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Die Landschaft im Gebiet des Teufelsmoors bei Bremen ist rau und karg und prägt die wenigen Menschen, die dort leben, heute wie auch in der Zeit dieses großen Kulturromans im 19. Jahrhundert. Solange Ham Rugen dort der Schmuggelei nachgehen konnte, gab es in seinem Leben Abwechslung und er litt nicht an Einsamkeit. Als später dem Schmuggelwesen die Grundlage entzogen ist, siedelt er andere Menschen in seiner Nähe an. Bald sind es die Böschens und die Klüwers, die in dieser Gegend arbeiten, ihren Sehnsüchten nachgehen, lieben und sterben. Ein eindrucksvoller, groß angelegter Heimat- und Liebesroman.Max Geißler (1868–1945) war ein Meister spannender, realistischer Heimat- und Tier-Romane. Geißler absolvierte eine Ausbildung zum Buchhändler, anschließend bekam er eine Anstellung in Frankfurt am Main als Redakteur beim Frankfurter Generalanzeiger. 1899 wechselte er in gleicher Position nach Dresden, wo auch sein Sohn, der spätere Schriftsteller Horst Wolfram Geißler geboren wurde. Nach ersten Erfolgen als Schriftsteller ließ sich Geißler zusammen mit seiner Familie in Weimar nieder. Nach dem Ersten Weltkrieg ging Geißler zurück nach Dresden und von dort aus später nach Capri. Dort starb er am 26. Februar 1945. Bereits im Jahre 1907 erschien von ihm der Roman "Inseln im Winde". Bekannt wurde er vor allem mit seinem Roman "Der Heidekönig" aus dem Jahre 1919.-
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Seitenzahl: 507
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Mit Federzeichnungen von I. v. Eckardstein
Siebentes und achtes Tausend
Saga
„Dat wier damals, as de Smuggelei noch in Gang wier,“ sagte Ham Rugen. Mit diesen Worten begann der alte Mann alle seine Berichte, mit diesen Worten schloss er sie: „Jaja, dat is all so, un dat wier damals, as de Smuggelei noch in Gang wier.“
Und wenn er so gesprochen hatte, war’s, als schaue sein Auge in eine andere Zeit. Um diese Zeit trauerte Ham Rugen.
Er hatte mit „de Kontrolörs“ manchen Kampf gekämpft, wenn er aus Bremen heraus in das Moordorf Tabak, Salz, Zucker, Kaffee geschmuggelt hatte. Im Winter ging’s über eisige Weiten, über die der Schneewind stob. Je wilder der dreinfuhr und je schwärzer die Nacht war, desto frohgemuter schlug Ham Rugens Herz.
Im Schutze der Nacht war alle Wachsamkeit der „Kontrolörs“, die so scharf hinter ihm drein waren, eben doch nicht rege und ihre List nicht gross genug, Ham Rugen in die Falle zu locken. Wenn die Beamten mit geladenem Gewehr, das so rasch von ihrer Schulter flog, sich hinter Busch und Rohr auf die Lauer gelegt, so stapfte Ham Rugen lächelnd auf moorigem Pfad anderswo der heimischen Hütte entgegen und überdachte zufrieden den Gewinn, den ihm der nächtliche Schleichgang abwarf.
Mehr als einmal hatten ihn die Kugeln der „Kontrolörs“ umpfiffen. Aber selbst an jenem grauen Spätherbstmorgen, durch den der Regen in die Nebel peitschte, war er nicht in die Hände der Zollbeamten gefallen. Das war damals, als sie ihm hart auf den Fersen waren und drei Schüsse hinter ihm geknallt hatten. Die Nebel flatterten zwischen ihn und seine Verfolger und schützten ihn. Weil aber die Schritte der Kontrolleure auf seiner Fährte folgten, flüchtete er auf die Diele von Jan Gerkens Haus.
Von der Diele führte die Leiter ins Heu unters Dach. Die stieg er empor. Vor dem Hause vernahm er die Stimmen der Männer, die ihn suchten. Sie entfernten sich; durch die Luke im Giebel erspähte Ham Rugen, wie sie sich — zu fünft — im Nebel des Graumorgens verloren. Sie wollten seiner heute allen Ernstes habhaft werden.
Jan Gerken und seine Leute waren im Torf. Die Kühe liefen, unter Decken, noch auf der Weide. Nur der Fuchs stand zu seiten der Diele; der hatte sich Drüsen geholt, und Jan Gerken hatte ihm eine wärmende Hülle um den Kopf geschlungen.
An den Fuchs dachte Ham Rugen, während er lauschend unter dem Heu lag. Dann knüpfte er seine Säcke so aneinander, dass er sie vor sich auf den Rücken des Pferdes legen konnte, band den Gaul los, zog ihm eine Leine, Zaumzeug und Zügel zugleich, durchs Maul, und in sausendem Galopp stob er quer über die Weiden durch die Reihe der Beamten hindurch und verschwand im Nebel. Die Kugeln, die sie ihm nachschickten, suchten ihn vergeblich.
Aber es fiel Ham Rugen nicht ein, auf dem Fuchs bis zu seiner einsamen Hütte zu reiten.
Unterwegs, als kein Hufschlag den Verfolgern verriet, wohin er sich gewendet, stellte er Jan Gerkens Fuchs in den Stall eines einsamen Gehöfts, auf dem kein Mensch daheim war. Sie luden draussen Torf; und am Nachmittag erschien Ham Rugen, um die erstaunten Leute, die den Fuchs aus Vieland an der eigenen Krippe vergnüglich kauend vorgefunden, über den Gang der Dinge aufzuklären.
„Dat hat he fien makt,“ sagten die lachend, die von der Geschichte hörten; und ähnlich dachte auch Ham Rugen, als er auf dem „Totenweg“ in die Nacht hineintrabte, um Jan Gerken sein Rösslein wiederzubringen.
„Dat wier en anner Tiet, as de Kontrolörs noch in Gang wiern.“
In jener andern Zeit war Ham Rugen alt geworden; und die wenigen Jahre, seit denen andere Gesetze gekommen und das einträgliche Gewerbe des Schmuggels nicht mehr bestand, hatten ihn überflüssig gemacht.
„Was will einer auf der Welt, wenn’s nix mehr zu schmuggeln gibt?“ fragte Ham Rugen. Und die, denen er in einem Moordorfe diese Frage vorlegte, waren mit ihm darüber einig, dass „de olle Tiet en better Tiet wesen“ und die neue nichts gelassen habe, als die harte Arbeit im Moor.
Nun standen die Menschen den Tag über draussen mit Esker und Spaten, an den Füssen die breiten Brettholzschuhe, und schaufelten den nassen, schweren „Klipp“ aus den unteren Moorschichten herauf, traten und schnitten den Backtorf und wurden stiller denn je.
Ham Rugen aber arbeitete nicht. Er hatte die Taler, die ihm der Schmuggel eingebracht, im Strumpf unter dem Bettstroh verborgen, das heisst, so viel ihrer noch übrig geblieben waren nach dem Bau der Hütte, die er sich mitten ins Moor gesetzt.
Das war durch zehn Jahre weitum die einzige. Ham Rugen hatte sie in den Schutz regellos, aber dichtstehender Moorkiefern geborgen, hatte zwei Reihen Pfähle schräg in den Torf getrieben, so dass die sich mit den oberen Enden berührten und fest auf einem Querbalken ruhten. Über die Pfähle hatte er in einer dicken Schicht das Rohr des Moores gelegt. Den First umkleidete er mit hartem Heidesoden. Die gezäunten Giebelwände, in deren einer das Fenster, in deren anderer die Tür sich befand, bewarf er mit Lehm. Und als er unter dem Dache noch sein Strohlager von der Diele geschieden und in der andern Ecke für die Hühner eine Horde und für die Ziege einen Stand geschaffen, dachte Ham Rugen, das habe er fein gemacht, und meinte, er könne in diesem Hause wohl eine Frau brauchen.
Während er rings um die buschigen Kiefern einen Graben ins Moor schaufelte, welcher die Wasser sammeln und in den Schiffgraben führen sollte, der in die Hamme lief, dachte er ans Freien. Aber so „en Frugensminsch“ ist von zu ängstlicher Art, und für einen Mann, der auf den Schleichwegen der Schmuggler geht, ist kaum eine gemacht.
Und dann — ja, Ham Rugen dachte auch, er sei noch zu jung zum Freien. Zwar: seine Haare waren grau geworden. Aber mit achtundfünfzig Jahren kann einer noch Kinder haben — das Geschick hat närrische Einfälle, und Ham Rugen hatte das Gefühl, als werde es ihn in diesem Punkt überlisten. Im übrigen getraute er sichs schon zu meistern.
So war das Freien mit allerhand Gefahren verknüpft, und mit den Worten: „Täuw noch en beten, Ham“, stieg er aus dem Torfgraben, den er in den braunen, weichen Grund gestochen, und vergass im eintönigen Laufe der Tage, dass er durch eine kurze Spanne Zeit den Gedanken erwogen, ein Weib in die Einsamkeit der Moorhütte zu führen.
Tagelang rief ihn sein lichtscheues Gewerbe aus der Hütte fort.
Die Hühner pattelten in dem Heideried und plusterten sich in der Sonne. Wollte eine für Ham Rugen ein Ei legen, so schlüpfte sie durch das Loch im Dielentor und fand ihren Weg durch das dämmerige Licht des lautlosen Raumes zum Neste.
Die Ziege stand angebunden vor der Hütte. Ham Rugen hatte ihr ein Dächlein aus Heidekraut gebunden. Dort fand sie Unterschlupf, wenn ein Wetter über das Moor niederging.
Und dann kam die Zeit, in der das Schmuggeln von Bremen heraus übrig wurde — die traurige Zeit, die Ham Rugen über Nacht zu einem trutzigen Schweiger machte, der sich plötzlich in die schwere Eintönigkeit eines Lebens verbannt sah, mit dem er nichts anzufangen wusste.
Ham Rugen hasste diese Arbeit, dieses armselige Mühen im Torf, dieses Hacken und Roden — schon der Gedanke, dass er zu einem Moorbauern in Tagelohn treten sollte, machte ihn verdriesslich.
„Gotts Dunner“, fluchte er und schimpfte auf die „Kontrolörs“, weil sie nicht mehr da waren. Die hatten wenigstens für Kurzweil gesorgt; ihretwillen musste einer doch offene Augen und feine Ohren, flinke Beine „un en grote Portschon“ Schlauheit besitzen.
Nun war das alles überflüssig geworden, wie Ham Rugen selbst. Allmählich schwand das ruhlose Umherblicken seiner Augen, die sich gewöhnt hatten, von ferne durch jeden Busch im Moor zu dringen und kein Wehen des Rohrs an den Torfgräben oder im Wiesenland zu Seiten der Hamme unbeachtet zu lassen. Und in sein Auge kam eine freudlose Müdigkeit.
Langsam gingen die Jahre.
Ham Rugen sass durch den rauschenden Spätherbst und den wehenden Winter an der Feuerstatt auf der Diele und starrte in den glimmenden Torfbrand. Ein feiner Rauch wirbelte aus dem lautlosen Glimmen empor und machte das Gebälk des Hauses schwarz und glänzend. Er spann unter dem Rohrdach hin, er spann unter dem oberen Querbalken der niederen Hüttentür in sanftem Blau hinaus. Aber er legte seine Schleier auch ganz leise über Ham Rugens blanke, fernhinschauende Augen.
Und langsam gingen die Jahre.
In den Tagen, in denen Ham Rugen ein Birkenreis auf das andere legte und Besen band — mehr, um sich die müde, schleichende Zeit zu kürzen, als die Besen um karge Pfennige einem Bauern zu verkaufen — dachte er wieder daran, ein Weib zu nehmen.
Er legte die Handvoll Birkenreiser beiseite, griff in die Hosentasche und nahm mit Daumen und Zeigefinger ein wenig schwarzen feingeschnittenen Tabak aus dem zerknüllten Papier. Ham Rugen priemte den Rauchtabak. Er schob das Knöllchen behende zwischen Lippe und Kiefer. Dann legte er die Arme mit den Ellbogen auf die Knie und starrte in den glosenden Torf. Im russigen Kessel sang das teebraune Moorwasser.
„Dat’s nu ok tau lat“, sagte er — „zu spät zum Freien! Nun, da einer keine Arbeit hat, kein Geld ins Haus bringt und keine Freude mehr am Leben hat — da ist’s zu spät!“
Er ging, setzte sich auf das Bett und wühlte im Stroh — da war der Strumpf. Er zählte — zählte: 76 Taler.
Das war freilich ein schön Stück Geld und reichte zum leben, reichte noch manches Jahr, auch wenn Ham Rugen nicht arbeitete. Für einen, der nicht mehr schmuggeln kann, nicht in Bremen in der Schifferkneipe die Nacht erwarten muss, für einen, der toteinsam im Moore sitzt und nur Kartoffeln und Buchweizen zu kaufen braucht, reicht das über Jahre.
„Hm“, machte Ham Rugen, „Bookweetzen un Kartuffeln?“ —
Die andern bauten sie ja auch selber. Warum sollte er so etwas kaufen für sein mühsam erspartes Geld? Dieses Geld für Dinge ausgeben, mit denen er das im Grunde verpfuschte Leben fristete? Ja, die andern hatten aber Streifen Landes, die sie im Schweiss ihres Angesichts ertragfähig gemacht hatten! ...
Der Winterwind heulte über das Moor und warf Schnee gegen die Scheiben.
Da ward das Licht in der Hütte Ham Rugens noch dämmeriger. Um das Gebälk spann die langen Tage der Rauch des Torffeuers und bräunte den Speck, der in den Wiemen hing. Den hatte Ham Rugen ungeräuchert für Waren eingetauscht, als noch die fröhliche Zeit des Schmuggelns war.
„Ä!“
Er schob die Glut auf den Klinkersteinen mit einem Stück Torf zusammen und warf den braunen Brocken hinein.
„Ä, dat’s en karge Tiet“, murmelte er unwillig und sann in den Frühling.
Arbeiten? Ja, wenn die Arbeit nicht so reichlich und nicht für einen andern ist — da lässt sich das schon überlegen.
Und als die Aprilwinde sausend über das Moor fuhren, stand Ham Rugen wahrhaftig im Torf. Das Gerücht, dass er arbeite, flog durch die fernen Häuser der Moordörfer. Es waren Leute gekommen, die hatten Ham Rugen mit ihren eigenen Augen Torf stechen sehen.
Rings um die Hütte schichtete er die dunkelbraunen Torfziegel zu Haufen und stach den Graben, den er im Vorjahr angelegt, um zwei Fuss breiter, damit er für den flachen Kahn, den ‚Seelenverköper‘, schiffbar werde, den er noch aus der ‚andern‘ Zeit besass und der nun zwecklos, wie er, sein Leben fristete. Er dachte, er wolle den gewonnenen Torf auf dem kleinen Kahne zu einem Schiffgraben führen und von dort aus in einem der fernen Dörfer zum Verkauf bieten.
Ehe der Frost der Spätherbsttage kam, sah Ham Rugen die Mühen des Sommers belohnt. Wenn jemand einen Hunt Torf bei ihm bestellte, lieferte er weniger und schwur, er wolle sich den Tod trinken, wenn es kein ganzer sei. Ham Rugen wusste viel zu genau, dass er im nächsten Jahre, weil er betrog, keine Hand voll verkaufen werde, und dachte die Gunst der Stunde zu nützen.
Er hatte seinen Vorrat früh genug verhandelt. Was noch vorhanden war, stand geborgen unter dem Dache der Hütte, damit es der Frost nicht zerfriere.
Er hatte die Giebelwand, in der sich das Fenster befand, an der Innenseite dicht mit Torfziegeln versetzt. So gedachte er der Winterkälte von dieser Seite her den Eingang zu wehren. Der Lehm an der gezäunten Wetterwand war brüchig geworden, und da und dort begann der Wind sich ein Loch zu wühlen, durch das er heimlich hindurchlangen und den morschen Lehm während des Winters stückweis herausbrechen wollte.
Aber in diesem Jahre geschah es, dass der Himmel weit in den Oktober hinein wie eine blanke Kuppel über dem Moore stand. Die Nebel wälzten sich des Morgens nicht in trägen Ballen schwerfällig über dem braunen Lande, wie sonst in den Tagen des nahen Novembermonats. Sie spannen in schneeweissen Flächen über dem Moor und schlugen sich unter dem blitzenden Lichte der Sonne als blanker Tau ins Ried. Das Wollgras wehte noch, und über dem Riede der Heide lag das Rosa der Blüten fast mit dem gleichen sanften Leuchten wie im August.
Da begann Ham Rugen das Heidekraut über eine Strecke abzuhauen und trug es in seine Hütte. Dann fuhr er in dem flachen Kahne Sand von entfernter Stelle des Landes, mischte den schwarzen Moorboden damit und stürzte ihn. Er dachte, der Winter solle mit seinem Froste hineinfrieren und das Land mürb erhalten. Aber wenn er zwei Spatenstiche tief in das Erdreich drang, füllte sich die Vertiefung mit sanftrinnendem braunen Gewässer.
Da beschloss Ham Rugen, er wolle noch mehrere tiefe Gräben ziehen, in welche die zu reichliche Feuchtigkeit seiner kleinen Felder rinnen könne, und sehen, ob er dadurch ein Land erziele, das für den Anbau der Kartoffel in dieser Gegend des Teufelsmoors geeignet sei.
Und wie hernach das Licht der Herbstsonne doch endlich in den schweren, dumpfigen Nebeln des Novembers erlosch, und wie der Regen in grauen Saiten in das Moor regnete, kam er Ham Rugen noch viel zu früh.
Der stand immer noch gebückt mit der Heidelee in der Hand und sichelte das kniehohe Kraut dicht über dem Boden ab; denn er hatte geplant, im Spätjahr ein Stück Moor zu brennen und in die Asche den Samen des Buchweizens zu streuen. In die mannshohen Haufen der Heide, die er aufgestapelt, legte er den Torfbrand, und der Wind kam und blies die Glut zur Flamme. Prasselnd schlug sie empor, und der Regen zischte darein, und der Wind riss Fetzen grauen Rauchs von den brennenden Haufen und warf sie in die Nebel.
Wie Ham Rugens Feuer ausgelöscht waren, stob der Winter über die Moorflächen und sang um den First der Hütte.
Alles war gestorben in dieser Einsamkeit; und wenn auch der Wind sich müde gelaufen hatte, dann kam nur hin und wieder das Krachen des Eises von den Schiffgräben der Ferne herüber.
Ham Rugen sass in seiner Hütte am rauchigen Torfbrand und dachte, ob er das begonnene Werk wohl weiterführen werde? Manchmal war er allein mit dem einzigen Gedanken, es könne die Stunde kommen, wo die Glut auf den Klinkersteinen verlöschen werde, ohne dass er es wahrnehme, die Stunde, in der die Ziege nach Futter verlange, ohne dass er ihr mahnendes Meckern höre.
Ham Rugen zog das schmutzige Papier aus der Tasche, in dem der schwarze krause Tabak sich befand.
Es fror ihn leis ins Herz. Er stand auf von dem Schemel, auf dem er gesessen und von dem aus er schweigsam in die Glut gestarrt hatte, und schritt über die Diele.
Draussen wirbelte der Wind den feinen Schneestaub vom Heidesoden des Firsts herab und hatte einen silbernen Streifen durch den Spalt der handbreit geöffneten Tür geweht.
Der Alte strich wie liebkosend über das weisse Fell der Ziege und legte sich auf das Stroh seines Bettschranks. Er schloss die Augen. Er lauschte, wie der Wind den körnigen Schnee gegen die Scheiben klirrte, lauschte, wie das Pendel der Uhr im Kasten in dumpfen gemessenen Schlägen schlug.
Ham Rugen dachte: das ist der Schritt der Zeit. So wandert sie immer, ohne Rast, ohne Ruh, und ich habe sie dennoch nie schreiten hören. Warum vernehm’ ich ihr unaufhaltsames Wandern denn nun heute? Sie läuft vernehmbarer, sie läuft gewichtiger, wenn der Mensch an ihrer Hand in die Nähe des Grabes gelangt ist. Das ist’s!
Dann dachte er auch: Es ist der Tod, den ich wandern höre; denn keiner schreitet mit so gemessenem Schritt und in unbeirrtem Gleichmass über dies winterliche Land, auf dem sich dem Fuss allenthalben ein Hindernis entgegenstellt. ...
Die Tür knarrte. Ham Rugen richtete sich erschreckt empor und steckte den Kopf aus dem Bettkasten, zu sehen, wer da komme.
Der Wind hatte gegen die Türe gestossen.
Der Wind — ja der Wind wird dann auch über das Moor fegen, von Haus zu Haus laufen und durch die Ritzen der Türen und Fenster heulen: Ham Rugen ist tot, Ham Rugen ist tot!
Aber die Leute werden ihn nicht verstehen.
Dann muss der tote Mann wochenlang auf dem Stroh liegen, und die Ziege, die angebunden hinter dem Gatter steht, muss verhungern; und wenn endlich von ungefähr ein Mann aus dem Moore des Weges kommt, wird der Mann sehen, dass die Tür zu Ham Rugens Hütte offen steht und der Wind mit ihr spielt. Und weil der Mann den Rauch des Torfbrands nicht unter dem Türbalken hervorspinnen sieht, wird er einen Augenblick still stehen und denken: „Warum hat Ham Rugen das Feuer ausgehen lassen?“ Da wird ihm der Wind einen Geruch von Moder und Verwesung um das Gesicht wehen ...
„So sterben die Hunde auf der Heide,“ sagte Ham Rugen, stand vom Lager auf und band die Ziege los.
Ich will sie nun immer frei umhergehen lassen und die ganze Hütte mit ihr teilen, dachte er, damit sie Futter findet, wenn es doch einmal kommt, dass der Tod die Hütte im Moor betritt.
Und wie die weisse Ziege, des Strickes ledig, dennoch nicht auf die Diele heraustrat, deren Grund nur aus hartgestampftem Lehm bestand und nicht mit Brettern belegt war, vergass Ham Rugen sein Sinnen nicht.
Er schürte mit der Torfzange den Brand ein wenig und überlegte, warum ihm wohl jetzt eine Furcht in das Herz gekommen. Er dachte: die Einsamkeit macht die Menschen, die in ihr leben, tiefer als andere, die im Getriebe des Tages hinhasten. Und der Mensch im Moor, der selten mit andern zusammentrifft, und auch Ham Rugen, der vordem in rastloser Hast seine Tage verlebt, hat sich gewöhnt, an Dinge zu denken, die er vorher gar nicht gesehen und gefühlt hat. In der Einsamkeit wird man sich selbst besser Freund.
Oder es kam ihm noch ein anderer Gedanke: ob er sein Herz an das Werk gehängt habe, das er im vorigen Jahr begonnen, und ob er fürchte, es nicht zu Ende bringen zu können, weil ihm der Tod die Hacke aus der Hand nehmen werde ...
Es war eine sonderliche Zwiesprache, die Ham Rugen mit seiner Seele hielt. Er forschte, er drang in sie.
Aber es war, als ob diese Seele, um die er sich sein Lebtag nicht gekümmert hatte, ihn nicht verstehe, oder ob sie das Sprechen verlernt habe. Sie war verkümmert. Und Rugen dachte, er wolle sich noch mit ihr auseinandersetzen. Zeit genug, in sie hineinzuhorchen, habe er ja wohl.
In den Mooren war das feine Rinnen der Wässer, das man nie zwischen den braunen Schollen, nie in dem weichen, schwarzen Grunde hört, als in der Zeit, da der Frühling in goldenen Schuhen durch das Heidegestrüpp wandert.
In diesen Tagen des jungen Lichts, das mit sanften Händen das duftige Grün aus den Spitzen der Knospenhüllen auf den Birken herauszupfte, stand Ham Rugen auf dem Lande, das er dazu ausersehen hatte, Samen aufzunehmen und Früchte zu tragen.
Aber als er mit dem Spaten die lockere Erde spaltete, die er im Herbst mit weichem Heidesande gemischt hatte, fand er, dass das Grundwasser im neuen Acker immer noch zu hoch stand.
Da tat Ham Rugen seine Torfstiefel an, die ihm bis über die Knie reichten und reichlich mit Tran getränkt waren, und stand wieder in den Gräben, die er im Vorjahr gezogen, um sie noch mehr zu vertiefen. Er sah, dass sofort mit der Arbeit begonnen werden müsse, damit die Ostwinde, die gegen Ende März über die weiten Flächen des Tieflands wehen, die Trocknung des Erdreichs beschleunigten. Die Gräben konnten das wegen ihrer zu geringen Tiefe nicht in ausreichendem Masse vollbringen.
Als auch diese Arbeit getan und die Wasserrinne, die dem breiteren Schiffgraben entgegenführte, so tief war, dass Ham Rugen bis an die Brust darinstand, musste er den zähen Klipp des schwarzen Grundes schier über sich werfen. Fast bis zu den Knien reichte ihm das braune Wasser, das an den steilrechten Wänden des Torfgrabens herabrieselte.
Und Ham Rugen schuf der Bahn, die er dem rinnenden Gewässer gab, ein sanftes Gefälle, ohne jedoch so tief in den zähen Grund zu gehen, dass dieser dem Spiegel des Schiffgrabens gleichkam. Er dachte, das Wasser werde sonst von dorther seine Gräben füllen.
Endlich verloren sich die Märznebel. Der Himmel stand in mattem Blau über der Welt. Schmale, dünne Wolkenstreifen schlugen sich in glänzendem Weiss durch das blaue Gewölbe, und in den Birken waren die Schleier aus feiner grüner Seide noch von dem rötlichen Braun der Knospenhüllen und Reiser durchsponnen.
Ham Rugen wusste: nun werden die Ostwinde durch lange Tage über das Moor laufen. Die ferne Geest zeigte eine scharfe Linie gegen den Himmel nach Norden, und Kiefern und Eichen der Weiten, die Firste der fernen Dächer und was sonst noch in die klare, kühle Frühlingsluft hineinragte — alles stand hart gegen die Bläue des Himmels. Nur der Wind aus Osten, der über die endlosen Landstrecken gewandert, schafft diese kalte Klarheit der Linien, wie sie das ganze Jahr über im Moore nicht vorhanden ist.
Allenthalben hatte der Frühling leise Spuren künftigen Glücks zurückgelassen. Nur die niederen Buschkiefern, die da und dort auf der Fläche standen und die auch Ham Rugens Hütte umgaben, waren noch ganz freudlos. An den Spitzen ihrer Zweige brannten noch nicht die rötlichen Lichter, die erst zur Maifeier aufgesteckt werden und nicht früher erwachen, bis die Nachtigallen in dem glänzenden Grün der Stechpalmen ihre Sommerwohnungen eingerichtet haben.
Und der Ostwind kam und dörrte das Land.
Ham Rugen legte Glut von seinem Herd in einen Torfhaufen, den der Winter zu Müll zerfroren; er warf den qualmenden Torf durcheinander.
Der Wind lief um den Brand; aus allen Seiten glomm es hervor, und als der ganze Haufen glosende Glut war, warf der Mann den glühenden Torf über jene Strecke des Moorlandes, auf der er im Regen des Spätherbstes die Moormyrte und das Heidekraut bis an die Wurzeln gemäht hatte.
Da brannte das Moor. Nirgend war eine Flamme, aber allenthalben war Glut.
Ham Rugen hatte das Glühen an die Morgenseite der Fläche gelegt, quer über die Grenze des Landstrichs, den er in Asche zu verwandeln gedachte. Eine Spanne tief glomm die Glut. Und der Wind blies scharf hinein; da frass sie sich in den Torf und frass weiter bis zu dem Graben, den der Alte jenseits des Brandes gezogen.
Schwer quoll der Qualm aus dem Grund; aber der Wind fasste ihn an, zerriss ihn und wirbelte die Fetzen in die Luft.
Drei Tage lang brannte das Moor.
Am dritten Tag, als der Ostwind nicht mehr über die Fläche stob, fiel ein sanfter, lauer Frühlingsregen. Da schwand das letzte winterliche Braun aus den Birken, und darüber war ein freundliches, zitterndes Grün.
Nun erglommen auf dem schwarzen Moorgrunde die goldenen Sterne der Sumpfdotterblumen, und das Wollgras schoss aus den Schollen und spann seine weiche silberne Seide über das Schwarz und Grün der Moorflächen.
Immer noch kräuselte der Rauch über dem brennenden Torf, und über dem grauen Felde war das sanfte Zischen der Tropfen. Der rinnende Regen fiel in die heisse Asche, und der Qualm kroch träg in das Gestrüpp und um die niederen Moorkiefern, die noch immer trutzig verzogen, ihre Kerzen zu Ehren des Frühlings aufzustecken.
Ham Rugen schritt durch den bleigrauen Morgen. Er hatte den Esker über der Schulter und die Moorstiefel an. Wie der Frost kaum aus dem Erdreiche gewichen, war er zu dem Moortümpel gegangen, der sich unweit jenes Landstreifens befand, den er im Vorjahre mit Sand gemischt und den er so austrocknen zu können hoffte, dass in der Scholle die Kartoffel zu gedeihen vermöge.
Aber die Rinnen, die er von dem fauligen Wasser in seinen Graben geleitet, hatten nur einen kargen Abfluss geschaffen. Schilfblätter schossen hervor wie blanke Schwerter, und Sumpfflanzen aller Art drängten sich ans Licht.
Ham Rugen durfte nicht lange sinnend auf dem Flecke stehen, denn er fühlte den Grund unter seinen Füssen weichen. Weil er sich aber sagte, dass der Tümpel, der wohl schon Jahrhunderte gestanden hatte, aus jener Zeit übrig geblieben war, da das Moor ringsum sich zu Torf verdichtete, so vermutete er einen unterirdischen Zufluss.
Der Tümpel selbst war vielleicht ein unergründliches, tiefes Sammelbecken für die Moorwässer, die von dieser Stelle aus sein urbar gemachtes Land immer von neuem sauer machten.
Da zog Ham Rugen abermals einen Graben, der den Tümpel entwässern sollte. Und als auch diese Arbeit geschehen, nahm er zu seiner Freude wahr, dass der Spiegel des faulen Gewässers um zwei Fuss gesunken und in dem neuen Graben eine müde, aber deutliche Strömung war.
Die folgenden Tage zog Ham Rugen Furchen in das sandige Feld und legte Kartoffeln.
Dann ging er wie ein Sämann über die Asche, aus der die Zeit vorher der Rauch des Torfbrandes gequollen war, und streute Buchweizen hinein. Immerfort fiel das sanfte Nass des Himmels, oder es war die windlose, weiche Stille über dem Lande, durch die der müde Qualm ferner Moorbrände sich wälzte.
Während Ham Rugen den körnigen Buchweizen an den weichen Grund warf, schritten die Hühner hinter dem Manne drein und pickten den Samen aus der Asche, oder sie scharrten den staubigen Grund und wühlten sich voll Behagen hinein, weil sie fühlten, wie das Bad ihrem Gefieder wohltat.
Da baute Ham Rugen an der Sonnenwand der Hütte aus Zäunung einen Stall, in den er die Hühner mit einer Handvoll der begehrten Körner lockte, und deckte darüber einen Rest armen Drahtgeflechts, das er zwischen dem Gebälk des Daches geborgen und für das er nie eine Verwendung gewusst hatte. Bis die roten Spitzen der keimenden Saat ihre zarte Weichheit gegen das härtere Grün eingetauscht hätten, sollten die Hühner in dem Stalle verbleiben.
Als auch die Bestellung der beiden Streifen Landes vollbracht war, die ersten Blätter der Kartoffeln das sandige Erdreich zerbrachen und die zahllosen Pflänzlein des Buchweizens aus der Asche stiegen, an denen die beiden Keimblätter noch zusammengefaltet und mit einem Tropfen Frühtau behängt waren, in dem sich das Morgenlicht brach, sass Ham Rugen an der Sonnenseite der Hütte.
Er sah übers Feld, sah voller Freude, wie die Wässer in den neuen Torfgräben rannen, und kaute Tabak.
Da kam einer quer durch das Moor gestapft. Er hatte es nicht eilig und tat keinen Sprung, sondern umging die sumpfigen Stellen gemächlich. Und weil bald da ein Tümpel faulen Wassers, bald dort ein Morast vor ihm lag und dann das lockere Moor über seinen Füssen zusammenschlug, näherte sich der Mann in seltsamem Zickzackgang, auf dem er bald diese, bald eine andere Richtung einzuschlagen gezwungen war.
„He, Martin Kaiser“, rief ihm Ham Rugen entgegen und nahm die Hand von der Stirn, mit der er das schützende Dächlein über den Augen gegen die blitzende Maisonne gebildet hatte, „bist ok all upstahn?“
„Hm“, sagte der andere, „un wat makst du dor?“
„Ik wöll en beten Kloogheet sammeln“, rief Ham Rugen und lachte.
„Wer weet, wo dat good för is“, entgegnete Martin Kaiser gelassen. „Un hast ok good slapen äwer Nacht?“ setzte er hinzu und schaute Ham Rugen forschend an.
Das Gerücht, dass Ham Rugen das Moor baue und Kartoffeln lege, hatte den alten Martin Kaiser in sprachloses Staunen versetzt.
„Ja“, sagte Ham Rugen, „ganz good, man güstern Abend, as ik eben to Bett wier, steek mi en Floh in Kopp.“
„Oha“, lachte Martin Kaiser, der merkte, dass Ham Rugen seinen Spott mit ihm treibe, „na, lat mi man ins (einmal) hen.“
Damit schob er Ham Rugen ein wenig auf der Brettbank beiseite und setzte sich neben ihn. So sassen sie eine Weile.
Ham Rugen dachte: „Wat he woll will?“ Und Martin Kaiser sann: „Wenn he mi mal satt eten und drinken laten will, will ik him woll en gooden Rat gäwen.“
Er nahm schweigend das zerknüllte Papier aus der Tasche der Hose, zupfte ein wenig von dem schwarzen Shagtabak ab und schob es in den Mund.
Dann sassen sie wieder eine Weile, blinzten in die Sonne und spuckten abwechselnd in den Sand.
„He wöll nich“, dachte Kaiser und sagte: „Do is dor woll en Bur (Bauer) wesen, Ham Rugen?“ Er deutete bei diesen Worten auf die junge Saat.
„Wird woll“, sagte Ham Rugen.
Dann sassen sie wieder eine Weile, blinzten in die Sonne und spuckten abwechselnd in den Sand.
„Mit dat Smuggeln, dat is nu all vörbi“, begann Kaiser eine Viertelstunde später zu reden.
„Dat’s all vörbi“, antwortete Ham Rugen.
Ein Fischreiher flog mit schwerem Flügelschlag den Wiesen der Hamme entgegen. Es war, als wirble das Gold des Maimorgens unter seinen Schwingen. Die Sonne hatte den Tau fortgetrunken, der an den Spitzen der Gräser gehangen, und faltete mit den blanken Fingern die Keimblätter des Buchweizens auseinander.
„Du bist dein Lebtag kein Freund vom arbeiten gewesen, Ham Rugen: was soll das heissen?“ fragte Kaiser und deutete auf den bestellten Moorgrund und die keimende Saat, als der Reiher im Licht des Morgens verschwunden war.
„Das soll heissen, dass ich den Bauern und Kaufleuten nicht mein mühselig Erspartes hingeben will für Dinge, die einer nur zum Essen braucht, und die imgrunde nichts wert sind. Da hab’ ich gedacht, soviel, wie Ham Rugen nötig hat, wirds wohl bringen.“
„En swor Stück Arbeit, Ham Rugen, en sihr swor Stück Arbeit.“
„Is ook“, entgegnete Ham Rugen, „äwerst nu is doahn.“
„Hm“, sagte Martin Kaiser, „ob du nicht am Ende einen Platz für mich hättest? Du bist ja doch allein in der Hütte.“
„Für dich? Halbpart meinst du?“ sagte Ham Rugen und blickte erstaunt auf den alten Mann neben sich. „Du, das ist ja wohl nicht dein Ernst?“
Als Martin Kaiser nickte und seine Augen fragten: „Nicht mein Ernst? Und warum nicht?“ fuhr Ham Rugen fort:
„Du meinst: ich habe geschmuggelt, und du hast gestohlen, und mit Schmuggeln und Stehlen sind wir beide gekommen bis auf den heutigen Tag — ... So? Meinst du?“ ....
Dann nahm Ham Rugen den Tabak zwischen die Zähne und schob ihn mit der Zunge wieder an seinen Platz. Er wollte den alten Schleicher belehren.
„Das war auch ein ander’ Ding um das Schmuggeln als um das Stehlen“, fuhr er fort und setzte dem Martin Kaiser auseinander, dass es heisst: „Du sollst nicht stehlen“, vom Schmuggeln aber sei nirgends die Rede, und na: Martin Kaiser wier en ollen Sünner, während Ham Rugen bloss getan hätte, was recht und gut wär’; denn erstens mussten die Kontrolörs hinters Licht geführt werden. Dass das verdienstlich gewesen, darüber seien sich die Leute im Teufelsmoor weit und breit einig, und zum andern sei im ganzen Moore keiner, der nicht geschmuggelt habe. Aber stehlen? Stehlen geht nur Martin Kaiser! Und darum wolle Ham Rugen wohl gut Freund mit ihm sein, aber es wär’ ihm schon recht, wenn er nicht zu oft seinen Besuch in der Hütte mache. Übrigens: zu holen gäb’s hier gar nichts, rein gar nichts, weil Ham Rugen sein Geld in die Sparkasse getragen habe.
„Heww ik di all wat stohlen?“ fragte Kaiser.
„Nee.“
„Na, dann swik ok still.“
„Ham Rugen“, sagte Kaiser nach einer Weile, „dor is in Klinkerberg en Mann un en Fru, de wölln en Hütt köpen — for 40 Toler, segg ik.“
„For 40 Toler bar Geld?“ fragte Ham Rugen und sah Kaiser lauernd von der Seite an.
„Ik segg di dat, Ham Rugen. Wenn Ham Rugen aber en Bur sien will, denn is dor ja woll nix tau maken.“
Nun war der lauernde Blick in den Augen Martin Kaisers. Der pendelte mit dem rechten Bein, das er über das linke Knie gelegt hatte, und in den Winkeln seines Mundes war ein unruhig Zucken.
Ham Rugen sagte:
„Zum Freien ist einer zu alt. Manchmal, wenn ich den Winter in der Hütte beim Feuer gesessen, hab’ ich die Zeit schreiten hören. Mit langen Schritten ist sie unaufhaltsam ihren Weg gegangen, oder ich hab’ auch gedacht — na, genug davon. Das sind wohl so Dinge, die einem in der Stille des Winters kommen. Nun bin ich die grosse Einsamkeit und Leere, die hier draussen ist, gewöhnt. Freilich hab’ ich auch gedacht, es wäre doch gut, wenn die Hütte da in der Nähe von Menschen stände. Wie’s nun aber ist, so könnt einer daran denken, auf andere Weise Nachbarn zu bekommen. Du hast recht, Martin Kaiser, ich will die Hütte verkaufen ...“
Am nächsten Tag in der Frühe kamen Hinnerk und Gesche Stelljes in Begleitung Kaisers über das Moor, die Hütte Ham Rugens zu besehen.
Ham Rugen wollte den „Altenteil“ haben, dafür aber das urbar gemachte Land mit der diesjährigen Ernte, die Ziege, die Hühner und alle Vorräte im Haus geben. Nur ein Kastenbett musste Hinnerk Stelljes zimmern, gross genug für ihn und Gesche.
Als die blonde Gesche, deren Haar aussah, als wär’s einmal golden gewesen wie die Sonne, nun aber von braunem Moorwasser missfarbig geworden, noch gefragt hatte, wie alt denn Ham Rugen beim Schmuggeln geworden sei, und erfahren hatte, dass er im sechsundsechzigsten Jahre stehe, ward der Handel geschlossen. Gesche Stelljes nestelte den Beutel aus der Tasche ihres Rockes und zählte Ham Rugen 40 Taler auf die Holzbank an der Sonnenseite der Hütte.
Hinnerk Stelljes aber zog seinen Rock aus, nahm die Säge von der Wand, die ja nun ihm gehörte, mass in der Hütte und begann draussen Bretter zu schneiden für den Bettschrank, der in die Ecke zu stehen kommen sollte, welche dem Lager Ham Rugens gegenüber war.
Währenddem hatte Martin Kaiser Ham Rugen hinter die Hütte gerufen und ihm zu verstehen gegeben, dass er die Käufer hergebracht habe; das forderte ein Entgelt.
„Fif Groschen“, sagte Ham Rugen.
„Sewwen un en halwen“, forderte Martin Kaiser.
Da erhielt er sieben und einen halben Groschen und trollte sich seines Wegs.
Ham Rugen war Hinnerk Stelljes zur Hand beim Bau des Bettschranks. Hinnerk Stelljes hatte kurzgeschorenes, rötliches Haar und ein bartloses Gesicht.
Woher sie kämen?
„Von der Geest“, sagte Stelljes. Und die Gesche sei aus Moorende gebürtig. Auf der Geest habe sie gedient. Sie hätten noch nicht lange zusammengeheiratet. Das Kind sei ihnen gestorben; das habe Stelljes’ Mutter gepflegt. Hinnerk wolle in Tagelohn gehen oder selbst Torf graben — er sei schon zweimal zurückgestellt worden, und nun fürchte er, beim dritten Mal doch noch Soldat werden zu müssen. Weil die Leute aus dem Moor vorerst noch vom Militärdienst befreit seien und er doch Gesche nicht gern wieder dienen schicken möchte, wollten sie’s im Moor versuchen.
„He hätt nix hewwt“, sagte Gesche, die mit dem russigen Kessel aus der Tür trat, um diesen im Graben zu waschen, „nix nich! De vierzig Toler sin mien Geld.“
Sie hatte das Gespräch der Männer gehört und warf ihnen die Worte zu wie den Hühnern die kargen Krumen vom Tisch.
Ham Rugen sah, dass Gesches Rock über dem rechten Knie zerschlissen war. Nun kauerte sie am Graben und scheuerte mit einem Bündel Binsen, das sie manchmal in den Sand tupfte, den berussten Kessel. Der hatte vor einer Stunde noch Ham Rugen gehört.
„Wenn’s nich wegens Militär west wier, ik hätt nix köpt. Nie nich! Dienen is beter as im eegen Hus hongern.“
Gesche sprach, ohne dabei aufzuschauen, während sie vom Graben mit dem leidlich sauberen Kessel zurückkehrte.
Vor der Tür der Hütte blieb sie ein wenig stehen und schob mit dem nackten Fuss vorjährig verwittertes Laub aus dem Winkel, der von der Lehmwand des Ziegenstalls und der des Hauses dicht neben der Tür gebildet wurde. Dann ging sie in die Hütte.
Ham Rugen hielt das Brett an einem Ende, das Hinnerk Stelljes mit der Säge zerschnitt.
Ehe der Abend kam, war der Bettkasten, der keine Schiebtür besass, zusammengeschlagen: zwei Brettwände, über die das Rohrdach lief; und die dritte Wand wurde durch die Mauer der Hütte gebildet. In der Langseite befand sich das Loch, durch das Hinnerk und Gesche Stelljes auf das Stroh krochen. Quer hindurch lief der Bettboden. Auf den breitete Gesche Ham Rugens Vorrat an Streu. Und weil der nicht so reichlich war, tat sie zu unterst eine Lage federndes Heideried. Über das Stroh breitete sie die Wolldecke und legte darauf das Bett, das sie in der Kiepe auf dem Rücken hergetragen hatte.
Wie die Scheibe der Sonne hinter den Horizont gesunken war und nur noch das feurige Rot am Westhimmel stand, welches zeigte, wo sie in strahlender Schönheit entschwunden, sassen die drei Bewohner der Hütte auf der Bank.
Hinnerk Stelljes hatte zuvor einen Gang über das nahe Moor getan, war die Gräben entlanggeschritten, die Ham Rugen die Zeit her gezogen, und sagte, er wolle versuchen, vielleicht ein wenig mehr Land zu bebauen; aber er wolle auch einen Torfstich von grösserem Umfang anlegen. Die Arbeit im Torf lohne besser als der Feldbau.
In den Wassern stand noch der blutrote Schein des sterbenden Tages. Die Kiefern und die Birken schoben sich in tiefem Schwarz gegen den Westhimmel in das flammende Leuchten über dem abendlichen Horizont.
Im Schilfe zwitscherten die Rohrsänger, und über den braunen, sanften Linien der Ebene, über den weichen Flächen des Moores lohte der purpurne Brand des Himmels. Es war ein goldiger Ton im Gelände, der war aus Braun, Purpur und Glanz gemischt, und war, als klinge die Luft. Und in dem tönenden Golde standen die silbernen Säulen der Birken. Da und dort stieg ein Rauch auf wie der Rauch aus unsichtbaren Opferschalen.
Auch aus der Tür der Hütte wehte ein weicher, blauer Dunstschleier: der Qualm vom Herdbrand. Er wehte über den First, auf dessen Heidesoden der Frühling das Moos schwellte. Die Birken, die der Wind als Samen in das Rohr des Hüttendachs gelegt und die nun schon über fusshoch gewachsen waren, trugen junges Laub. Sie zerrissen den sanften Schleier des Torfrauchs über dem Dach, und der leise Odem des Windes wehte das bläuliche Gespinst von dannen.
Ham Rugen sann lange hinein in das goldene Leuchten des Maiabends.
Die Schatten der Birken wurden lang und spannten sich wie grosse, schier endlose schwarze Brücken herüber zur Hütte. In den Buschkiefern brannten die roten Kerzen des Frühlings.
„Das ist nun schon lange so gewesen und ich nahm es doch vordem niemals wahr“, sagte Ham Rugen. Sein Auge schaute fernhin und sah, wie der Goldgrund des Himmels den Bäumen und allem, was auf dem Moore gegen den brennenden Westhimmel stand, eine Grösse verlieh, die die Dinge in Wirklichkeit nicht besassen.
„Und war doch vordem niemals“, wiederholte er nach einer Weile in tiefem Sinnen.
Ham Rugen hatte in Fernen gespäht, in denen er all die Jahre nicht zu Gaste gewesen war.
Hinnerk Stelljes war wieder aufgestanden, tat einige Schritte gegen den Graben, schaute über das Feld und ermass seufzend die Arbeit und Mühe, die ihm die Tage nun bringen würden.
Auch Gesche ging ab und zu in die Hütte, wenn ihr einfiel, sie habe noch dies und jenes zu tun, oder sie wolle sehen, ob Ham Rugen dies oder das Hausgerät besessen habe. Sie fragte den alten Mann auch um manches. Er sagte, das Gefragte müsse wohl da sein, und er nannte ihr einen verborgenen Winkel im Halbdunkel der Hütte, in dem sie es finden werde.
Selbst ein Spinnrad stand unter dem Gerümpel hinter der Häckselschneide. Staub lag darauf, und ein Säcklein Wolle hing daran. Die Wolle hatte Ham Rugen selbst gekratzt und hernach gesponnen — in jenem Winter, da er sich auf der glatten Eisfläche bei der Flucht vor den „Kontrolörs“ das Bein zerfallen.
Ham Rugens Sinnen und abgerissene Reden dauerten fort.
Als die Lichter in den Moorgräben zu erlöschen, die goldenen Ströme in der Luft zu versiechen begannen und nur noch da und dort ein Schein in dem Moorgraben stand, den eine rosige Wolke aus dem Zenit hineinspiegelte, hob der Alte seine Augen auf und schaute zu dem Quell roten Lichts empor.
Er hatte vergessen, dass Hinnerk Stelljes neben ihm sass, und blickte ihn erstaunt an, wie der halb lachend fragte:
„Du bist weit weg, Ham Rugen?“
„Wohl, wohl“, antwortete der nach geraumer Zeit. „Man hat so allerhand Gedanken, wenn man allein mit der Stille lebt, die im Moor ist.“
Gesche Stelljes kehrte mit dem schmutzigen Gansflügel den Staub vom Spinnrad. Sie warf die Wolle aus dem Säcklein fort, die die Motten zerfressen hatten.
„Wie lange bist du allein gewesen, Ham Rugen?“ fragte Hinnerk.
„Mehr als acht Jahre. Mit wem redet einer da? Mit sich selbst. Monatelang ist keiner an der Hütte Ham Rugens vorbeigegangen. Man macht sich da allerhand Gedanken, Hinnerk. Auch mit dem Tode lernt man reden. — Ja, was ich sagen wollte: die Ziege könnt ihr nun wieder anbinden. Ich hab’ sie frei laufen lassen, seit ich hörte, wie die Zeit ging — oder der Tod ...“
Und Ham Rugen erzählte von jenem Wintertag, an dem er den Tod über das Heidemoor kommen hörte.
Hinnerk Stelljes lachte.
„Wenn man jung ist“, sagte Ham Rugen, „ist das anders. Und wenn man sein Lebtag in der Moorkuhle gestanden hat, wird das Denken und das Reden der Männer und Frauen zäh wie der Klipp, der zu unterst im Torf liegt. Aber weisst du, wenn man in andern Tagen ein anderes Leben gelebt hat, ich mein’, wie das Schmuggeln noch im Gang war, da ist das doch auch ein ander Ding. Ich möchte sagen: wenn einer lange auf der Wanderschaft gewesen ist und Länder und Menschen gesehen hat oder gar in England war, dann weiss er erst, was ‚daheim‘ bedeutet. Dann erst sieht er, was anders ist an der Scholle und an der Hütte, die auf dieser Scholle steht. Er sieht was besser ist, und was zu bessern sei, damit es auch gut werde.“ —
„Ham Rugen is en ollen Mann“, sagte Hinnerk Stelljes.
Dann kam wieder die lautlose Stille und setzte sich zwischen die beiden. Ein geller Ruf flog aus der Hütte, hart und spitz.
„Wie der eines Vogels in den Hammewiesen“, dachte Ham Rugen, und um seine Lippen ging ein kluges Lächeln.
„Es ist schon richtig, Hinnerk Stelljes. Denkst du: draussen, wo die Berge sind, oder in England ruft einer so wie Gesche? So kreischen die Moorvögel. Mich wundert’s nicht, Hinnerk, dass unsern Frauen und unsern Kindern dieser Ton im Ohr klingt, den die Moorheide hat, und dass sie ihn annehmen.“
„Gesche Stelljes schreit wie’n Kiewit!“ lachte Hinnerk.
Darüber traten sie durch die Tür der Hütte. Gesche hatte zum Essen gerufen und warf Ham Rugen einen Blick zu, bei dem er empfand: „In Gesches Augen ist der Schein, der im Moor ist, wenn das Wetter leuchtet und die Irrlichter laufen.“
Dann setzten sie sich an den Tisch und assen den Buchweizenpfannenkuchen, den Gesche über dem Torfbrande gebacken hatte. Sie schwiegen. Nur die Glut knisterte über den Klinkern, und der Torfrauch spann durch die Hütte.
Ham Rugen dachte, während er mit dem Taschenmesser ein Stück von dem Kuchen aus der gemeinsamen Pfanne holte:
„Der gebackene Buchweizen ist trocken wie der gebackene Torf. Die Leute im Moor backen den Buchweizen, weil sie das Backen aus der Torfkuhle her im Griff haben. Wenn es regnet, isst und trinkt der dürre Torf. Dann ist ein leises Knistern in den braunen Schollen, und ein weicher Erdrauch spinnt sich darüber. Aber es ist nirgends ein Laut — gerade wie da in der Hütte.“
Und er sah wieder das missfarbige Haar Gesches, das war wie die trockenen Torfbrocken, über die der Regen von Jahren gelaufen.
Es waren nur zwei Stühle in der Hütte und der Schemel, bei dem das eine Bein fast eine Hand hoch durch das Sitzbrett ragte. Den hatte Gesche Ham Rugen hingeschoben. Nun lehnten die Jungen in den Stühlen und Ham Rugen, auf dem Schemel sitzend, gegen die Wand. Sie bohrten mit den Messern zwischen den Zähnen.
Die Glut knisterte über den Klinkern, und der Torfrauch spann durch die Hütte.
Ham Rugen stand auf, ergriff den Schemel und nahm die Säge vom Balken herab. Er wollte dem kippelnden Sitz die Stützen gleichmässig versägen; denn er dachte: wenn die beiden die Stühle für sich beanspruchen, werde er mit dem Schemel vorlieb nehmen müssen; aber er sagte: es könne nichts schaden, wenn der Schemel instand gesetzt werde, da ihn Gesche dann besser zu allerhand häuslichen Verrichtungen brauchen könne.
Da litt es die Frau, dass Ham Rugen in den dämmerigen Abend ging und den Sitz in Ordnung brachte.
Gesche kniete neben der Ziege, die noch draussen im Grase stand, und melkte. Wie sie damit fertig war und das Tier im Stall angebunden hatte, sass Ham Rugen auf dem Schemel, den er zu der Bank an die Fensterwand der Hütte gestellt hatte. Hinnerk Stelljes sass rauchend daneben.
Die Sterne brannten an, und ein Streifen silbernen Lichts verkündete, dass der Mond dicht unter dem Horizonte stehe. Immer blanker wurden die Wipfel der Birken, immer silberner ihre Stämme, und als die halbe Scheibe langsam in die lautlose blaue Nacht emporschwebte, wandelten sich die Blätter der schwarzen Stechvalmen in Silber.
„Ziküh! Ziküh! Ziküh!“
Die Nachtigall stimmte in dem Stechpalmbusch. Und auch von drüben flogs herüber wie Spiel aus goldener Flöte.
Ham Rugen lauschte und sagte:
„Vordem hab ich nicht hingehorcht, wenn die Nachtigallen schlugen. Warum hör’ ich das jetzt wohl? Und warum dünkt es mich das Lieblichste, was im Moor ist? Ja, es ist lieblicher als alle Vogelstimmen, die sonst im Lande sind. Und in keinem Gelände sind diese Vögel so zahlreich als in unserm stillen Moore. Vielleicht scheuen sie die belebten Gegenden. Aber vielleicht auch ...“
Ham Rugen ward still und sann.
Immerfort sprang der Quell der süssen Töne im Stechpalmbusch.
„Vielleicht auch, weil die Moorheide gar nichts besitzt, was lieblich oder schön ist. Und darum sind ihren Nächten diese klingenden Flöten gegeben, dass auch sie einen Reichtum habe vor anderm ...“
Wie Hinnerk Stelljes den alten Mann so sprechen hörte, stand er auf.
Gesche lehnte an der andern Schmalseite der Hütte in der Tür.
„De Olle trömt“, sagte er. „He redt as en Pastor.“
„Lat hem.“
Hinnerk kroch zu Bett. Nach einer Weile kroch Gesche nach. Die Tür der Hütte blieb offen.
In den Stechpalmbüschen schlugen die Nachtigallen.
Der Mond schwamm allmählich höher; die linke beschattete Hälfte war von einem sanften Silberzirkel umgrenzt.
In dem Schilfe der Moore war hin und wieder ein sanftes Klucksen, hin und wieder flog auch der dumpfe Ruf der Rohrdommel durch den Maitraum der Torfheide oder der schrille Schrei des Rebhahns.
Und immer schlugen die Nachtigallen.
Ham Rugen, der noch immer auf dem Schemel vor der Hütte sass, sah den sanften Glanz, der in der Welt war, und lauschte, ob nicht die zitternden Rinnsale des Lichts, die in silbernem Fall über die Blätter der Stechpalmen rannen, einen Klang gäben. Die Luft war so blank, dass der Flug der Käuze einen Schatten auf den lichten Grund warf. Der flog so leise wie der Vogel selbst und verschwand.
Ham Rugen schlug die Arme über der Brust zusammen und lehnte den Kopf gegen die Wand.
„Sonst habe ich dieses Licht der Nächte gehasst“, sagte er, „und ich dachte nicht, dass die Zeit komme, da ich es liebe.“
Und er sann ein ganzes Leben zurück und erinnerte sich, wie vor vielen, vielen Jahren Tage gewesen waren, in denen er auch eine seltsame Lust an dem Leben der Moore gefunden habe. Dann aber wandelte sich sein Herz und die Träume wurden verscheucht, die er gehabt, als er hinter den Ziegen seiner Mutter durch die sommerstille Blütenheide lief oder auf dem Knie Weidenflöten schlug.
In der blühenden Heide oder wenn die weisse Seide des Wollgrases weich um die nackten Füsse spielt oder der Morgentau klingend darumspringt — da mag einer träumen; die Pfade, die Ham Rugen später geschritten war, heischten List und Verschlagenheit, offene Ohren und tausend wachsame Augen. Die Traumbahnen im Heidemoor konnte einer mit gesenkten Lidern wandern. Aber von Bremen heraus war jeder Strauch ein Schutz für die „Kontrolörs“, und jede Weide in der Wiese, jeder Busch Schilf am Ufer der Hamme konnte einen Verfolger bergen. Und die Nächte waren Ham Rugen nicht schwarz genug gewesen.
Nun dachte er wieder jener alten Tage und redete mit seiner Seele, in die er hineinhorchen wollte, weil ihn deuchte, sie habe Geheimnisse, oder er verstehe diese Seele nicht mehr.
„Wir sind einen langen Weg gewandert, wir zwei“, sagte er.
Manchmal sprach er so laut, dass Gesche im Kastenbett Hinnerk Stelljes anstiess. Der knurrte unwillig und wollte schlafen. Manchmal bewegten sich nur die Lippen Ham Rugens, um die die tiefen Falten geschlagen waren, die Fäden, welche die Spinne Zeit kreuz und quer über sein bartloses Gesicht gesponnen hatte. Nur unter dem Kinn lief ihm der graue Bart, die ‚Schifferkrause‘, von Ohr zu Ohr.
„Aber in dieser Gegend sind wir vor fünfzig Jahren schon einmal gewesen und haben all die Dinge schon einmal gern gesehen und lieb gehabt ...“
Nun waren Haus und Torf und die beiden urbar gemachten Moorstreifen nicht mehr sein — er hatte nichts mehr als eine weite Fläche totes Moor. Nur drei Dinge waren, die seiner warteten: das Geld im Strumpf unter dem Bettstroh, von dem niemand wusste und niemand erfahren sollte; seine wiederentdeckte Seele, die ihm zur Stunde noch ein schleiervolles Rätsel war; und der Tod. Um den brauchte er sich nicht zu mühen, der werde kommen, wenn seine Zeit um sei, dachte Ham Rugen.
Und so blieben ihm eigentlich nur zwei Dinge, an die er täglich denken wollte: das Geld war seine Sorge und die Einkehr in sich selbst sein Zeitvertreib.
Und in den Stechpalmbüschen schlugen die Nachtigallen.
Da war ein Brechen in der Moormyrte und ein flüchtiges Stampfen über dem Torf: drei Rehe flogen vorüber.
Ham Rugen lehnte nicht mehr gegen die Hüttenwand. Er sass hochaufgerichtet auf dem Schemel und spähte in die Nacht, aus deren Silber das fluchtgescheuchte Wild hervorgebrochen.
Es war nichts weitum im Moore, das die Rehe zu schrecken vermocht hatte. Es war kein Weg in der Nähe, auf dem ein Mensch zu irgendeinem Moordorfe wandern, ein Wagen rollen konnte. Und doch flohen die Tiere. Ham Rugen wusste: sie ziehen äsend ihres Wegs und heben nur manchmal den Kopf, wenn ein Rebhahn knarrt oder ein Moorvogel, von dem Rascheln des Heiderieds unter ihren Hufen aus dem Traume gestört, emporschwirrt.
Die Moormyrte, die unter den flüchtigen Hufen gewogt, die Buschkiefern, die noch eine kurze Spanne Zeit geschwankt hatten, standen wieder still in dem Schimmerlichte der Nacht. Der Schlag der eilenden Hufe, der über der Moorheide zu dumpfen Dröhnen wird, wie alles Leben hier sich machtvoller und trotziger auslebt, war verhallt.
Ham Rugen hatte sich von seinem Sitz erhoben und schaute unverwandt in die Ferne. Es müsse sich ein Fremdes zeigen, dachte er.
Und wie er mit verhaltenem Atem noch immer stand und spähte, da war drüben über den Gagelbüschen ein rotes Leuchten, da war goldenes Haar und ein weisses Antlitz.
Ham Rugen stemmte den Arm gegen die Lehmwand der Hütte. Eine alte Sage ward in ihm lebendig — die Sage von den Moorjungfrauen. Die tanzen des Nachts über die weiten Flächen, und ihre goldenen Haare wehen im Winde. Die flechten das weiche Silber des Wollgrases in ihr Haar als blanken Schmuck ihrer Scheitel und Stirnen. Eine Stadt sei vor tausend Jahren versunken, sagen die Leute. Nun deckt sie der schwarze schwammige Grund. Und die Irrlichter, die des Nachts um das Schilf wehen, sind die Seelen toter Menschen. Weisse Schleierkleider wallen um die tanzenden Moorfrauen ...
Wie die Irrlichter flatterten Ham Rugens Gedanken heran und davon.
Und drüben über der Moormyrte bewegte sich immer das rote Leuchten, und das weisse Gesicht, um welches das gelbe Haar floss, ward deutlicher.
Und in den Stechpalmbüschen schlugen die Nachtigallen.
„Gotts Dunner, en Kind!“ sagte Ham Rugen und rieb sich die Augen, als wolle er sie blank machen.
Ham Rugen rief das Mädchen an.
„Is das die Hütte von Gesche Stelljes?“ fragte das Kind.
„Is sie“, sagte Ham Rugen. „Willst du zu Gesche Stelljes?“
„Ja, ich will.“
„Und wo läufst du her — so durch die Nacht? Weisst du nicht, dass man im Düwelsmoor zuschanden werden kann?“
„Ich dachte nicht daran“, antwortete das Mädchen. „Ich lief nur immer und lief.“
„Was willst du von Gesche Stelljes?“
Das Mädchen legte die Hand in die Ham Rugens, liess sich über den Graben leiten und setzte sich neben den Mann auf die Bank an der Hütte.
„Gesche ist meine Schwester. Ich bin Wöbke Dierks. Weil Gesche Stelljes ihr Kind wieder gestorben ist, das ich zu warten hatte, wenn es nicht bei Hinnerk Stelljes’ Mutter war, hat sie mich zu Martin Kaiser und seiner Frau gegeben.“
„Aber Gesche Stelljes hiess doch vordem Gesche Otten“, fragte Ham Rugen.
„Ja, wir sind nur Halbschwestern, Gesche Stelljes’ Vater ist tot. Und Muttern ihr zweiter Mann hiess Jan Dierks. Die beiden sind aber schon lange nach Amerika ausgewandert. Und Martin Kaiser und seine Frau sagten, sie wollten mich nehmen, da mich nun die Gesche nicht mehr für die Kleine brauche, die ja doch tot geblieben ist.“
„Nun sag mir einer“, fragte Ham Rugen, „warum du aus Klinkerberg fortgelaufen bist? Kind, das sind zwei Stunden durchs Moor.“
„Ja“, sagte das Mädchen, und in seiner Stimme verzitterte ein Weinen. „Martin Kaiser hiess mich bei Tina Tölken, die die Woche über im Hüttendorf an der Hamme bleibt, die Ziege losbinden. Er wolle sie heut nacht schlachten, sagte er. Ich solle nur warten, bis Leidchen Tölken gemolken hat. Leidchen Tölken wohnt in dem andern Haus und kommt immer die Ziege melken, solange Tina Tölken in den Hammehütten ist. Wie die Nacht kam, hat mich Martin Kaiser gehen heissen. Aber anstatt in Tina Tölkens Hütte die Ziege stehlen, bin ich ins Moor gelaufen, immer weiter, immer weiter. Ich wollte laufen, bis der Tag käme, und dann fragen, wo Gesche Stelljes wohnt oder Ham Rugen. Bist du Ham Rugen?“
„Ja, Kind. Das ist nun wieder einmal wundersam! Ich weiss nicht, ob ich jemals im Mondschein gesessen, den Nachtigallen zugehört und gedacht habe, dass es doch von sonderlicher Lieblichkeit sei, wenn alle Büsche klingen. Und in dieser einen Nacht kommt auf Wegen, die gar keine Wege sind, ein Menschenkind. Und gehen doch nie Menschen über das Moor und gar niemals um solche Mitternacht.“
Ham Rugen verfiel in schweigendes Sinnen.
„Und stehlen will ich nicht. Die Leute mögen von Martin Kaiser nichts wissen, und die Kinder in Klinkerberg sagen zu mir: ‚Mausewöbke‘, weil ich bei Martin Kaisern bin. Ist das denn wahr — sie sagen auch, Martin Kaisern hätten sie 36 Jahre von seinem Leben im Gefängnis behalten?“
„Wohl, Kind, wohl“, antwortete Ham Rugen.
„Und er hätt’, wie er jung gewesen, doch die Kinder schreiben und rechnen gelehrt und die zehn Gebote?“
„Auch das ist wohl einmal gewesen“, sagte Ham Rugen.
„Und zu Martin Kaisern will ich nicht mehr. — Ob mich Gesche Stelljes behält?“ fragte das Mädchen nach einer Weile. Ihre Stimme klang zag, und wieder war das heimliche Weinen darin. An den dunklen Wimpern der grossen Augen hingen zwei blitzende Tropfen.
„Weinen sollst du nicht“, sagte Ham Rugen und legte Wöbke Dierks die Hand auf das goldene Haar. „Wenn Gesche Stelljes deine Schwester ist, wird sie dich wohl nehmen.“
„Sie sagt, sie hätte nicht Geld genug“, entgegnete Wöbke und blickte wieder stumm an die Erde. Dann horchte sie in das Schlagen der Nachtigallen.
„So müssen wir sehen, was zu tun ist. Wie alt bist du denn?“
„Ich werde zwölf.“
Ham Rugen schritt mit Wöbke Dierks um die Hütte. Seine Tritte versanken im Gras. Wöbke war barfuss.
An der offenen Tür lauschte der alte Mann. Die Ziege raschelte in der Streu. Die tiefen Atemzüge verrieten, dass Hinnerk und Gesche Stelljes schliefen.
Ham Rugen nahm das Kind an der Hand und sagte, Wöbke solle sich mit auf sein Stroh legen.
Da kroch das Mädchen in den Bettkasten. Ham Rugen plusterte das Stroh am Fussende ein wenig auf, damit es einen erhöhten Pfühl für den Kopf gebe. Dann legte er sich auch schlafen.
Die Uhr ging im Kasten — immer im Gleichtakt. Ham Rugen legte dem Schrittmass des Pendels Worte unter ...
Und in den Stechpalmbüschen schlugen die Nachtigallen.
Als Gesche Stelljes die Ziege im Morgentau auf die Weide band und im nassen Grase kniete, das Tier zu melken, schlüpfte Wöbke Dierks aus Ham Rugens Bettkasten.
Hinnerk Stelljes, der noch auf dem Stroh lag, und der die Gunst der Viertelstunde nützte, in welcher er sein Lager nicht mit Gesche zu teilen hatte, hob den Kopf ein wenig, als er Wöbkes rote Jacke sah, deren kurze Ärmel die runden weissen Arme der Deern freiliessen. Er hatte oft schon gedacht: so zarte Haut hat keine Deern im Moor, und keine hat so goldenes Haar wie Wöbke Dierks.
Hinnerk Stelljes’ Augen blieben weit offen.
„Na“, sagte er, „dat gift en gooden Dag.“
Wöbke sah drein wie ein gefangenes Reh. Hinnerk Stelljes hatte ausgesprochen, was sie längst gedacht hatte.
Die Deern schaute zu Ham Rugen. Der richtete sich im Bett auf und schwieg, wollte sich aber für alle Fälle bereit halten und kroch aus dem Kasten. Dann erzählte er Hinnerk mit zwei Worten, wie er die Deern im Moor entdeckt habe, und warum sie gekommen sei.
„Dat gift en gooden Dag“, wiederholte Stelljes und zog die Augenbrauen in die Höhe; das tat er immer, wenn er ein Wetter im Anzuge wusste. Aber das Wohlbehagen der Alleinherrschaft im Bettkasten war in diesem Augenblick lebhafter als der Gedanke an ein Wetter mit Blitz und Donner, das an Hinnerk Stelljes vorüberzog.
Holla — da stand Gesche schon in der Tür.
„Deern! Deern!“ schrie sie.
Die Überraschung, die ihr der unerwartete Anblick der Halbschwester schuf, war so über alle Massen gross, und das Bedürfnis, zu erfahren, wie Wöbke Dierks über Nacht von Klinkerberg in die ihr unbekannte Hütte gelangt, war so rege, dass kein Wort aus Gesches offenem Munde flog.
Hinnerk Stelljes wartete verborgen der Dinge, die da kommen sollten.
Ham Rugen lehnte mit über der Brust verschlungenen Armen am Tisch.
Wöbke Dierks blickte stumm zu Boden. Sie hielt die Schürze, die vordem ein Sack gewesen war, in der Hand.
Dann erzählte Ham Rugen.
Was nun mit der Deern werden solle? fragte Gesche. Hier könne sie doch nicht bleiben.
Ham Rugen meinte, das werde sich finden.
Da begann Gesche zu kreischen. Ham Rugen musste wieder an den Ruf der Greta denken, des schreienden Moorvogels — dessen Ruf schlägt einem der Wind auch so um die Ohren.
Den Alten hätten sie sich schon aufgeladen, behauptete Gesche, und es könne niederträchtig genug kommen, dann müssten sie ihn noch zehn Jahre füttern; und die Deern, für die keine Arbeit im Hause sei, auch noch? Da werde nichts daraus!
Während Gesche die Eier aus dem Hühnernest in der Ecke der Diele nahm und allerlei Hantierung verrichtete, schimpfte sie geläufig weiter.
Dann band sich Wöbke die grobe Schürze vor, nahm den Eimer und ging, Wasser zu holen.
Um das Wasserloch draussen vor der Hütte lief ein niederer Zaun; ein Haken lag über dem vermorschten Staket. Wöbke liess den Eimer daran hinab und zog ihn, zur Hälfte mit dem teefarbigen Wasser gefüllt, heraus.
Während Hinnerk Stelljes die Zeit für gekommen erachtete, sein Tagewerk zu beginnen, schüttete Wöbke Wasser in den Kessel und blies den Torf an.
Nicht lange danach löffelten sie zu viert den Buchweizen aus der Schüssel. Wöbke Dierks stand zwischen Ham Rugen und dem Fenster. Ham Rugen dachte, er wolle noch einen Schemel zimmern.
Als das Frühmahl vorüber war und Ham Rugen draussen im Morgenlichte stand, hörte er, wie Wöbke Dierks die Diele mit dem Rutenbesen kehrte. Als sie damit zu Ende gekommen, ging er mit Hinnerk und dem Mädchen an dem urbargemachten Landstreifen entlang.
Der Tau blitzte an jedem Buchweizenpflänzlein; der ganze Strich, auf dem Ham Rugen vor wenig Wochen das Moor gebrannt hatte, lag wie ein schwellendes Kissen in der braunen Landschaft, in das tausend und tausend Nadeln gesteckt waren. Und jede trug ein flimmerndes Kleinod.
Hinnerk Stelljes schritt in die Hütte zurück; und während Ham Rugen mit Wöbke Dierks in der Torfkuhle stand und dem Mädchen zeigte, wo er die Jahre her gestochen und wie er die Gräben gezogen, liess er seine Augen mehr auf dem Kind als auf den braunen triefenden Moorwänden ruhen.