Inhaltsverzeichnis
Widmung
Lob
Sie gehören dazu
Unsere Zukunft
Teil 1 Die Heraufkunft der alternden Gesellschaft
An- und Abfahrtzeiten der Generationen
Deutschland im Vergleich zur Welt
Der Krieg der Kulturen
Der Krieg der Generationen
Teil 2 Das Komplott
Das Ende des Jugendkults
Die Babyboomer revolutionierten die Welt
Jugend, Schönheit, Fortpflanzung
Warum wir uns so schämen, alt zu werden
Der überschuldete Körper
Das soziale Altern
Schlangenzunge oder Wie wir uns im Alter sehen und abbilden
Das schmutzige Wort
Das ökonomische Altern
Der »Refund«-Kreislauf
Die Cyber-Jugend
Die Kosten unseres Sterbens
Der Tod fürs Vaterland
Das geistige Altern
Die neue Biologie des Alterns
Auf der Suche nach Unsterblichkeit
Die Methusalem-Generation
Teil 3 Die Mission
Hollywood in der Revolte
Kinderbücher, Witze, Glückwunschkarten
Entmündigung durch Sprache
Warum wir uns sogar schuldig fühlen zu altern
Ein Kampf um den Kopf
Ratschläge des alten Herzens
Teil 4 – Die neue Selbstdefinition
Nach uns
Ein paar Mitwisser des Komplotts
Danksagung
Personenregister
Copyright
Für Jakob und Rebecca
You can dye your hairBut it’s the one thing you can’t change.Can’t run away from yourself, yourself…Funny how it all falls away.So help the aged
Jarvis Cocker: »Help the aged«
Sie gehören dazu
Sie wissen es zwar noch nicht: aber Sie gehören dazu. Da Sie imstande sind, dieses Buch zu lesen, zählen Sie zu denjenigen, denen der Einberufungsbescheid sicher ist. Die große Mobilmachung hat begonnen. Im Krieg der Generationen sind Sie dabei. Sammeln Sie sich und seien Sie getrost: Sie gehören auf die Seite der Menschen, denen es in den nächsten Jahrzehnten aufgegeben ist, eine Revolution anzuzetteln.
Es klingt dramatisch, und das ist es auch. Tatsächlich ist unsere Lage unhaltbar geworden. Noch befestigen wir unsere Rettungshaken am Alltag. So schlimm, sagen wir, kann es nicht sein. Der Nachrichtensprecher liest die Nachrichten und flüchtet nicht verstört aus dem Studio. Die Redakteure schreiben ihre Leitartikel und Kolumnen. Die jungen Leute auf der Straße sind zivil und umgänglich. Mütter schieben ihre Kinderwagen. Man hört noch keine Einschläge, die Front, sagen wir, ist noch fern.
Am Horizont der Zukunft aber baut sich eine der erbittertsten Streitmächte gegen die Alten auf, die es je gegeben hat. Sie marschiert auf uns zu, die wir heute 20, 30 oder 60 Jahre sind, denn wenn der Krieg beginnt, werden wir die Älteren sein. Und die Gesellschaft, die wir geschaffen haben, nimmt dem Alternden alles: das Selbstbewusstsein, den Arbeitsplatz, die Biographie. Unsere Lebensentscheidungen basieren auf Grundrissen und Daten eines vergangenen Jahrhunderts. Gingen wir mit dem Raum so um wie mit unserer Lebenszeit, würden wir mit Postkutschen reisen.
Wir müssen jetzt handeln. Nur noch wenig Zeit trennt uns selbst von der Stigmatisierung. Bis dahin sollten wir die Vorstellungen des Alters aus der Steinzeit – wo sie jetzt sind – in die Zukunft geholt haben. Es geht um nichts weniger als eine Revolution, vergleichbar mit den großen Befreiungsbewegungen der Vergangenheit.
Im Augenblick sammeln wir noch kritische Masse. Wenn in fünf bis zehn Jahren der Punkt des Umschlagens erreicht ist, wird wie mit Zauberhand eine veränderte Gesellschaft im Gesichtskreis jedes Einzelnen erschienen sein. Wie oft berichten Menschen von der Plötzlichkeit, mit der das Alter sie wachrüttelt. Ungläubig schlägt man die Augen auf, als wäre man nicht seit Jahren vorgewarnt, und plötzlich ist man alt. So wird es unserer Gesellschaft ergehen. Die unerschütterliche Logik der Abreißkalender sagt uns, dass die Drohung mit jedem neuen Geburtstag für uns alle wächst. Und doch tun wir so, als wäre es nicht unsere Zeit, die gerade abläuft.
Es ist die Erfahrung, die Ihnen seit Kindesbeinen vom Straßenverkehr geläufig ist. Irgendwann fahren nur noch die jeweils neuesten Modelljahrgänge herum, und gerade diese Abfolge präpariert für uns das Gefühl vergehender Zeit. Der Opel Rekord von 1962, die Ente von 1968 und der VW-Käfer sind wie die Ziffern auf einem Kalender. Uns geschieht das Gegenteil: Immer mehr Menschen bleiben immer länger beieinander, und die Zeit scheint stillzustehen. Viele von uns werden gleichzeitig mit ihren Eltern, Großeltern und Urgroßeltern auf der Welt sein. Zum ersten Mal entsteht etwas, was in der Evolution nicht vorgesehen, ja von ihr mit allen tödlichen Tricks verhindert werden sollte: eine nicht mehr fortpflanzungsfähige Gruppe, die ihren biologischen Zweck längst erfüllt hat, nicht mehr repariert wird und von der Natur auf Abruf gestellt wird, bildet die Mehrheit innerhalb einer Gesellschaft. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte wird die Zahl der Älteren größer sein als die der Kinder.1
Sammeln Sie sich und seien Sie getrost, denn Sie gehören auf die Seite dieser Älteren. Wir alle haben die große Aufgabe unseres Lebens noch vor uns. Wir werden vielleicht schwächer sein als jetzt, aber wir werden in der Überzahl sein.
Es geht um unsere Seelen, aber es geht nicht um Sentimentalitäten. Es geht um unser Selbstbewusstsein und unsere Sicherheit und damit um die Stabilität der Gesellschaft, in der wir leben werden. Und es geht um Eigennutz auch im Interesse der kommenden Generationen. Die Diskriminierung des Alterns und des Alters wird weltweit zu einem ökonomischen und geistigen Standortnachteil. Im Jahre 2050 werden allein in China so viele über 65-Jährige leben wie heute auf der ganzen Welt.2 Angesichts solchen Wachstums an Alter wird jene Gesellschaft am erfolgreichsten sein, deren religiöse oder kulturelle Überzeugungen das Alter schöpferisch machen können. Wir sind, so paradox es klingen mag, als Alternde in einer alternden Gesellschaft zugleich Anführer und Opfer einer neuen Globalisierungswelle. Im Kern geht es um das Bestreben jedes einzelnen Menschen auf dieser Welt, so lange leben zu können wie möglich. Das ist das eine. Das andere aber ist das wachsende Bedürfnis der Welt, den Menschen genau dieses Bestreben auf mehr oder minder deutliche Weise auszureden. In manchen Ländern dieser Erde nimmt man den Älteren Haus, Hof und Nahrung; in anderen Gesellschaften, zu denen wir gehören, beraubt man sie des Selbstbewusstseins und der Lust am Leben.
Auch mit der Umwälzung all unserer Erfahrungen, Werte, Erkenntnisse ist es nicht getan. Was wir für richtig und gut halten, was wir Erfahrung nennen, was uns groß und stark gemacht hat – all das zerreiben die Walzen des Alterungsprozesses. Er ist der rücksichtslose Gleichmacher. Denn was zählen vergangene Erfolge, Schönheit, Lebenserfahrung und selbst Reichtum im Zeichen des Alters? Wie die Hobbits im Auenland leben wir ahnungslos dahin, bei Spiegeleiern, Pfeifentabak und all dem, was zur Wärme des Lebens gehört. Aber am Horizont zeigt sich schon die neue Macht, die unser Leben und unsere Lebensform für immer ruinieren will.
Nehmen Sie es ernst: Es geht um die Hälfte Ihres gelebten Daseins, um eine Lebensspanne, die mindestens so lange dauert wie Geburt, Kindheit, Jugend und Ausbildung. Vergessen Sie all die Fehlalarme der letzten Jahrzehnte. »Anders als etwa bei der Klimakatastrophe, kann es keinen Zweifel geben, wann und wo das globale Altern beginnt«, schreibt der ehemalige amerikanische Wirtschaftsminister Peter G. Peterson, und die Bevölkerungsforscher geben ihm Recht. Unser Altern wird nicht gemütlich sein. Es wird keine Ohrensessel, Kaminfeuer und Vorratskammern geben. Wir können nicht zu Hause bleiben. Wir müssen losziehen, solange wir noch stark und selbstbewusst sind. Selten hat eine Gesellschaft so klar sagen können wie die unsere: Wir müssen in den nächsten 30 Jahren ganz neu lernen zu altern, oder jeder Einzelne der Gesellschaft wird finanziell, sozial und seelisch gestraft. Es geht um die Befreiung jenes unterdrückten und unglücklichen Wesens, das wir verdrängen und das heute noch nicht existiert. Es geht um unser künftiges Selbst.
Unsere Zukunft
Kein Mensch wird gerne alt. Diese persönliche Empfindung wird in den nächsten fünf Jahrzehnten auf nie gekannte Weise zu einer öffentlichen, die individuelle Verwundung durch das Altern wird zu einer Massenerscheinung werden.
Jeder, der jetzt schon älter ist als Mitte 30, kennt die privaten Tragödien: Er beginnt in unserer Gesellschaft zu leiden. Er leidet an seinem Aussehen, am Arbeitsmarkt, an ersten Leistungseinbußen und Krankheiten, an der Sterblichkeit schlechthin.
Es gibt ein Leiden, das uns der älter werdende Körper verursacht. Wie ein Auto, das einmal der Stolz der Straßen war und alle Blicke auf sich zog, nun, im Laufe seines Älterwerdens seinem Besitzer zwar noch nützlich, aber zunehmend eine Last und sogar peinlich wird; und gewiss kennen Sie die Modelle, die mit Spoilern und zusätzlichen Scheinwerfern jene Kraft und Jugend ausstrahlen sollen, die sie laut Zulassung längst verloren haben. Aber es gibt ein noch gefährlicheres Leid, das die Gesellschaft dem alternden Lebewesen bereitet. Sie jagt das alternde Auto auf der Autobahn, wenn es nicht freiwillig zur Seite geht, sie stört sich an seinen Geräuschen, sie hält es für eine Umweltbelastung und entzieht ihm am Ende aus Sicherheitsgründen die Zulassung, auf öffentlichen Straßen und Plätzen in Erscheinung zu treten. Wir brechen den Vergleich hier ab; es reicht zu wissen, dass wir aus Gründen, auf die wir später eingehen werden, Verachtung und Wut herausfordern, wenn wir uns in einem alten oder verbrauchten Körper, Gehäuse oder Kostüm bewegen.
Wer heute lebt, nimmt an einem in der Menschheitsgeschichte einzigartigen und von uns allen nicht vorhersehbaren Abenteuer teil. Nicht nur Menschen, ganze Völker werden altern. Die Bewohner des alten Europa erleben dabei ein besonderes Paradox, nämlich den Angriff von zwei Fronten. Sie leben länger, und sie bekommen weniger Kinder. Die Bevölkerungsdynamik wird vom Sterben geprägt sein, nicht mehr von der Geburt. Gesellschaft und Kultur werden so erschüttert sein wie nach einem lautlosen Krieg. Deutschland wird älter und zahlenmäßig schwächer werden – nach Schätzungen der UN im Jahre 2050 um zwölf Millionen Menschen. Das sind mehr als die Gefallenen aller Länder im Ersten Weltkrieg. Im Tierreich wäre diese Population zum Aussterben verurteilt. In der Anthropologie nennt man solche Arten: lebende Tote.
Politik zählt nicht, jedenfalls nicht im Augenblick. Die politische Lebensspanne beträgt 46 Monate, die Dauer einer Legislaturperiode. Gegen den Rat der Bevölkerungswissenschaftler rechnet sie sich mit der Lebenserwartung der Menschen reich – sie setzt sie niedriger an und gewinnt damit in der Gegenwart Luft zum Atmen. Peter G. Peterson berichtet in einem Artikel für Foreign Affairs, wie die Politiker im 20. Jahrhundert auf das unmittelbar bevorstehende Problem unserer kollektiven Alterung zu reagieren pflegten. »Von privaten Gesprächen mit den Regierungschefs der großen Wirtschaftsmächte kann ich bestätigen, dass sie alle sehr genau darüber Bescheid wissen, welche erschreckenden demographischen Trends sich ankündigten. Aber bislang wirken sie wie paralysiert.« Petersons Aufsatz, der sich noch heute wie das Manifest einer alternden Welt liest, ist, wie wir sehen werden, nicht zufällig dort erschienen, wo einige Jahre zuvor ein Text publiziert wurde, der die amerikanische Politik tief greifend verändern sollte: Samuel Huntingtons Clash of Civilizations, der nach dem Ende des Ost-West-Konflikts einen neuen Krieg der Kulturen, einen existentiellen Konflikt zwischen einem fundamentalistischen Islam und einem technologischsäkularen Westen heraufziehen sah.
Wir helfen den Politikern bei ihrem kollektiven Selbstbetrug durch unsere merkwürdige vorauseilende Koketterie mit dem Tode. Aus irgendwelchen Gründen tun wir nämlich so, als wären wir nicht gemeint. Viele glauben, sie erleben diese Zukunft nicht mehr. Andere misstrauen grundsätzlich der Demographie, obgleich die Gegenstände der Berechnung – die geborenen Menschen – ja schon mathematische Tatsachen geworden sind. Nicht nur die Politik, wir selbst rechnen uns unsere Lebenserwartung herunter, gerade so, als könnten wir die letzten Lebensjahrzehnte nur im Nebel ertragen. Jeder, der lesen kann, weiß, dass das Problem unserer Zukunft als Europäer und als Deutsche das gleiche Problem ist, das wir als Individuen haben: das Problem unserer gestiegenen Lebenserwartung. Wir aber, als gelte es einen aufkeimenden Verdacht zu zerstreuen, beeilen uns ungefragt, jedermann zu versichern, dass wir so alt gar nicht werden wollen.
Seien Sie – merkwürdige Bitte – einmal für einen Augenblick ganz und gar Egoist. Vergessen Sie für einen Augenblick die Altersrhetorik, die sich in Wendungen wie »So alt will ich gar nicht werden« und ähnlichen rhetorischen Ersatzhandlungen manifestiert – ein innerer Selbstabschaffungs-Monolog, auf dessen tiefere Ursachen wir noch zu sprechen kommen werden -, übersetzen Sie einfach in Alltagssprache, was Ihnen heute über Altern, Alter, Rente, Demographie ans Gehör dringt. Das Ergebnis dieser Übersetzung lautet: Ihr eigenes Altern, nicht das abstrakte Altern des statistischen Bundesamtes, wird bereits heute als Naturkatastrophe behandelt.
Die Rechenfehler der Politik sind verheerend für die wirtschaftliche Planung des Einzelnen wie für die Zukunft aller.3 In Wahrheit werden schon bald, wie das statistische Jahrbuch des Spiegel meldet, die ersten Lebenszeitmillionäre auftauchen. Im Alter von 114 Jahren hat ein Mensch eine Million Stunden gelebt. Uns wird die Paranoia der reichen Erblasser befallen, weil wir nichts anderes zu vererben haben als die Befreiung der Erde von unserer Existenz. In den Mienen und im Augenspiel der wenigen Jungen lesen wir das Urteil oder den Vorwurf, die Hoffnung oder Frage, in jedem Fall die Erinnerung an unser großartiges Versprechen: Warum seid ihr nicht tot?
Und dann sind da noch die Kinder der Kinder, jene, die ab dem Jahre 2025 zur Welt kommen müssten. Unsere Enkel. »Geschlagen ziehen wir nach Haus, die Enkel fechten’s besser aus.« Der Spruch aus dem Bauernkrieg, von dem uralten Philosophen Ernst Bloch populär gemacht, galt immer als Beispiel dafür, wie die Abfolge der Generationen Zukunft schafft. Wir werden nicht sein: ein Volk von Großvätern und Großmüttern. Wenn Sie an Schaukelstühle, Märchen und den Strickstrumpf denken, sind Sie in einem falschen Jahrhundert. Es wird zwar noch Großeltern geben, aber viel weniger Enkel. Der Soziologe Peter Schimany spricht bereits von einem »historisch neuen Knappheitsverhältnis«, in dem es zu einem Mangel an Verwandten überhaupt, insbesondere aber zu einem Verschwinden der Enkel kommt. Die Großelternrolle, mit der so viele Ältere früher ihre gesellschaftliche Nützlichkeit unter Beweis stellen konnten, wird seltener gespielt werden können. Viele Großeltern teilen sich wenige Enkel.4 Die 12-Jährigen von heute werden einmal nicht nur die am stärksten besetzten Jahrgänge der 60-Jährigen sein. Sie werden in einer Gesellschaft leben, in der die 80-Jährigen und Älteren nicht mehr wie heute vier Prozent (3,2 Millionen), sondern zwölf Prozent der Bevölkerung (9,1 Millionen) stellen. Die Hälfte des Landes wird älter als 48 Jahre alt sein, nach anderen Berechnungen sogar älter als 52 Jahre.5 Das ist eine Gesellschaft, die fast nichts mehr mit der heutigen zu tun haben wird. Sie wird noch über die gleichen Autobahnen und Eisenbahnschienen verfügen, aber ihre seelische Infrastruktur – die Beziehungen zwischen den Generationen – wird völlig verwandelt sein.
Die gesprengten Fesseln der Lebenserwartung
Unser Alltags- und politisches Bewusstsein unterschätzt nicht nur das Ausmaß des demographischen Bebens, sondern auch die Geschwindigkeit, mit der sich die Risse in unserer Welt zeigen werden. Der Eintritt der Babyboomer ins Rentnerdasein wird in der ganzen westlichen Welt einen Altersschub auslösen und wie ein nie verglühender Raketentreibsatz über Jahrzehnte Millionen von Menschen, Einzelne, die sich zu ganzen Völkern summieren, über die Datumsgrenze des 65. Lebensjahrs katapultieren; nicht nur in eine neue ökonomische und soziale, sondern auch in eine fremde seelische Welt. Den Countdown dieser gewaltigen Mission haben die amerikanischen Bevölkerungsinstitute mit großem Alarm vordatiert: »In den USA haben die Versuche, den Terrorismus zu bekämpfen, andere eminente soziale Probleme in den Hintergrund gerückt. Aber die Uhr tickt, und die Babyboomer nähern sich der Pensionierung... Bisher glaubte man, dass die ersten Boomer im Jahre 2011 in den Ruhestand treten, und die Alterswelle uns dann erst erreicht. Heute ist die Annahme realistischer, dass die erste Welle uns bereits im Jahre 2008 trifft.«6
Übersetzt man sich die Schätzungen in Bilder, dann wird die Erde wie ein riesiges Altersheim durchs Weltall kreisen.7 Wie viel Senilität, Vergesslichkeit, Altersdemenz, wie viel Krankheit wird in diesem kollektiven Bewusstsein sein? Wie viel Angst und schlechtes Gewissen, Selbsthass und – Hass?
In den USA wird alle 7,5 Sekunden ein Babyboomer 50. Alle 7,5 Sekunden ereignet sich eine Mikrokatastrophe. Alle 7,5 Sekunden bekommt das Leben, in den Worten Mark Aurels, schlechte Gesellschaft. Die Babyboomer, die zwischen 1950 und 1964 geborenen Generationen, werden spätestens in dem Moment, in dem sie in Rente gehen, die ganze westliche Welt in einen Ausnahmezustand versetzen.
Dessen revolutionäre Sprengkraft kann die Statistik nicht erfassen. Wie jeder weiß, ist die Statistik seelenlos. Sie nennt den alt, der in Rente geht. Der Altenquotient beziffert das Verhältnis von Ernährern und Ernährten. Aber die Geister des Alterns kommen viel früher als der Bescheid der Rentenanstalt, ja, sie siedeln sich oft schon Jahrzehnte vorher im Seelenhaushalt der Menschen an, erst noch versteckt in den dunkelsten Nischen des Kellers, bald zwischen Schränken und hinter Spiegeln, schließlich beherrschen sie das Haus und alle seine Versorgungskanäle.
»Die Verteilungskämpfe der Zukunft«, sagen kurz und bündig die Statistiker, »werden um Rente und Altenheimplätze ausgetragen werden.«8 Aber um noch viel mehr: um den Zugang der Alten zu jungen Menschen in Ländern wie Deutschland, in denen die Menschen nicht nur länger leben, sondern immer weniger Kinder geboren werden. Neue Erfahrungen, die sich daraus ergeben, werden zur kostbaren Ressource. Das Ausmaß der Veränderung hat selbst die nüchternen Bevölkerungsmathematiker der Vereinten Nationen zu der Feststellung veranlasst, dass von hier und heute eine neue Phase der Weltgeschichte ausgeht. Mit der Autorität des einsamen Propheten hat der Philosoph und Ethnologe Claude Lévi-Strauss gesagt: »Im Vergleich zur demographischen Katastrophe ist der Zusammenbruch des Kommunismus unwichtig.«
Man denkt so, wie wir angesichts all der Fehlalarme und routinierten Apokalypsen zu denken gelernt haben, und sagt: Ich bin heute 20, 30, 40 Jahre alt – und das Jahr 2020 ist fern. Warum nicht, wie so oft in der Vergangenheit, die richtige Antwort durch Abwarten herausfinden?
Darin aber liegt das schlechthin Einzigartige unserer Situation: Wir können sie nicht, wie die vielen Generationen vor uns, ignorieren. Wir werden einberufen, ob wir wollen oder nicht. Dass Sie fürs Alter Geld zurücklegen sollen, je eher, desto besser, ist ja nur das ökonomische Zwiegespräch, das Sie mit Ihrem künftigen Ich führen. Andere Formen der Kontaktaufnahme mit dem, was wir sein werden und was die Gesellschaft aus uns macht, werden folgen. In den nächsten Jahren werden wir die Spuren des Alterns nicht nur an unseren Körpern, sondern an unserer Umwelt studieren. Als vor einiger Zeit Förster in der Muskauer Heide kurz nacheinander zwei Rudel Wölfe entdeckten, meldeten sich nicht Naturschützer, sondern auch die Bevölkerungsforscher zu Wort.9 Das Berliner Institut für Weltbevölkerung sagte voraus, dass die Tiere nicht nur an den östlichen Nebelrändern des Landes eindringen, sondern in den nächsten Jahren auch die sich zunehmend entvölkernden Bezirke im Zentrum, etwa im Thüringer Wald, erobern werden. Die Natur kehrt zurück, wenn der Mensch geht. Im Westen, etwa im Pfälzerwald, wurden Luchse gesichtet, die aus den durch Landflucht verwaisten Gegenden Frankreichs stammen.
Tatsächlich hat die Veränderung auch in der Zivilisation schon begonnen. Schulen werden geschlossen, Arbeitszeiten verlängert, Renten gekappt, Dörfer verlassen. Die Politiker bedauern den Geburtenrückgang, wissen es und sagen es aber nicht, dass nur eines geht: Ausbildungskosten durch viele Kinder oder Rentenzahlungen an viele Ältere. Popstars überleben nur, wenn sie im Familienprogramm erfolgreich sind, und wenn sie es nicht sind, treten sie wie die Osbournes selber als Familie auf und balancieren vor einem weltweiten Publikum auf einem schmalen Grad zwischen Scharfsinn der Jugend und Altersdemenz; Bevölkerungsstatistiker verzeichnen keine Geburten, sondern nur noch Lebenszeitrekorde und Todesfälle – und das alles ist erst der Beginn, spielt sich jetzt ab, ein paar Jahre vor jener Zäsur, da in unserer Gesellschaft immer mehr Ältere und schließlich mehr Ältere als Junge leben werden.
Wenn wir unser Bewusstsein jetzt nicht für diese zukünftige Lage schärfen, geht es uns wie den Erwachsenen aus den Siebzigerjahren. Die fielen aus allen Wolken, als sie erfuhren, dass unsere Industrien die Umwelt vergiften, Bodenschätze zur Neige gehen können und es Grenzen des Wachstums gibt. 30 Jahre lang hat diese Botschaft des »Club of Rome« vermutlich jeden einzelnen Tag in unser aller Leben auf die eine oder andere Weise bestimmt, und sei es nur durch ein schlechtes Gewissen und die Thermostate an unseren Heizungen.
So wird es mit dem globalen Altern sein. Von einem gewissen Zeitpunkt an wird es färben und prägen, was immer wir tun und denken – es wird uns verdoppeln: in die, die heute da sind, und in die, die im Alter da sein werden. Eine neue Art der Vorsorge wird sich einstellen, vorbereitende Sicherungsmaßnahmen an Geist, Seele und Körper für eine gebrechlicher werdende Population. Und es werden in unserer synchronisierten Gesellschaft zwei auseinander strebende Zeiten entstehen, die der wenigen Jungen und die der vielen Alten.
Es geht aber nicht nur um die Rechenfehler der Politik. Es geht um unsere eigenen Rechenfehler. Wir rechnen uns nämlich buchstäblich zu früh zu Tode. Wir, die wir gelernt haben, jede Sekunde zu nutzen und jede Verspätung zu ahnden, sind im Begriff, uns auf tragische Weise in dem Einzigen zu verrechnen, was zählt: in der Summe unseres Lebens. Deprimiert, wie wir in den letzten Jahren geworden sind, kleinmütig und pessimistisch, sind wir offenbar außerstande, den Sieg der Langlebigkeit zu feiern. Wir hätten Grund: Die weibliche Lebenserwartung hat sich in den letzten 160 Jahren um jährlich drei Monate erhöht. 1840 hatten Schwedinnen mit 45 Jahren die längste Lebenserwartung aller Frauen. Heute kommen Japanerinnen im Schnitt auf 85 Jahre. Und es ist kein Ende in Sicht.10
Weil wir unvorbereitet sind, werden wir in unmittelbarer Zukunft nicht nur eine politische, ökonomische, sondern auch eine geistige Krise erleben.
Lebenserwartung wird ein Schlüsselbegriff unserer Epoche werden. Er umreißt nicht nur, wie lange wir aller Wahrscheinlichkeit nach leben werden. Er beziffert, dass die Mehrheit der heute lebenden Erwachsenen und Kinder viel länger leben wird als je Menschen zuvor. Das gilt nicht nur für uns, deren verlängerte Lebenserwartung nach Auskunft der Demographen die Sozialsysteme erschüttern wird. Es gilt noch mehr für unsere Kinder: Jedes zweite kleine Mädchen, das wir heute auf den Straßen sehen, hat eine Lebenserwartung von 100 Jahren, jeder zweite Junge wird aller Voraussicht nach 95.11 Es handelt sich, wenn diese Entwicklung anhält, nicht nur um Veränderungen in den Geburts- und Sterberegistern; es handelt sich um eine neue anthropologische Lage noch zu unser aller Lebzeiten. 12
150 Jahre nach Beginn der technischen Moderne muss der Mensch den Preis seiner fehlenden Anpassung zahlen. Wir haben Kriege und Bürgerkriege geführt, weil wir mit den Fortschrittsdebakeln der Moderne nicht zurecht kamen, aber jetzt geht es um einen Krieg, den wir mit uns selbst führen, mit dem Menschen, der wir im Alter sein werden. Man hat niemals prähistorische Skelette von Menschen gefunden, die älter als 50 Jahre geworden waren. Die menschliche Lebenserwartung betrug in 99,9 Prozent der Zeit, die wir diesen Planet bewohnt haben, 30 Jahre.13 Jetzt müssen wir innerhalb einer einzigen Generation einhunderttausend Jahre alte Prägungen unseres Körpers und unserer Kultur überwinden.
Sagen wir offen, was seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts in unzähligen seriösen Studien erst sehr betreten eingestanden und schließlich mit zunehmender Verblüffung postuliert wurde: Wir wissen nicht mehr, ob es überhaupt eine zeitliche Grenze für das menschliche Leben gibt. Wir wissen, dass die Französin Jeanne Calment mit 122 Jahren der älteste Mensch war, der authentischen Zeugnissen zufolge je auf Erden gelebt hat. Aber nichts spricht dafür, dass dieses Alter eine absolute Grenze wäre.14 Anfang 2002 veröffentlichte James Vaupel, Direktor des Max-Planck-Instituts für Demographische Forschung und einer der weltweit renommiertesten Biodemographen, in der Zeitschrift Science einen Aufsehen erregenden Artikel mit der Überschrift »Die zerbrochenen Grenzen der Lebenserwartung«. In der Studie wirft Vaupel den Regierungen vor, dass sie noch immer an eine fixierte und also letztlich begrenzte Lebensspanne des Menschen glaubten. Dadurch verschätzten sie sich auf dramatische Weise. Während etwa die US-Regierung für die nächsten sieben Jahrzehnte nur mit einem Anstieg der Lebenserwartung auf höchstens 83,9 Jahre rechnet, prognostiziert Vaupel eine Lebenserwartung bei Frauen von 101,5 Jahren.15
Gerade den Jüngeren unter den heute lebenden Bewohnern der Industrienationen müsste mulmig werden angesichts des Umstands, dass ihre Regierungen die Zukunftsbilanzen dadurch schönen, indem sie die Lebenserwartung der Menschen so niedrig ansetzen. Das kann nur heißen: Die heute 30- bis 50-Jährigen müssen rechtzeitig sterben, damit die Rechnungen aufgehen. Unserer gestiegenen biologischen Lebenserwartung steht eine gesellschaftliche Sterblichkeitserwartung gegenüber. Sie lautet: stirb rechtzeitig. Was die Lage noch prekärer macht, ist die Tatsache, dass die Erfolgsgeschichte der Langlebigkeit offenbar gerade erst begonnen hat. In ihrer von der Max-Planck-Gesellschaft und vom National Institute on Aging finanzierten Studie haben Vaupel und sein Kollege Jim Oeppen Daten aus Australien, Island, Japan, den Niederlanden, Norwegen, Schweden, der Schweiz und den Vereinigten Staaten ausgewertet, mit dem Ergebnis, dass wir Heutigen Zeugen einer Lebenszeitrevolution werden. Die Lebenserwartung von Europäern und Amerikanern wächst jährlich um drei Monate. 100-Jährige werden für heute schon Lebende zum Normalfall. Es gibt kein Indiz, dass es überhaupt eine Grenze der Lebenserwartung gibt. Und selbst wenn es sie geben sollte: Wir sind offenbar noch nicht einmal in der Nähe des Maximums.16 Die Lebenserwartung des Menschen ist eine steil in den Himmel vorstoßende Linie und seine Lebensspanne womöglich ohne fassbare Grenze. (Die Grafik auf S. 24 zeigt, dass man die statistische Länge des menschlichen Lebens durchweg unterschätzt hat.)
Lebenserwartung ist nicht nur eine Zahl; sie ist die Erwartung, die wir in einer Gesellschaft haben werden, die aufgrund ihres langen Lebens mit der biologischen Uhr in Konflikt gerät und aufgrund ihres langen Alters sehr lange sehr nahe und näher kommend am Tode lebt.
Der Trend, die Regressionslinie, ist als schwarze durchgehende Linie gezeichnet,der in die Zukunft weiterverlängerte (extrapolierte) Trend als durchgestrichelte graue Linie. Die horizontalen schwarzen Linien zeigen die jeweils postulierten Höchstgrenzen der Lebenserwartung, wobei der dazugehörige vertikale Strich das Jahr der jeweiligen Publikation angibt. Die gestrichelten Kurven stellen die von den Vereinten Nationen in den Jahren 1986, 1999 und 2001 projizierten Lebenserwartungen japanischerFrauen dar. Sie zeigen, wie radikal die Vereinten Nationen ihre Schätzungen zwischen 1999 und 2001 korrigiert haben. (Quelle: Vaupel,2002)
Wenn die Mehrheit einer Gesellschaft zu den Älteren gehört, schwindet automatisch die Ressource Zukunft. Noch bis weit in die 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts gab es Formulare und Briefbögen, auf denen zur Erleichterung des Benutzers die »19« der Jahreszahl schon vorgedruckt war, so als würden weder Papier noch Benutzer das 20. Jahrhundert überleben. Das sind in gewissem Sinn die Vordrucke der alternden Gesellschaft. Die Grenzen des Wachstums sind für die Dauer, da die Jungen von den Älteren beherrscht werden, die Grenzen der Zeit.
Weibliche Lebenserwartung in Chile, Japan, Neuseeland (Nicht-Maoris),Norwegen und den USA im Verhältnis zur Rekord-Lebenserwartung(durchgezogene schwarze Linie). (Quelle: Vaupel, 2002)
Diese geistige Krise ist keine, die für Sonntagsreden taugt. Sie wird unser Verhältnis zum Leben ändern. Es wird eine faktische und physiologische Krise der alternden Gehirne, der fünf Sinne und des Selbstbewusstseins sein. Jährlich werden zum Beispiel mehr Menschen ihren Gefühlen und ihrem Verstand misstrauen, finanzielle Ängste werden zunehmen, auch wenn es keinen realen Grund gibt, Angst vor Gehirnschwäche und Alzheimer wird sich allein in den USA wie ein grauer Nebel über die Seelen von schätzungsweise 70 Millionen Menschen legen und deren Verhalten steuern.17
Wir kennen die Jugend, wir alle haben sie selbst durchlebt. Wir beobachten, belächeln, beneiden die Jugendlichen und versuchen, sie zu kopieren. Alle Kulturen kannten die Jugend, weil alle Menschen jung waren, aber die wenigsten kannten das Alter. Alter ist in der Kultur- und Evolutionsgeschichte unserer Gesellschaft etwas sehr Junges: Es war immer eine Lebensunwahrscheinlichkeit und die Erfahrung einer Minderheit. Forschungen aus diesem Bereich sind keine 50 Jahre alt. Kundschafter aus diesem Gebiet gibt es kaum. »Die älteren Menschen von heute«, schreibt der Biologe Tom Kirkwood, »bilden die Avantgarde einer unerhörten Revolution unserer Lebensdauer, die eine radikale Umwälzung der gesamten Gesellschaftsstruktur eingeläutet hat und Leben und Tod in neuem Licht erscheinen lässt.«18
Die Vorhut ist unterwegs. Wir aber sind die Armee, die ihr folgt. Noch haben nicht alle bemerkt, dass die westlichen Zivilisationen zu einer neuen großen Entdeckungsmission aufgebrochen sind. Die Gesellschaft, von der wir hier reden, erleben Sie womöglich erst, wenn Sie 40 oder 50 oder 60 Jahre alt sind. Dann wird die Mehrheit, die Deutschland prägt, ebenfalls 50, 60 und auch 70 Jahre alt sein. Gleichzeitig werden die jüngeren Generationen, die 30- und 40-Jährigen, schon von der Altersangst infiziert sein. Wie während der großen Pest, mit deren Folgen die uns bevorstehende Bevölkerungsverschiebung verglichen wurde,19 werden womöglich Kulte des Gegenwärtigen entstehen und Revolten angesichts der irrwitzigen Vorsorgepflichten, die jeder für sein eigenes Alter und das Altern der anderen treffen muss. Schließlich – während all das geschieht – werden die 80- und 90-Jährigen den am schnellsten wachsenden Teil der Bevölkerung bilden.
Die Ressorts Gesundheit, Familie und Soziales können von dieser Entwicklung nur überfordert sein. Wir werden in diesem Buch feststellen, dass die Vorurteile über das Altern und den alternden Menschen ein furchtbares Verhängnis unserer Zivilisation und unseres Lebens sind. In Deutschland, wo man in den vergangenen Jahrzehnten so viel über politische und kulturelle Feindbilder lernen konnte, hat man ausgerechnet die Kriegspropaganda abgetan, die sich gegen unsere eigene Existenz richtet. Während in Amerika und England eine überwältigende Anzahl von Studien zur Altersdiskriminierung, dem so genannten »ageism«, erschienen sind, hat die psychologische Forschung in Deutschland das Thema verschlafen.20 Wenig ist geschehen, um Studien aus der komplizierten Sprache der Experten in unsere Alltagssprache zu übersetzen. Ein Martin Luther täte Not, der die zum Teil spektakulären Erkenntnisse einzelner Forscher etwa zur Gehirn- und Seelentätigkeit älterer Menschen übersetzt.