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Die Erinnerung hat ihre eigenen Gesetze. Je länger etwas zurückliegt, desto stärker tritt es einem vor Augen. So geht es dem Erzähler mit seiner Kindheit in der niederbayerischen Kleinstadt A., die abrupt endete, als sein Vater bei einem Unfall starb. Um neu beginnen zu können, muss er sich der Vergangenheit stellen, den Wundern und Schrecken, den Torheiten und der Verklärung. Das Marterl erzählt von den innersten Fragen unseres Daseins, einfühlsam, poetisch und mit feinem Humor. Nach Jahren der Abwesenheit fährt der Erzähler zurück in den Ort seiner Kindheit in Niederbayern. In der kleinen Stadt, die ihm erscheint, als wolle sie mit Folklore, Starkbierfesten und den Denkmälern bedeutsamer Männer die Zeit anhalten, versucht er, sich an seinen Vater zu erinnern. Und an den Verkehrsunfall, bei dem der Vater vor zehn Jahren starb. Doch ein Ort hat nie nur eine Gegenwart. Zwischen die Geschichte des Erzählers drängt sich das Leben eines Jungen. Die Angst vor einem Monster in einem Berg und ein fliegender Bär. Eine Liebe zur Blasmusik und die zu einer Frau. Kann die Erinnerung helfen, mit der Endlichkeit fertigzuwerden? Kann eine Heimkehr jemals gelingen oder muss sie vielleicht ein Mythos bleiben? So wie der Meeresforscher mit Taucherbrille und Regenjacke an einem niederbayerischen Bahnhof. »Den Vater suchen, der doch längst nicht mehr lebt – eine Verrücktheit? Für Johannes Laubmeier eine notwendige Verwegenheit. Was im Leben nicht geht, gelingt ihm in der Literatur.« Wolfgang Büscher
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Seitenzahl: 332
Johannes Laubmeier
Das Marterl
Roman
TROPEN
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Tropen
www.tropen.de
© 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Zero-Media.net, München
unter Verwendung einer Abbildung von © H. Laubmeier
Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen
Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-608-50168-1
E-Book ISBN 978-3-608-12230-5
Für Hans Bene
whatever you have to say, leave
the roots on, let them
dangle
And the dirt
Just to make clear
where they come from
Charles Olson
Die Zeit ist eine zähe, langsam aushärtende Masse. Vielleicht gibt es sie gar nicht in diesem Moment. Sie haben die Rathausuhr abgehängt. Statt des großen Ziffernblattes klafft ein kreisrundes Loch. Das Rathaus wird renoviert, der gotische Dachreiter über dem barocken Wellengiebel und das steil zulaufende Dach sind verdeckt von Planen und Gerüsten. Arbeiter hieven Stahlstangen von Ladeflächen, ihre Rufe schallen über den Platz. Das Glockenspiel, 18 Glocken unterschiedlicher Größe, die an einem aus Metall gegossenen Rahmen um eines der Fenster hängen, und das die Bustouristen gerne filmen, weil es einmal am Tag »Gott mit dir, du Land der Bayern« spielt und ihnen beweist, dass sie in der Tat in Bayern sind, ist nicht mehr da. Auf dem First der Sankt-Barbara-Kirche hocken die Störche, aufgereiht, als hätte sie jemand dort platziert.
Im Sommer sitzen Männer unter den Sonnenschirmen vor der leuchtend gelben Fassade des großen Brauereigasthofs mit den geschwungenen Giebeln und dem Bild der Gottesmutter und trinken Bier, aber es ist Frühherbst oder spät im Frühling. Ich bin in meinen frühen Dreißigern, jedes Mal in diesem Moment. Ich biege um die Ecke am Landmodengeschäft, in Turnschuhen gehe ich über die abgeschliffenen, großen Kopfsteine.
Von unten am Fluss nähert sich ein Dröhnen. Ein Mann fährt seinen Golf GTI mit heruntergelassenen Scheiben auf den Platz. Der Bass ist so laut, dass er mir in den Magen schlägt. »Nessaja« von Scooter. Im Schritttempo rollt er vorbei, und für die Dauer dieses Moments beherrscht der Mann am Lenkrad die Szenerie. Die wenigen Menschen auf den Plastikstühlen vor den Cafés hören auf zu sprechen und warten, bis das Auto und sein Fahrer um die Ecke gebogen sind.
Vor dem Italiener gegenüber steht der Restaurantbesitzer an der offenen Tür. Mario Lucente, ein kleiner Mann mit einem großen Bauch, über den sich wie eigentlich immer ein Poloshirt spannt. Er empfängt die Gäste und schaut denen ein wenig verständnislos hinterher, die andere Cafés ansteuern. »La Piazza da Mario« hat er sein Restaurant und die Eisdiele, die gleich daneben liegt, genannt. Damit jeder weiß, dass der Platz ihm gehört. Die Bewohner von A. sagen, er könnte vielleicht etwas mit der Mafia zu tun haben – oder die Mafia mit ihm zumindest. Ob das stimmt, weiß aber keiner, und es ist ihnen am Ende auch egal. Schließlich ist der Mario ein Guter. Sie sagen immer »der Mario«, als wäre es sein Beruf, Mario zu sein.
Der Mario nickt, als ich mich dem Restaurant nähere. Ich nicke auch. Ich habe, soweit ich mich erinnern kann, nie mehr als ein, zwei Worte mit ihm gewechselt. Als ich durch die Tür trete, rollt wieder der Golf auf den Platz, wieder schwillt das Dröhnen an und verebbt dann allmählich.
Mein Vater sitzt drinnen am Tisch vor der künstlichen Natursteinwand und wartet darauf, dass ich mich verspäte. Geduldig, aber nahe der Tür, damit der Hund, der sich unter dem Tisch auf den kühlen Fliesen ausgebreitet hat, rauskann, wenn er muss. Vor ihm steht eine Apfelschorle, daneben ein halb getrunkener Espresso Macchiato, und der Keks, den er jedes Mal für mich übrig lässt. Sein grüner Anorak hängt über der Stuhllehne, und er hat wieder den alten Pullover an, den andere schon vor Jahren durch einen neuen ersetzt hätten. Aber er weigert sich jedes Mal, wenn ich versuche, ihn dazu zu überreden. Dreitagebart, die Haare wie ein in die Jahre gekommener Beatle, Paul, nicht Ringo. Alt ist er geworden, aber immer noch nicht grau. Seit ein paar Jahren ist er Rentner. Frührentner, darauf legt er Wert. Mit sechzig hat er aufgehört zu arbeiten, seitdem spricht er das Früh- mit dem Stolz eines Schelms, dem ein besonders guter Streich gelungen ist.
Er wohnt noch immer in dem kleinen Appartement an der alten Stadtmauer, in das er nach der Scheidung gezogen ist. Er lädt mich selten dorthin ein, wir treffen uns fast immer bei Mario. Und immer mit Hund. Als ich noch zu Hause lebte, war es meiner. Zumindest sage ich mir das selbst. Mein Vater blickt von seiner Zeitung auf und lächelt mir zu. Ich hänge meine Jacke an die Garderobe, hole mir einen Kaffee an der Bar und setze mich zu ihm an den Tisch. Er liest seinen Artikel zu Ende.
Die Tätowierung brennt auf meinem Unterarm, erst wenige Wochen ist sie alt. Rainfarn, ein schlanker Stiel, die gefiederten, lanzettförmigen Blätter, oben, ausgefächert, ein Schirm aus knopfförmigen Blüten. Eigentlich ist es keine Blume, sondern Unkraut. Imker trockneten sie früher und benutzten sie in ihren Pfeifen, des Geruchs wegen, der ihre Bienen besänftigte.
Tansy to take the smell.
Wir gehen los, langsam in Richtung Süden, zum Fluss, der Hund voran. Die Sonne steht schon tief, ist halb hinter den bunten Fassaden verschwunden, es ist kühl im Schatten.
Am rechten Flügel des Brauereigasthofs hängen sie gerade das neue Programm des örtlichen Jazzclubs auf, der sich jede Woche oben in der kleinen Disko, dem »Club Center«, trifft. Wir waren früher dort tanzen, und vor uns unsere Eltern. Ein niedriger, altweiß gefliester Raum, zwei Bars und eine Lichtanlage, die farbige Dreiecke auf die Tanzfläche wirft, daneben die DJ-Box, zu der wir als Teenager hinaufbrüllten, um uns einen Song zu wünschen. An den Rändern der Tanzfläche stehen klobige Bartische, an der Wand hängen raumhohe Porträts, Karikaturen von Marilyn Monroe und Abraham Lincoln – so wie sie Straßenkünstler am Ufer der Seine zeichnen. Dazwischen prangt das Logo der Disko, zwei rote Cs, die ein wenig an Chanel erinnern. Als ich jünger war, war ich überzeugt, dass alle Diskos so aussehen.
Der Vorsitzende des Jazzclubs, ein schlaksiger Saxophonist in den frühen Sechzigern, unterbricht seine Arbeit an den Plakaten und winkt meinem Vater zu. Mein Vater grüßt zurück, mit einer ausladenden Bewegung führt er Zeigefinger und Mittelfinger zum Schirm seiner Baseballkappe und hebt sie in die Luft. Vor etwa zwanzig Jahren haben sie die mit dem Logo des Jazzclubs besticken lassen, orange auf dunkelblau, ein altes Mikrofon, daneben der Befehl »Be Sharp«. Mein Vater trägt sein Käppi immer noch, nur dass die orangefarbene Stickerei blass und aus dem dunklen Blau ein helles Grau geworden ist.
Das Drängen des Hundes jetzt, zum Flussufer hin fällt die Straße steil ab. Links liegt, in Resten, die alte Burg. Im erhaltenen Teil, zur Innenstadt hin, ist das Vermessungsamt untergebracht, das sie seit einiger Zeit das Amt für Digitalisierung, Breitband und Vermessung nennen. In der Mitte des Platzes steht ein Denkmal des berühmtesten Sohns der Stadt. Im 16. Jahrhundert unterrichtete der Historiker zwei bayerische Prinzen, und seine Jahrbücher der Bayern haben manche veranlasst, ihn den »bayerischen Herodot« zu nennen. Bekannter ist er jedoch heute für den Weißbierbock, der seinen Namen trägt, obwohl er nicht in A. gebraut wird. Hier, in seiner Geburtstadt, wacht er, die Hand nachdenklich am Vollbart, auf dem nach ihm benannten Platz über die Parkbuchten und manchmal kommt ein Arbeiter der Stadtwerke und wäscht ihm den Tabendreck von der Kappe.
Am Fluss lässt mein Vater den Hund laufen. Über die kleine Insel und das abgesperrte Stauwehr gehen wir am Wasser entlang auf die Auenlandschaft zu, die die Stadt nach Südosten begrenzt. An der großen Weide, die wie ein Turm in der Mitte der Feuchtwiesen aufragt, setzen wir uns für ein paar Minuten auf eine Bank. Der Hund wetzt durch das hohe Gras einem Stock hinterher, den mein Vater wirft.
Man riecht den Rainfarn, lange bevor man ihn sieht. Ein herber, durchdringender Geruch von Menthol, Kampfer und Chrysanthemen.
Tansy to take the smell.
Im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert riet ein botanisches Volksbuch Frauen, ihre Kinder über den Rauch des verbrennenden Rainfarns zu halten, um sie gegen »alle böse gespenster des teufels« zu immunisieren. Gegen Würmer sollte es auch helfen, weshalb sie es auch Wurmkraut nannten. Gespensterkraut nannte es niemand.
Hinter mir, am Rand der Wiesen, erstreckt sich der große Parkplatz, auf dem sie alljährlich im Sommer das Volksfest feiern, mit Dirndlköniginnen, Fahrgeschäften und Bier. Fünf Tage lang wird dann der Platz, der jetzt wie eine Schürfwunde am Rand der Stadt liegt, zu einem Gewühl aus Leibern, Lärm und blinkenden Lichtern, und die Polizei kontrolliert jedes Auto, das die Stadt verlässt. Mein Vater geht nur dorthin, wenn am Montagmorgen hinter den Zelten der traditionelle Jahrmarkt stattfindet. Dort kauft er sich am Hutstand einen neuen braunen Filzhut, so einen, wie ihn Väter im Rentenalter eben tragen. Er habe ein Hutgesicht, sagt er jedes Mal nicht ohne Genugtuung – und dass ich das von ihm geerbt habe. Ich bin mir nicht ganz sicher.
Tansy to take the smell.
In Neu-England, wo sie den aus Europa mitgebrachten Rainfarn »Tansy« nennen, legten sie ihn getrocknet in die Särge ihrer Verstorbenen, rieben die Leichentücher damit ein, um zu vergessen, dass die, die da noch immer lagen, längst fort waren. Als im 20. Jahrhundert Leichen exhumiert wurden, die zweihundert Jahre zuvor begraben worden waren, sollen die offenen Gräber immer noch danach gerochen haben. Zumindest erzählt man sich das so. Der Name Tansy soll sich vom griechischen Wort athanasía, Unsterblichkeit, herleiten.
Knirschender Kies unter unseren Schuhen. Seine Schritte federn über den Boden, trotz seines Alters geht er immer noch wie jemand, der zu leicht ist für seine Körpergröße. Einen guten Kilometer von uns entfernt sticht aus einem bewaldeten Hügel der Kirchturm der kleinen Wallfahrtskirche in den Himmel.
Als ich ein Kind war, wanderten wir jeden Heiligabend zur kleinen Marien-Kapelle am Fuß des Hügels. Schon Tage vorher bereitete mein Vater sich darauf vor. Im örtlichen Musikgeschäft kaufte er Notenblätter für Weihnachtslieder, die wir gemeinsam einübten. Am Abend selbst schnallte er seinen Posaunenkoffer und meinen Trompetenkoffer auf einen Schlitten, packte Noten und Notenständer in einen Rucksack, und wir stapften durch den Schnee und das Eis, das unter unseren Füßen brach. Bei der Kapelle angekommen, schraubten wir mit klammen Fingern die Notenständer zusammen und spielten auf unseren eisigen Instrumenten. »O, Tannenbaum«, »Gloria in Excelsis Deo«, »Stille Nacht«. Dann zündeten wir eine Campinglaterne an einer der Kerzen an und gingen zurück nach Hause. »Licht für den Christbaum holen« nannten wir das. In den vollbesetzten Weihnachtsgottesdienst in der Stadtpfarrkirche gingen wir selten. Mein Vater ging nie.
Am Wegrand jetzt der Farbfleck. Schlanke Stiele, gefiederte, lanzettförmige Blätter und oben, ausgefächert, die Schirme aus knopfförmigen, gelben Blüten. Alles umgebender Geruch. Mit einem kleinen Messer schneide ich ein Büschel aus dem Rainfarn heraus, um es meiner Mutter mitzubringen. Der Geruch klebt an meinen Händen, den Hemdsärmeln und dem Hund, der durch die gelben Blüten hindurchpflügt. Für einen Moment ist da nichts als dieser Geruch.
Mein Vater geht ein paar Meter hinter uns. Er holt eine kleine Digitalkamera aus der Jackentasche, mit der er erst den Hund, dann mich, dann wieder den Hund und dann einen Graureiher fotografiert, der rund zweihundert Meter von uns entfernt durch die Wiese stakt und erschreckt auffliegt, als wir näherkommen.
Zuhause wird mein Vater die Bilder auf seinen Computer laden, in einen Ordner, den er »Bilder Spaziergang Johannes mit Hund« nennen wird, und sie mit Photoshop Elements bearbeiten. Wie bei allen Fotos, die er an seine Freunde oder Verwandten verschickt, wird er den Hintergrund unscharf stellen, so unscharf, dass er zu einer breiigen Farbfläche verschwimmt. Als würde ihn die Umgebung der Dinge, die er fotografiert, nicht interessieren. Als zähle nur das, was direkt vor ihm liegt. Wie alle Fotos, die er so bearbeitet, werden auch diese furchtbar hässlich aussehen. Und ich werde es ihm nicht sagen.
Die letzten Meter zur Kirche führen durch feuchtes Gras, über eine kleine Metallbrücke, durch die Bäume, die sich am Hang festklammern. Unten, auf kleinen Halbinseln zwischen den Schleifen des Flusses, stehen Baumstümpfe, die die Biber übrig gelassen haben. Angespitzt ragen sie aus der lehmigen Erde. Dabei habe ich hier noch nie einen Biber gesehen.
Den Rainfarn in meiner rechten Hand, ziehe ich mich mit der linken am Geländer nach oben, Schritt für Schritt die Treppe hinauf zur Kirche. An der Marienkapelle mache ich kurz Halt. Ein paar Stufen vor ihr plätschert Wasser, das gegen Augenleiden helfen soll, in eine steinerne Schale. Der Hund beugt sich über die Quelle und beginnt, gierig daraus zu trinken. Ich höre meinen Vater lachen.
34 Stufen vom Parkplatz vor der Kirche in den Kirchhof. Der Kies zwischen den Gräbern. Die Sonne zwischen den Ästen. Ich drehe mich nach meinem Vater und dem Hund um und finde sie nicht.
Nichts von all dem macht Sinn. Tansy to take the smell, schreibt der Dichter Charles Olson als Maximus von Gloucester in seinem dritten Brief an den Ort seiner Kindheit. Tansy, Rainfarn, um den Geruch zu nehmen. Um die Gegenwart zu übertünchen, in der die, die da waren, fort sind.
Am hinteren Ende des Friedhofs lege ich die Blumen vor die Mauer, gleich neben die Kerze im Glas und den katzenkopfgroßen Kiesel, auf den ein Junge vor zehn Jahren mit Acryl-Farbe einen hellen Hund gemalt hat und einen Mann im Anorak.
Nichts von all dem ist wirklich passiert. Und alles immer wieder.
Tansy to take the smell.
A. Ein tödlicher Verkehrsunfall hat sich am Donnerstag gegen 19.30 Uhr auf der Staatsstraße am östlichen Ortsausgang von A. ereignet. Ein Auto und ein Motorrad kollidierten. Der Motorradfahrer (55) aus A. erlag nach Auskunft der Polizeiinspektion K. knapp zwei Stunden nach dem Unfall seinen schweren Verletzungen. Der ebenfalls aus A. stammende Autofahrer (40) wurde nicht verletzt.
Laut Polizei kam es zu dem Unglück, als der Motorradfahrer auf der Staatsstraße von A. Richtung O. fuhr und der Autofahrer nach bisherigen Erkenntnissen bei der Abfahrt von der B16 die Vorfahrt des Motorradfahrers missachtete.
Aufgrund des Unfalls wurden die B16-Abfahrt und die Staatsstraße kurzfristig gesperrt. Zur Klärung des genauen Unfallhergangs wurde von der Polizei ein Sachverständiger hinzugezogen.
Mittelbayerische Zeitung,Samstag, den 6.6.2009
Ich habe beschlossen, mit dem Zug nach A. zu fahren, weil es mir nicht mehr möglich ist, die Angelegenheiten dort weiterhin unerledigt zu lassen. Ich bin in den letzten zehn Jahren kaum dort gewesen. Ein paar Tage zum Passerneuern, für eine Hochzeit, für einen Besuch bei meiner Mutter zu einem runden Geburtstag. Immer stieg ich allein in den Flieger nach München, Leo nahm ich nie mit.
In den ersten paar Jahren, nachdem ich A. verlassen hatte, fragten mich Menschen, die ich früher einmal gut gekannt hatte, noch, wann ich wieder »in die Heimat« kommen würde. Sie nannten mich »Engländer«, aber sie schienen damit jemanden zu meinen, der ich nicht war. Meist sagte ich dann, dass ich nicht genau sagen könne, wann ich das nächste Mal in der Gegend sei. Ich würde mich melden. Irgendwann hörten sie auf zu fragen.
Als ich im Herbst 2009 nach England zog, hatte ich nicht vor, lange dort zu sein. Zu der Zeit kannte ich niemanden, der in einem anderen Land lebte, Auswanderer gab es in Romanen und diesen Fernsehsendungen über Menschen, die an Urlaubsorten am Meer Restaurants eröffnen wollten. Dass ich blieb, war ein Versehen. Anfangs mochte ich einfach die Ruhe, die mein College erfasste, wenn die meisten meiner Kommilitonen in den Semesterferien nach Hause geflogen waren. Später blieb ich, weil ich eine Stelle als studentische Hilfskraft bei einer Professorin für Sozialanthropologie hatte. Dann, am Ende meines ersten Jahres, schüttete ich bei einem der Bälle, die im Frühling in den Gärten der Colleges stattfinden, versehentlich ein Glas Rotwein über das Abendkleid einer Literaturstudentin. Ich bat sie um ihre Nummer, damit ich die Kosten für die Reinigung bezahlen könne. Die darauffolgenden Weihnachtsfeiertage verbrachte ich gemeinsam mit ihr auf dem Land in Surrey, im Haus ihrer Eltern, die nicht aufhörten, sie Leonora zu nennen – was sie hasste, weil sie fand, dass das zu sehr nach einer Tochter aus vornehmem Hause klang.
Wir zogen an den Stadtrand von Cambridge, in eine kleine möblierte Wohnung im ersten Stock eines Stadthauses, das Leos ehemaliger Professorin und ihrer Frau gehörte. Leo begann, in einer Londoner Galerie für moderne Kunst zu arbeiten, und ich schrieb für eine britische Tageszeitung. Unseren Urlaub verbrachten wir oft auf dem Narrowboat eines Freundes, der bei einer Headhunting-Agentur arbeitete.
Er hatte das Boot vor einigen Jahren einem pensionierten Bankangestellten abgekauft, weil er nicht wusste, was er sonst mit seinem ersten Bonus machen sollte. Ich half ihm damals, es von Birmingham in eine Kleinstadt nördlich von London zu überführen. Mit einer Höchstgeschwindigkeit von drei Meilen pro Stunde lenkten wir das 57 Fuß lange Boot eine Woche lang in Richtung Süden, auf schmalen Kanälen, an deren Rändern Kühe weideten und alte Abteien ungestört verfielen. Wenn wir an eine Schleuse kamen, vertäuten wir das Boot, das sein Vorbesitzer, obwohl er zu jung war, um das Empire selbst erlebt zu haben, »Rule Britannia« getauft hatte. Mit den speziell dafür geschmiedeten Schraubenschlüsseln öffneten wir die kleinen Luken der Schleusentore, um den Wasserspiegel entweder nach oben oder unten zu korrigieren, dann fuhren wir weiter, nie schneller als drei Meilen. Am Abend saßen wir auf dem Dach des Bootes und schauten in die Landschaft, und mein Freund sagte mir, dass ich einen neuen, weniger imperialen Namen dafür erfinden müsse, weil das mit der Sprache schließlich mein Job sei. Als wir das Boot am Ende der Reise aufs Trockendock hoben, taufte ich es auf den Namen »Princess Anne’s Revenge«. Mein Freund fand das zwar nicht so lustig wie ich, aber er widersprach auch nicht.
Draußen ziehen großflächige, rechteckige Äcker vorbei, als ich durch den wankenden Zug in Richtung Speisewagen balanciere. In Großbritannien sind die Felder sanfter, sie folgen dort den Linien der Natur, ohne Rücksicht auf Effizienz oder Erträge. Hier wirken sie, als wären sie der Landschaft auferlegt worden. Ein Bauer in seinem Traktor wirbelt Staub auf, die Wolke scheint ihn zu verfolgen, als er vom Feld in einen Weg einbiegt.
An einem der Tische im Bordrestaurant sitzen drei Männer in Anzügen und arbeiten beim Bahn-Kaffee in der Kühle der Klimaanlage gemeinsam an einer Präsentation. Einer von ihnen beginnt, am Handy über Geschossflächen und Mezzanine-Finanzierungen zu sprechen, seine Sprache ist so gnadenlos wie die geraden Linien der Felder. Ich verstecke mich hinter meiner Kaffeetasse. Was mache ich hier?
Eigentlich hat diese ganze Sache damit begonnen, dass Leo von einem Kunstsammler, den sie aus London kannte, das Angebot bekommen hatte, die Berliner Dependance seiner Galerie aufzubauen, und weil sie noch nie im Ausland gelebt hatte und die politischen Ereignisse in England uns forttrieben, sagte sie zu.
Es war mehr ein Weggang als ein Umzug. Im Januar packten wir das wenige an Einrichtung, das in unserer Wohnung uns gehörte, in Luftpolsterfolie. Die Bücher und Schallplatten schichteten wir in Umzugskartons, von denen wir, um Gewicht zu sparen, einige bei Leos Eltern unterstellten, um sie später dort abzuholen. Ich weiß noch, dass wir uns, als wir in einer Bar im Flughafen von Stansted auf unseren Flug warteten, darüber wunderten, wie reibungslos alles gelaufen war.
Leo fing bald nach unserer Ankunft an zu arbeiten und schrieb sich, obwohl es für ihre Anstellung nicht nötig gewesen wäre, an einer Sprachschule für Abendkurse ein. Als unsere Möbel ankamen, stellte ich meinen Schreibtisch an eines der Fenster und war fest entschlossen, meine Arbeit einfach fortzusetzen. Doch in den folgenden Wochen gelang es mir nicht, auch nur einen sinnvollen Satz aufzuschreiben. Über Stunden hinweg saß ich, wenn Leo in die Galerie gegangen war, vor meinem Computer und starrte. Jedes Mal, wenn ich versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, schoben sich Schemen davor, die mir im ersten Moment wie Erinnerungen vorkamen und die ich doch, sobald ich versuchte, sie genauer zu betrachten, nicht wiedererkannte.
Jeden Abend, kurz bevor Leo nach Hause kam, zog ich mich an und kochte das Abendessen. Danach saßen wir auf unseren Bettdecken auf dem Boden des noch leeren Wohnzimmers, wo sie mir, schon bald auf Deutsch, von ihren Tagen in Berlin erzählte, den Menschen, die sie traf, und den Orten, die sie auf ihrem Weg durch die Stadt entdeckte. Ich sprach wenig. Ich befürchtete, dass sie bemerken könnte, wie abgetrennt von allem ich war.
Ich bestelle ein Bier und hoffe, dass der Alkohol meinen Schwindel überdeckt. Zu Beginn meiner Reise war es nicht mehr als ein leichtes Unwohlsein gewesen, doch schon als der ICE in den Randbezirken Fahrt aufnahm, überkam mich eine Schwäche, und ich begann zu schwitzen. Als würde sich, irgendwo zwischen Lunge und Magen, ein Vakuum in mir ausbreiten. Kurz vor Halle befiel mich dann die Übelkeit, und ich nahm zwei der Reisetabletten, die Leo mir gekauft hatte. Ich hatte protestiert, als sie sie mir an der Wohnungstür in die Jacke gesteckt hatte. Das Reisen, hatte ich ihr geantwortet, habe mir noch nie etwas ausgemacht. »You never know«, hatte sie erwidert, und dass ich aufhören solle, mich wie ein kleiner Junge aufzuführen.
Warum mich so etwas gerade jetzt zum ersten Mal überfällt, weiß ich nicht. Vielleicht liegt es daran, dass ich jahrelang nicht mehr mit einem Schnellzug gefahren bin. Das britische Schienennetz ist maroder als das deutsche, was das Bahnreisen zwar zäher, aber angenehmer macht. Vielleicht ist es auch einfach nur Zufall, ähnlich wie bei einem Seefahrer, der nach Jahren auf dem Meer auf einmal seekrank wird. Zwischen zwei Funklöchern rufe ich eine Freundin aus England an.
»I’m on my way.«
»Crazy. What is the place called again?«
»Niederbayern. Lower Bavaria.«
Sie lacht. »You should have stayed in Britain. You know what you want to do?«
Als ich ihr antworte, schaue ich auf das Gepäck zu meinen Füßen. Mehr als fünf Kilo wiegen die beiden Gedichtbände und die verschiedenen dünneren Aufsatz-Sammlungen, sie füllen den gesamten Rucksack, der vor mir unter dem Tisch liegt, verbrauchen mehr Platz als meine Kleidung. Eigentlich sind sie für Reisegepäck viel zu schwer, aber es war auch keine Frage der Vernunft.
I set out now
in a box upon the sea
Charles Olson. Ich könnte sagen, dass ich auf die Bücher des Dichters, über den ich während meines Studiums einige Essays geschrieben hatte, zufällig gestoßen bin in einer der Kisten, die in unserer Wohnung standen. Aber das wäre gelogen. Vielmehr ist es so, dass mich, während ich selbst nichts schreiben konnte, ein mir unerklärliches und bald obsessives Bedürfnis erfasst hatte, seine Gedichte zu lesen.
Im Jahr 1957 ging Charles Olson zurück in die Stadt, in der er als Kind seine Sommer verbracht hatte, nach Gloucester in Massachusetts. Er zog in eine Wohnung im zweiten Stock eines Hauses auf einer kleinen Halbinsel, 28 Fort Square, kaltes Wasser, der Blick auf das Meer. Jemand, mit dem ich mich einmal während eines sehr formellen Dinners in Cambridge unterhielt, hatte Olson in den Sechzigerjahren für einige Tage in Gloucester besucht. Die ganze Wohnung sei ein Gewühl aus Zetteln, Notizheften und Büchern gewesen, erzählte er.
Von diesem unaufhörlich wachsenden Archiv aus erkundete Olson die Stadt. Er muss den Leuten vom ersten Tag an aufgefallen sein: ein Findling von einem Mann, zwei Meter groß und einen Meter breit, mit tiefschwarzen Augenbrauen und lichten weißen Haaren. 13 Jahre lebte Olson in der Stadt und schrieb an seinem Gedicht, das er immer als Chronik sah:
I would be an historian as Herodotus was, looking
for oneself for the evidence of
what is said
Geschichte, davon war er überzeugt, seien weder Dinge, die in der Vergangenheit passiert seien, noch das Schicksal, das einen an der Gurgel hat. Man schreibt sie auch nicht, wie übermütige Männer mit Macht sich das gerne einbilden, man findet sie für sich selbst heraus.
Als Olson mit 59 Jahren an Leberkrebs starb, erstreckte sich das Gedicht, das längst zum Epos angewachsen war, über mehr als sechshundert Seiten. I, Maximus of Gloucester, to you, beginnt es.
Die Männer im Speisewagen haben aufgehört, ihre Präsentation zu bauen, und stellen sich stattdessen ein Pils nach dem anderen ins Gesicht. Das sagt man so, dort, wo ich hinfahre. Ich versuche, mich zu konzentrieren. Ich habe das hier schließlich gelernt. An andere Orte gehen, mit anderen Menschen reden, für sich selbst herausfinden. Es ist zehn Jahre her, das hier ist nichts anderes als sonst.
In Nürnberg steige ich in einen langsameren Zug nach Ingolstadt um, dort dann in die private Regionalbahn, die mich an mein Ziel bringen soll. Wie immer schaue ich auf dieser letzten, dreißig Minuten andauernden Etappe aus dem Fenster. Auch hier verdorren zu beiden Seiten der Gleise die Felder, aber sie sehen anders aus – obwohl ich nicht sagen könnte, worin ihre Andersartigkeit besteht.
Wie einen Countdown zähle ich die vier Bahnhöfe herunter, an denen der Zug vor A. Halt macht. Nicht aus Spannung oder Vorfreude, mehr aus einem Reflex heraus, aus Gewohnheit, wie um mir zu beweisen, dass ich mich noch daran erinnere. Im Kopf führe ich eine Strichliste markanter Orientierungspunkte: der Bahnübergang mit dem Schlagbaum, die spitzen Hausdächer hinter den Lärmschutzwällen, das dunkelgrau gestrichene Bahnhofsgebäude, der Autolagerplatz, die vier Schornsteine der Ölraffinerie in Fahrtrichtung rechts.
Kurz vor A. werden die Abstände zwischen den Wegmarken, die ich wiedererkenne, kleiner. Die Fußgängerbrücke am Ortsrand, unter der seit mehr als 15 Jahren ein Kaugummiautomat im Wasser liegt, den ein paar Kinder dort hineingeworfen haben, nachdem sie ihn aus einer Wand herausgerissen hatten, um ihn zu plündern. Die steinerne Eisenbahnbrücke, unter der die Teenager an den Wochenenden Lagerfeuer machten. Die Kläranlage und davor der Skatepark, in dem sie Sangria aus Trinkrucksäcken tranken, die sie bei Aldi gekauft hatten.
Dann, ohne Vorwarnung, die Kleinstadt selbst. Wie ein geducktes Raubtier lauert sie hinter den Bäumen am Bahndamm. Das große Wohngebiet mit den neu gebauten Einfamilienhäusern auf der einen Seite, die Altstadt und der Friedhof auf der anderen. Dann der Lautsprecher: »Nächster Halt: A.«
Es ist Sommer, irgendwann in den frühen Neunzigerjahren, und der Junge steht neben seiner Mutter am Bahnhof. Er wartet auf den Zug. Seine Haare sind kurz geschnitten, keine Frisur, eher eine Notwendigkeit. Einmal im Monat kürzt sein Vater sie ihm mit einem Kurzhaarschneider, auf der Terrasse hinter dem Haus, bevor er seine eigenen schneidet. Nur eine Strähne hinten rechts lässt er jedes Mal stehen, ein kleines Rattenschwänzchen, das »Schwanzerl«. Er sagt dem Jungen, dass es gut aussieht, aber er selbst hat keines. Warum eigentlich nicht, fragt der Junge sich jedes Mal, wenn er seinem Vater dabei zusieht, wie der mit dem Haarschneider Streifen über seinen eigenen Kopf zieht. »Alles auf zehn Millimeter«, so nennt der Vater das. Erst viele Jahre später wird der Junge das Schwanzerl abschneiden. Er wird es tun, bevor sein Vater nach Hause kommt, mit einer Küchenschere vor dem Spiegel im Badezimmer, weil sie ihn in der Schule dafür ausgelacht haben.
An diesem Nachmittag im Sommer weiß er noch nichts von solchen Dingen. In dem integrativen Kindergarten, in den ihn seine Eltern schicken, hat ihm niemand beigebracht, wie das mit dem Auslachen funktioniert. Er ist verkleidet, über sein T-Shirt und die kurzen Jeans-Shorts hat er einen gelben Regenmantel gezogen, er trägt seine Lieblingsschuhe, die gelb sind und rot und grüne Sohlen haben und außerdem einen Klettverschluss, weil er sich bei dieser Sache mit den Schnürsenkeln noch nicht ganz sicher ist. »Man muss mit fünf Jahren noch nicht unbedingt Schleifen binden können«, sagt ihm sein Vater. Auf dem Kopf trägt der Junge eine Kappe mit einem kleinen Schild aus dunkelblauem Lackstoff. Und über Augen und Nase eine Taucherbrille. Seine Mutter hat sie ihm gekauft, bevor sie vor einigen Wochen in den Urlaub an die Nordsee fuhren. Es war das erste Mal, dass er das Meer sah. In der rechten Hand hält er den roten Käscher, mit dem er damals im Meer Fische fangen wollte, bis er enttäuscht feststellen musste, dass dort, wo er stehen konnte, keine waren. In der linken Hand hält er einen roten Plastikschlauch, der, wenn man ihn über dem Kopf schwingt, ein lautes Heulen von sich gibt, das mit steigender Drehgeschwindigkeit immer höher wird. Ein kurzes Stück Kantholz, in das jemand mehrere Löcher gebohrt hat, steckt in einer der großen Taschen des Regenmantels. Das Holz hat der Junge vor einigen Wochen im Gartenschuppen gefunden und behalten, weil er fand, dass es wie ein Funkgerät aussah.
Er ist ein Tiefseetaucher und ein Meereserforscher auf der Suche nach Dingen, die noch nie ein Mensch gesehen hat. Mit dem Funkgerät hält er Kontakt zu seinem Schiff, wenn er auf dem Boden des Ozeans auf Entdeckungsreise geht, mit dem Käscher fängt er die Fische, die in seiner Vorstellung die seltsamsten Formen annehmen und oft mit den Fischen, die er kennt, überhaupt nichts mehr gemeinsam haben. Der Schlauch ist seine Verbindung zur Luft, ein Wunderwerk des menschlichen Erfindergeistes, er ist immer genau so lang, dass er knapp über die Wasseroberfläche reicht. Der Junge hat ihn erfunden, weil sein Vater ihm zu Beginn des Urlaubs erklärt hatte, dass der Schnorchel, der im Set mit seiner Taucherbrille kam, leider nicht für Tauchgänge in die Tiefsee geeignet sei. Ein bisschen hofft der Junge auch, dass sich mit dem durchdringenden Ton, den der Schlauch erzeugt, wenn man ihn wirbelt, besonders seltene Tiefseekreaturen anlocken oder vertreiben lassen, je nachdem. Er hat, obwohl ihn in den Wochen seit dem Urlaub kaum etwas mehr fasziniert hat, ein klein wenig Angst vor dem, was sich im Meer vor den Menschen verstecken könnte.
Auf dem Weg zum Bahnhof hat er versucht, seiner Mutter zu erklären, als was er sich verkleidet hat, aber er ist sich nicht sicher, ob er sich ihr verständlich machen konnte. Sie lachte, als er sich aus dem Verkleidungskoffer, der immer unter dem Bett seiner Eltern steht, seine Montur zusammensuchte, und sagte ihm, dass es schon wichtig sei, Dinge zu entdecken, von denen man noch nichts weiß. Nur die Taschenlampe, die er eigentlich noch in die andere Tasche des Regenmantels stecken wollte, weil ihm sein Vater erzählt hatte, dass es in der Tiefsee sehr dunkel ist, durfte er dann doch nicht mitnehmen, weil sie losmussten und sie zu suchen zu lange gedauert hätte. Während der zehn Minuten, die der Weg zum Bahnhof dauerte, verbrachte er zehn Tage in einem besonders tiefen Teil des Meeres. Er entdeckte drei seltene Fischarten, barg einen Piratenschatz, besiegte ein Seeungeheuer und flüchtete vor einem zweiten, das zu gefährlich war. Seiner Mutter macht es nichts aus, dass er verkleidet durch die Stadt läuft und dabei mit Monstern kämpft, von denen andere nicht wissen, dass es sie gibt. Ihm ist nicht klar, dass es manchen Menschen etwas ausmacht, und dass manche Kinder sich nicht, wann immer sie wollen, sondern nur an Fasching verkleiden dürfen. Er verkleidet sich jedes Mal, wenn sie an den Bahnhof gehen, um auf den 17:30-Uhr-Zug zu warten, der aus Ingolstadt kommt, es ist sein Ritual, auch wenn er nicht weiß, was ein Ritual ist.
Als sie vor dem großen, gelb gestrichenen Bahnhofsgebäude warten, drückt der Junge die Scheibe der Taucherbrille platt gegen die Scheibe der hohen Tür des Büros, in dem der Mann sitzt, der die einfahrenden Züge ankündigt. Er winkt, als der zu ihm herüberblickt. Der Mann winkt zurück und kommt zur Tür. Er kennt den Jungen, schließlich sind sie jede Woche einmal hier, immer um die gleiche Zeit wartet er verkleidet auf den Zug. Er fragt ihn, warum er eine Taucherbrille aufhabe, was er denn da spiele. Der Junge erklärt, dass er die für seine Arbeit brauche und dass es wirklich eine richtige Arbeit sei, das Meer zu erforschen, und kein Spiel. »Aha«, sagt der Mann. Heute dauere es ein bisschen länger, Verspätung wegen Gleisarbeiten, sagt er dann, aber keine Sorge, in ein paar Minuten ist er da. Der Junge sagt, dass er sich keine Sorgen mache. Er weiß ja, dass er kommt. Er kommt immer. Der Mann geht zurück ins Büro, wo er die Taste neben dem Mikrofon nach unten drückt und mit der Mikrofonstimme, die der Junge nur von Bahnhöfen und Fahrgeschäften auf dem Volksfest kennt, verkündet, dass der Zug aus Ingolstadt wegen Gleisarbeiten Verspätung habe. Der Junge ist, als die Stimme blechern über den Platz schallt, ein bisschen stolz darauf, dass er das, anders als die anderen Menschen, die warten, schon weiß, weil er den Mann kennt. Er setzt sich auf die Stufen vor der Tür und wartet auf seinen Vater.
15 Minuten später rollt der Zug auf den Bahnhof zu, schnell erst und dann langsamer, bis er mit quietschenden Bremsen zum Stehen kommt. Der Junge versucht vorauszusagen, aus welcher Tür sein Vater kommen wird. Es dauert ein wenig, bis er ihn auf den Bahnsteig treten sieht, er erkennt ihn sofort, er ist immer der Dünnste. Der Junge beginnt, den Schlauch über seinem Kopf zu wirbeln. Ein singender Ton erklingt und erfüllt den gesamten Platz zwischen dem Zug und dem Bahnhof. Die Menschen, die aussteigen, schrecken auf und schauen zum Bahnhofsgebäude, auf das Kind, das sie da in einem seltsamen Kostüm begrüßt wie jemand, der sie nicht mehr alle beieinander hat.
Sein Vater schreckt nicht auf. Er verabschiedet sich, wie jede Woche, von einem Mann mit einem roten Bart und einem schwarzen Hut, geht mit federnden Schritten auf seine Frau und den Jungen zu und umarmt sie.
»Gut, dass du den Schlauch dabeihast, da findet man euch gleich«, sagt der Vater. Auf dem Bahnhofsvorplatz stehen nie mehr als eine Handvoll Menschen.
»Was bist du heute?«, fragt der Vater.
»Ein Tiefseetaucher und ein Meereserforscher.«
»Und was hast du entdeckt?«
Der Junge erzählt von den drei Fischen und dass er zwei Seeungeheuer besiegt hat. Das ist zwar ein klein wenig gelogen, weil er ja schließlich nur eines besiegt hat, aber es klingt beeindruckender. Dann erklärt er seinem Vater, wie genau der Atemschlauch funktioniert, den er erfunden hat. »Also ein erfolgreicher Arbeitstag, oder?«, fragt sein Vater. Der Junge nickt ernsthaft. Er weiß, dass er und sein Vater in diesem Moment zwei Männer sind, die sich über die Arbeit unterhalten – auch wenn er nicht genau weiß, was sein Vater eigentlich dort macht, wo er jeden Morgen mit dem Zug hinfährt. Sie schauen dem Zug beim Anfahren zu, dann hebt der Vater den Jungen auf seine Schultern und fragt ihn, ob Tiefseetaucher eigentlich auch Eis essen, und der Junge fragt, ob man Eisverkäufer auch mit Piratengold bezahlen kann.
Es ist noch nicht dunkel, als ich mit meinem Gepäck in A. aus dem Zug steige, aber es geht darauf zu. Wie ein Deckel sitzen die Wolken über der tiefstehenden Sonne. Drei Jugendliche hängen auf einer Bank vor dem Bahnhofsgebäude herum, einem dreistöckigen Klotz, der gelb war, bevor die Zeit und der Dreck ihn grau färbten. Sie rauchen, als würde gleich etwas passieren. Früher, als die Strecke zwischen Ulm und Regensburg noch von der Deutschen Bahn befahren wurde, konnte man in der Schalterhalle warten, doch seit sie den Fahrkartenschalter abgeschafft haben, geht dort keiner mehr hinein. Nur der Mann, der die Fahrzeiten kontrolliert, sitzt noch in dem Büro, in dem er immer gesessen ist. Die Stimme, die die einfahrenden Züge ankündigt, kommt vom Band. Ein süßlicher Geruch weht von den Jungen zu mir herüber, hinter mir fährt der Zug an. Ich weiß, wo ich jetzt hinmüsste. Der Weg ist im Muskelgedächtnis. Ich bin ihn sicher mehr als tausendmal gegangen, damals, als es der Weg nach Hause war. Die Menschen, die mit mir ausgestiegen sind, verlassen den Bahnhof. Ich bleibe stehen.
Sie müssen den Fahrplan geändert haben. Nach zwanzig Minuten fährt der zweite Zug ein. »Sie müssen zum Gleis zwei«, ruft einer der Jungen mir zu. »Ich will gar nicht weg«, höre ich mich sagen. »Ich habe vor zehn Jahren mal hier gewohnt.« Als ich mich zu ihm hindrehe, fällt mein Blick auf die hohe Glastür, die früher von der Schalterhalle direkt auf den Bahnsteig führte. Davor steht jemand, macht aber keinerlei Anstalten, in den Zug zu steigen. Es steigt auch niemand aus. Der Zug beginnt zu beschleunigen, er verlässt den Bahnhof nach Osten. Ich gehe am Bahnhofsgebäude vorbei nach Süden, zur Stadt. Die Jungen rauchen weiter. Vielleicht passiert ja gleich wirklich etwas.
Auf dem Vorplatz parken zwei Autos. Mein Rollkoffer holpert über die Pflastersteine, das Rattern der Räder kommt mir unerträglich laut vor. Ich hebe ihn hoch und trage ihn. Ich will niemanden stören, aber ich will auch vermeiden, dass einer der Anwohner, vom Lärm meines Gepäcks aufgeschreckt, ans Fenster kommen und mich sehen könnte. Polis is eyes, schreibt Olson. Er hat diesen Satz nicht so gemeint, glaube ich, aber er kommt mir trotzdem in den Sinn in diesem Moment. Die Kleinstadt hat Augen, hier sehen sich die Leute. Früher gefiel mir das.
Vorbei an der Post, ein klobiges Gebäude, das anmutet, als müssten Kastanienbäume vor ihm wachsen. Eine breite steinerne Freitreppe führte früher in den Schalterraum im Hochparterre, aber wie schon der Schalterraum im Bahnhof ist auch der lange geschlossen. Und obwohl niemand mehr die Treppe hinaufgeht, um oben ein Paket abzuschicken, nennen die Menschen das Gebäude hier immer noch »die Post«. Ihre Pakete bringen sie heute in die Postfiliale, die von einem Waschmaschinengeschäft ohne Freitreppe wenige Häuser weiter betrieben wird. Das nennen sie auch »die Post«, aber es klingt anders, wenn sie es sagen.
Über die Kastanienbäume spitzt, ganz knapp, der kleine Dachreiter der evangelischen Kirche. Anders als die beiden katholischen Kirchen liegt sie nicht in der Altstadt, sondern gegenüber einer Fahrschule, in diesem Wohngebiet, das im Norden abrupt an den Bahngleisen endet. Ich war in all den Jahren, in denen ich hier lebte, nie drinnen.
Am Ende der Bahnhofsstraße knickt der Weg nach links in die Altstadt ab, die Pflastersteine sind hier schöner als am Bahnhof, größer und glatter. Das Stadttor, das hier einmal den Zugang zum Ort erlaubte, gibt es nicht mehr, vor ungefähr hundert Jahren wurde es abgerissen, weil die Autos nicht durchpassten, nur noch ein Grundriss aus weißen Steinen erinnert heute daran. Die Stadtmauer steht noch, zumindest in Resten, doch sie fällt kaum auf, weil sie hier, anders als an anderen Orten in der Stadt, noch einen Zweck erfüllt. Als die Menschen ihre Häuser bauten, nutzten sie, um Zeit und Baumaterial zu sparen, die schon vorhandene Wehranlage als Rückwand. Nur an manchen Stellen kann man die roh behauenen Steine noch sehen und die kleinen Schießscharten, die zu Fenstern geworden sind.
Wenige Schritte hinter dem einstigen Tor fällt mein Blick eine Seitenstraße entlang und geht ins Leere. Unten, vor den zwei Fenstern seiner Wohnung im Erdgeschoss, hatte er sein Motorrad geparkt, um es im Blick zu haben. Eigentlich galt dort ein Halteverbot, doch die Frau, die die Strafzettel in der Innenstadt verteilte, hatte sich nach einem Monate andauernden und über Bande geführten Streit bereit erklärt, so zu tun, als stünde vor den Fenstern kein Motorrad. Ich frage mich, wie lange es damals gedauert hat, bis sie realisierte, dass er nicht nur kurz weggefahren war. Kurz bin ich versucht, hinunterzugehen, dann gehe ich weiter. Da unten ist ja nichts mehr.
Ich kenne den Weg. Vorbei an der Sparkasse, am Waffenladen, in dem heute E-Zigaretten verkauft werden, vorbei am Optiker, am Griechen und am Café. Durch das Stadttor, die Straße hinunter, Asphalt jetzt. Tankstelle, Kreisverkehr, Lidl, Drogeriemarkt, Netto. Schräg links in die Siedlung, die sie nach dem Zweiten Weltkrieg für die Flüchtlinge aus dem Osten aus dem Boden gestampft haben. Vorbei an den Genossenschaftshäusern für die Gastarbeiter. Links zwischen die hochgewachsenen Hecken, vorbei am blühenden Flieder. Das Gartentor leicht anheben, über den Stein, der es davon abhält, andauernd offen zu stehen. Hindurchducken unter dem überwucherten Torbogen, unter den blass-pinken Kletterrosen. Die Treppe hinauf, eine Stufe, die zweite. Den Schlüssel aus der hinteren Hosentasche kramen, einmal umdrehen, zweimal, weil sie immer abschließt, so gut es geht. Die Tür aufdrücken, ins Haus treten. Schuhe im Vorbau ausziehen, auf keinen Fall nach oben damit. Dann dort sein.