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Viel ist geschehen auf dem Mars seit der Entdeckung der blauen Türme und der schlafenden Außerirdischen. Doch was als hoffnungsfrohe Rettung des Marsprojektes begann, droht nun der ganzen Welt zum Verhängnis zu werden. Denn die Zeichen mehren sich: Nicht nur auf dem Mars, sondern auch auf der Erde haben die Aliens, die Carl in den gläsernen Höhlen entdeckt hat, ihre Spuren hinterlassen. Noch schlafen die Außerirdischen. Aber was ist, wenn sie erwachen? Sind sie Freund oder Feind? Mutig stellen sich die Marskinder dieser Frage und machen dabei eine unglaubliche Entdeckung …
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Seitenzahl: 461
Titel
Andreas Eschbach
Das Marsprojekt
__________
Die schlafenden Hüter
Impressum
Erste Veröffentlichung als E-Book 2012© 2008 Arena Verlag GmbH, WürzburgAlle Rechte vorbehaltenDieses Werk wurde vermittelt durch dieLiterarische Agentur Schlück GmbH, 30827 GarbsenUmschlaggestaltung: Frauke Schneider unter Verwendung eines Fotos von © istock und © shutterstockISBN 978-3-401-80153-7www.arena-verlag.deMitreden unter forum.arena-verlag.de
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
1. Ein Senator auf Abwegen
2. Unfreiwillige Heimlichkeiten
3. Geheime Pläne
4. Lichter am Sternenhimmel
5. Ein Teddy unter Glas
6. Dinge ändern sich
7. Die Bedrohung
8. Eine Lektion in Entschlossenheit
9. Ein folgenreiches Gespräch
10. Krieg gegen die Menschheit
11. Eine geheimnisvolle Spur
12. Das verschwundene Raumschiff
13. Neue Rätsel
14. Böse Vorahnungen
15. Expedition auf alten Spuren
16. Die Zeit drängt
17. Der Mars schweigt
18. Drama in der Höhle
19. Sie kommen!
20. Jahre in Trance
21. Ein Bild sagt mehr als Worte
22. Funkstille
23. Eindringlinge
24. AI-20 greift ein
25. Die Verschwörung
26. Der Schlüssel
27. Begrüßungsgesänge
28. Der Retter
29. Höllenfeuer
30. Der Abschied der Hüter
31. Das größte Geheimnis der Galaxis
1. Ein Senator auf Abwegen
Die Straßenlaternen flackerten trübe und überall lag Müll. So was zeigten sie in den offiziellen Berichten nie. Auch auf den unaussprechlichen Gestank, der in der Luft lag, war er nicht vorbereitet gewesen.
Immerhin würde niemand auf die Idee kommen, ein Senator könnte sich in so eine Gegend verirren, noch dazu zu Fuß.
Zumindest hoffte Hjalmar Bjornstadt, Senator für Nordeuropa und Vorsitzender des Ausschusses für Raumfahrtangelegenheiten, dies inständig. Er trug seine älteste Jacke und dazu eine verblichene Jeans, die er noch irgendwo im hintersten Winkel seines Kleiderschranks gefunden hatte. Inzwischen kam er sich selber lächerlich vor, wie er sich immer wieder verstohlen nach allen Seiten umsah. Bisher hatte er keinen Verfolger entdecken können. Das musste allerdings nichts heißen. Er war nicht gerade das, was man erfahren in Spionageangelegenheiten nennen konnte.
Endlich, die Hausnummer, die er gesucht hatte. Er ging die Treppenstufen hinunter und zuckte erschrocken zurück. Er war auf etwas Weiches, Nachgiebiges getreten. Es war schon zu dunkel, um zu erkennen, um was es sich handelte, und er wollte es auch gar nicht so genau wissen. Mit Gänsehaut am ganzen Körper klopfte er an die Tür: Dreimal schnell, Pause, einmal, Pause, zweimal schnell – so, wie sie es vereinbart hatten.
Es kam ihm endlos vor, bis geöffnet wurde. Vor ihm stand ein etwa siebzig Jahre alter Mann mit rot-grau meliertem Haar und buschigen, absurd aussehenden Koteletten. Er lächelte beim Anblick seines Besuchers. »Ah, guten Abend, Sen–«
»Keine Namen, wenn ich bitten darf«, fiel ihm Bjornstadt ins Wort.
»Schon gut«, meinte der Mann und trat beiseite, um den Senator einzulassen. »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Hier sind Sie sicher.« Er schloss die Tür. »Es ist Ihnen auch niemand gefolgt, seit Sie die U-Bahn an der Haltestelle Kenyatta verlassen haben. Niemand außer einem jungen Mann meines Vertrauens, der auf Sie aufgepasst hat.«
Bjornstadt holte überrascht Luft. Und er hatte niemanden bemerkt!
»Wie schön«, meinte er schließlich, nachdem er den Schock überwunden hatte. »Können wir gleich anfangen?«
»Empfiehlt sich. Kommen Sie.«
Bjornstadt folgte dem Mann durch einen schmalen Flur in den hinteren Teil des Gebäudes, vorbei an einer unaufgeräumten Küche, die nach altem Fett und Gewürzen roch, und einem Badezimmer, das keine Tür besaß, nur einen Perlenvorhang.
»Eine anonyme Videomail, das war es, was Sie wollen, nicht wahr?«, vergewisserte sich der Mann, während er an einem Schlüsselbund, den er aus einer Tasche seiner unförmigen Hose gezogen hatte, eine ganz bestimmte Codekarte suchte.
»Genau«, sagte Bjornstadt.
»Sie wissen, dass die Zustellung sich ziemlich hinziehen kann?« Der Mann beäugte eine grüne Karte, schüttelte den Kopf und suchte weiter. »Jede Mail wird in kleine Datenpakete zerlegt, ehe sie auf die Reise geht, und wenn so ein Datenpaket keinen Abrechnungscode hat, kommt es immer ganz zuletzt an die Reihe, schlängelt sich sozusagen in die Lücken der Datenströme …«
Der Senator furchte unwillig die Stirn. »Ich weiß, wie das Mailsystem funktioniert. Und es gibt gute Gründe, warum es eine Videomail sein muss.«
»Video heißt, dass Sie ziemlich viele Datenpakete auf die Reise schicken. So was kann lange unterwegs sein.« Er hatte die richtige Schlüsselkarte gefunden, schob sie in den Leseschlitz der Tür am Ende des Flurs. »Das muss Ihnen klar sein.«
»Das ist es, keine Sorge«, sagte Bjornstadt. »Umso dringender, dass wir endlich anfangen.«
Der Name des Mannes mit den einst grellroten Haaren und dem altmodischen Backenbart war Ian Noone – zumindest nannte er sich so und unter diesem Namen war er unter Informationstechnikern eine Berühmtheit. Seinen wirklichen Namen hatte auch Bjornstadt nicht herausfinden können. Er hatte Noone vor vielen Jahren mit einem Gutachten vor Gericht zu einem Freispruch verholfen. Da war Bjornstadt noch Professor für internationales Recht an der Universität von Quebec gewesen. Ohne besondere Sympathie für den Mann zu hegen, hatte er einfach nur die Gesetzeslage dargelegt und Noone so eine Verurteilung erspart. Nach dem Prozess hatte Noone ihm verschwörerisch zugeraunt, er, Bjornstadt, habe nun etwas gut bei ihm.
Bjornstadt hatte nicht im Traum daran gedacht, jemals im Leben auf dieses Angebot zurückzukommen.
Bis jetzt.
Die Tür, die Noone aufschloss, führte in eine … Ja, was? Eine Garage? Einen Raum jedenfalls, dessen Wände voller Regale standen, die bis zur Decke reichten und bis in die letzten Winkel vollgestopft waren mit Werkzeug, Computern aller Bauarten, Kisten, Kästen, Kartons und unidentifizierbaren Maschinen. In der Mitte des Raumes stand eine Art Telefonkabine, nur größer. In ihr befand sich ein Tisch mit einer altertümlichen Tastatur, einer Kamera und einem Bildschirm.
»Bitte sehr«, sagte der alte Mann. »Hier sind Sie ungestört. Unabhörbar nach IDPA-Standard Stufe drei, mit integrierter Abschirmung gemäß –«
»Ersparen Sie mir das technische Gebrabbel«, sagte Bjornstadt. »Fangen wir lieber an. Was muss ich tun?«
Noone deutete einladend auf die Tür des großen grauen Kastens. »Sie gehen da rein, tippen die gewünschte E-Mail-Adresse ein –«
»Eintippen?«
»Bei einer anonymen Mail geht es nicht anders.«
»Gut. Und weiter?«
»Sie drücken die Aufnahmetaste. Die Kamera stellt sich automatisch ein. Und dann reden Sie.«
Also gut. Bjornstadt vergewisserte sich noch einmal, dass die Tür geschlossen und verriegelt war. Draußen wedelte Noone mit den Händen, hob die Finger. Zehn. Was wohl hieß, er solle höchstens zehn Minuten reden, weil die Zustellung sonst ewig dauern würde. Jaja. Der Senator nickte unwillig.
Vertrauen war gut, Kontrolle war besser. Bjornstadt zog ein kleines Kästchen aus der Tasche, schaltete es ein, wartete, bis das Signal auf der Oberseite aufleuchtete. Grün. Das hieß, die Abschirmung funktionierte. Zumindest, wenn er dem Techniker vom Sicherheitsdienst vertrauen wollte, der es ihm vor einiger Zeit gegeben hatte.
Das allerdings war gerade die große Frage: Wem in seiner Umgebung durfte er noch vertrauen?
Er zog die Tastatur zu sich heran, musterte die Buchstaben darauf. Es war Ewigkeiten her, seit er das letzte Mal so ein Gerät benutzt hatte. Mühsam tippte er die Mailadresse seiner Exfrau ein, kontrollierte auf dem kleinen Schirm, dass sie richtig geschrieben war. Dann hielt er einen Moment inne, versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, was er sagen wollte. Es war so viel. Zehn Minuten würden nicht reichen.
Zumal es ihn einige Anstrengung kosten würde, sie davon zu überzeugen, ihm zu glauben.
Gut. Am besten, er fing einfach an. Ehe sich die Gedanken in seinem Kopf verknoteten. Er drückte die Aufnahmetaste, fixierte den kleinen Punkt im Objektiv der Kamera und sagte: »Hallo Irene. Ich bin’s. Bitte lösch diese Mail nicht gleich, sondern lass mich erklären, warum ich dich kontaktiere und warum auf diese Weise.«
Es war alles so lange her. Vielleicht war das die glücklichste Zeit seines Lebens gewesen, an der Universität … Aber er hatte ja unbedingt in die Politik gehen müssen, hatte es in Kauf genommen, dass seine Ehe daran zerbrochen war.
Bjornstadt fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. »Ich weiß nicht, was du gedacht hast, als du das erste Mal gehört hast, dass ich den Vorsitz des Raumfahrtausschusses übernehme. Ausgerechnet ich, der ich von Weltraumfahrt so gut wie nichts verstehe. Ich, der ich in meinem ganzen Leben nur einen einzigen Raumflug unternommen habe und auch der ging nur bis zur McAuliffe Station und zurück … Aber so geht das manchmal in der Politik. Du erinnerst dich sicher, dass mein eigentlicher Ehrgeiz dem Finanzministerium galt. Daran hat sich seither nichts geändert. Ich dachte, ehrlich gesagt, im Raumfahrtausschuss ließen sich am ehesten Möglichkeiten für dramatische Einsparungen finden – eine naive Vorstellung, wie ich heute weiß. Ich hatte gehofft, mich rasch profilieren und dann auf den Posten des Finanzministers wechseln zu können …« Er seufzte. »Wozu erzähle ich dir das alles? Weil ich will, dass du verstehst.«
Er sah auf seine Hände hinab. »Im Grunde begann alles, aus dem Ruder zu laufen, als ich auf den unseligen Gedanken kam, die Marssiedlung zu schließen. Wobei ich mir gar nicht mehr sicher bin, ob es nicht Tom Pigrato war, der damalige Statthalter, der mich auf diese Idee brachte … Ist ja auch egal. Jedenfalls, ich stellte eine Beispielrechnung auf – was die Marssiedlung die Erde jedes Jahr kostet und wie man mit ihrer Schließung das Haushaltsdefizit bereinigen könnte – und legte sie zuerst ein paar Abgeordneten vor, von denen man sagte, sie stünden der Heimwärtsbewegung nahe. Leute, die dieses Vorhaben unterstützen würden und die anfingen, es ernsthaft zu diskutieren. Auf den Fluren und Gängen, in der Cafeteria und den Nebenräumen der Parlamentsgebäude ging es bald um nichts mehr anderes.«
Bjornstadt hob den Kopf, blickte wieder in das gläserne Auge der Kamera. »So ist das gelaufen. Ich habe mich mit der Heimwärtsbewegung eingelassen, in der Hoffnung, meine Karriere zu beschleunigen«, sagte er und fügte bitter hinzu: »Stattdessen muss ich nun um mein Leben fürchten.«
Er versuchte, das Bild seiner geschiedenen Frau vor seinem inneren Auge heraufzubeschwören. Sich vorzustellen, wie sie ihn ansehen, was für ein Gesicht sie machen würde. Er meinte, ihren vorwurfsvollen Blick regelrecht zu spüren.
»Zu meiner Entschuldigung kann ich nur sagen, dass ich, wie die meisten, diese Bewegung damals für eine harmlose Spinnerei gehalten habe«, fuhr er fort. Damals – wie das klang! Dabei war es erst ein paar Monate her. »Ich weiß nicht, ob jemand geahnt hat, wie sich die Heimwärtsbewegung entwickeln würde; ich jedenfalls habe es nicht geahnt.« Bjornstadt beugte sich vor. »Ich muss dir diese Botschaft über anonyme Mail schicken, weil ich nicht mehr weiß, wer in meiner eigenen Behörde im Sold der Heimwärtsbewegung steht und wer nicht. Ich ringe um meine berufliche Existenz. Mir werden Anrufe, Nachrichten, Mitteilungen vorenthalten. Ich habe vor ein paar Tagen festgestellt, dass meine Codekarte kopiert worden sein muss: Ist dir klar, was das heißt? Dass irgendjemand seit Monaten in meinem Namen Anweisungen an Dienststellen der Raumfahrtbehörde erteilen kann und wahrscheinlich auch erteilt hat.«
Es war plötzlich so stickig in diesem Kasten. Es kam ihm vor, als würden sich die Wände der Zelle aufeinanderzubewegen und ihn erdrücken.
»Die Entdeckung der blauen Türme auf dem Mars, die Erkenntnis, dass, lange bevor es Menschen gab, fremde intelligente Lebewesen in unserem Sonnensystem gewesen sind und Bauwerke hinterlassen haben, deren Geheimnisse wir nicht annähernd enträtselt haben – das hat Ängste in der Bevölkerung geschürt und diese Ängste wiederum haben der Heimwärtsbewegung Auftrieb gegeben. Ein Glück war nur, dass diese Türme auf dem Mars standen, also weit weg von der Erde. Das hat viele beruhigt. Der nächste Schock war die Entdeckung des Mausoleums – Hunderte von Aliens, die in gläsernen Sarkophagen liegen, so gut erhalten, dass man nicht weiß, ob sie wirklich tot sind oder vielleicht nur schlafen. Das hat die Panik wieder angefacht, aber dabei drehte es sich ja immer noch um den Mars, die Bedrohung war immer noch weit weg. Und dann das Undenkbare – drei Marskinder, die durch einen der Türme auf die Erde gelangen! Damit war unmissverständlich klar, dass die Türme ein Transportmittel sind, eine Art Geheimtür durch uns völlig unverständliche Dimensionen. Und als sich herausstellte, dass sich auch hier auf der Erde mindestens ein solcher Turm befinden muss, in der Nähe des Regierungssitzes zudem – das hat die Stimmung kippen lassen.« Bjornstadt fuhr sich über die Stirn. »Zu allem Überfluss die Erkenntnis, dass die Fremden einst auch hier auf der Erde gewesen sein müssen, und nicht nur das, dass sie hier Krieg geführt haben! Die Menschen fragen sich, ob die Heimwärtsbewegung nicht recht haben könnte. Dass wir im Weltraum nichts verloren haben. Sie fragen sich, was passieren kann, wenn wir die blauen Türme weiter erforschen, wenn wir den Mars weiter erschließen? Muss man nicht befürchten, dass wir dabei irgendetwas tun, das die Aliens alarmiert, wo immer im All sie leben mögen – und dass sie zurückkehren?« Er ließ sich gegen die Stuhllehne sinken. »Ich kann die Menschen verstehen, die sich das fragen. Offen gestanden, frage ich es mich auch.«
Durch das mattgrau getönte Fenster der Kabine sah Bjornstadt, wie Noone zurückkam. Er hob mahnend den Arm und tippte auf seine Uhr. Die zehn Minuten waren wohl um.
»Ich muss zum Ende kommen«, sagte Bjornstadt. »Eigentlich wollte ich dich nur bitten, dich vorzusehen. Ich weiß, du lebst nun schon so lange auf dem Mars, dass du vermutlich kaum noch weißt, wie es hier auf der Erde zugeht – trotzdem, Irene, glaub mir: Es ist ernst. Euch droht Gefahr. Bitte sprich mit dem neuen Statthalter. Die Heimwärtsbewegung plant irgendetwas, dessen bin ich mir hundertprozentig sicher. Einen Schlag gegen den Mars, einen Schlag gegen die Aliens. Ein Attentat habt ihr ja schon erlebt und einigermaßen glimpflich überstanden, aber glaub mir, die nächste Aktion wird eine Nummer größer. Macht nicht den Fehler, diese Leute zu unterschätzen. Sie sind getrieben von einer Angst, die du dir vielleicht kaum vorstellen kannst, aber gerade das macht sie so gefährlich. Sie sind zu allem entschlossen und sie sind schlau. Bitte, Irene, pass auf dich auf.« Er zögerte, dann fügte er hinzu: »Und wenn mir etwas zustoßen sollte … Wenn Dinge über mich gesagt werden sollten … Bitte denk daran, dass du mich besser kennst als jeder andere Mensch. Du wirst wissen, was stimmt und was nicht.«
Damit drückte er auf den Knopf Senden.
2. Unfreiwillige Heimlichkeiten
Ariana sah aus dem Fenster. Der Mars zeigte sich heute von seiner besten Seite. Der Himmel war von einem herrlichen, kristallklaren Gelb, hinter dem die Sterne sanft hindurchschimmerten, die Ebene jenseits des Ringwalls um die Obere Station leuchtete in warmem Rostbraun und eigentlich, ging es ihr durch den Kopf, hätte man jetzt dort draußen sein müssen, um mit voll aufgeladenem Raumanzug über das Geröll zu rennen und von Stein zu Stein zu hüpfen, in so weiten Sprüngen, wie man nur konnte.
Und wenn alles noch so gewesen wäre wie immer, dann wären sie jetzt wahrscheinlich auch da draußen gewesen.
Alle fünf.
Und das war schon der Punkt. Denn von den fünf Marskindern waren tatsächlich nur noch zwei da, sie und Ronny. Die anderen drei – Carl, Elinn und Urs – hielten sich auf der Erde auf.
Urs. War das so, wenn man in jemanden verliebt war und dieser Jemand dann nicht da war – nicht einmal annähernd, sondern schier unendlich weit entfernt –, dass einem dann alles wehtat vor Sehnsucht? Dass man an nichts anderes mehr denken konnte als daran, wie sehr er einem fehlte?
Zugegeben, Urs schrieb ihr jeden Tag eine E-Mail. Aber das war kein Ersatz für Umarmungen, Küsse, Nähe. Zumal Urs kein besonders romantischer Briefschreiber war; seine E-Mails lasen sich alle, als sähe ihm jemand dabei neugierig über die Schulter und als traue er sich deswegen nicht zu sagen, wie es ihm wirklich ging.
Oder – das war ihre heimliche Angst – als hätten sich seine Gefühle für sie geändert.
»Ariana?« Die synthetische Stimme von AI-20 ließ Ariana hochschrecken. »Ich komme nicht umhin festzustellen, dass du zwar das Unterrichtsprogramm bereits seit über einer Stunde offen hast, aber immer noch beim gleichen Lektionsschritt stehst.«
Sie sah auf den Schirm. Das stimmte. Und überdies bestand der aktuelle Lektionsschritt nur aus einem einzigen kurzen Absatz neben dem Bild einer Schnecke.
»Ja, ich weiß«, seufzte sie. »Die Biologie der Weichtiere. Wenn ich das Gefühl hätte, dass das irgendwas mit mir zu tun hat, würde es mich sicher brennend interessieren.«
AI-20 war die künstliche Intelligenz, die alle Systeme der Marssiedlung steuerte – angefangen von der Luftversorgung und Energieerzeugung bis hin zur Radarüberwachung des Weltraums und der Verwaltung der Vorratslager. Dafür zu sorgen, dass die Kinder ihrer Schulpflicht nachkamen, war nur eine ihrer Aufgaben, aber manchmal kam es einem vor, als sei es diejenige, der sich AI-20 mit der größten Impertinenz widmete.
»Wenn ich so etwas sagen würde, hätte es möglicherweise eine gewisse Berechtigung«, meinte die künstliche Intelligenz mahnend, »aber du bist ein biologisches Lebewesen und deswegen mit allen auf der Erde anzufindenden Lebensformen eng verwandt. Deine DNS ist zum Beispiel zu über siebzig Prozent mit der einer Schnecke identisch.«
Ariana verzog das Gesicht. Das war jetzt nicht unbedingt das Aufbauendste, das ihr jemand hätte sagen können. AI-20 war zwar letzten Endes nur ein besonders kompliziertes Computerprogramm, aber es hatte sich trotzdem schon einfühlsamer gezeigt.
»Ja, schon gut. Ich werde mich um meine Verwandtschaft kümmern. Versprochen.«
»Gut«, sagte AI-20 gleichmütig und schwieg wieder.
Ronny sah hinter seinem Schirm hervor. Er hatte – was mehr als ungewöhnlich für ihn war und was man eigentlich auch in irgendwelchen Annalen für die Nachwelt hätte festhalten müssen – die ganze Zeit still und emsig vor sich hin gearbeitet.
»Ich hab dich aber doch tippen hören«, meinte er stirnrunzelnd. »Was hast du denn gemacht?«
Ariana seufzte. »Eine E-Mail geschrieben. An meine Mutter.«
»An deine Mutter?« Ronny verdrehte die Augen. »Oje. Geht das wieder los.«
Das Dumme war, dass sie ihm diese Reaktion nicht einmal übel nehmen konnte. Ihre Mutter lebte schon seit Langem wieder auf der Erde, schrieb ihr ungefähr drei E-Mails pro Jahr, die zu beantworten jedes Mal ein tagelanges Drama war, von dem längst keiner der Marssiedler mehr etwas hören wollte.
Trotzig zog Ariana ihre Tastatur näher zu sich heran und überflog, was sie bis jetzt geschrieben hatte. »Diesmal ist es ganz einfach«, erklärte sie. »Ich habe einfach geschrieben, was los ist.« Und damit war sie eigentlich auch schon fertig. Tatsächlich war es eine erstaunlich lange Mail geworden, für ihre Verhältnisse zumindest. Vielleicht sogar die ausführlichste, die sie ihrer Mutter je geschrieben hatte.
»Und was ist los?«, fragte Ronny.
Sie musterte ihn. Irgendwie hatte Ronny sich auch verändert in den Wochen, die hinter ihnen lagen. Er hatte noch immer dieselbe Stupsnase und dieselben wilden blonden Locken, aber sein Blick war ernst geworden.
»Also, zunächst mal bin ich hier auf dem Mars, während Urs auf der Erde ist«, begann sie.
Ronny hob die Augenbrauen. »Genau genommen auf der Raumstation Mir-III, wo er sich mit den anderen eine tolle Zeit macht.« Er seufzte. »Zu Gast bei Yules Whitehead, dem reichsten Mann der Welt. Das muss echt galaktisch sein.«
»Jaja«, nickte Ariana ungeduldig. Inzwischen waren etliche kurze Filmberichte im Fernsehen gekommen, in denen man gesehen hatte, wie Urs, Carl und Elinn in dem berühmten kugelförmigen Schwimmbad in der Schwerelosigkeit herumtobten oder Madame Le Corr, der nicht minder berühmten Köchin des Multimilliardärs, in der Küche beim Gemüseschneiden halfen. Urs’ Mutter, eine emsige Sammlerin von Kochrezepten, war bei den Bildern aus der Küche der Mir-III ganz aufgeregt geworden.
»Aber ist dir klar, was das bedeutet?«, fuhr Ariana fort.
Ronny grinste. »Dass es ein ganzes Jahr dauern wird, ehe Urs und du wieder rumknutschen könnt.« Er deutete auf den Wandkalender, auf dem die Dauer der Periode eingezeichnet war, in der keine Raumschiffe von der Erde zum Mars fliegen konnten. Es war mehr als ein Jahr.
Ariana schüttelte grimmig den Kopf. »Nein. Es heißt, dass Urs überhaupt nicht mehr auf den Mars zurückkehren wird.«
Jetzt sah er sie doch wieder mit den großen, staunenden Augen an, die man an ihm kannte. »Was? Wie kommst du denn darauf?«
»Denk doch mal nach. Urs’ Vater ist von seinem Posten als Statthalter der Erdregierung auf dem Mars abgesetzt worden. Er hat Anweisung, mit dem nächstmöglichen Flug zur Erde zurückzukehren.« Ariana faltete die Hände. »Glaubst du, da lassen die Urs noch mal zum Mars fliegen? Während seine Eltern in die Gegenrichtung unterwegs sind? Nein, der bleibt gleich da.«
»Oh«, machte Ronny.
»Logisch, oder?« Ariana deutete auf ihren Schirm. »Aber wenn ich die Mails lese, die Urs mir schreibt, frage ich mich, ob der Typ noch alle Anschlüsse am Anzug hat. Ich meine, das muss ihm doch auch klar sein, oder? Seine Eltern werden es ihm gesagt haben. Ich jedenfalls hab’s ihm gesagt und er? Null Reaktion. Tut so, als sei es nur eine Frage der Zeit, bis er wieder zurück ist.«
Sie ärgerte sich über Urs, jawohl. Es war erstaunlicherweise möglich, in einen Jungen verliebt zu sein und sich gleichzeitig über ihn zu ärgern – und wie!
Auf Ronnys Gesicht stand ehrliches Entsetzen. »Aber … was machst du denn dann? Ich meine, du und Urs, ihr seid doch … also, ich meine, du kannst das doch nicht einfach –«
»Hab ich auch nicht vor«, erklärte Ariana und legte die Finger auf die Tasten. »Aber es gibt nur eine Lösung: Ich muss auf die Erde. Also ziehe ich nächstes Jahr nun doch zu meiner Mom. Das ist es, was ich ihr geschrieben habe.« Sie sprach mit, während sie die letzten Worte der E-Mail tippte. »Es grüßt dich ganz herzlich: Deine Tochter Ariana. So. Fort damit.« Sie drückte den Sendeknopf.
Ronny sah ziemlich geschockt drein.
»Carl und Elinn kommen ja wieder«, meinte Ariana, um ihn zu beruhigen.
Ronny schüttelte den Kopf, fuhr sich mit den Händen durch die Haare. »Mann«, stieß er aus. »Ich hatte mich gerade an Urs gewöhnt.«
Ariana nickte. »Ich mich auch.«
»Aber wo wird er denn leben? Ich meine, wenn seine Eltern zurückkommen?«
»Sie haben früher in Genf gewohnt, glaube ich. Genf? Ja, Genf. Ich nehme an, dort werden sie wieder hinziehen.«
»Okay. Und deine Mutter lebt in Flagstaff, Arizona. Was bringt es, wenn du bei ihr lebst?«
Ariana musterte Ronny unwillig. »Wieso?«
»Also, ich glaube, das ist eine ziemliche Strecke von Flagstaff nach Genf.«
»Vom Mars bis nach Genf, das ist eine ziemliche Strecke«, blaffte Ariana. Ronny war ziemlich schlecht in Geografie, aber verglichen mit ihr geradezu ein Experte, das wusste sie. Trotzdem würde sie sich jetzt nicht die Blöße geben zuzugeben, dass sie keinerlei Vorstellung von den Entfernungen auf der Erde hatte.
Er hob die Schultern. »Na ja. Musst du wissen. Aber ich an deiner Stelle –«
Er kam nicht mehr dazu zu sagen, was er an Arianas Stelle tun würde, denn in diesem Moment fiepte sein Kommunikator. »Ja?«, meldete er sich. Und dann: »Oh, das hab ich ganz vergessen. Ich komme.«
»Was ist?«
»Ich habe Mister Knight versprochen, mit ihm rauszufahren, er muss an ein paar Wetterstationen was erledigen.« Eine Gelegenheit, einen der Rover zu fahren, ließ Ronny sich nie entgehen. Im Nu war sein Bildschirm ausgeschaltet, Arianas Problem vergessen und er so gut wie aus der Tür. »Bis später!«
Was Ariana nicht ahnte, war, dass Urs sich in Wirklichkeit schon längst nicht mehr auf der Mir-III befand und um die Erde kreiste. Er war nicht einmal mehr in der Nähe der Erde. Was man von den drei Marskindern im Fernsehen sah, waren alles Aufzeichnungen. Tatsächlich waren Urs, Carl und Elinn insgeheim schon seit mehr als zwei Wochen zusammen mit Yules Whitehead an Bord seines neuen Raumschiffes SAGITTARIUS ALPHA – und unterwegs zum Mars! Der neue Raumschifftyp verfügte über einen besonders starken Antrieb, der Flüge zum Mars auch in jenen Perioden erlaubte, in denen der Planet so ungünstig zur Erde stand, dass er mit herkömmlichen Raumschiffen nicht zu erreichen war.
Ungefähr zur selben Zeit, als Ariana sich über Urs ärgerte und die Mail an ihre Mutter schrieb, saß Urs zusammen mit den anderen in der Kommandozentrale der SAGITTARIUS ALPHA – und ärgerte sich ebenfalls.
»Was haben wir noch? Ah ja, das Rezept für Urs’ Mutter«, sagte Bazman gerade auf dem Schirm der Bildtelefonanlage. Bazman war Whiteheads Butler, ein junger, überaus sportlich wirkender Mann mit blau gefärbten Haaren, dessen Vorname niemand zu kennen schien und der absolut nicht so aussah, wie man sich einen Butler vorstellte. Bazman war auf der Mir-III geblieben und organisierte alles, was notwendig war, um ihren Flug zum Mars geheim zu halten.
»Ich musste Madame Le Corr ziemlich bearbeiten, ehe sie es herausgerückt hat. Mit ihren Fischrezepten ist sie nämlich ziemlich … zurückhaltend, um es mal dezent auszudrücken. Das als Anregung, Urs, falls du nicht weißt, was du dazu schreiben sollst.« Bazman hob einen Zettel hoch. »Ich hab es dir in dein Mailfach gestellt.«
Urs nickte grimmig. Allmählich hing ihm das blöde Spiel zum Hals heraus. Madame Le Corr war wohl eine ziemlich berühmte Köchin, und seit Urs’ Mutter glaubte, er befände sich auf der Mir-III, bedrängte sie ihn alle zwei Tage mit einer Mail, sie dies zu fragen und jenes zu fragen … Und nun musste er immer so tun als ob.
»Dann«, fuhr Bazman fort, ohne eine Antwort abzuwarten, »habe ich eine Anfrage bekommen von einem gewissen Michael Visilakis, einem Journalisten.« Der Grund, warum er nur dann auf eine Antwort wartete, wenn er eine brauchte, war ganz einfach der, dass sie sich inzwischen schon so weit von der Erde entfernt hatten, dass ein Funksignal mehr als fünf Minuten brauchte, um sie zu erreichen. Bei einem Videotelefonat wie diesem musste man deshalb nach einer Frage über zehn Minuten auf Antwort warten. »Visilakis würde gern ein Interview mit Carl, Elinn und Urs machen. Er schreibt dazu ›gern wieder telefonisch‹ – keine Ahnung, was das heißen soll.«
Elinn hatte die ganze Zeit schweigsam und mit angezogenen Beinen auf der gepolsterten Sitzbank gesessen, die sich an der einen Seite der Zentrale über die gesamte Wand hin zog. Sie strich ihre rostrote Lockenmähne zurück und sagte: »Der hat uns vor ein paar Jahren schon mal interviewt. Auch per Telefon.«
Carl ergänzte: »Er hat vermutlich den Begriff ›Marskinder‹ erfunden, der uns seither anhängt.«
Yules Whitehead schüttelte den Kopf. »Ein Interview geht nicht. Dazu ist die Zeitverzögerung zu groß. Er würde merken, dass etwas nicht stimmt.«
Diese Bemerkung konnte Bazman noch nicht mitbekommen haben, aber offenbar hatte er den Einwand vorausgeahnt, denn er fuhr fort: »Übrigens hat dieser Visilakis das Thema Zeitverschiebung von selber angesprochen, er hält sich nämlich im Moment wohl auf dem Mond auf. Sie wissen ja, Telefonate mit den Mondsiedlungen gehen über hundert Ecken – man hat manchmal das Gefühl, man telefoniert mit dem Saturn. Aber ich schätze, ein telefonisches Interview können wir trotzdem nicht riskieren.«
»Außerdem wird er ein Videotelefonat wollen und wir können hier an Bord nicht die passenden Hintergründe liefern«, nickte Whitehead.
»Außerdem«, stieß Elinn hervor und stand auf, »ist er ein Blödmann. Ich habe keine Lust, mit dem zu reden.« Damit verließ sie die Zentrale.
Whitehead grinste. »Na also. Dann ist das ja wohl geklärt.« Er blickte das Abbild seines jungen Assistenten an. »Was meinen Sie? Wollen Sie ihm das so sagen? Dass er in Ungnade gefallen ist?«
Damit begann das Warten auf die Antwort. Nervenzehrend, denn natürlich schien die Zeit, wenn man so wartete, besonders langsam zu vergehen.
Und alles, was sie tun konnten, war, Bazman dabei zuzusehen, wie er in irgendwelchen Unterlagen blätterte und sich Notizen machte.
»Ich hasse diese Heimlichtuerei«, platzte Urs schließlich heraus. »Warum sagen wir es nicht einfach? Dass wir auf dem Weg zum Mars sind? Was ist denn dabei? Einholen kann uns eh niemand mehr.«
Whiteheads Gesicht blieb reglos wie eine Maske aus dunklem, rissigem Holz. »Das habe ich euch doch erklärt. Wir haben keine Fluggenehmigung von Space Control, die SAGITTARIUS ALPHA ist noch ein Prototyp ohne technische Zulassung –«
»Ja, und?«, versetzte Urs. »In zehn Tagen erreichen wir den Mars. Spätestens dann kommt sowieso alles heraus!«
»Je später, desto besser.«
Urs gab ein unwilliges Schnauben von sich. »Ich muss meine Mutter anlügen, ich muss meine Freundin anlügen … Mir stinkt das!«
»Wir machen das nicht zum Spaß«, mahnte Whitehead.
»Spaß macht es auch keinen, falls Sie das beruhigt.« Urs stand auf. Er hatte wirklich genug, alles, was recht war. Genug auch davon, nett und freundlich zu allem Ja zu sagen, nur weil der große, berühmte, milliardenschwere Yules Whitehead es so wollte. Und wenn Elinn einfach gehen konnte, dann konnte er das auch.
Der Rumms, mit dem Urs die Tür hinter sich ins Schloss gezogen hatte, schien eine ganze Weile zu brauchen, um zu verhallen. Carl musterte die Instrumente, das elegante Spiel der Leuchtbalken und Diagramme auf den Bildschirmen. Die Nerven lagen blank. Kein Wunder, wenn man überlegte, was sie hinter sich hatten. Elinn hatte Albträume seit der Entführung, jede Nacht.
Endlich war es so weit. Bazmans Antwort erreichte sie und durchbrach das unangenehme Schweigen.
»Wie heißt es so schön? Verdirb es dir nie ohne Not mit einem Journalisten«, meinte der blauhaarige Mann. »Ich würde diesem Visilakis vorschlagen, er soll seine Fragen schicken und wir machen die Antworten dann selber. Auch mit Video, wenn es sein muss. Was halten Sie davon?«
Whitehead nickte. »Ja, schlagen Sie das vor. Dann sehen wir weiter.«
»Ach, und ehe Sie abschalten«, fügte Bazman hinzu – oder besser gesagt, hatte er vor rund fünf Minuten hinzugefügt –, »wie immer der neueste Stand, was den Ostturm am Löwenkopf anbelangt. Wir haben eine neue Hochrechnung auf Basis der bisherigen Verlangsamung. Danach wird der Turm am Freitag, dem 2. Mai 2087, zum Stillstand kommen, vermutlich am späten Abend.«
»Alles klar. Bis morgen«, sagte Whitehead und schaltete das Bildtelefon ab.
Eine seltsame Stille ergriff Besitz von der kleinen Kommandozentrale der SAGITTARIUS ALPHA, eine Stille, die eigentlich gar keine war, denn nach wie vor durchdrang das seltsam hohe, sirrende Geräusch der neuartigen Triebwerke alles. Es begleitete sie wie ein ständiges Pfeifen im Ohr.Der wachhabende Pilot, der während des Gesprächs reglos an seinem Platz gesessen hatte, beugte sich nun über seine Instrumente, murmelte Anweisungen in ein Mikrofon und das normale Bordleben nahm wieder seinen Lauf.
Carl fragte sich gerade, ob Whitehead wohl von ihm erwartete, jetzt auch zu gehen, als dieser in verhaltenem Ton sagte: »Es gibt einen ganz praktischen Grund für unser Stillschweigen. Aber behalt es bitte für dich, okay?«
Carl nickte, verblüfft darüber, dass der Milliardär ihm etwas anvertrauen wollte. »Versprochen.«
»Hast du schon einmal etwas von der Asteroidenwache gehört?«
»Asteroidenwache?« Doch, da klingelte irgendwo etwas. »Dunkel. Das ist eine Sondereinheit, die die Raumstationen vor großen Asteroiden schützt.«
»Ja, und nebenbei die Erde vor sehr großen, deren Auftauchen zwar extrem unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen ist.« Whitehead fuhr sich durch das krause weiße Haar. »Weißt du auch, wie sie das machen?«
Carl überlegte. Ein paar Sachen hatte er aufgeschnappt, hier und da … »Es gibt ein Radarsystem, das das Sonnensystem ständig nach Asteroiden absucht. Die größte Station ist auf dem Mond, glaube ich.«
»Und dann? Wenn sie einen Felsbrocken aufspüren, der genau Kurs auf, sagen wir, die McAuliffe Station hält?«
Carl zögerte. Jetzt, wo er danach gefragt wurde, wurde ihm klar, dass er darüber schon längst einmal hätte nachdenken können. Aber er hatte es nie getan.
»Keine Ahnung«, gab er zu.
Der Industrielle, der in seiner Jugend das technische Prinzip erfunden hatte, nach dem die Fusionsreaktoren bis auf den heutigen Tag arbeiteten, und damit zum reichsten Mann der Welt geworden war, senkte die Stimme noch einmal um eine Nuance. »Im Raum zwischen der Erde und der Marsbahn kreisen etwa fünfzigtausend Wächtersonden, sogenannte Moskitos – nichts anderes als präzise fernlenkbare Raketen. Die schweben im leeren All, schlafen und warten. Ab und zu werden sie kurz eingeschaltet, um zu prüfen, ob sie noch funktionieren, oder um sie auf einen anderen Kurs zu bringen, wenn die Gefahr besteht, dass sie den eines Schiffes kreuzen, das zwischen Mars und Erde fliegt. Oder wenn ein Asteroid entdeckt wird, dessen Bahn der Erde und ihren Raumstationen gefährlich nahe kommt …«
Carl hob verstehend die Augenbrauen. »Um ihn zu rammen?«
»Genau. Rechtzeitig und richtig berechnet reicht das, um auch große Asteroiden von ihrem Kurs abzubringen und so ungefährlich zu machen. Jeder Moskito verfügt über einen hochsensiblen Massesensor, mit dem er auch kaum faustgroße Steinbrocken präzise treffen kann – alles, was groß genug ist, um einer Raumstation irreparabel zu schaden.«
Das leuchtete Carl alles ein. Er verstand nur nicht ganz, was Whitehead damit sagen wollte.
»Das Asteroidenradar erfasst uns natürlich ebenfalls«, fuhr der Milliardär fort. »Aber da wir uns auf keinem für die Erde gefährlichen Kurs befinden, interessiert sich die zuständige KI nicht weiter für uns. Falls jedoch ein Mensch auf uns aufmerksam werden sollte, womöglich jemand, der uns übel gesonnen ist …« Er faltete die Hände. »Wie gesagt, ich habe das Gefühl, dass in der Raumfahrtbehörde zurzeit überaus seltsame Dinge vor sich gehen.«
Carl begriff. »Sie fürchten, dass so ein Moskito gegen uns gelenkt werden könnte?«
»Ja. Und das wäre unser sofortiges Ende.« Der Industrielle sah finster drein. »Dein Freund Urs hat recht, wenn er meint, dass uns niemand einholen kann. Das kann tatsächlich niemand. Aber aufhalten – aufhalten kann man uns noch eine ganze Weile. Es wäre nicht einmal schwierig. Und so lange müssen wir Stillschweigen bewahren.«
Urs saß auf dem Bett und hatte das Gefühl, von den Wänden der Kabine erdrückt zu werden. Kam ihm das nur so vor oder war auf dem ersten Flug zum Mars, den er mit seiner Mutter gemacht hatte, viel mehr Platz gewesen? Platz zum Tanzen, verglichen mit dieser Sardinenbüchse von einem Raumschiff? Schnell war es, okay, sagenhaft schnell sogar, aber es war auch eng, bei allem technischen Luxus, der eingebaut war.
Er sah auf das Terminal vor sich, das man an einer federnden Halterung aus der Wand zog. Dann wandte er den Blick ab. Nein, er würde nicht noch einmal lesen, was er geschrieben hatte. Geheuchelt war es, alles. Er belog seine Mutter, tat, als sei er auf der Raumstation, erzählte Lügengeschichten davon, wie er Madame Le Corr geholfen und wie sie ihm widerstrebend ihre Fischrezepte aufgeschrieben habe.
Am liebsten hätte er einfach geschrieben, wie es sich wirklich verhielt. Egal, was Yules Whitehead sagte.
Das Dumme war nur, dass alle Mails zuerst per Richtfunk an die Mir-III gingen, wo Bazman sie kontrollierte, ehe er sie ins allgemeine Mailsystem einspeiste. Das machte es auch nicht gerade lustiger, Ariana zu schreiben. Es lag ihm so viel auf der Zunge, auf der Seele, so vieles, was er ihr gern gesagt hätte … Aber so, mit dem Wissen, dass Whiteheads Butler alles mitlas, brachte er es nicht fertig, ihr zu schreiben, wie es wirklich in ihm aussah.
Er griff wieder nach dem Terminal, schickte die Mails auf den Weg, auch wenn ihm regelrecht übel dabei wurde.
Zum Teufel mit Whitehead und seinen Anweisungen! Urs stieß das Terminal von sich, dass es an seiner Halterung scheppernd gegen die Wand krachte. Er würde einen Weg finden, Ariana zu sagen, dass er unterwegs zu ihr war! Er hatte noch keine Ahnung, wie er es anstellen würde, aber er würde sie es wissen lassen!
3. Geheime Pläne
Ariana fröstelte, wie immer, wenn sie das geheime Versteck der Marskinder betrat. Die Luft hier hatte einen ganz eigenen Geruch, wie man ihn sonst nirgends in der ganzen Siedlung fand, und es war stets ein wenig kälter als im Rest der Marsstation.
Was daran lag, dass es sich bei dem geheimen Versteck um nichts anderes handelte als die legendäre Alte Station, die Unterkunft der allerersten Marsexpedition, von der es in den Schulbüchern hieß, sie existiere nicht mehr. Ein Irrtum, wie Ariana, Carl und die anderen eines Tages festgestellt hatten, als sie beim Spielen in den hinteren Lagerräumen auf eine unbekannte Tür gestoßen waren: Was für eine Überraschung, dahinter genau die Räume vorzufinden, von denen sie bis dahin nur Fotos gekannt hatten! Die ersten Marsforscher hatten ihre Unterkunft dereinst aus leeren Treibstofftanks errichtet, sie mühsam im Boden vergraben und mit einem Zugang und einer Schleuse versehen. Deswegen waren alle Räume klein, hintereinander angeordnet und hatten gerundete Wände aus geriffeltem Metall. Hier hatten sie ausgeharrt, die Männer und Frauen dieser ersten Expedition – James Marshall, Irina Buljakowa, Wang Shuo und viele andere –, hatten mit mangelhafter Isolierung der Kälte eines marsianischen Winters und seinen Stürmen getrotzt, bis die Planeten wieder Positionen erreicht hatten, die ihnen die Rückkehr zur Erde erlaubten.
Und sie hatten einen Globus mit zum Mars gebracht. Seltsam eigentlich, wenn man darüber nachdachte, und dann auch wieder nicht. Wo war er bloß? Ariana suchte die Schränke ab, öffnete Türen und schloss sie wieder und fand die Erdkugel schließlich in einem Fach unter dem Waschbecken.
Abgegriffen war sie und schief. Sie bestand aus zwei Halbschalen, die zusammengeklebt worden waren und von denen die eine ein wenig größer war als die andere. Vermutlich waren die Schalen während des Flugs zum Mars ineinandergesteckt und mit irgendetwas gefüllt gewesen, um möglichst wenig Platz in der Ladung einzunehmen, und einer der Forscher hatte den Globus erst hier zusammengesetzt. Die Farben der Kontinente waren verblasst, manche Beschriftungen kaum noch zu lesen, so, als ob die Forscher den Globus in langen Nächten und einsamen Stunden immer wieder zur Hand genommen hatten, um sich in Erinnerung zu rufen, wie der Planet aussah, der ihre Heimat war.
Ariana dagegen war fremd, was sie sah. Erstens war sie auf dem Mars geboren, die Erde war also nicht ihre Heimat. Und zweitens war sie, wie gesagt, legendär schlecht in Geografie.
Im Lauf des Tages hatte sich allerdings immer stärker das Gefühl eingestellt, dass sie vielleicht doch besser einmal nachsah, was Ronny mit seinem Einwand gemeint haben konnte. Bloß sagten ihr die flachen Erdkarten aus der Schuldatenbank so gar nichts: Da war ihr zum Glück der alte Globus eingefallen.
Urs werde zurückkehren an das Internat in Genf, an dem er gewesen war, ehe er mit seiner Mutter zum Mars gekommen war. So weit, so klar. Aber wo war nun Genf? Sie hatte keine Ahnung. Europa, irgendwo in Europa. Bloß – wo war Europa?
Sie suchte und suchte, bis ihr Blick mehr durch Zufall auf einen kleinen Zipfel am westlichen Ende des asiatischen Kontinents fiel, auf dem Europa stand. Das verwirrte sie schwer, denn ihres Wissens war Europa einer der fünf Kontinente … Aber doch, da, mitten darin war ein winziger Punkt, neben dem in winziger Schrift Genf stand.
Oje. Mit einem Gefühl, als fiele irgendetwas in ihr in eine bodenlose Tiefe, betrachtete sie den Globus, drehte ihn in ihren Händen hin und her. Flagstaff, die Stadt, in der ihre Mutter lebte, war zu klein, um eingezeichnet zu sein, das wusste sie. Aber ausnahmsweise hatte Ariana eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wo Flagstaff lag: auf dem nördlichen Teil des Kontinents, der Amerika hieß.
Beinahe auf der anderen Seite des Planeten also.
Es war erschütternd, sozusagen mit Händen greifen zu können, was Ronny gleich kapiert hatte. Ariana kam sich so dumm vor, geradezu entsetzlich blöd, während sie da auf dem kalten Lochboden der uralten Küche hockte, den Globus der ersten Marsforscher in Händen, und erst jetzt begriff, dass es ihr überhaupt nichts nützen würde, zu ihrer Mutter zu ziehen, weil sie dann immer noch viel zu weit von Urs entfernt sein würde, um ihn sehen zu können.
Vor der Tür von Yin Chis Büro hätte Irene Dumelle beinahe noch einmal kehrtgemacht. Vielleicht war es doch nicht so wichtig, versuchte sie sich einzureden. Ja, bestimmt hatte es überhaupt nichts zu sagen.
Aber kaum hatte sie sich wieder zum Gehen gewandt, wurde ihr klar, dass sie nicht so einfach davonkam. Dass es sehr wohl wichtig war. Also drehte sie sich um und klopfte an.
»Herein bitte«, ertönte es von drinnen. Entschlossen öffnete Mrs Dumelle die Tür.
Der Chinese, dessen immer noch schwarzes Haar an einigen Stellen grau wurde, telefonierte gerade, bedeutete ihr aber hocherfreut, ja beinahe begeistert, hereinzukommen. »Jaja, gut«, sagte er derweil zu seinem Gesprächspartner. »Belassen wir es dabei. Ich habe gerade Besuch bekommen und, wie gesagt, ich halte es für verfrüht, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Ja, das können Sie ausrichten. Danke.«
Dann schaltete er seinen Kommunikator ab und rückte ihr den Besucherstuhl zurecht. »Mrs Dumelle, bitte entschuldigen Sie vielmals, dass ich nicht gleich für Sie da sein konnte. Nehmen Sie doch Platz.«
»Schon gut«, murmelte sie. »Sie haben ja bestimmt viel zu tun.«
Er bot ihr sogar von seinem berüchtigten grünen Tee an. »Ganz frisch aufgebrüht«, versicherte er ihr, während er sich ein Glas eingoss. »Köstlich.«
Irene Dumelle räusperte sich. »Lieber nicht, danke. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, was man so allgemein über Ihren Tee sagt …?«
Ein flüchtiges Lächeln huschte über Yin Chis schmales Gesicht. »Er sei entsetzlich bitter. Ungenießbar. Eine Zumutung.«
»So ungefähr«, gab sie zu.
Er nippte an seinem Glas, mit Wohlbehagen, wie es schien. »Man sollte nicht alles glauben, was so geredet wird. Aber gut, ich zwinge niemanden. Kommen wir also ohne weitere höfliche Umschweife, wie wir Chinesen sie so lieben, direkt zu Ihrem Anliegen. Wie kann ich Ihnen helfen?«
Irene Dumelle betrachtete fasziniert das Glas, das Yin Chi behutsam vor sich auf die Tischplatte gestellt hatte. In der gelblichen, dampfenden Flüssigkeit schwammen zahllose winzige Teeblätter herum. Mit jedem Augenblick schien der Tee dunkler zu werden.
»Das macht man so«, erläuterte Yin Chi, der ihren Blick bemerkt hatte. »Der Teekenner jedenfalls.«
Sie riss sich los, räusperte sich erneut. »Ja, weswegen ich zu Ihnen komme … Ich habe eine Mail erhalten, eine Videomail, von der ich glaube, dass es gut wäre, Sie würden sie sich auch einmal ansehen.«
Die hauchdünnen Augenbrauen des Chinesen hoben sich. »Nun, wenn Sie meinen …«
»Sie ist nicht lang. Acht Minuten oder so.«
»Ich vertraue Ihrem Urteil, Mrs Dumelle.« Er reichte ihr ein Datentablett, damit sie ihr Postfach aufrufen konnte, und gab dem großen Bildschirm an der Wand den Befehl, sich einzuschalten.
Gleich darauf erschien der von weißblondem Haar gekrönte, kantige Schädel von Senator Bjornstadt. Er wirkte anders, als man ihn aus dem Fernsehen kannte – irgendwie gehetzt. Sein Blick glitt einen Moment suchend umher, bis er das Objektiv erfasst hatte, dann sagte er: »Hallo Irene. Ich bin’s.«
Nach dem Ende der Videomail stellte Yin Chi seinen Tee beiseite.
»Es war mir nicht bewusst, dass Sie in einem so engen Verhältnis zu Senator Bjornstadt stehen«, sagte er schließlich mit seiner sanften Stimme.
Irene Dumelle nickte, bedrückt von den Erinnerungen, die die Videomail in ihr wachgerufen hatte. »Ich hielt es für ratsam, es hier in der Marssiedlung nicht bekannt werden zu lassen. Dass ich einmal mit ihm verheiratet war, meine ich.«
Der alte Chinese strich sich versonnen über das Kinn. »Da haben Sie wahrscheinlich sogar recht.« Er sah sie an. »Was meinen Sie? Wie ist diese Warnung einzuschätzen?«
Wenn sie das nur hätte sagen können! Hjalmar so zu sehen, zu erleben, dass er nach so langer Zeit wieder einmal zu ihr sprach, nicht zu Wählern, Presseleuten oder Untergebenen, das weckte so viele Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit, an unbeschwerte Sommertage, die sie in den Wäldern Kanadas verbracht hatten, an Picknicks unter mächtigen Bäumen, an Sonnenuntergänge über dem Lac Saint-Jean …
An eine Zeit, in der Politik nur ein Wort gewesen war.
»Auf jeden Fall meint er es ehrlich«, erklärte sie schließlich. »Ich meine, das ist kein Manöver, um eine Intrige oder so etwas einzufädeln …«
»Eine große Zeitschrift hat Ihren Exmann einmal als den begabtesten Intriganten im gesamten Senat der Weltregierung bezeichnet«, warf Yin Chi sanft ein. »Und es gab niemanden, der dem widersprochen hat, nicht einmal Bjornstadt selbst.«
»Ja, schon. Er kann sehr gemein und hinterhältig werden, wenn er etwas unbedingt will, ich weiß das nur zu gut«, gab sie zu. Das Ende ihrer Ehe hatte ihr mehr Gelegenheit geboten, das zu erfahren, als sie sich gewünscht hätte. »Aber sogar er hat seine Grenzen. Dinge, die er nicht tun würde. Und er würde mich nicht … benutzen.«
Yin Chi faltete bedächtig die Hände unter seinem Kinn. »Gut, nehmen wir an, Sie schätzen ihn richtig ein und dies ist tatsächlich das, was es zu sein scheint, nämlich eine ernst gemeinte Warnung. Was dann?«
Mrs Dumelle hob hilflos die Hände und ließ sie wieder fallen. »Ich weiß es nicht. Deswegen bin ich zu Ihnen gekommen.«
Der kommissarische Statthalter der Erdregierung auf dem Mars griff nach seinem Teeglas. »Ich bin gewiss der Letzte, der die Heimwärtsbewegung unterschätzen würde. Spätestens, seit es ihnen gelungen ist, die Station am Noctis Labyrinthus zu zerstören, ist klar, wozu sie imstande sind. Aber«, sagte er und lehnte sich zurück, »was kann, ganz nüchtern betrachtet, die Heimwärtsbewegung denn im Augenblick tun? Nichts. Der Mars ist, wie wir alle nur zu gut wissen, im Augenblick von der Erde aus nicht erreichbar und das wird noch für ein gutes Jahr so bleiben. Was immer diese Leute aushecken – es kann uns nicht erreichen!«
Irene Dumelle nickte, erleichtert. Es tat gut, das noch einmal bestätigt zu bekommen.
Yin Chi trank seinen Tee aus, bis auf einen winzigen Rest voller Teeblätter. Dann machte er eine ruckartige Schwenkbewegung mit der Hand, die den restlichen Sud über die Innenseite des Glases schwappen ließ. Ein Teil der Blätter blieb dabei hängen und bildete eigenartige Muster, von denen manche ein wenig wie chinesische Schriftzeichen aussahen. Der hagere Mann betrachtete sie so nachdenklich, als studiere er ein Orakel.
»Es sei denn«, fuhr er nach einer Weile fort, »sie hätten noch weitere Agenten auf dem Mars, von denen wir nichts wissen. In diesem Fall droht uns Gefahr.«
Ungefähr zur gleichen Zeit flog ein Hubschrauber die Südküste der Insel Sri Lanka entlang. Es war eine kleine Maschine; an Bord waren nur die Pilotin und ein Passagier, ein älterer Mann, der eine Aktentasche an sich presste und ein verkniffenes Gesicht machte.
Der Tag war strahlend schön. Der Indische Ozean leuchtete türkisfarben, von Süden wehte ein sanfter, warmer Wind und Schwärme schimmernder Vögel suchten vor dem lärmenden Fluggerät das Weite. Doch weder die Pilotin noch ihr Passagier hatten einen Blick dafür. Die Pilotin hielt Ausschau nach dem Landeplatz, den man ihr beschrieben hatte, und der Mann mit der Aktentasche kämpfte mit seiner Übelkeit.
Schließlich kam das Anwesen in Sicht, das Ziel dieses Fluges. Vor hundert Jahren hatte ein Vorfahre des jetzigen Besitzers die auf felsigen Klippen gelegene, einstmalige Festungsanlage in eine Villa umbauen lassen, die danach noch mehrmals modernisiert worden war. Der Helikopterlandeplatz war ganz neu.
»Haben Sie alles?«, schrie die Pilotin über das Dröhnen der Turbinen hinweg. »Ich soll Sie absetzen und sofort wieder abfliegen.«
»Ja.« Der Mann nickte. »Ich habe alles.«
Der Hubschrauber senkte sich herab. Nun sah man das Moos in den Ritzen der alten Gemäuer, das Schimmern von Antennen und Abschirmfeldern. Ein Dutzend Wachleute kam im Laufschritt herbeigeeilt.
Sie halfen dem Mann beim Aussteigen. Seine Tasche gab er nicht her. Erst jetzt sah die Pilotin, dass sie mit einer Kette an seinem Handgelenk befestigt war. Unheimlich. Sie bedeutete einem der Männer, die Tür zu schließen, und atmete erst auf, als sie die Maschine wieder in der Luft hatte.
Man geleitete den Mann mit der Aktentasche eilig davon. Das Knattern der Rotoren erfüllte noch den Himmel und die Abwinde wirbelten noch allerhand umher, Blätter, Staub, Unrat, als man ihn bereits durch eine schwere Tür aus massivem Holz komplimentierte. Er durchquerte Räume, in denen Männer und Frauen vor Computern, Telefonen und Papieren saßen. Neugierig unterbrachen sie ihre Arbeit und musterten ihn, als er an ihnen vorbeiging. Immer weiter ging es, über Treppen, durch weitere Türen, bis er endlich in einen Wohnraum von ungeheuren Ausmaßen gelangte, der in indischem Stil eingerichtet war. Einige der zahllosen Fenster standen offen, luftige Vorhänge bauschten sich in der Meeresbrise. Es roch nach Sandelholz und Moschus.
Eine Runde von vierzehn Leuten erwartete ihn, Männer und Frauen aus aller Welt. Sie saßen auf Kissen um einen niedrigen Tisch herum, auf dem benutzte Kaffeetassen und halb geleerte Tabletts mit Gebäck standen. Zwei von ihnen, ein korpulenter Inder mit einem Vollmondgesicht und eine gertenschlanke Frau mit blonden, langen Haaren und einem kleinen Feuermal auf der Stirn, saßen etwas erhöht. Das waren, wusste der Mann mit der Aktentasche, der Besitzer dieses Anwesens und seine Frau.
Er ließ sich von der Kette befreien, öffnete dann den Verschluss der Tasche und verteilte Unterlagen.
»Wir haben einen Weg gefunden, wie wir den Plan doch noch durchführen können«, erklärte er ohne Umschweife. »Aber dazu müssen wir einem ganz präzisen Zeitplan folgen, ohne die geringste Abweichung. Und wir haben nur diesen einen Versuch.«
Also gut. Ariana wusste jetzt zwar nicht, was sie machen sollte, aber zu ihrer Mutter zu ziehen, war auf alle Fälle schon mal etwas, das sie besser bleiben ließ.
Auch wenn das bedeutete, dass sie ihrer Mutter schon wieder absagen musste, nachdem sie ihr Kommen gerade erst fest angekündigt hatte. Mom würde ihr von nun an wahrscheinlich nie wieder ein Wort glauben.
Ariana erhob sich seufzend und verstaute den schiefen alten Globus wieder im Schrank. Ein Blick auf die Uhr ließ sie zusammenfahren: schon fast halb drei! Und dabei hatte sie fest versprochen, um zwei Uhr in der Gemeinschaftsküche zum Gemüseschneiden anzutreten für das Plazafest heute Abend.
Noch eine Zusage, die sie nicht hielt. Das wurde allmählich zur Gewohnheit.
Sie warf einen raschen Blick durch den Raum. Es würde für immer ein Rätsel bleiben, warum es ausgerechnet hier, in ihrem Geheimversteck, das nie ein Erwachsener zu Gesicht bekommen würde, aufgeräumter war als in jedem ihrer Zimmer zu Hause. Sie löschte das Licht. Der Rückweg führte durch einen schmalen, mehrfach gewundenen Gang mit Ziegelwänden bis zu einer Drucktür, die mit einem Drehrad verriegelt wurde, wie es bis vor zwanzig Jahren in der Raumfahrt üblich gewesen war. Diese Tür, der Eingang zu ihrem Geheimversteck, lag hinter einem alten Schrank ohne Rückwand verborgen und Ariana trat gerade aus diesem Schrank und wollte die Schranktür ins Schloss fallen lassen, als sie plötzlich Stimmen hörte.
Sie hielt inne, sah sich alarmiert um.
Es waren die Stimmen von zwei Männern, die sich irgendwo hinter all den Regalen am anderen Ende des Lagerraums aufhielten und halblaut miteinander redeten.
Ariana schloss die Schranktür ganz, ganz leise, duckte sich hinter die nächste Kiste und lauschte.
4. Lichter am Sternenhimmel
»Verstehe ich das richtig? Sie brauchen mich nur, damit ich meinen Daumen auf dieses Sensorfeld drücke? Ist das alles?«
Ariana erkannte die Stimme. Das war Tom Pigrato, der ehemalige Statthalter auf dem Mars. Früher war sie ihm grundsätzlich aus dem Weg gegangen, wann immer das möglich gewesen war. Heute war das nicht mehr so leicht, denn er war immerhin auch der Vater von Urs, in den sie verliebt war. So ganz hatte ihr das die Scheu aber nicht genommen. Mit Urs’ Mutter kam sie ganz gut klar, aber mit seinem Vater … Sie war immer noch froh, wenn sie so wenig wie möglich mit ihm zu tun hatte.
»Kommt drauf an, wie man das sieht«, brummte eine andere Stimme. Jed Latimer, der für die Kommunikationstechnik zuständig war. »Man könnte auch sagen, ich brauche Sie, weil Sie so ziemlich der Einzige sind, der diesen Datensafe hier öffnen kann.«
»Ich bin nicht mehr Statthalter. Das Schloss hätte längst auf Yin Chi eingestellt werden müssen. Und möglichst nicht nur auf ihn allein.«
»Kommt alles noch. Der Marstag mag zwar länger sein als der Erdtag, aber er hat trotzdem zu wenige Stunden, wenn Sie mich fragen.«
Ariana krabbelte auf allen vieren zwischen Kisten und Regalen hindurch, um näher an die Männer heranzukommen. Es interessierte sie, was die beiden hier eigentlich machten.
»Und wieso kenne ich diesen Datensafe nicht?«, murrte Pigrato weiter. »Was macht der hier? Ich dachte immer, die Back-ups aller Computer laufen vorne im Schaltraum zusammen.«
»Ja, die normalen Back-ups. Das hier mache ich bloß zusätzlich. Wegen des besonderen Anlasses.« Etwas knackte, dann war ein helles, sirrendes Geräusch zu vernehmen. »Diesen Datensafe hat man für Back-ups verwendet, als die Marssiedlung noch nicht so groß war. Aber er ist natürlich immer noch im Netz. So. Das läuft jetzt.«
»Müssen wir nun etwa hier stehen bleiben, bis der fertig ist?«
»Ich will nur schauen, ob alles läuft. Wenn der Balken hier den ersten Teilstrich erreicht hat, können wir zumachen und gehen.«
Ariana schlich behutsam näher. Es roch nach Staub. Durch ein Regal hindurch sah sie die beiden Männer vor einem in die Wand eingelassenen metallenen Kasten stehen, dessen Vorderseite geöffnet war. In der Öffnung blinkten rote und grüne Lämpchen.
Ein Datensafe war das also. Ihr war der Kasten nie besonders aufgefallen, was allerdings auch kein Wunder war: Schließlich standen diese Lagerräume hier bis in den letzten Winkel voll mit allen möglichen Sachen, von denen die meisten weitaus interessanter aussahen als ein in die Wand eingemauerter Metallkasten.
»Also, mich wundert das ja«, brummte Pigrato. Er hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt und wippte ungeduldig hin und her. »Wann ist die Anweisung der Raumbehörde gekommen? Am Mittwoch?«
»Mittwoch, ja. Das Programm dazu kam heute. Kein Wunder, war auch ziemlich groß.«
Pigrato schüttelte den Kopf. »Die ganze Zeit, als ich Statthalter war – wirklich die ganze Zeit hindurch –, habe ich denen damit in den Ohren gelegen, die KI rekalibrieren zu lassen. Und jedes Mal hat es geheißen, dazu müsste ein Spezialist kommen, ein Kybernetikpsychologe, und das sei ein zu großer Aufwand, so jemanden zum Mars zu schicken. Fernwartung, habe ich vorgeschlagen. Nein, hieß es, das gehe nicht, aus technischen Gründen.«
»Hmm, ja. Hab ich auch so gelernt. Wird wohl der technische Fortschritt sein.« Jed Latimer kratzte sich den haarlosen Schädel. »In dem Schreiben der Raumbehörde hieß es, die Überlastung von AI-20 im Zusammenhang mit der Postkontrolle sei so gravierend gewesen, dass eine Rekalibrierung nun unumgänglich sei.«
»Die war schon unumgänglich, als ich auf dem Mars angekommen bin. AI-20 ist noch nie rekalibriert worden, seit der Installation nicht! Ist doch klar, dass das eines Tages aus dem Ruder laufen musste.«
Latimer hüstelte. »Na ja. Bei künstlichen Intelligenzen der 20er-Reihe ist es nicht so dramatisch. Die entwickeln höchstens Marotten im Lauf der Zeit. Bei 30ern ist es kritischer. Und von den 40ern habe ich mal gehört, dass so eine permanent von einer 30er überwacht werden muss, und die wiederum muss man jeden Monat rekalibrieren. Da scheint die Entwicklung der künstlichen Intelligenzen auf eine natürliche Grenze zuzulaufen, wenn Sie mich fragen.«
»Wahrscheinlich wollen die mir nur noch was in die Schuhe schieben«, knurrte Pigrato, der nicht recht zugehört zu haben schien. »Zwanzig Jahre lang lassen sie die KI laufen, wie sie will, und jetzt auf einmal soll ich schuld sein an allem. Immer dasselbe.«
Jed Latimer überhörte dieses Lamento geflissentlich. »Okay«, sagte er und richtete sich auf. »Der erste Teilstrich. Das heißt, das Back-up von AI-20 läuft.« Ariana sah, wie er auf die Uhr blickte. »Sollte bis … na, gegen sechs dauern. Dann spiel ich das Programm über Nacht ein und dann sollen die von der Fernwartung zusehen, was sie zustande kriegen.«
»Und wenn sie nichts zustande kriegen?«
»Dann drücken wir einfach den grünen Knopf hier und haben unsere gute alte AI-20 wieder, wie wir sie kennen und lieben.«
»Bloß dass sie dann nicht mitgekriegt hat, was in der Zwischenzeit passiert ist.«
»Na, hören Sie, Mister Pigrato, ganz so dumm sind wir Computerleute auch wieder nicht. Das Ereignisprotokoll läuft natürlich separat mit. Dort kann sie sich dann im Bedarfsfall schlaumachen.« Er drückte die Safetür zu, die sich mit einem deutlich hörbaren Geräusch wieder verriegelte. »Gar kein Problem.«
»Wenn Sie es sagen …«
Ariana duckte sich. Sie hörte, wie die beiden Männer zur Tür gingen. Bestimmt würden sie gleich … Na klar. Sie machten das Licht aus. Jetzt saß sie hier im Dunkeln und würde sich wahrscheinlich ein halbes Dutzend mal die Schienbeine irgendwo anhauen, ehe sie den Ausgang erreichte.
Es gab einfach Tage, an denen klappte aber auch gar nichts!