechen, verstehst du? Weil ich, nachdem ich euren Vater verloren habe, schlicht und einfach durchdrehen würde, wenn einem von euch jetzt auch noch etwas passiert.«

»Wir passen auf uns auf«, sagte Carl unbehaglich. »Das haben wir doch schon immer getan.«

Sie sah ihn forschend an. »Ja. Das stimmt auch wieder.« Sie fing an, die Teller zusammenzustellen. »Ich sollte mir nicht so viele Sorgen machen. Das bringt sowieso nichts.«

Nach dem Zähneputzen und Mom’s Gutenachtkuss setzte Elinn sich auf und knipste die Lampe über ihrem Bett wieder an. Sie griff nach ihrem Wecker und stellte ihn auf zwei Uhr dreißig.

Sie warf einen Blick hinüber auf ihre Couch, wo die frischen Sachen griffbereit lagen. Es würde keine fünf Minuten dauern, sich wieder anzuziehen.

Dass der aktuelle Flugplan angezeigt worden war vorhin auf der Plaza, kam ihr vor wie ein Wink des Schicksals. Um vier Uhr flog ein außerplanmäßiger Transport zum Löwenkopf. Keine Plätze für Passagiere, nur Ladegut.

Elinn stellte den Wecker wieder hin, knipste das Licht aus und rollte sich zum Schlafen zusammen. Sie musste daran denken, wie sie sich einmal in der hinteren Sitzbank eines Flugbootes versteckt hatte. Niemand hatte es mitbekommen. Da war eine Klappe, unter der bloß allerlei Notfallausrüstung lagerte, ein Druckzelt und dergleichen. Das konnte man problemlos rausnehmen, das merkte niemand.

3. Ziviler Ungehorsam

Urs sah hungrig auf die Uhr. Es war schon fast neun und sie hatten immer noch nicht zu Abend gegessen. Vater steckte in seinem Arbeitszimmer, in einer Unterredung mit diesem Journalisten, Wim Van Leer, die kein Ende nahm.

»Da. Es fällt schon alles in sich zusammen.« Urs’ Mutter ließ die Klappe des Backofens zuknallen. »›Nur fünf Minuten‹? Dass ich nicht lache.«

»Wenn es nicht so gut duften würde, wäre es halb so schlimm«, meinte Urs.

Seine Mutter nickte finster. Sie rührte den Salat ein weiteres Mal um, sah wieder auf die Uhr, probierte erneut ein Blatt.

»Schmeckt schon ganz labberig. Also, so geht das nicht.« Wie vom Katapult geschnellt, schoss sie aus der Küche, riss die Tür zum Flur auf und rief: »Tom! Sono le nove! Vogliamo mangiare!«

Urs atmete geräuschvoll ein. Wenn Mutter diesen Tonfall draufhatte und dann auch noch ins Italienische fiel, leistete man besser keinen Widerstand.

Das wusste Vater natürlich auch. Er öffnete die Tür seines Arbeitszimmers und rief: »Sì, sì. Subito!«

Dann ging die Tür wieder zu.

Die Uhr sprang eine Minute weiter. Neun Uhr.

Mutter kam mit der Salatschüssel aus der Küche, knallte sie auf den Tisch. »Mangiamo. Wir essen.« Sie fing an, Wasser in die Gläser zu gießen.

Draußen ging wieder die Tür.

»…können die Nachrichtensperre nicht ewig aufrechterhalten«, war die erregte Stimme des holländischen Journalisten zu vernehmen. »Früher oder später kriegt die Erde mit, was sich hier abspielt. Und dann, Pigrato, sind Sie Ihren Job los, das garantiere ich Ihnen.«

»Prima«, hörte Urs seinen Vater knurrend erwidern. »Das kann ich sowieso kaum erwarten.«

Der Journalist entgegnete etwas, das man im Esszimmer nicht verstand, doch Vater unterbrach ihn: »Danke, Mister Van Leer, aber ich würde jetzt gerne zu Abend essen. Außerdem kennen Sie mein letztes Wort; wir brauchen also nicht weiter zu diskutieren.«

Endlich kam Vater herein. »Mi dispiace«, bat er um Entschuldigung. Er setzte sich und fuhr sich müde mit den Händen über das Gesicht. »Verstehe einer diesen Mann! Gerade Van Leer sollte doch wissen, was auf der Erde los wäre, wenn jetzt etwas von den Vorkommnissen hier auf dem Mars bekannt würde.«

Mutter verteilte den Auflauf, bei dessen Anblick Urs das Wasser im Mund zusammenlief. »Aber er hat nicht unrecht. Die Öffentlichkeit ist eine Sache, aber dass du nicht einmal die Regierung informierst, das wird man dir irgendwann vorhalten. Das kann dein zweites Venedig werden.«

Vater hielt seinen Teller hin. »Das Problem ist, dass überall in der Regierung Mitglieder und Sympathisanten der Heimwärtsbewegung sitzen. Wenn ich die Stellen informiere, die eigentlich zuständig wären, kann ich es auch gleich an die Nachrichtennetze geben. Hmm, das riecht aber gut.« Er schnupperte an dem, was da geheimnisvoll auf seinem Teller lag.

»Wieso Venedig?«, wollte Urs wissen. Das war so ein Stichwort, das zwischen seinen Eltern immer wieder mal fiel, ohne dass er bisher verstanden hätte, worum es ging. Seine Mutter war in Venedig geboren, das wusste er. Und die beiden hatten sich dort kennengelernt.

»Da hat sich dein Vater einmal so etwas Ähnliches erlaubt«, sagte Mutter. »Du warst damals noch nicht geboren.«

Vater schüttelte den Kopf. »Das war ein bisschen was anderes.«

»Du hast eigenmächtig gehandelt.«

»Immerhin habe ich gehandelt. Während alle anderen nur geredet haben.«

»Erzähl doch mal«, bat Urs.

Vater ließ sich den ersten Bissen auf der Zunge zergehen. »Ich nehme mal an, der Begriff Human Heritage Fund sagt dir etwas.«

»Klar. Der HHF. Die verwalten das Weltkulturerbe. Alte Städte, Kirchen, Buddha-Statuen und so weiter.«

»Genau. Eine Behörde der Weltregierung, die für die Erhaltung des kulturellen Erbes der Menschheit zuständig ist. Für die habe ich gearbeitet, ehe ich zur Raumfahrtbehörde gekommen bin.« Er trank einen Schluck Wasser. »Damals in Venedig war ich Technischer Leiter der Stadterhaltung. Was keine einfache Aufgabe ist, wenn es um Venedig geht. Die Stadt liegt in einer Lagune, mit den Füßen im Wasser gewissermaßen, und ist im Grunde seit Jahrhunderten gefährdet. Was man inzwischen in die Erhaltung dieser Stadt investiert hat, hätte ausgereicht, fünf neue Städte zu bauen.«

Urs nickte kauend. »Aber das wären eben neue Städte gewesen.«

»Genau. Also, das war …wann? 2070? 2069?« Er sah hilfesuchend zu Mutter.

Die runzelte die Stirn. »2069, glaube ich.«

»Logisch. Die Sturmflut 69, genau.« Er sah Urs an. »Du musst dir Folgendes vorstellen: Der Winter stand bevor. Man wusste, dass starke Stürme drohten. Die Hebewerke von zweien der verstellbaren Schutzdämme waren kaputt. Und ich hatte schlicht und einfach kein Geld, um sie reparieren zu lassen.«

»Aua«, sagte Urs.

»Natürlich hatte ich die Zentrale benachrichtigt. Ich habe praktisch jeden Tag dort angerufen. Aber die liegt bekanntlich bei Kairo, mit Blick auf die Pyramiden, dem Inbegriff von Stabilität und Dauerhaftigkeit. Und ›Winter‹ ist sowieso kein Wort, das bei irgendjemandem in Nordafrika Sorgen auslöst. Jedenfalls, die ließen sich Zeit. Wochen. Immer wenn ich anrief, hieß es: ›Ja, wir beraten darüber‹. Während es in Venedig immer kälter wurde und die Wellen in den Kanälen immer höher schlugen.«

»Wobei es gut war, dass es so plötzlich kalt wurde«, lächelte Mutter.

»Ja, denn dadurch wurde der Leiter der Restauration krank und ich musste seinen Posten übernehmen.« Er hielt inne. »Marciela, das ist wieder köstlich. Was ist das?«

»Verrate ich nicht«, sagte Mutter.

»Erzähl weiter«, drängte Urs.

»Also gut. Wo war ich? Ach ja, im Büro des Restaurationsleiters. Was entdecke ich da? Der hatte noch Geld! Jede Menge sogar! Da waren Budgets für die Restauration des Dogenpalastes, der Marcus-Kirche …lauter Gebäude, die demnächst untergehen würden, weil die Schutzdämme nicht funktionierten! Also habe ich die Arbeiten alle gestoppt und das Geld für die Reparatur der Hebewerke ausgegeben.«

»Gerade noch rechtzeitig«, ergänzte Mutter. »Die Sturmflut vom Dezember 2069 war die größte seit zwanzig Jahren. Ohne die Hebedämme hätte sie Venedig praktisch versenkt.«

»Aber«, fuhr Vater fort, das Messer dozierend erhoben, »ich hatte gegen den Budgetplan verstoßen. Meine Kompetenzen überschritten. Also wurde ich strafversetzt, auf die entlegendsten und unwirtlichsten Posten, die der technische Dienst der Weltregierung zu vergeben hat: Feuerland, Kamtschatka . . .«

»Die drei Monate in der Karibik waren schön«, widersprach Mutter. »Traumhaft geradezu.«

»Deswegen waren es auch nur drei Monate. Das hat jemand in der Verwaltung bemerkt.« Vater nahm sich noch etwas Salat. »Aber stimmt, dort habe ich Bjornstadt kennengelernt. Als der später in den Senat kam und den Raumfahrtausschuss übernommen hat, hat er mich in seine Mannschaft geholt, nach Locarno. Ab da wurde es ruhiger.«

»Bis ihm einfiel, dich auf den Mars zu schicken«, sagte Mutter. Sie sah ihn sorgenvoll an. »Der Senator wird wirklich sauer mit dir sein.«

Vater nickte ernst. »Ja. Das ist mir klar. Aber ich bin mir bei ihm einfach nicht sicher, ob er nicht selber der Heimwärtsbewegung nahesteht. Er war damals auffallend schnell dafür, die Marssiedlung aufzulösen.«

Er lehnte sich zurück. »Im Moment wissen wir nichts. Nichts über die fremden Wesen, nicht einmal, ob sie wirklich tot sind. Nichts über die fremde Welt, die der Westturm zeigt, nicht einmal, ob wir es mit einem Bild oder einer Passage zu tun haben. Wenn die Heimwärtsbewegung jetzt davon Wind bekäme, würde sie sofort Propaganda machen, Ängste schüren und an Macht und Einfluss gewinnen. Und es gibt immer jede Menge Leute, denen es nur darum geht: um Macht und Einfluss, egal wie. Wenn wir einmal mehr wissen, über die Fremden, ob sie eine Bedrohung darstellen oder nicht, dann ist es was anderes. Aber so lange müssen wir einfach warten.«

»Oje«, entfuhr es Urs. Er musste an die Artefakte denken und an das, was Carl darüber erzählt hatte. Er musste morgen darauf drängen, dass Carl sich so schnell wie möglich mit den Wissenschaftlern in Verbindung setzte. Je schneller, desto besser.

»Sie werden dir trotzdem Schwierigkeiten machen«, prophezeite Mutter. »Wenn sie schon damals in Venedig so nachtragend waren.«

Das Gesicht seines Vaters verhärtete sich. »Mag sein. Aber es gibt Situationen im Leben, da muss man tun, was man für richtig hält; egal, was der Rest der Welt sagt. Und ich fürchte, das ist jetzt so eine.«

Elinn erwachte, ohne dass sie hätte sagen können, wovon. Die rot glimmenden Ziffern in der Dunkelheit zeigten zwei Uhr zwanzig an. Was hatte sie noch mal vorgehabt? Ach ja. Jetzt fiel es ihr wieder ein.

Die Marsianer riefen nach ihr.

Es war kühl in ihrem Zimmer, wie immer, wenn die Belüftung auf Nachtphase lief. Ganz, ganz leise und weit entfernt hörte man ein sanftes Zischen. Und manchmal spürte man Maschinen arbeiten, die am anderen Ende der Marssiedlung standen. Das war alles.

Elinn griff nach dem Wecker und schaltete ihn ab, damit nicht noch der Alarm losging. Dann machte sie Licht und glitt aus dem Bett. Rasch und leise zog sie sich an.

Sie überlegte, ob sie eine Nachricht hinterlassen sollte, für alle Fälle. Vielleicht besser. Sie holte ihr Lesegerät, schrieb ein paar Zeilen, was ihr gerade so einfiel, und legte es dann gut sichtbar auf den Tisch.

Halt. Vorsicht. Sie nahm es noch einmal zur Hand und versah die Nachricht mit einer Zeitsperre, sodass sie nicht zu früh entdeckt werden konnte.

Dann holte sie ihre Schuhe aus dem Flur und zog sie an, atemlos. In diesem Moment wäre es ihr lieb gewesen, wenn sie den Ruf der Marsianer hätte hören können, wirklich hören. So, wie sie früher das Leuchten wirklich gesehen hatte, jenes helle blaue, alles durchdringende Licht, das ihr den Weg zu den Artefakten gewiesen hatte.

Irgendwie war ihr, als sei das unwiderruflich Vergangenheit. Als würde sie das Leuchten nie wieder sehen.

Und sie hörte auch nichts. Sie stand da, lauschte in die Stille und wusste nicht, ob sie das Richtige tat. Kein Ruf. Als sei irgendetwas geschehen mit den Marsianern.

Aber andererseits …es war klar, wie alles gemeint war. Jemand suchte Kontakt. Die anderen bezweifelten das ja auch nicht, sie hatten nur Angst, der Sache nachzugehen.

Ein bisschen mulmig war Elinn auch zumute. Aber davon würde sie sich nicht aufhalten lassen.

Sie schaltete das Licht in ihrem Zimmer aus und schlüpfte hinaus. Leise. Und nicht stolpern. Ein leises Schnarchen war zu hören. Ihre Mutter? Elinn verspürte einen Stich. Mom würde sich vielleicht Sorgen machen. Bestimmt sogar.

Aber auch davon durfte sie sich nicht aufhalten lassen. Entschlossen öffnete sie die Wohnungstür, trat hinaus auf den Gang und zog die Tür hinter sich zu.

Die Siedlung lag still und dunkel da, man hatte das Gefühl zu spüren, wie die Leute hinter all den Türen tief und fest schliefen. In den Gängen brannte nur das Nachtlicht. Als sie die stille Main Street entlangging, musste Elinn an die vielen Male denken, die sie schon nachts heimlich unterwegs gewesen war.

Aber irgendwie war es heute anders. Auch wenn sie nicht wusste, wie und warum.

Die Plaza lag im matten Schein der vier kleinen Nachtlampen. Eine davon spiegelte sich im Wasser des Springbrunnens, der nachts ausgeschaltet war. Das Wasser machte ein leises, glucksendes Geräusch, als Elinn daran vorbeiging. Der Fernseher stand nicht mehr auf dem Platz.

Wer nachts heimlich unterwegs war und hinauf in die Obere Station wollte, tat gut daran, den Aufzug zu meiden. Das war ein dröhnendes, klapperndes Monstrum, und zwar schon, seit Elinn denken konnte. Wenn man nachts damit fuhr, weckte man zwar nicht wirklich die ganze Siedlung auf, aber man hatte das unangenehme Gefühl, man täte es.

Elinn nahm die Wendeltreppe. Oben angekommen und ein wenig aus der Puste, musste sie stehen bleiben und überlegen, wo ihr Raumanzug war. In Schleuse 1, richtig. In Schleuse 2, wo er normalerweise hing, waren alle Ladestationen belegt gewesen bei ihrer Rückkehr vom Löwenkopf.

Sie wandte sich nach rechts. Leise. Hier oben lief man über metallenen Gitterboden; wenn man nicht schlich wie eine Katze, dröhnte jeder Schritt.

Gerade als Elinn an der Tür zum Schulraum vorbeikam, hörte sie von vorne plötzlich Stimmen! Rasch duckte sie sich in die nächste Nische, hinter einen Druckkessel der Belüftungsanlage.

»…ist ihr bestimmt nicht entgangen«, sagte eine sanfte Frauenstimme. »Da unterschätzt du sie.«

»Meinst du?«, fragte ein Mann. Ein, zwei Schritte, dann blieben sie wieder stehen.

Was hatte das zu bedeuten? Hatte man sie entdeckt? Elinn hielt den Atem an.

»Bestimmt«, sagte die Frau. »Sie ist schließlich selber gerade dabei, erwachsen zu werden.«

»Ein gewöhnungsbedürftiger Gedanke, muss ich zugeben.« Noch ein paar Schritte. »Obwohl es mich eigentlich nicht überraschen sollte.«

Die Frau lachte leise. »Nein, das sollte es tatsächlich nicht, Herr Doktor.«

Elinn streckte den Kopf vor, Millimeter für Millimeter, bis sie an dem Kessel vorbei in den Gang sehen konnte. Zu ihrer Überraschung entdeckte sie Dr. DeJones und Mrs MacGee, die da im Durchgang zum Modul 1 standen.

Was taten denn die hier? Und mitten in der Nacht? Der Dr. trug etwas unter dem Arm, eine Art Bündel. Sah aus wie eine zusammengerollte Decke. Seltsam.

»Du hast wahrscheinlich recht«, sagte er gerade mit nachdenklicher Miene. »Ich mache mir viel zu viel Sorgen. Aber weißt du, es ist auch noch alles so …neu, so …ungewohnt . . .«

»Es eilt ja auch nicht«, sagte Cory MacGee.

Und küsste ihn! Elinn musste blinzeln. Sieh mal einer an.

»Und es war wunderschön unter all den Sternen. Wirklich«, fuhr sie fort.

Arianas Vater lächelte. Es sah aus, als sei er ein wenig verlegen.

Elinn begriff. Die beiden waren auf dem Aussichtsdeck von Modul 1 gewesen, das kaum jemand von den Siedlern je besuchte. So spät nachts, wenn die Beleuchtung des Vorplatzes ausgeschaltet war, hatte man von dort aus einen fantastischen Blick auf den Sternenhimmel und das Spiel der Marsmonde.

Gut. Trotzdem wurde es nun Zeit, dass die beiden weitergingen. Denn solange sie da standen, kam Elinn nicht an ihren Raumanzug. Und wenn sie nicht rechtzeitig an ihren Raumanzug kam, würde es ihr nicht mehr gelingen, sich im Flugboot zu verstecken, ehe der Pilot eintraf.

4. Eine unruhige Nacht

Die zweite Nachtphase, die sie auf dem fremden Planeten beobachteten, brach an.

Professor Jorge Immanuel Caphurna stand mit verschränkten Armen da und ließ den Blick nicht von den Monitoren, die zeigten, was die verschiedenen Kameras rund um den Westturm aufzeichneten. Ein Helligkeitsmessgerät lief mit, dessen Anzeige nun immer rascher sank, auf den Wert zu, der den Übergang zwischen Nacht und Tag markierte. Und außerdem eine Uhr, die beim Überschreiten dieses Wertes starten würde.

»Jetzt«, sagte Jonathan Coates, sein Assistent, leise, als sie stehen blieb. »Dauer der Tagphase: Zwölf Stunden und sechs Minuten. Ein erdähnlicher Planet, wie es aussieht.«

Professor Caphurna fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über den dünnen Schnurrbart, der seine Oberlippe zierte. Unzufriedenheit strahlte von ihm aus. »Wieder bewölkter Himmel«, murmelte er.

»Vielleicht klart es im Lauf der Nacht auf«, meinte Coates.

»Ja, vielleicht«, nickte der Professor geistesabwesend. Er beugte sich vor, deutete auf den Umriss einer Bergkette am Horizont, die in den letzten Strahlen der versunkenen Sonne aufleuchtete. »Sehen Sie das, Jonathan?«

»Ja. Was ist damit?«

»Können Sie mir die entsprechende Aufnahme von gestern heraussuchen? Gleiche Zeit nach Anbruch der Dunkelheit?«

»Kein Problem.« Jonathan begann, an einem Stellrad zu drehen und damit die bisherigen Aufzeichnungen abzurufen. »Hier«, sagte er schließlich. »Das ist von gestern früh, drei Uhr zwanzig Marszeit.«

Professor Caphurna starrte das Bild an, schien Mühe zu haben, sich zu erinnern, was er eigentlich gewollt hatte. »Machen Sie einen Bildvergleich.«

Jonathans Finger huschten über die Tasten, drehten an Reglern. Die beiden Bilder verschmolzen zu einem Schattenriss, auf dem die Berge farbige Ränder hatten.

»Kann es sein«, überlegte Caphurna halblaut, »dass das Bild, das der Westturm zeigt, unscharf wird? Oder ist es einfach ein atmosphärisches Problem auf der anderen Seite?« Er rieb sich die Schläfen, in dem Versuch, das bohrende Pochen hinter seiner Stirn zu beruhigen.

»Professor«, sagte Jonathan, »wenn ich einen Vorschlag machen dürfte . . .?«

»Hmm?«

»Sie sind jetzt seit mindestens vierzig Stunden auf den Beinen. Ich denke, Sie sollten schlafen gehen.«

Caphurna blickte auf seinen jungen Assistenten herab. Er wollte gerade zu einer unwirschen Erwiderung ansetzen, dass das ja wohl seine Sache sei und ihn einen feuchten Kericht anginge, als ihm just in dem Moment ein stechender Schmerz durch den Schädel schoss.

»Ja«, sagte er also stattdessen. »Ja, ich glaube, da haben Sie recht.«

Elinn hätte beinahe geseufzt vor Erleichterung, als die beiden endlich, endlich aufhörten, sich zu küssen und miteinander zu flüstern, sondern »Höchste Zeit« sagten und weitergingen. Sie wartete noch, bis sie Schritte auf der Treppe abwärts hörte, dann erst wagte sie sich aus ihrem Versteck hervor.

Schon nach drei Uhr! Allmählich wurde es knapp. Sie eilte in die Schleuse 1. Da, ihr Raumanzug. Der Sauerstofftank war voll, die Energiezellen auch. Bloß würde das diesmal nicht reichen.

Sie nahm den Anzug aus der Ladehalterung, legte ihn auf eine der Sitzbänke, löste den schlanken Rückentornister und schob das Gerät in ein freies Fach in dem Regal an der Wand gegenüber. Dann zog sie eines der wesentlich klobigeren Recyclinggeräte heraus.

Es war erst ein paar Monate her, seit sie zum ersten Mal so ein Gerät verwendet hatte, aber inzwischen beherrschte sie die Umstellung des Raumanzugs im Schlaf. Man musste einen Adapter an der Ausblasdüse anbringen und den zweiten Schlauch wiederum an dem Adapter. Die Stellschraube am Gürtel von E auf R umstellen. Und dann den Recycler auf der Rückenplatte befestigen. Ganz einfach.