Das Mondamulett - Linda Holeman - E-Book
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Das Mondamulett E-Book

Linda Holeman

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Beschreibung

Eine wilde Schönheit, die nur in Freiheit erblühen kann: Der opulente historische Bestseller-Roman »Das Mondamulett« von Linda Holeman als eBook bei dotbooks. Afghanistan, Mitte des 19. Jahrhunderts. Als die junge Daryâ gegen die starren Gesetze ihrer Dorfgemeinschaft aufbegehrt, passiert das Unvorstellbare: Sie wird verstoßen und in die Wildnis gejagt – wer Freiheit sucht, hat den Tod verdient. Doch Schritt für Schritt kämpft sich Daryâ über die Berge bis nach Bombay, eine Stadt, so betörend und ungezügelt wie ihre kühnsten Träume. Träume, die auch David Ingram teilt, ein junger Engländer, der Daryâ den Zauber der großen weiten Welt zeigen möchte. Aber das Schicksal treibt sie auseinander – und Daryâ in die Arme eines Mannes, der sie wie einen schönen Vogel in einen goldenen Käfig sperren will. Wird sie mit Davids Hilfe ihre Fesseln lösen können …. und in der Fremde endlich Heimat finden? Ein großartiges Epos und die bewegende Reise einer jungen Frau von der archaischen Welt Afghanistans über das farbenprächtige Bombay bis nach London – gegen alle Widerstände hält sie an ihrem Willen zur Freiheit und ihrer großen Liebe fest. »Eine herzergreifende, fesselnde Saga, die man sofort all seinen Freundinnen weiterempfehlen möchte.« Woman Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der internationale Bestseller-Roman »Das Mondamulett« von Linda Holeman – in der Tradition von »Shantaram« und des Welterfolgs »Palast der Winde«. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Inhaltsverzeichnis

PROLOG

ERSTER TEIL IM SCHATTEN DES HINDUKUSCH

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWEITER TEIL UNTER DER SCHNEIDENDEN SONNE INDIENS

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREISSIG

EINUNDDREISSIG

ZWEIUNDDREISSIG

DREIUNDDREISSIG

VIERUNDDREISSIG

FÜNFUNDDREISSIG

SECHSUNDDREISSIG

SIEBENUNDDREISSIG

DRITTER TEIL LAND DES SCHMUTZIGEN HIMMELS

ACHTUNDDREISSIG

NEUNUNDDREISSIG

VIERZIG

EINUNDVIERZIG

ZWEIUNDVIERZIG

DREIUNDVIERZIG

VIERUNDVIERZIG

FÜNFUNDVIERZIG

SECHSUNDVIERZIG

SIEBENUNDVIERZIG

EPILOG

DANKSAGUNG

GLOSSAR

LESETIPPS

Über dieses Buch:

Afghanistan, Mitte des 19. Jahrhunderts. Als die junge Daryâ gegen die starren Gesetze ihrer Dorfgemeinschaft aufbegehrt, passiert das Unvorstellbare: Sie wird verstoßen und in die Wildnis gejagt – wer Freiheit sucht, hat den Tod verdient. Doch Schritt für Schritt kämpft sich Daryâ über die Berge bis nach Bombay, eine Stadt, so betörend und ungezügelt wie ihre kühnsten Träume. Träume, die auch David Ingram teilt, ein junger Engländer, der Daryâ den Zauber der großen weiten Welt zeigen möchte. Aber das Schicksal treibt sie auseinander – und Daryâ in die Arme eines Mannes, der sie wie einen schönen Vogel in einen goldenen Käfig sperren will. Wird sie mit Davids Hilfe ihre Fesseln lösen können …. und in der Fremde endlich Heimat finden?

Ein großartiges Epos und die bewegende Reise einer jungen Frau von der archaischen Welt Afghanistans über das farbenprächtige Bombay bis nach London – gegen alle Widerstände hält sie an ihrem Willen zur Freiheit und ihrer großen Liebe fest.

»Eine herzergreifende, fesselnde Saga, die man sofort all seinen Freundinnen weiterempfehlen möchte.« Woman

Über die Autorin:

Linda Holeman, geboren im kanadischen Winnipeg, arbeitete nach ihrem Studium der Soziologie und Psychologie zunächst zehn Jahre als Lehrerin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Ihrem ersten Roman »Smaragdvogel« folgten zahlreiche weitere historische wie auch zeitgenössische Romane, die internationalen Bestsellerstatus erlangten und in sechzehn Sprachen übersetzt wurden. Heute lebt Linda Holeman abwechselnd in Toronto und Santa Monica, Kalifornien.

Linda Holeman veröffentlichte bei dotbooks auch die Romane »Smaragdvogel« und »Der Lotusgarten«.

***

eBook-Neuausgabe Juni 2019

Copyright © der englischen Originalausgabe 2005 by Linda Holeman

Die englische Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel »The Moonlit Cage« bei Headline Book Publishing, London

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2006 by RM Buch und Medien Vertrieb GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Dieses Werk wurde vermittelt durch The Helen Heller Agency Inc.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Zephyr Media und skreidzelen

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96148-762-2

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Besuchen Sie uns im Internet:

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Linda Holeman

Das Mondamulett

Roman

Aus dem Englischen von Monika Köpfer

dotbooks.

Für die starken Frauen in meinem Leben – meine Mutter Donna, meine Schwester Shannonsowie meine Töchter Zalie und Brenna.Danke für all eure Geschichten!

Es gibt einen Kuss,nach dem wir uns von ganzem Herzen sehnen,der unsere Seele berührt ...

Nachts öffne ich das Fenster,bitte den Mond hereinund berge mein Gesicht in seinem.

Atme mich.

DSCHELALEDDIN RUMI (1207-1273)

PROLOG

Atlantischer Ozean, 1856

Immer hat man mir gesagt, ich sei schlecht. Also dann, hier ist meine Geschichte: Sie handelt von meiner Schlechtigkeit und meinen Versuchen, gut zu sein, von der Kraft, die ich in mir verspürte und wieder verlor und wieder gewann. Von erschüttertem und wiedergefundenem Glauben, vom Glauben an mich und andere. Der Kraft, die der Poesie innewohnt, den Legenden, Träumen und Wünschen. Es ist eine Geschichte von Liebe und Hass; von den Gegensätzlichkeiten des Lebens, die du, Leser, alle kennst und selbst schon erlebt hast, von den Elementen, die unsere Welt ausmachen und unser Leben – und die kunstvoll ineinander verwoben sind wie die Adern eines Blattes, die Muster der Sterne am Firmament, das Kerngehäuse eines Granatapfels.

Den Granatapfel findet man kaum in diesem Land, das ich nun hinter mir lasse, das feuchte Land mit seinen Schattierungen aus Grau und Grün, das Land, in dem ich nicht geboren wurde. Heute hat man mir eine der purpurnen Früchte mit der harten Schale gebracht, als besonderes Geschenk für einen besonderen Anlass. An geeigneter Stelle wirst du, lieber Leser, mehr darüber erfahren.

Ich habe den Granatapfel aufgeschnitten und die Kerne in eine weiße Schüssel gegeben, die auf meinem Schoß liegt. Ich picke mir einen aus dem kühlen, glatten Porzellan heraus und führe ihn zum Mund. Voll und süß fühlt er sich zwischen meinen Lippen an. Dann lasse ich seinen Geschmack auf der Zunge zergehen und mich mit Erinnerungen an mein Land durchfluten. An mein watan, meine Heimat.

Doch im Gegensatz zu dem Kern auf meiner Zunge schmecken sie bittersüß. Viele Fäden wurden miteinander verwoben, langsam, aber stetig, bis schließlich dieser unebene Teppich entstand, der zu meinem Leben wurde. Im Geiste sehe ich die Hände, die die Fäden hielten – die meiner Großmutter mit ihrer bewegten Vergangenheit, ihrem verborgenen Leben im zenana, dem Frauengemach; die meiner tadschikischen Eltern, die der Kafir-Hure und die meines paschtunischen Ehemanns. Und manchmal, auch wenn solche Gedanken gotteslästerlich sein mögen, sehe ich die Hände Allahs, zwischen dessen Fingern sich ein Netz aus seidenen Fäden spannt.

Noch immer ist es schwer für mich, derlei Gedanken auszusprechen, denn in meinem watan werden Frauen für weit Geringeres bestraft als für den Gedanken, dass Allah sich um das Leben einer Widerspenstigen und auf Abwege geratenen Tadschikin kümmern würde.

Und auch wenn ich jetzt in Sicherheit bin und mein Geist frei ist gleich einer Motte, die sich aus einer sich öffnenden Faust befreit, sterben alte Gewohnheiten nur langsam; noch immer behalte ich viele meiner Gedanken und Wünsche für mich.

Bitte, lies meine Geschichte, und während du sie liest, stell dir die Frage, ob ich wirklich schlecht bin. Doch bilde dir erst ein Urteil, wenn du am Ende angelangt bist.

ERSTER TEILIM SCHATTEN DES HINDUKUSCH

Afghanistan, 1845

EINS

Meine Großmutter wurde Mahdokht genannt – Tochter des Mondes. Im ganzen Dorf gab es niemanden, der wie meine Großmutter war. Ihr Leben lang blieb sie eine Außenseiterin, obwohl der Vater meines Vaters sie als Braut mit in sein Dorf gebracht hatte. Sie war keine Tadschikin und kam auch nicht aus einer anderen Gegend Afghanistans. Sie war eine Tscherkessin, geboren in einem Bergland, dem Kaukasus, das sich zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer erhebt. Hellhäutig und mit Haar, in dessen Braun sich ein glänzender Honigton mischte, war sie sehr schön gewesen. Zu einem Zopf geflochten, maß ihr Haar die Spanne ihres Arms.

Meine Großmutter erzählte mir zahlreiche Geschichten von ihrem Leben an anderen Orten. Ihre Beschreibungen waren so klar und lebendig, dass ich nie an der Wahrheit ihrer Worte zweifelte, auch wenn sie nicht mehr wusste, welche Jahreszeit wir gerade hatten oder was sie zuletzt gegessen hatte oder wie die Menschen in unserem Dorf hießen. Wenn sie mir ihre alten Geschichten erzählte, wurde ihr Gesicht ruhig, ein Ausdruck, als ob sie hellwach wäre und gleichzeitig träumte.

Wie viele andere Mädchen aus dem Kaukasus auch, war sie aufgrund ihrer berüchtigten Schönheit – der blassen Haut, den großen Augen und der üppigen Haarmähne – von ihren Eltern verkauft worden. Vor allem bei den Sultanen am Bosporus, dem Land an den Süßen Wassern Asiens, wie es genannt wurde, waren die Tscherkessinnen sehr gefragt. Erst acht Jahre alt, wurde sie auf einer langen, strapaziösen Reise dorthin gebracht. Dort kam sie ins zenana, den Harem des Sultans, wo sie einen anderen Namen erhielt. Später erinnerte sie sich nicht mehr an den Namen, den ihre Eltern ihr gegeben hatten, denn niemand hatte sie je mehr so genannt, in den siebzig Sommern, die seither vergangen waren.

Weil sie noch so jung war – viel jünger als die anderen tscherkessischen Mädchen auf dieser ersten Reise –, kam sie zur Tochter des Sultans. Die Prinzessin behandelte sie wie ein lebendes Spielzeug; sie badete sie, flocht ihre Haare und zog ihr schöne Kleider an. »Eine Kindpuppe war ich«, sagte meine Großmutter. Wenn die Prinzessin glücklich war, wurde sie freundlich behandelt, doch wann immer eine Laune sie überkam, setzte es Schläge und Hiebe.

Nach einiger Zeit, als das Mädchen Mahdokht größer und reifer geworden war, wurde die Prinzessin ihres hübschen Spielzeugs überdrüssig. Also schickte man sie in das zenana, wo sie wie eine Sklavin zu den anderen Mädchen und Frauen gesperrt wurde und gezwungen war, das Leben einer fügsamen Konkubine zu führen. Ich kannte den Ausdruck Konkubine nicht und fragte Großmutter danach, doch sie schüttelte nur den Kopf.

Stattdessen erklärte sie mir, dass sie – ihrer islamischen Erziehung gemäß – akzeptiert hatte, dass ihr Schicksal von Geburt an vorherbestimmt war. Ihr auf die Stirn geschrieben war, wie sie sagte, wobei sie mit dem Zeigefinger die Furchen auf ihrer Stirn nachfuhr. Gefangen in den Mauern des zenana, verbrachte sie ihre Zeit mit müßigem Nichtstun. Tagsüber badete sie ausgiebig und rieb sich die Haut mit duftenden Essenzen ein, sie lernte zu singen, zu tanzen und Gedichte aufzusagen; und sie aß erlesene Speisen, zubereitet von Sklaven, die noch unterhalb ihres Standes waren. Nachts indessen rauchte sie eine Pfeife mit keyf, das ihr magische Träume bescherte, während sich die Frauen Geschichten erzählten und Gedichte aufsagten, die von den jeweiligen Ländern handelten, aus denen sie verschleppt worden waren, oder erfundene Geschichten, erwachsen aus Einsamkeit und Langeweile.

»Tragödien und Liebe, Daryâ«, sagte sie. »Freude und Leid. Das sind die vier Ecken eines Lebens.«

Großmutter lehrte mich diese Lieder und Gedichte auf Persisch, einer Sprache, die dem Dari ähnelt, das in unserem tadschikischen Dorf gesprochen wurde, doch mit all ihren Schattierungen noch schöner anzuhören ist.

»War es nicht wundervoll?«, fragte ich. Im Geiste stellte ich mir ein Leben vor, ohne arbeiten zu müssen, ein Leben, das nur aus Essen, Schlafen und Geschichtenerzählen bestand. Wie konnte ein solches Leben nicht wundervoll gewesen sein?

Doch das Gesicht meiner Großmutter verschloss sich. »Manchmal. Aber wir wurden streng bewacht von den bartlosen Männern, die beschnitten waren – also noch immer Männer, und doch nicht mehr –, und stets lauerte eine Gefahr in den Mauern des zenana.«

»Gefahr?«

»Es war ein tückischer Ort«, erklärte sie. »Es gab viel Tratsch und Klatsch, boshaftes Gerede, Lügen von eifersüchtigen Konkurrentinnen; manchmal wurden auch Mädchen vergiftet, und ihre leblosen Körper warf man in die Süßen Wasser. Deshalb bin ich geflohen; ich wusste, dass es eines Tages mich treffen würde, denn ich hatte bemerkt, dass ich für andere eine Bedrohung war.«

»Aber warum warst du eine Bedrohung? Und wie bist du entkommen?«, fragte ich sie, doch von ihrem Leben nach dem zenana erzählte meine Großmutter mir zu der Zeit recht wenig.

Und wenn meine Mutter oder mein Vater in der Nähe waren, sprach sie niemals von ihrer Vergangenheit. Es war ihr Geheimnis, und mochte ich auch ein Mädchen sein, dem immer eine Frage auf der Zunge lag, so hütete ich mich doch davor, sie in Gegenwart anderer danach zu fragen. Ich liebte ihre Geschichten; der Gedanke, dass sie – und damit auch ich – Wurzeln eines anderen Volksstammes in sich trug, erfüllte mich mit einem wilden, süßen Verlangen nach etwas, das ich nicht benennen konnte. Manchmal sah ich sie an und versuchte, das wunderschöne Mädchen aus den weit entfernten Bergen in ihr zu erkennen. Doch sie sah aus wie die anderen Mâdar Kalân – Großmütter – des Dorfs, das weiße Haar dünn geworden, mit einem leichten Damenbart auf dem Kinn und die wässrigen Augen eingesunken in einem Bett aus Falten. Auch sah ich keine Ähnlichkeit zwischen uns beiden: Mein Haar hatte keine honigfarbenen Strähnen, sondern war von einem intensiven Dunkelbraun. Meine Augen waren nicht grau wie ihre, sondern grün – obwohl sie mir sagte, dass, wenn sie in meine Augen blicke, sie ihre eigenen sehe, dieselbe Form, die gleichen dichten Wimpern, die sie hatte, als sie noch jung war.

Nie sprach sie darüber, wie sie nach Afghanistan gekommen war; ich ahnte, dass sie sich dieses Leben in dem kleinen Bauerndorf Susmâr Khord nicht erträumt hatte. Sie hatte zu viel gesehen, wusste zu viel, als dass sie in dieser kleinen Welt hätte zufrieden sein können. Bisweilen sprach sie von einem anderen Mann – nicht meinem Großvater, der noch vor meiner Geburt gestorben war –, sondern einem Mann, den sie ihren wahren Mann nannte, den Einzigen, den sie je geliebt hatte. Sie erwähnte auch Kinder, die sie von jenem Mann bekommen hatte, und die lange vor meinem Onkel und meinem Vater zur Welt gekommen waren. Mein Vater indes war, so sagte sie, ein Geschenk Gottes gewesen: Der Sohn, der auf ihre alten Tage für sie sorgen sollte, wurde geboren, als sie in einem Alter war, in dem Frauen normalerweise nicht mehr fruchtbar sind. Und manchmal weinte sie, weinte um jene Kinder – jene, die noch lebten, und jene, die schon im Paradies waren, wie ihr Erstgeborenes, das tot im zenana zur Welt gekommen war, oder der ältere Bruder meines Vaters, der in der Schlacht von Kabul von Männern mit roten Mänteln getötet worden war.

»Die Männer des britischen Empire«, erklärte sie. »Sie wollen uns dieses Land wegnehmen. Ihr eigenes Land – Inglestan, England – genügt ihnen offensichtlich nicht. Sie glauben, dass ihr Blut das edelste sei – ihr blasses, dünnes Blut –, und wollen es auf der ganzen Welt verbreiten.«

Dann sang sie in ihrer brüchigen, zittrigen Stimme jenes fremdländische Lied, das ich schon als kleines Kind gelernt hatte. Sie hatte mir erklärt, was die Worte bedeuteten: Die Menschen aus England beherrschten alles, sogar das Wasser der Ozeane, und immer würden sie Herrscher sein und nie Sklaven. Herrsche, Britannia, herrsche über die Meere, Britannia. Ich liebte es, die ungewohnten, verdrehten Worte auf der Zunge zu spüren, und sang oft leise dieses Lied vor mich hin.

»Es gab ein Bild, ein Bild, an das ich mich jetzt wieder erinnere«, sagte sie und sah mich an, nachdem wir wieder einmal das Lied zusammen gesungen hatten. »Und das Gesicht darauf ist deines.«

Als ich ihre verebbende Stimme vernahm, ihren Blick sah, der allmählich verschwamm, wusste ich, dass sie wieder einmal weit weg von unserem Dorf war, zurück in eine andere Zeit ging, an einen anderen Ort. Geduldig wartete ich, denn ich kannte diesen Zustand, wusste, dass sie wieder zurückkehren würde.

»Was für ein Bild, Mâdar Kalân?«, fragte ich nach einer Weile sanft.

Sie blinzelte und sah mich an. »Das Gemälde hing im Haus des Mannes, der mir mein Herz gestohlen hat. Auf einer langen Reise kam er aus jenem weit entfernten Land, aus England, nach Ankara in die Türkei, wo er mich fand, nachdem ich aus dem zenana geflohen war. Er war der Herr, dem ich von da an gehörte, doch hat er mich so freundlich behandelt wie kein anderer Mann, den ich kannte. Er schenkte mir einen Sohn und eine Tochter. Schön«, fügte sie hinzu, »sie waren beide schön. Mit einer Haut wie Milch. Meine Babys.« Dann wurde sie still, und Tränen rannen aus ihren Augenwinkeln. Ich hatte von diesen verlorenen Kindern unzählige Male gehört, doch nie zuvor hatte sie ein Gemälde erwähnt. Ich beugte mich zu ihr hin und strich sanft mit dem Zipfel ihres Schals die Tränen von ihren Wangen.

»Es ist gut, Mâdar Kalân«, sagte ich auf Persisch, der Sprache, in der wir uns immer unterhielten. »Weine nicht. Was war auf dem Bild zu sehen?«

»Eine Schlacht, wie immer«, sagte sie, mit dem Gedanken noch immer in jener vergangenen Zeit. »Er rannte, je ein Kind unter dem Arm. Er drehte sich nach mir um und rief mir etwas zu, aber es war zu spät. Dann verschwand er, und ich ...« Sie weinte. »Meine Kleinen, meine armen Kleinen. Was ist nur mit ihnen geschehen?«

Ich nahm ihre Hand in meine und streichelte sie. »Das Bild, Mâdar Kalân? Was ist mit dem Bild?«

Sie schüttelte den Kopf, so als versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen. »Darauf war eine Frau mit einem Helm und einem Schild in der einen und einer Waffe mit drei Zähnen in der anderen Hand; sie trug die Rüstung eines Mannes.«

»Wer war sie?«

»Sie war das Britische Empire.« Wieder stimmte Großmutter das Lied an.

Ich wartete, bis sie zu Ende gesungen hatte, ehe ich fragte: »Was meinst du damit?«

»Das Britische Empire ist wie eine mächtige Frau.«

»Eine mächtige Frau? Welche Frau hat Macht?« Ich war mir sicher, dass Großmutter wieder einmal verwirrt war, denn in Susmâr Khord gab es keine mächtigen Frauen.

Doch sie antwortete nicht. Den Kopf über ihren faltigen Hals gebeugt, döste sie ein. Ich betrachtete sie, wie sie schlief, und wünschte mir, ich könnte in ihren Kopf kriechen und all die Dinge sehen, die sie gesehen hatte, und all die Dinge erfahren, die sie wusste.

Doch trotz der wundervollen Geschichten, die Mâdar Kalân mir in den Kopf pflanzte, musste sie jetzt bewacht werden wie ein kleines Kind. Mitten in der Nacht wanderte sie durch das Haus und suchte ihre Schlafdecken. Manchmal vergaß sie, zu der mit einem Vorhang verhängten Ecke im Hof zu gehen, und beschmutzte sich. Dann schlug sie sich voller Scham gegen die Brust.

Meine Mutter hatte alle Hände voll zu tun mit dem Kochen und dem Sauberhalten unseres Hauses, und von meinem Vater wurde selbstverständlich nicht erwartet, dass er sich um eine alte Frau kümmerte. Ich war das einzige Kind, und so fiel mir die Aufgabe zu, nach meiner Großmutter zu sehen. Aber ich betrachtete es nicht als Pflicht; es machte mich glücklich und zufrieden, ihr zu helfen, denn ich empfand eine tiefe, innige Liebe zu ihr und hatte das Gefühl, sie beschützen zu müssen. Sie war der einzige Mensch, der etwas Großes in meine kleine, abgeschiedene Welt brachte, mir die Augen dafür öffnete, dass es jenseits der Grenzen unseres Dorfs eine andere Welt, ein anderes Leben gab, dass die Welt hinter dem Horizont aus Feldern und Bergen nicht aufhörte.

Und egal, wie oft sie sich auch wiederholte, mir von den Orten erzählte, an denen sie gewesen war – von den Flüssen und Städten, Wüsten und den unzähligen Wundern dieser Erde –, und die Gedichte, Lieder und Episoden aus dem zenana aufsagte, nie wurde ich ihrer Erinnerungen überdrüssig. Bisweilen bat sie mich, ihre Geschichten zu wiederholen, und ich fragte mich, ob sie überprüfen wollte, wie viel ich davon behalten hatte; oder sollte ich sie durch Aufsagen lebendig halten, weil sie Angst hatte, dass sie allmählich im Nebel des Vergessens versanken, so wie ihre Erinnerung an die praktischen Dinge des Lebens verblasste?

An den warmen Abenden half ich Großmutter zu ihrem Lager auf dem Flachdach. Sie tat sich immer schwerer damit, die hölzernen Sprossen der Leiter zu erklimmen, und ich schob sie von unten, um, oben angekommen, mich an ihr vorbeizuschieben und sie das letzte Stück an den Handgelenken haltend auf den Boden hinaufzuziehen. Schwer atmend stützte sie sich auf mich, während sie sich auf ihr Lager aus verblichenen Teppichen und Decken niederließ. Unser Haus befand sich am Rand des Dorfes, vom Dach aus konnte man die Felder überblicken, die sich ringsherum ausbreiteten, und in der Ferne die violetten Schattierungen der Berge.

Während die Sonne allmählich hinter dem Horizont versank, saßen wir zusammen da und warteten, bis sich der Nachthimmel mit dem Mond und den Sternen über uns ausbreitete. Großmutter wusste um die Bedeutung der Sternenbahnen und kannte Geschichten zu den Sternbildern, die am Himmel zu erkennen waren. Mâdar Kalân erzählte mir, dass in unserem watan der Sichelmond männlich sei und dass von den Frauen erwartet werde, zu seinen Füßen zu sitzen und ihn anzubeten, so wie wir unsere Männer anbeten sollten. In anderen Gegenden sei der Mond indes weiblich.

»Ist es dann ein anderer Mond in jenen Gegenden?«, wollte ich wissen.

Sie schüttelte den Kopf. »Es ist wie mit dem Glauben an Allah. Nicht alle glauben an Ihn, sondern verehren ihre eigenen Götter.«

»Ist Allah nicht allmächtig?«, fragte ich, entsetzt über ihre Äußerung über Allah, den Barmherzigen.

»Nein, nur für jene, die Ihn anbeten«, sagte sie. »Es gibt so viele verschiedene Götter, zu denen die Menschen auf dieser Erde beten, ebenso wie der Mond bei den verschiedenen Völkern unterschiedliche Bedeutungen hat. Manche sagen, der Mond sei eine Frau – in üppigen Zeiten voll, dünn und blass hingegen in Zeiten der Not. Ich weiß nicht viel über Allah, mein Kind, aber etwas weiß ich« – sie deutete mit dem Finger gen Himmel –, »es gibt nur eine Sonne, nur einen Mond, aber unzählige Sterne, weit mehr, als es Menschen gibt.«

Während ich Großmutters Gesicht ansah – faltig und zerfurcht im Mondlicht –, fühlte ich mich an den runden, blassen Mond erinnert mit seinen Schatten und Unebenheiten. Plötzlich meinte ich zu verstehen, warum vor vielen Jahren jemand in einem weit entfernten Land ihr ihren Namen gab. Und ich beschloss, dass der Mond tatsächlich eine Frau sei. Was Großmutters seltsame Worte über Allah und andere Götter betraf, war ich mir hingegen nicht so sicher; vielleicht war es einfach nur ihrer zunehmenden Verwirrung zuzuschreiben.

»Denkst du, dass ich jemals einen der Orte sehen werde, an denen du gewesen bist?«, fragte ich.

»Ja, das wirst du. Das weiß ich, denn du bist mir ähnlich. Leute, die zufrieden sind, bleiben meist an einem Ort. Doch die, die es nicht sind, ziehen weiter, auf der Suche nach Zufriedenheit.« Sie sah in den Himmel. »Du hast jedoch eine Stärke in dir, die dir nicht so schnell erlauben wird, Zufriedenheit im Leben zu finden.«

Ich gab einen unwilligen Laut von mir, doch Mâdar Kalân fuhr fort, ohne meinem Protest Beachtung zu schenken: »Dieses Dorf – dieses Land – ist nicht die einzige Welt. Das wirst du mit der Zeit erkennen. Du bist stark, Daryâ. Und du wirst hier nicht zufrieden sein. Also wirst du weggehen müssen.«

»Und wohin werde ich gehen?« Ich verspürte ein dumpfes Gefühl der Angst in meinem Bauch.

Noch immer blickte sie in den Himmel und schüttelte ganz langsam den Kopf, so als würde sie mit einer unhörbaren Stimme streiten. »Und dort wirst du finden, wonach du suchst.«

»Wonach ich suche? Aber ich weiß nicht ...«

»Nein, du weißt es noch nicht. Aber eines Tages wirst du deine Stärke erkennen und mit ihrer Hilfe danach trachten, das Leben zu leben, nach dem du dich sehnst. Ein Leben, wie ich es einst kannte, wenn auch nur für eine kurze Zeit. Ein Leben, in dem du ganz und gar lebendig bist.« Dann schwieg sie.

Wenngleich ich noch jung war, verstand ich die Hoffnung, die sie in Bezug auf mich hegte. Dass ich nicht das Leben führen müsste, das meine Mutter und auch sie in ihren späteren Jahren lebte. Aber wie konnte ich dem entkommen? Ich kannte nur Susmâr Khord, das im Schatten des Hindukusch in einem tiefen Tal gelegene Dorf. Die Häuser, erbaut aus einer Mischung aus Lehm und Kalkstein und Stroh, standen auf kleinen, von niedrigen Lehmmauern umgebenen Grundstücken. Unser Grundstück umfasste neben dem Haus einen kleinen Verschlag zum Lagern von Vorräten, eine kleine Koppel für die Tiere, den Kochplatz, den wir im Sommer nutzten – einen erhöhten Sockel aus gestampfter Erde, wo wir auch das Geschirr und die Wäsche wuschen –, und den abgetrennten Bereich, wo wir unser Bedürfnis verrichteten. Im Schatten unserer Limonen- und Maulbeerbäume waren ein paar Teppiche ausgebreitet, dort empfing meine Mutter Besuch: Die Frauen konnten, das Gesicht unverschleiert, unter sich sein und sich unterhalten.

Mein Vater war ein Bauer. Die sorgsam geebneten Felder brachten stets eine gute Ernte: Die dünne, fruchtbare Erde in den südlichen Tälern des Hindukusch war durch die Bewässerungskanäle, die von den großen Gebirgsflüssen abzweigten, ausreichend mit Wasser versorgt. Sobald die kühleren Herbsttage kamen und das Getreide gedroschen und geworfelt war, ging Vater, wie die meisten anderen Männer im Dorf auch, seinem Wintergewerbe nach. Statt die kalten, unproduktiven Monate untätig in Susmâr Khord zu verbringen, packte er seine Gerätschaften zusammen und machte sich auf den Weg. nach Kabul, wo er sich als Zimmermann Geld verdiente, indem er die Häuser der wohlhabenden Städter instand setzte.

Mein Vater arbeitete hart, und er hatte geschickte Hände. Unser Haus hielt er in Ordnung und besserte es ständig aus. Hunger kannten wir kaum. Doch er war oft schlecht gelaunt, enttäuscht, und der Grund dafür lag darin, dass ein Mann, der nur eine Tochter hatte, allseits bemitleidet wurde. Er wünschte sich nichts so sehr wie einen Sohn, der ihm seine Selbstachtung zurückbringen und ihm bei der Arbeit zur Hand gehen könnte. Ich wusste, dass sich Vater anderen Männern des Dorfes gegenüber geringer vorkam, da er keine große Familie hatte. Vater und Brüder tot, gab es niemanden, mit dem er nach einem langen, heißen Tag auf dem Feld auf dem Dach sitzen und plaudern konnte. Und seine Mutter war nicht mehr in der Lage, die Schwiegertochter zu maßregeln oder ihr bei der Hausarbeit zur Hand zu gehen.

In unserem Haus gab es nicht die übliche Geschäftigkeit, die man von den anderen Häusern kannte, keine Kinderschar, die man ausschimpfen und mit der man vor anderen prahlen konnte.

Es gab nur mich.

Mit der Zeit ließ Vater seine Wut und Enttäuschung immer mehr an mir aus, er schlug mich, wann immer es eine Gelegenheit dafür gab: wenn ich ihm den Tee nicht rechtzeitig brachte, wenn ich nicht bemerkt hatte, dass der Wasservorrat im Wasserkrug fast zur Neige ging, wenn ich den Blick nicht senkte, während er mich schalt. Doch vor allem schlug er mich dafür, dass ich ein Mädchen war.

Im selben Maße wuchs meine Wut auf ihn. Die Gefühle für meine Mutter waren hingegen vielschichtiger. Ich liebte sie nicht mit dem gleichen hellen Gefühl, das ich meiner Großmutter entgegenbrachte, einer vorbehaltlosen, klaren Liebe. Ebenso wenig spürte ich das Gift des Hasses, das in meiner Brust brannte, wenn ich an meinen Vater dachte. Meine Mutter war schweigsam und von einfachem Gemüt. Sie tat, was man von ihr erwartete, passiv und duldsam. Darin unterschied sie sich in nichts von den anderen Frauen des Dorfes, wie ich beobachtete; sie bezogen ihre Zufriedenheit aus der Hausarbeit und der ruhigen Kameradschaft mit anderen Frauen und aus dem Großziehen ihrer Kinder. Ganz selbstverständlich erwartete meine Mutter von mir, dass ich beim Zubereiten der Mahlzeiten half, den Dielenboden fegte und am Morgen die Teppiche und Decken in unserem einfachen Haus ordnete. Dass ich glücklich mit diesem Leben war. Wenn sie sah, wie wenig Interesse ich dem Putzen und Nähen entgegenbrachte oder wie oft ich in meiner Hast, die Hausarbeit hinter mich zu bringen, eine Tasse oder einen Teller zerbrach, schüttelte sie den Kopf, die Lippen fest aufeinander gepresst.

Ich fand mitnichten Zufriedenheit in den lästigen Hausarbeiten, ebenso wenig wie wenn die Nachbarinnen zu uns in den warmen Hof kamen, um mit meiner Mutter zu tratschen. Immer war ich ruhelos, immer hatte ich das Bedürfnis, mich zu bewegen. Unter den anderen Mädchen von Susmâr Khord fühlte ich mich als Außenseiterin, und ich war anders als sie, auch anders als meine beste Freundin Gawhar. Diese Andersartigkeit teilte ich mit meiner Großmutter. Auch wenn sie im Dorf akzeptiert und respektiert wurde – ihr Mann, mein Großvater, hatte eine gewisse Machtstellung innegehabt –, hatte man in ihr stets die Ausländerin gesehen, selbst jetzt noch, da sie so alt war. Und fühlte ich mich nicht genau so? Obwohl in Susmâr Khord geboren, kam ich mir wie eine Ausländerin vor, unzufrieden mit den Zwängen meines einfachen und doch guten Lebens. Die Ursachen meiner Unzufriedenheit vermochte ich indessen nicht zu benennen. Kein Wunder, dass ich ständig Schwierigkeiten mit meiner Mutter hatte und mehr noch mit meinem Vater. Ich schaffte es einfach nicht, gehorsam zu sein.

In jenem Sommer, meinem elften, wurde ich zusehends angespannter und nervöser. Ich sehnte mich nach mehr als nach den täglichen Gängen zum Brotofen oder Brunnen auf dem Dorfplatz, mehr als abends auf dem Dach zu sitzen und in den Sternenhimmel zu blicken. Mâdar Kalân schlief jetzt die meiste Zeit, manchmal stand sie nicht einmal mehr von ihrem Lager auf, nachdem ich ihr geholfen hatte, sich zu waschen, und ihr das Frühstück gebracht hatte.

Ich wollte wissen, was der Mullah den Jungen in der Moschee beibrachte; ich wollte ihm zuhören, wenn er sie den Koran lehrte, den heiligen Worten lauschen, die aus seinem Mund kamen.

Wie die übrigen Gebäude des Dorfes war auch die Moschee lehmfarben, doch eine Wand im Innern war mit einem Mosaik aus Fliesen geschmückt, dem Lebensbaum, einem Symbol, das die dschinn bannen sollte. Die Fliesen waren mit verschiedenen Blautönen bemalt – Indigo und Kobalt, Azur und Türkis –, und ich wünschte, ich könnte die Hände über ihre kühle, lasierte Oberfläche streichen lassen. Hinter der Moschee lag ein staubiger, verlassener Hof mit uralten, knorrigen Maulbeerbäumen. Und auf diesen Platz, der scheinbar nie von Menschen aufgesucht wurde, zog ich mich eines Tages zurück, um den dröhnenden Stimmen zu lauschen, die aus der Moschee drangen. Ich wagte es nicht, durch ein Fenster zu blicken, aus Angst, der Mullah könnte mich sehen, also kroch ich langsam an der Wand entlang. Mit einem Mal sah ich zwischen zwei hohen, schmalen Fenstern einen Riss in der Mauer. Der Riss befand sich tief unten, sodass ich mich hinknien musste, um hindurchzuspähen. Dennoch erhaschte ich einen Blick auf das Innere der Moschee, sah die mir zugekehrten Rücken der Jungen, die auf verschlissenen Gebetsteppichen saßen. Vor ihnen stand der Mullah, den Koran in der Hand, und führte sie mit seiner tiefen, monotonen Stimme durch die Suren, die sie ihm nachsprechen mussten. Die Jungen wiegten sich rhythmisch mit dem Oberkörper vor und zurück, während sie die Worte des Mullahs wiederholten. Ich hatte das Gefühl, als ob dünne, unsichtbare Fäden, so dünn wie Spinnweben, ihre Worte mit denen des Mullahs verbänden, und seine Worte wiederum mit der Schrift auf der aufgeschlagenen Seite. Mit jeder Faser meines Körpers sehnte ich mich danach, diese Verbindung zu spüren, zu wissen, wie es war, wenn man etwas lernte.

Zu Hause hatten wir einen Koran auf dem Sims über der Tür; mein Vater hatte mir gesagt, ich dürfe das Buch niemals berühren, denn meine Hände würden es beschmutzen.

Doch an jenem Tag ging ich nach Hause und wartete, bis niemand im Haus war bis auf Großmutter. Unter ihrem schweigenden Blick nahm ich Vaters Koran in die Hand, ließ die Finger zärtlich über die rissigen, fleckigen Seiten streichen und betrachtete staunend die schwarzen, verschnörkelten Zeichen auf dem Papier, das so dünn, ja beinahe durchscheinend war. Es war die reinste Gotteslästerung, doch mein Drängen, ihre Geheimnisse kennen zu lernen, war stärker als meine Angst vor Strafe.

Am nächsten Tag verbarg ich die Heilige Schrift unter meinem langen Kleid, indem ich sie in den Bund meiner Unterhose steckte. Dann ging ich wieder in den staubigen Hof hinter der Moschee, kauerte mich neben den Riss in der Mauer und versuchte, mit dem Buch in der Hand, den Worten des Mullahs zu folgen und die wippenden Bewegungen der Jungen auf ihren Teppichen zu imitieren. Fast lautlos formten meine Lippen die Verse, während ringsumher die Hühner im Dreck scharrten und pickten und die Erde säuerlich roch und die Blätter der alten Maulbeerbäume in der Sommerbrise raschelten. Tag für Tag kehrte ich zu meinem Platz hinter der Moschee zurück, während meine Mutter annahm, ich würde beim Holzofen auf dem Dorfplatz sitzen und unser Brot bewachen. Ich rechnete nicht damit, dass man mich entdecken könnte.

Und auch wenn man mich erwischte, was würde schon passieren? Ich war es gewohnt, wegen meines Ungehorsams bestraft zu werden.

Wie konnte ich ahnen, dass es diesmal viel schlimmer werden würde?

ZWEI

Am Tag, als meine Welt aus den Fugen geriet, war es sehr heiß. Die Luft war still, nur gelegentlich war ein träger Windhauch zu spüren, der die schwüle Luft rührte. Ich kniete auf meinem gewohnten Platz im Hof hinter der Moschee, das Buch im Schoß. Die dröhnende Stimme des Mullahs verwandelte sich in das Summen eines großen Insekts, das mit dem der Fliegen auf meiner Stirn verschmolz. Immer wieder scheuchte ich sie mit einer raschen, ungeduldigen Handbewegung davon oder schüttelte angewidert den Kopf, während ich versuchte, mich zu konzentrieren. Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel, und die Blätter der Maulbeerbäume schützten mich nicht mehr vor den erbarmungslosen Strahlen. Gerade dachte ich, dass ich besser gehen sollte, als ein Schatten auf mich fiel. Ich sah nach oben, die Beinmuskeln angespannt und bereit, aufzuspringen und wegzurennen, doch es war nur Bassam. Er war ein paar Jahre älter als ich, ein einfältiger, eher harmloser Junge, der sich die meiste Zeit mit den kleineren Jungs herumtrieb, denn die Jungen seines Alters wollten nichts mit ihm zu tun haben. Was immer die Jüngeren ihn zu tun hießen, er folgte ihnen: meist dumme, demütigende Handlungen, die er bereitwillig ausführte, um dann von ihnen ausgelacht zu werden. Und während er sich zum Narren machte, strahlte er über das ganze Gesicht, zufrieden ob der Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde und die er für Freundschaft hielt. Doch bei der ein oder anderen Gelegenheit hatte ich auch schon einen anderen, schärferen Blick in seinen für gewöhnlich ausdruckslosen Augen wahrgenommen, so als wäre er sich einen flüchtigen Moment lang bewusst geworden, dass er nicht so respektiert wurde wie andere Jungen. In diesen Momenten verwandelte sich sein behäbiger, gutmütiger Charakter auf unerklärliche Weise, so als hätte ein spitzer Finger ihn schmerzhaft in den Hinterkopf gepiekst und eine dumpfe Saite in ihm zum Erklingen gebracht. Einmal hatte ich gesehen, wie er ein kleines Mädchen umstieß und mit dem Fuß auf ihre Finger trat. Ein andermal, als die anderen Jungen ihm davonliefen, hatte er einen kleinen Hund gepackt und ihm den Hals umgedreht, bis der ihm vor Schmerz und Verzweiflung in den Daumen biss, erst da ließ er ihn los.

Doch an diesem Tag lächelte er mich auf gewohnte Art mit offenem Mund und nassem Grinsen an. Ich legte den Finger an die Lippen. Er tat es mir nach und grinste noch breiter und entblößte seine speichelnassen, farblosen Zähne. Dann machte er wieder kehrt und ging, mit den Schuhspitzen einen Kieselstein vor sich her kickend, davon. Der Mullah erlaubte ihm nicht, am Koranunterricht teilzunehmen. Er war unfähig, sich zu konzentrieren, und störte die anderen Jungen.

Wieder wandte ich meine Aufmerksamkeit dem Koranunterricht zu. Doch kurze Zeit später fiel abermals ein Schatten auf mich. Schon wollte ich verärgert den Mund öffnen und Bassam sagen, er möge gefälligst abhauen, doch als ich aufblickte, sah ich meine Mutter. Sie packte mich am Arm, während ich gerade noch Bassams Hemdzipfel um die Ecke verschwinden sah.

Meine Mutter starrte mich ungläubig an, während sich ihre Finger schmerzhaft in meinen Oberarm gruben. »Daryâ. Was bist du nur für ein böses Mädchen«, flüsterte sie. Sie riss mir den Koran aus der Hand und bemerkte den Riss in der Mauer. Dann kauerte sie sich neben mich und beugte den Kopf, um ebenfalls einen Blick in die Moschee zu werfen. »Hier also treibst du dich herum und beobachtest die Jungen beim Unterricht! Du weißt, dass es nicht erlaubt ist. Senk deinen Blick, sofort!«

Doch ich folgte ihr nicht. Immer nur bekam ich zu hören, was alles mir nicht erlaubt war zu berühren, zu hören oder zu sehen. Nur weil ich ein Mädchen war. Ich schüttelte den Arm, um ihn aus Mutters Griff zu befreien. »Hör auf, du tust mir weh. Und ich soll also böse sein, nur weil ich die Heilige Schrift kennen lernen will?« Noch während ich die Frage stellte, wusste ich, dass sie keine Antwort darauf hätte. Manche Dinge sind nun mal so, ganz einfach.

Sie schnaubte ungeduldig, während ich sie noch immer finster anstarrte. Dann verstärkte sie ihren Griff und zog mich hoch. Ich zerrte ihre Finger von meinem Arm und ging voraus, den Kopf geradeaus gerichtet. Ich wollte nicht, dass jemand sah, wie sie mich behandelte. Ein paar Frauen, an denen wir vorbeikamen, schüttelten den Kopf darüber, dass ich es wagte, hoch erhobenen Kinns vor meiner Mutter herzugehen, mit langen, ungraziösen Schritten. Ich wusste schon lange, dass sie meine Mutter bemitleideten, dafür dass sie eine solch freche, eigensinnige Tochter hatte. Wahrscheinlich, so dachte ich im Vorübergehen, sendet die eine oder andere ein Stoßgebet zu Allah, um ihm für die eigenen bescheidenen, gehorsamen Töchter zu danken.

Im Haus angekommen, packte mich Mutter abermals am Arm und stieß mich auf den Teppich bei der Wand, ehe sie demütig den Koran an seinen Platz auf dem Regal zurückstellte. Für den Rest des Tages bekam ich weder etwas zu essen noch zu trinken. Meine Großmutter warf mir aus ihrer dunklen Ecke verständnisvolle Blicke zu, und ich wäre am liebsten zu ihr gerannt und hätte den Kopf in ihrem Schoß geborgen, so wie ich es oft getan hatte, wenn Mutter oder Vater mich schalten oder mich schlugen. Schließlich, als Mutter mir den Rücken kehrte, wollte ich aufstehen und zu Großmutter hinübergehen, doch sie schüttelte den Kopf, und ich wusste instinktiv, dass es diesmal etwas anderes war. Diesmal ging es nicht darum, dass ich Wasser verschüttet hatte, weil ich mit dem irdenen Krug zu schnell gerannt war, oder dass ich den Reis hatte anbrennen lassen, weil ich den Wolken nachgeblickt hatte. Es handelte sich nicht um so etwas Verzeihliches wie sich auf dem Feld zu verstecken, statt irgendeiner lästigen Pflicht nachzukommen, oder das Brot einer anderen Frau aus dem Ofen zu nehmen, damit unser Fladen endlich fertig gebacken werden konnte. Und es ging auch nicht darum, dass ich dem launischen alten Mann eine Grimasse gezogen hatte, der immer auf den Stufen des tschai-khâna saß, eine Tasse tschai – Tee – in der Hand.

Vielleicht, so dämmerte mir allmählich, war das, was ich getan hatte, tatsächlich mehr als bloß ein weiterer Akt meines kindischen Trotzes. Ich drehte mich von Großmutters besorgtem Blick weg und legte mich mit dem Gesicht zur Wand auf den Teppich, die Arme um den leeren Bauch geschlungen.

In meinem Kopf hämmerte es, mein Hals war in der Hitze ausgetrocknet und tat mir weh. Bald hörte ich, wie sich die schweren Schritte meines Vaters näherten, doch meine Mutter lief ihm entgegen, noch ehe er eingetreten war. Ich setzte mich auf und beobachtete den Eingang, hörte Mutters hektisches, nervöses Gemurmel und dann die lautere Stimme meines Vaters. Als er ins Haus hereinstürmte, war sein Gesicht dunkel vor Zorn, seine Lippen zu einem Strich zusammengepresst.

Er kam auf mich zu, und ich sprang hoch. »Du wirst bestraft werden für dein unmögliches Verhalten«, schrie er und starrte auf einen Punkt an der Wand oberhalb meines Kopfes, so als würde es ihn anwidern, mich anzusehen. »Ich werde es nicht zulassen, dass meine Tochter mich derartig zum Gespött des Dorfes macht.«

Ich wusste, dass es unrecht war, als Mädchen dem Mullah zuzuhören, dennoch konnte ich nicht verstehen, warum Vater dermaßen zornig war. Auch wusste ich, dass ich ihm besser nicht widersprach, daher starrte ich einfach nur in sein Gesicht.

»Senke deinen Blick«, brüllte er mich an, »und bedecke dein unverschämtes Gesicht.« Seine Hand schoss vor und zerrte an dem Schal, den ich um den Kopf trug, sodass er mir übers Gesicht fiel. Erst wenn ein Mädchen seine Monatsblutung hatte, musste es einen Schleier tragen.

»Ich habe im tschai-khâna ein Glas Tee getrunken und musste mir anhören, wie sich die anderen Männer über meine Tochter lustig machten. Im ganzen Dorf hat sich dein unmögliches, respektloses Verhalten herumgesprochen.«

Er baute sich so bedrohlich vor mir auf, wie ich ihn noch nie gesehen hatte: ein großer, wässriger Schatten vor dem dünnen Stoff meines Schals. »Hast du es immer noch nicht gelernt? Wagst du es noch immer, mir keine Achtung entgegenzubringen, mir in die Augen zu blicken, als wärst du mir ebenbürtig?«, schrie er, und ich sah zu Boden. Allmählich verstand ich, was ihn so wütend machte. Es war nicht allein das, was ich getan hatte, es war vor allem die Tatsache, dass ich ihn in den Augen seiner Freunde zum Narren machte. Er hob die Hand und schlug mich links und rechts ins Gesicht, und mein Schal rutschte mir auf die Schultern. Er hatte mich schon oft geschlagen, jedoch noch nie mit einer solchen Kraft. Der nächste Schlag traf mich so hart, dass ich zu Boden geschleudert wurde. Und immer wieder regneten die Schläge auf mich herab, trafen seine von der Arbeit kräftigen und schwieligen Hände auf meine Schultern und meinen Rücken. Ich hörte, wie Großmutter aufschrie, und rollte mich zusammen, als könnte ich mich so vor der Gewalt der Schläge schützen.

Doch dann zog er mich auf die Füße. »Ich werde dir zeigen, wie eine respektlose Tochter behandelt wird«, sagte er und zerrte mich quer durch den Raum. Ich war schockiert und bekam fast keine Luft, während ich hinter ihm her in das verblassende Nachmittagslicht hinaustaumelte. Zuerst dachte ich, er würde mich in den Hof bringen, um mich dort weiter zu verprügeln, doch dann zog er mich von unserem Haus weg, hin zum Dorfplatz.

Die Straßen waren so angeordnet, dass sie wie die Speichen eines Rads vom Zentrum aus nach außen verliefen, es gab keine Gassen, die quer zu ihnen verliefen. Ich war froh, dass zu dieser Tageszeit die meisten Menschen in den Höfen hinter ihren Häusern saßen, eingeschlossen in ihrem eigenen privaten Bereich, und hoffte inständig, dass nur wenige Leute mitbekommen würden, wie ich durch die Straßen gezerrt wurde.

Wir kamen am Dorfplatz an, einem großen Platz mit gestampfter Erde, beschattet vom Blätterdach der zahlreichen Walnuss- und Granatapfelbäume, die ihn säumten. Gegenüber des tschai-khâna ragte die Moschee auf, und neben dem Teehaus befanden sich der Brunnen und der Backofen.

Zuerst dachte ich, mein Vater wollte mich zum Brunnen bringen, um mich mit Wasser zu bespritzen und mich so von meinen bösen Taten reinzuwaschen.

»Dieses Mädchen hat Allahs Gesetze missachtet!«, rief er mit erhobener Stimme, sodass ich zusammenzuckte. Die beiden Frauen beim Backofen sahen in unsere Richtung und hielten in ihrer Arbeit inne. Am Eingang der Moschee und des tschai-khâna erschienen Männer. »Sie hat das Dorf auf unerhörte Weise beschämt, und man muss ihr dafür eine Lektion erteilen.« Ich konnte es nicht glauben, dass er meinen Ungehorsam in das ganze Dorf hinausschrie, dass er die Aufmerksamkeit aller Leute auf sich zog.

Während er mich in seinem rasenden Ingrimm am Brunnen vorbei über den Platz zerrte, dämmerte mir allmählich, was er im Sinn hatte, und mir wurde übel. Auf einer Seite der Moschee stand eine alte Platane mit einem Seil, das um einen hohen, dicken Ast gewunden war. Es war eine Art Schandpfahl, der ungehorsamen Jungen vorbehalten war, aber ich konnte mich nur an zwei Vorfälle erinnern, dass man dort einem Jungen die Hände hochgebunden hatte, und in beiden Fällen hatte es der Mullah getan und nicht der jeweilige Vater. Beide hatten sie sich etwas wahrhaft Schlimmes zuschulden kommen lassen, hatten sie etwas verbrochen, das man ihnen keinesfalls durchgehen lassen konnte, und alle Männer des Dorfes, einschließlich ihrer Väter, hatten die Bestrafung gutgeheißen. Das, was ich getan hatte, war auch nicht im Entferntesten vergleichbar mit ihren Taten.

Doch nun machte sich mein Vater daran, ein Seilende um meine Handgelenke zu winden. »Du willst wie ein Junge sein?«, murmelte er. »Nun, dann wird man dich behandeln wie einen ungehorsamen Jungen. Vielleicht wird dir das eine Lehre sein – dass Mädchen sich nicht verhalten, wie du es getan hast, und dass man sie hart dafür bestraft, wenn sie böse, unreine Gedanken haben.«

Er band den Knoten so fest, dass meine Finger sogleich zu prickeln begannen. Dann ergriff er das andere Seilende, das über ihm baumelte, und zog mir die Hände über meinen Kopf nach oben, so lange, bis nur noch meine Zehenspitzen die Erde berührten. Als Nächstes wickelte er das Seilende um einen dicken Holzkeil, der zu diesem Zweck in den Stamm gerammt worden war. Schließlich riss er mir den Schal vom Kopf und sagte: »Soll ruhig jeder deine Schande sehen.« Im Weggehen wirbelten seine Füße kleine Staubwolken auf.

Doch ich empfand nun keine Scham mehr. Ich blickte mich auf dem leeren Dorfplatz um und hoffte, dass die Leute alle herbeiströmten, damit ich ihnen meinen Stolz zeigen könnte. Sollten sie mich ruhig anstarren. Vater sollte sich schämen, nicht ich. So disziplinierte man keine Mädchen; das tat man in den eigenen vier Wänden, nicht unter aller Augen. Ich wusste, dass es den Menschen im Dorf peinlich sein würde, wie mein Vater mich behandelte, und dass sie sich nicht aus ihren Häusern heraustrauen würden. Sie würden den Anblick eines Mädchens, das wie ein wilder, ungebärdiger Junge auf dem Dorfplatz am Pranger stand, verstörend finden.

Allmählich schwanden mir die Sinne – ich hatte seit dem frühen Morgen nichts mehr gegessen und getrunken, meine Handgelenke und Schulterblätter schmerzten, und ich spürte die brennenden Striemen auf Wangen und Rücken. Der Kopf fiel mir auf die Brust; der Haarzopf hatte sich gelöst, und das Haar hing mir in Strähnen herab. Ich sah auf den Boden zu meinen Füßen hinab und nahm das seltsame Muster wahr, das meine Fußspitzen in den Staub gezeichnet hatten. Ein noch immer warmer Abendwind kam auf, und als er stärker wurde, begann mein Körper hin und her zu schaukeln. Die Zipfel meines Schals zu meinen Füßen kräuselten sich neckisch, ehe ein Windstoß den dünnen Stoff anmutig davonflattern ließ. Während ich sanft hin und her schwankte, hörte ich das rhythmische Knarzen des Astes über mir. Meine Arme fühlten sich taub an, doch meine Schultern schmerzten so stark, dass ich das Gefühl hatte, sie würden von meinem Rumpf abgerissen werden. Ich schloss die Augen. Nach einer Weile, die sich wie eine Ewigkeit anfühlte, glitt ich in einen seltsam träumerischen Zustand, in dem ich meinen Körper überhaupt nicht mehr spürte. Ich dachte an Allah. War das Sein Wunsch – dass ich so behandelt wurde, nur weil ich Sein Wort hatte hören wollen?

»Daryâ.« Einen verwirrten Augenblick lang dachte ich, dass Allah mich gerufen hätte. Doch als ich erneut meinen Namen vernahm, begriff ich, dass es die leise, sanfte Stimme meiner Großmutter war. »Daryâ«, murmelte sie, und ich hob den Kopf und öffnete die Augen. »Daryâ jan.«

Der Wind hatte sich gelegt, und kein Lüftchen rührte mehr die trockene Luft. Die Sonne war noch nicht ganz untergegangen, und am Himmel zeichneten sich rötliche Schattierungen ab. Das Zirpen einer Zikade erklang, und ihr hoher Ton vibrierte in der Luft des stillen Platzes. Es war, als wäre alles Leben im Dorf erstorben, während mein Körper unter dem knarzenden Platanenast kreiste. Mâdar Kalân hielt mir ein purpurrotes Stück Melone hin. Als sie den Arm ausstreckte, zitterte ihre Hand vor Anstrengung, während sie versuchte, mir die Frucht zwischen die Lippen zu geben. Ihr Gehstock lag zu ihren Füßen, während sie mit ihrer gekrümmten Hand erneut ein Stück Melone an meinen Mund führte. Ich merkte, was für eine Anstrengung es sie gekostet haben musste, hierher zu kommen; seit Monaten hatte sie das Haus mit ihren geschwollenen Gelenken nicht verlassen.

»Mâdar Kalân«, flüsterte ich und öffnete die Lippen.

Doch plötzlich, so als hätte man ihr die Beine unter dem Körper weggefegt, stürzte sie zu Boden, und ich sah Blut von ihren Schläfen tropfen. Das Stück Melone wie eine Blutspur im Sand neben ihr, lag sie zu meinen Füßen.

»Mâdar Kalân«, schrie ich, mit einem Mal aus meiner teilnahmslosen Benommenheit aufgeschreckt, »Mâdar Kalân!« Verzweifelt blickte ich mich auf dem leeren Platz nach Hilfe um, während mir seltsame Laute aus der Kehle drangen. Doch ich sah nur Bassam, der mit dem Rücken an einer Hausmauer lehnte, in der Hand eine Steinschleuder.

»Die alte Frau«, sagte er. Seine Stimme drang laut zu mir herüber, wo ich wie ein Insekt an einem Haken hing. »Sie hat ihren Platz nicht gekannt, genau wie du. Sie ist ungehorsam.« Dann lächelte er, das gleiche Lächeln, das ich früher an jenem Tag schon an ihm gesehen hatte, als er mich hinter der Moschee entdeckte. Und plötzlich wurde mir bewusst, dass sein Lächeln nicht leer und bedeutungslos war, sondern hinterlistig und durchtrieben.

Ich wandte den Blick wieder meiner Großmutter zu und sah, dass ihre Augen auf ihre leicht gekrümmte Hand starrten. Sie blinzelte müde, irgendwo bellte ein Hund. Ein Mann rief etwas. Eine Frauenstimme schrie angstvoll auf.

Ein paar Minuten später befreite mich mein Vater von dem Strick. Zuerst versuchte er, den Knoten, den er selbst geknüpft hatte, zu lösen, doch seine Hände zitterten zu sehr. Also zog er sein Messer aus der Tasche und schnitt das Seil durch. Ich fiel auf die Erde, meine Arme gefühllos und unnütz wie Steine. Unfähig, auf die Beine zu kommen, rutschte ich auf den Knien zu meiner Großmutter. Ein paar Frauen hatten sich bereits um sie versammelt, auch meine Mutter war darunter, wie ich an ihrem leisen Jammern vernahm. Mit Hüften und Schultern bahnte ich mir einen Weg zu meiner Großmutter. Meine Hände, die noch immer an den Handgelenken zusammengebunden waren, gehorchten mir nicht, also legte ich mein Gesicht an ihres und ließ es an ihren kühlen, ledernen Wangen, an denen ihr Blut klebte, ruhen. Sie roch nach den Mandeln, die sie so gern aß. »Mâdar Kalân«, flüsterte ich. »Es tut mir so Leid.«

Ihre Augen schlossen sich, und mein Vater trat vor, um sie auf die Arme zu heben, so mühelos, als wäre sie ein Kind. Die Menge öffnete sich zu einer Gasse, als er sie forttrug. Meine Mutter folgte ihm – laut klagend nun –, und schließlich gelang es mir ebenfalls, auf die Füße zu kommen. Mit den Zähnen zerrte ich das Seil von den Handgelenken und schleppte mich hinter meiner Mutter her, während meine Hände und Arme schmerzhaft brannten, als das Blut wieder zu strömen begann. Die Hände waren noch immer taub, leblos wie hölzerne Aufsätze an den Enden meiner Arme, und ich schüttelte und schüttelte sie, leise vor mich hin wimmernd.

Zu Hause legte ich mich auf das Deckenlager neben meine Großmutter, während meine Mutter sie vom Blut säuberte und ihr ein feuchtes Tuch an die Stirn hielt. Inzwischen war Yalda, die Hebamme, gekommen und untersuchte Augen, Gesicht und Hände meiner Großmutter. Sie hielt Mutter eine kleine Schale hin und hieß sie, einen Trank darin zuzubereiten. Nachdem Mutter die Zutaten gemischt und in gekühltem Tee aufgelöst hatte, nahm ich ihr die Schale aus der Hand und führte sie an Großmutters Lippen. Und später, als es längst dunkel und im Haus alles ruhig war, saß ich noch immer bei ihr und streichelte ihr das Gesicht. Ich musste irgendwann eingeschlafen sein, doch mit einem Mal hörte ich sie sprechen, nicht mehr als ein Gemurmel fremdländischer Worte.

»Was sagst du, Mâdar Kalân? Ich verstehe dich nicht«, sagte ich, indem ich mich auf einen Ellbogen stützte.

Sie drehte mir den Kopf zu und sah mich an. »Du bist doch noch gekommen, kleine Schwester«, flüsterte sie auf Persisch. »All die Jahre habe ich auf dich gewartet.« Dann wechselte sie wieder in die fremde Sprache.

»Nein, ich bin nicht deine Schwester. Schau, ich bin es, Daryâ.«

»Weine nicht um mich, Schwester«, murmelte sie. »Ich bin so glücklich, endlich ins Paradies gehen zu dürfen.«

»Nein«, sagte ich, »nein, du darfst noch nicht gehen. Bitte, Mâdar Kalân, bitte, bleib noch. Bleib.«

»Meine Daryâ«, sagte sie, und in der Dunkelheit sah ich, wie ihre Lippen sich zu einem schwachen Lächeln formten. »Wenn ich zu meinen Lieben im Paradies komme, werde ich wieder jung und schön werden wie der Sichelmond. Mein Liebster mit der blassen Haut, der Mann, der mich mehr als jeder andere geliebt hat, wird dort sein und auf mich warten. Und für immer und ewig wird er einunddreißig sein. Jetzt will ich zu ihm gehen, denn er wartet am Tor zum Paradies auf mich. Sei glücklich und freue dich für mich.«

Ich versuchte zu nicken, doch konnte ich ein Schluchzen nicht unterdrücken.

»Wirst du dich an das erinnern, was ich dir gesagt habe, Daryâ jan? Wirst du dich dafür entscheiden, für immer und ewig hier zu sitzen und den Mond zu betrachten, oder wirst du weggehen, um frei zu sein?«

»Wie kann ich wissen, wohin ich gehen soll, wenn du nicht mehr da bist, um mich zu führen, Mâdar Kalân?«, flüsterte ich und weinte. »Was meinst du damit, ich soll frei sein?«

»Du wirst es selbst wissen, wenn es soweit ist.« Ihre Stimme erstarb. »Meine Zeit ist gekommen, und ich werde jetzt ins Paradies gehen. Und du wirst dorthin gehen, wohin du gehen musst. Erinnere dich an deine Kraft, Daryâ jan, erinnere dich immer an deine Kraft.«

Ich sagte: »Ja, Mâdar Kalân, ich werde mich daran erinnern.« Dann schloss sie die Augen, und ein Seufzer so leicht wie das Wispern eines Blattes kam aus ihrem Mund.

Ich musste wieder eingeschlafen sein, doch beim ersten grauen Morgenlicht fuhr ich hoch. Ich sah, dass Mâdar Kalâns Augen an die rußige Decke starrten, ihr Körper war ruhig und steif geworden. Wieder weinte ich, obwohl sie mich darum gebeten hatte, glücklich zu sein. Meine Mutter trat neben uns und betrachtete uns beide, ehe sie meinen Vater holte. Ich blieb neben Großmutter liegen, den Kopf auf ihrer flachen Brust, bis Vater mich von ihr fortzog, damit die Frauen aus dem Dorf sie für die Bestattung zurechtmachen konnten. Meine Mutter flüsterte mir zu, dass Bassam jetzt statt meiner am Seil baumele. Sie blickte mich besorgt, ja flehend an, so als könnte diese Nachricht meinen Schmerz lindern.

Ich sah zu, wie die Frauen Mâdar Kalân wuschen und in ein weißes Leichentuch hüllten. Am Abend wurde ihr Körper von meinem Vater und seinen Freunden zum Friedhof getragen und in eine frisch ausgehobene, von Steinen gesäumte rechteckige Öffnung gelegt, der Erde zurückgegeben. Als wir in das stille Haus zurückkamen, hieß mich meine Mutter, ihr bei der Zubereitung des Brotes zu helfen, das anlässlich eines Todesfalls gebacken wurde. Es bestand aus Mehl, Zimt und Nüssen – und sollte den Leib meiner Großmutter darstellen, wie Mutter mir erklärte.

Während der nächsten vierzig Tage kamen nach und nach alle Bewohner des Dorfes, um bei Tee und dem süßen Brot mit uns zu trauern.

Am vierzigsten Tag wurden Koranverse gesungen, und Mutter und die anderen Frauen bedeckten sich das Gesicht und beteten. Auch ich betete; gemeinsam geleiteten wir so Großmutters Geist zur ewigen Ruhe.

Ich war mir jetzt sicher, dass sie tatsächlich die Erde verlassen hatte, um ihren Platz im Paradies einzunehmen. Mir war klar geworden, dass es in meinem Leben nie mehr jemanden geben würde, der mich so liebte wie sie. Und nie mehr würde jemand sagen, wie stark ich sei.

Doch ich würde ihre Worte nicht vergessen und mich immer daran ermahnen, was sie mich zu tun geheißen hatte, wusste ich doch, dass sie mich vom Paradies aus beobachtete. Ich wollte sie keinesfalls enttäuschen.

DREI

Mâdar Kalân war stets in meinen Gedanken. Nach ihrem Begräbnis gingen die Tage und Wochen im Dorf dahin, gleich dem steten Trott eines treuen Esels. Wenn ich allein war und im Hof Teppiche klopfte, zum Brunnen oder Backofen ging, Schaf- oder Ziegendung als Brennmaterial auf dem Feld einsammelte oder einfach nur auf dem Dach saß, sagte ich die persischen Gedichte auf, die sie mich gelehrt hatte, oder sang ihre Lieder. Ich dachte an die fernen Orte, die sie mir beschrieben hatte, doch wenn ich sie mir vorzustellen versuchte, wie auch die Städte unseres Landes, von denen mein Vater mir ab und zu erzählte – Kabul, Dschalalabad, Herat oder Kandahar –, schienen sie unwirklich. Es war, als ob mir Bilder vors Gesicht gehalten würden und ich durch sie hindurchblickte; ohne die Gegenwart meiner Großmutter waren sie leblos und flach und drohten, immer mehr zu verblassen. Im Dunkeln hingegen, wenn das Tageslicht sie nicht verwässerte, schienen sie an Klarheit und Helligkeit zu gewinnen. So bewahrte ich diese Bilder in den Tiefen meines Bewusstseins und ließ sie nur vor mein geistiges Auge treten, wenn ich im Dunkeln lag und auf den Schlaf wartete.

Es war wieder Sommer geworden; mein zwölfter Geburtstag war vorüber, und Mutter sagte, dass bestimmt bald meine monatliche Zeit kommen würde. Ich wuchs jetzt sehr schnell – meine Kleider und Unterhosen wollten mir nicht mehr recht passen –, und mein Körper veränderte sich zusehends, doch meine Regel ließ noch auf sich warten. Der heiße Wind heulte und jammerte mit ungewöhnlicher Hartnäckigkeit, und es gab noch mehr Fliegen als sonst. Wegen Wind und Fliegen hielten wir die hölzernen Fensterläden geschlossen, und im ganzen Haus stand die Hitze und machte einem das Atmen schwer.

Meine Mutter wippte mit dem Oberkörper vor und zurück und wimmerte vor sich hin, während sie auf dem Boden kniete. Ich flehte sie an, damit aufzuhören, aufzustehen und sich zu waschen, etwas zu essen. Ich hielt ihre Hände in den meinen, und trotz der Hitze fühlten sie sich kühl und spröde an. Ihr Bauch war wieder geschwollen. Die letzten drei Male – die Male, an die ich mich erinnern konnte, denn davor war ich noch zu klein – waren die Babys tot zur Welt gekommen. Jedes Mal war es ein Junge gewesen. Meine Mutter sagte, sie habe eine Vision: Es würde wieder passieren, wieder würde es ein Junge sein, ein toter Junge, doch diesmal würde auch sie sterben.

Nichts vermochte sie zu trösten.

Wieder und wieder weinte und jammerte sie; wenn wenigstens ich, ihr einziges Kind, ein Junge wäre, dann wäre ihr Leben anders verlaufen. Aber nein, ihr einziges lebendes Kind war ein nutzloses Mädchen, welch ein Unglück! Wenn ich ein Junge wäre, dann könnte ihr Mann hocherhobenen Hauptes durch das Dorf gehen, und sie hätte die Gewissheit, dass sie im Alter von einem starken Sohn unterstützt und von der Schwiegertochter verehrt und respektiert werden würde.

Jedes Mal, wenn sie so etwas sagte, fühlte ich einen schmerzhaften Stich im Kopf, hinter dem linken Auge, und ich glaubte, es sei Traurigkeit. Bis ich merkte, dass es etwas anderes war – Wut–, und mit einem Mal wurde mir bewusst, dass ich in diesen Momenten meine Mutter für ihre Worte hasste. Als sie wieder damit anfing, schrie ich sie an und schlug ihr vor Wut die Tasse Tee aus der Hand. »Ja, ich bin ein Mädchen! Ein Mädchen. Was willst du, dass ich tue?« Ich klopfte mir mit der Handfläche gegen die Brust. »Soll ich mir die Brüste abschneiden?«

Meine Mutter wich vor mir zurück, als hätte ich sie geschlagen. »Daryâ«, sagte sie atemlos und starrte die umgekehrt daliegende Tasse an, aus der sich der Tee auf den Teppich ergossen hatte, »wie kannst du nur so mit mir reden? Wie kannst du nur deine eigene Mutter so respektlos behandeln? Ich werde es deinem Vater sagen, wenn er nach Hause kommt.«

»Sag es ihm«, sagte ich leise, aber mit harter Stimme. Ich stand auf und stampfte auf die Tasse, sodass sie zerbrach, dann trat ich die Scherben mit dem nackten Fußballen in den Teppich. Ich spürte, wie die scharfen Tonsplitter mir ins Fleisch schnitten, doch der Schmerz verschaffte mir ein seltsames Gefühl von Befriedigung. »Dann wird er mich eben wieder schlagen.« Ich senkte die Stimme, beugte mich zu ihr hinab und starrte ihr ins Gesicht. »Er sagt immer, dass du schuld an meinem Verhalten bist, weil du mich nicht richtig erzogen hast. Und jedes Mal, wenn du ihm von meiner Ungezogenheit berichtest, zeigst du ihm, dass er Recht hat Also sag es ihm ruhig. Weine und bettle um Mitleid und sag ihm, dass Allah dich verdammt hat, indem er dir eine böse Tochter gab.«