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Max Geißler zeichnet das Leben des vielleicht berühmtesten aller Maler nach: Vincent van Gogh. "Ein Maler, der in seinem Leben kein Bild verkaufen konnte." Dessen "Fahrt zur Unsterblichkeit" geht einher mit verschiedenen Frauen, die seinen Weg kreuzen. Diese Beziehungen sind so besonders, fallen so aus dem Rahmen normaler Beziehungen, wie dies für das ganze Leben van Goghs gegolten hat. Da ist die Bäckerfrau in der armseligen Borinage und die junge Prostituierte, deren Kindern er kurzzeitig ein Vater sein will. Dann die Japanerin und die Zigeunerin in Paris. In der Provence lernt er das junge Mädchen kennen, das für ihn den Namen Sehnsucht trägt. Als sie geht, tritt die Witwe eines Schiffers in sein Leben. Was alle verbindet, ist, dass er sie malt und damit für die Ewigkeit festhält. Bis zu dem Tag, an dem sich dieser einzigartige Maler erschießt.-
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Seitenzahl: 145
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Max Geißler
Saga
Die Fahrt zur UnsterblichkeitCopyright © 1929, 2019 Max Geißler und SAGA EgmontAll rights reservedISBN: 9788711467664
1. Ebook-Auflage, 2019Format: EPUB 2.0
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SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
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Sie sagen: Das Leben dieses Mannes ist von ungeheuerer Einmaligkeit.
Es klingt wie eine Sage, die um einen Menschen webt aus einem fernen Volk, aus fernem Land, aus fernen Zeiten.
Wir werden steil bei dem Gedanken, es könne einer auf den verlorenen Einfall geraten: ein Volk von heute, von morgen oder in fünfhundert Jahren werde sich durch seine stumpfen Sinne also schuldig machen an der verzweifelten Ermüdung eines genialen Geistes.
Iedennoch: das Unfassbare wird stets von neuem Ereignis.
Es kommt nicht an auf den Namen und nicht auf das einzelne Geschehen. Solch ein Leben ist Sinnbild. Es lebt sich hundertfältig durch alle Völker und Zeiten. Es kommt auf den Namen nicht an. Nicht einmal auf das Sterben. Sondern auf das Wort, das dieser Eine schrieb an die Pforte des Todes: „La tristesse durera toujours.“
Solch Einem werden Wunder zur Selbstverständlichkeit. Seine Sinne dürsten nach Glanz. Dürsten nach Farben. Sehnen sich danach, diese Farben hervorzuzaubern aus Winkeln; hervorzuzaubern aus Dämmernissen; hervorzuzaubern aus Alltäglichkeiten, an denen die stumpferen Augen der Menschen vorüberschauen — ahnungslos. Denn Glanz ist für ihn in allem. Ist allenthalben. Und ist in unaussprechlicher Fülle. „Seht ihr ihn denn nicht?“
Er möchte diesen Zauber der Farben erlösen, dies Wunder erschaffen. Für wen? Für jene anderen? Vielleicht. Vor allem: für sich selbst; für seine dürstenden Sinne, die den Rausch brauchen. Denn er fühlt: es ist die Kraft in ihm. Er will seinen Tag erhöhen zum Tag eines Gottes. Zum Tage voll schöpferischer Tat. Da er nur ein Mensch ist, kann er sich berauschen an solcher Tat. Dieser Rausch ist dann Glück, Glück! Und dies Glück ist seine Sehnsucht. Iedennoch . . .
Es ist ein weiter Weg zur Erkenntnis. Am Anfang ist die Sehnsucht. Dann ist der Wunsch. Und dann ist der Wille. Wie kann solch einer wissen, wohin seine Sehnsucht drängt? Wie kann er das wissen, wenn er jung ist? Wenn ein nordbrabantisches Dorfgärtlein die Welt ist, in die er hineingeboren ward? Und wenn die Menschen um ihn her vor dieser Welt stehen mit gebundenen Sinnen? Während die seinen immerzu raten, immerzu entdecken, in einem fort erlösen wollen, was da unerkannt liegt an Schönheit: die Bauernblumen zwischen den Zäunen; die Jahreszeiten mit ihren Wundern des Lichts; der Bach, der durch die Wiesen wandert als ein heruntergefallener Regenbogen; und das märchenliebe Verleuchten der Fernen, bis hinüber an den Rand des Himmels.
„Was ist es damit?“ fragten sie diesen Jungmann. „Wir sehen das alles an jedem Tage. Wir sehen es seit vielen Jahren. Es ist immer das gleiche eintönige Ding. Wunder sind da nirgends, du wunderlicher Mensch!“
Darüber kam die Ahnung in seine Jugend: es ist etwas anders in mir. Ich sehe, was sie nicht sehen! Ich ersehne, was sie nicht ersehnen!
So stand er als Kind schon nicht mehr unter ihnen. Und war doch Fleisch von ihrem Fleisch. Stand neben ihnen. Ein Sucher.
Wenn er mit einem Glas an den Bach ging, die blitzenden Wunder der Käfer zu erhaschen, die da taumeln; oder wenn er den Kelch einer Wiesenblume mit seinen Träumen füllte — ja, dann schauten die Schwestern zwischen den Zinseln des Zaunes hindurch dem breiten, einspännigen Jungen hinterdrein. Wie er dahinschritt mit gesenkter Stirn. Wie er seinen Gedanken nachlief . . . Sie mochten gern mit. Aber sie wussten: er will allein sein.
So ward er einsam.
Er ward auch untauglich zu den Geschäften, die die anderen betrieben. Denn zwischen alles drängte sich seine Sehnsucht. Um alles waren seine anderen, seine aufgeschlosseneren Sinne.
Wenn man ihn zum Essen rief, dann setzte er sich in eine Ecke auf die Wandbank. In der niederen brabantischen Bauernstube. Sass abseits. Hatte den gelben Teller auf den Knien und löffelte seine Suppe. Es war zu sehen, wie Vater, Mutter, Geschwister ganz bei der Sache waren, zu der sie sich versammelt hatten. Und es war zu sehen, wie der in der Ecke ihnen längst nicht mehr so wichtig war, dass sie einen Blick, ein Wort für ihn hatten.
Er war damals schon über die Zwanzig hinaus.
Natürlich war er seit seinen Iungenjahren schon da und dort gewesen, einen Beruf zu erlernen. Im Haag. Einmal in Paris. Einmal sogar in London. Und wo sonst noch! Denn das fühlten Vater und Mutter auch, dass es mit diesem Sohne seine besondere Bewandtnis habe.
Dass sie des Nachts in ihren Betten lagen und der Schlaf ihnen nicht kommen mochte über ihren Sorgen um ihn, das wusste er. Das hatte ihm die Mutter erzählt. Es gehörte für sie dazu ein Aufgebot von Kraft, sich nicht in lauten Jammer hineinzukümmern um solch einen Fremdling in der Familie. Und es gehörte dazu eine grosse Liebesfähigkeit.
Wie er damals aussah, hat jemand von ihm berichtet, der ihn gekannt hat von Kind auf. Sein Rücken war leicht gebogen, durch die schlechte Gewohnheit, den Kopf hängen zu lassen. Er trug das rostbraune Haar kurz geschnitten unter einem Strohhut, der ein seltsames Gesicht beschattete; gar kein Jungengesicht. Die Stirn schon leicht gerunzelt. Die Augenbrauen unter der weit ausgebauten Stirn in tiefem Nachdenken zusammengezogen. Klein und tiefliegend die Augen. Bald blau, bald wieder grünlich; je nach den wechselnden Eindrücken. Bei so unschönem ungelenken Äusseren hatte er doch etwas Merkwürdiges durch den unverkennbaren Ausdruck innerlicher Tiefe . . .
Einmal schenkte ihm ein Malergehilfe eine Handvoll Ton. Daraus modellierte er einen Elefanten. Und einmal hatte er eine Katze gezeichnet, die ungestüm anlief gegen den Stamm eines Apfelbaums in Vaters Garten.
Zu dieser Zeit war er noch ein Kind. Deshalb war es keinem der Mühe wert, sich darüber Gedanken zu machen; denn damals verstanden sie ihn noch.
Er aber verstand sie schon nicht mehr.
Auch der Pastor verstand ihn nicht, der fast zwanzig Jahre später an ihm die Neigung zum Studium entdeckte.
Daraufhin schickten sie ihn — mit der Unterstützung fremden Geldes — nach Antwerpen. Damit er sich bereite zur Vorprüfung für die Akademie. Er lernte das Griechische und das Latein in wenigen Monaten. Aber die Stimmen der Sehnsucht in ihm wurden darüber nicht stille.
Auf einmal — es fiel ihm ein: ich werde diesem Rufe meiner Sehnsucht nachlaufen!
Zwar wusste er nicht, von wannen der kam. Aber das wusste er: aus den Hörsälen der hohen Schule kam er nicht! Denn wer will sich dort selbst gehören?
Es war spät in der Nacht. Er hatte sich an einem Bande Dickens das Herz heiss gelesen. Von Arbeitern in Bergwerken. Und wie sie wühlen und hacken unter Tag und unter Glück . . . was die Menschen so Glück nennen. Turmtief darunter. — Eine Welt, die er bis dahin nicht kannte.
Mit all seinen Gedanken stürzte er sich auf diese Entdeckung. Und grübelte sich von der verlöschenden Lampe fort; ging hinunter in die erwachenden Gassen der grossen Stadt.
Es lag da die Nüchternheit aus der Stunde der ersten Hahnenkrähe. Die Strassenkehrer hantierten darin. Vor den Druckereien die Frauen mit vergangenheitlichen Kinderwagen, in denen sie Ballen frischgedruckter Zeitungen verstauten. Jungen, mit Packen unter dem Arm, trotteten morgenkarg davon.
Eines dieser Blätter erstand er. Und las im halben Lichte, dass man einen Prediger suche für die Grubenfelder, die sie die Borinage heissen. Einen Prediger. Nicht einen Geistlichen. Nur einen, der klug und gut mit den Leuten aus den Kohlengruben reden konnte: über ihre Sehnsucht nach der Welt der Menschen oder nach einem Lichte des Geistes; oder auch über ihre Sehnsucht nach dem Evangelium.
Zu diesen Menschen liess er sich schicken.
Nicht lange danach bekamen seine Eltern einen Brief von ihm. Sie wunderten sich, dass dieser Brief den Stempel der Borinage trug und nicht den Antwerpens. Davon waren sie sehr betroffen. —
Sehet, so weit kann der Weg sein, der da liegt zwischen der Sehnsucht und der Erkenntnis, was Gott mit einem vorhat!
Die Borinage ist ein Land von ungeheuerer Tristigkeit. Ein Land der schwarzen Berge, die von Menschen gemacht sind. Mit Halden von erstarrtem, kohlegewordenen Regelmass. Wenn ein Wind aufsteht in dieser Welt, so wirbelt er den Kohlenstaub in Floren durch die Luft. Oder er reisst den Qualm der Schornsteine herab und legt ihn auf das bisschen Leben — Sargtücher, Sargtücher! Es kümmern ein paar landfremde Bäumlein zwischen den schwarzen Buckeln, drei Schuh hoch und ganz ohne Sehnsucht; ganz ohne Teilnahme am Dasein; denn sie können diese Luft nicht atmen. Die Sonne, die sie umspielt, ist ein verirrtes Scheinen, ist ein verwehter Klang vom seligen Märchen des Himmels. Und die Menschen — o Gott, die Menschen!
Der aber, der in jenen Tagen als Prediger in diese schwarze Wüste geschickt wurde, dachte: „Das ist nun das Ziel meiner Sehnsucht; denn hier warten sie auf mich, warten sie! Hat jemals einer auf mich gewartet draussen in der Welt? Hat jemand auf mich gewartet in Paris? In London? Im Haag? In Dortrecht? Oder nur in den Häusern meiner bäuerlichen Heimat? . . . Nein, so etwas ist keinem eingefallen! Aber diese da! Die wühlen wie die Maulwürfe in einer Welt ohne Licht . . . Nun, so will ich ihnen das Licht bringen! Ich will ihnen erzählen von den Städten der Menschen; und vom Himmel, über den die Allmacht Gottes die goldenen Funken der Sterne geworfen hat. Ich will ihnen erzählen von der Buntheit der Erde und von den heiligen Strömen des Nils und des Ganges, von Palmen und Lotosblumen. Ich will ihnen erzählen von der furchtbaren Majestät der Berge, aus denen das Feuer bricht; von der Erhabenheit des Meeres und von der Lieblichkeit der Gärten Gottes, in denen die Engel spielen mit goldenen Bällen und klingenden Bronnen. Und in denen auch sie spielen werden, wenn sie dereinst ihre Himmelfahrt gehalten haben. Ja. So will ich es ihnen sagen; denn ihre Sehnsucht geht nach allem, was in der Borinage nicht um sie ist . . .“
So stieg ein Licht in ihm auf zwischen den finsteren Halden dieses finsteren Landes. In diesem Lichte sah er sich an und dachte: „Ich weiss nun, wie das mit mir ist! Ich habe geglaubt: ich stünde verwaist unter den Menschen mit meinen Sehnsüchten all die Fahre her. Aber ich war nur ein Fremdling unter ihnen. Und in den klingenden Gärten war ich schon all die Zeit her, war mitten darin. Ich erkannte es nur nicht; weil ich nicht davon reden konnte zu denen, die um mich waren; denn die sagten: „Es ist immer das gleiche eintönige Ding. Wunder sind da nirgends, du wunderlicher Mensch!“
Aber diese hier warteten auf ihn! Die sollte er führen zu Ländern des Lichts und der Freude — wenn auch nur in ihren Gedanken.
Darum sagte er: „Das ist es, wonach ich gesucht habe! Jawohl, dies ist das Land meiner Sehnsucht!“
Etliche Siedlungen zwischen den Kohlengruben der Borinage hatten es zu einem hölzernen Kirchlein gebracht.
Dort aber, wo der neue Prediger seinen Einzug hielt, war das nicht. Dort hatten sie in jener Zeit einen Bretterbau. Der lehnte sich an die Rückseite eines Backhauses. Schwarz wie alles in diesem Lande. Es war in der einen Ecke ein Holzverschlag für den Prediger. Hinter diesem Verschlage wohnte er, schlief er. Auf einem Strohsack, der an der Erde lag. Und es standen in dem Saal zwei oder drei kreuzbeinige Tafeln mit Holzbänken hüben und drüben. An einem Drahte hing über jedem Tisch eine kümmerliche Schirmlampe.
Männer, die nicht anfuhren, oder ihre Frauen und erwachsenen Töchter kamen in diesem Bau nicht ungern zusammen; denn es war nun der Herbst; und vom Gemäuer des Backhauses her wärmelte es durch den Raum. Weil sie nicht anspruchsvoll waren, empfanden sie dies als Behaglichkeit.
Es muss aber gesagt werden: den meisten der Leute in der Borinage erging es wie den Pflanzen zwischen den Halden — sie kümmerten durch ihr Dasein und waren kärglich an Leib und Seele.
Dazu kam: der neue Prediger war nicht von blendender Kraft des Wortes. Er vermochte nicht, sie emporzureissen aus der Freudlosigkeit ihres Werks und ihrer Tage. Deshalb lagen die Wunder der Welt, die er in seinem Geiste trug, auch nicht am Lichte für sie. Und sie sagten: „Ach, wir sehen wohl, er ist ein guter und gerechter Mensch, aber er ist einer wie wir alle.“
Das war die gleiche Rede in einfältigeren Worten, die sie dereinst von Jesus von Nazareth sagten: „Wir aber hofften, er sollte Israel erlösen.“
So war das mit ihm.
Doch auch dies wandelte sich im Laufe der Tage. Zwar: eine Predigt wurde nicht aus seiner stochernden Rede. Aber es ward ein warmherziges und aufgetanes Lehren und Lernen; wenigstens zwischen ihm und etlichen. Denn dieser Iungmann schloss ihnen Türen der Welt auf, von denen sie gar nicht gewusst hatten, dass dahinter Gotteswunder an Gotteswunder gehäuft sei.
Zu allen Zeiten war er für seine Gemeinde da; denn immer waren etliche, die mit ihm reden wollten, zwischen den Schichten. So war es wenigstens bis zu dem Tage, an dem die grosse Krankheit über die Borinage fiel. Bis dahin kamen sie zu ihm: so gut es gehen mochte, äusserlich bereitet für eine Stunde von hellerem Schein. Auch mit gewaschenen Gesichtern und Händen — so gut es gehen mochte.
Manche von ihnen hatten einen frohen Kirchenglauben. Die vernahmen gern von den Verheissungen, die ihrer warteten in der Erfüllung. Die Welt nämlich mit ihren Lockungen lag weiter hinaus für sie und unerreichbarer als die selige Ewigkeit, die ganz voll Glanz ist und ohne Kohlen, ohne Qualm, ohne Staub. Darüber wollten sie von ihm hören.
Da musste er ihnen sagen, wie er sich die Erfüllung dachte.
Er aber hätte viel lieber von der Erde gesprochen. Und wie sie selbst schon voller Wunder ist. Dafür aber fand er keine grosse Gemeinde. Das kam wohl daher, dass er jenseits der Sterne nun doch nicht so sicher daheim war. Immerhin. Er sagte ihnen auch: „Die Bibel, das ist der höchste Berg der Erde. Man kann von seinem Gipfel aus sehen bis in das Herz Gottes. Ja, das kann man, ihr Leute! Hinwiederum: wenn einer seine Augen auf derlei Dinge nur erst eingestellt hat, so kann er auch schon durch den geringen Kelch einer Wiesenblume schauen in alle Weisheit des Herrn. . . Sehet, das möcht’ ich, dass es mit euch dahin komme!“
Aber: da konnten sie nicht mit! Die kleinen Blumen — wiewohl zwischen den Halden keine blühen mochten — die kleinen Blumen waren ihnen zu nah und zu einfältig. „Wie kann einer von kleinen Blumen reden als von einem Fernrohr ins Herz Gottes?“
So vermass er sich an ihrem schlichten Verstande. Sie verloren die Geduld, ihm zuzuhören. Und es erhoben sich etliche und vertraten sich zwischen den Tischen ein wenig die Glieder; denn es war in den Tagen vor der grossen Krankheit in der Borinage. Jeden, den sie packte, warf sie drei Wochen aufs Lager. Ihrer viele warf sie auch ins Grab. Einige klagten schon in dieser Zeit über Abgeschlagenheit, über Kopfweh, über Frösteln.
Während sie sich die klammigen Glieder vertraten, kamen an den schwarzen Innenwänden des Holzhauses ihre noch schwärzeren Schatten herauf mit stössigen Gebärden. Es war ein unheimlich malerisches Leben.
Nun, im Grunde war dies Leben eine ungeheure Kargheit
Zuerst fühlte er das nicht. Denn die Hütten der Siedlungen waren von jener heimeligen Art, an die er sich in den drentischen Dörfern gewöhnt hatte. Es waren da die steilen Strohdächer, tief herabgezogen. Und es war auf diesen Dächern das sammetige Moos. Vom Spiele der Sonne und Zeiten wurden auf dies Moos in seiner Heimat alle Farben aus dem Malkasten des Weltenbaumeisters gestrichen. Auch hier fehlte dies Wunder des Lichts nicht ganz. Nicht ganz.
Manchmal ward er gesehen, wie er vor einer Hütte sass und zeichnete. Oder drinnen bei einer Frau am Herdbrand. Oder bei einer Haustochter. Er gab mit derlei Studien im Zeichnen seinen freien Stunden einen Inhalt.
Es war nicht viel, was er damals zustande brachte — vielleicht nicht viel; denn er ahnte noch gar nicht, wohin das mit ihm wollte.
Die Bäckerfrau, seine Nachbarin, dachte nach Weiberart nah und irdisch über dieses neuen Predigers Lust am Zeichnen.
„Es sind keine schönen Menschen in der Borinage“, sagte sie eines Tages zu ihm. „Die Frauen sind dürr und nicht blank, und sie sind auch stumpfer an ihren Sinnen als anderswo. Die Mädchen hier haben keine Jugend. Daran sind die Kohlen schuld. Wie kann ein Mann Lust haben, bei solch einer zu schlafen? Alles ist dreckig vom Teller bis zum Bett, vom Strumpfband bis zur Halskrause. Dazu ihr dunkles Haar und ihre porige gelbliche Haut, in die sich der Kohlenstaub einnistet! Sie haben auch gebeugte Rücken. Es trägt jede ihren Sack voll Schlacken.“
Diese Bäckerfrau war in den dreissiger Jahren und von dem rundlichen Schnitte der Holländerinnen. Auch war sie von einer gesunden und tüchtigen Art und von einer inneren Freudigkeit, die dies Land mit den Wegen aus Stückkohlen sonst nicht zuliess. An guten Tagen leuchtete ihr niederländisches Blondhaar ganz hell und heimatlich. Sie war hier die einzige von solcher Blankheit. Einst hatte sie nicht richtig abzuschätzen gewusst, was es mit dieser Gegend für eine Bewandtnis habe, in die sie ihrem Manne vor neun Jahren gefolgt war.
In den ersten Tagen seines Hierseins sagte sie von ihrem neuen Nachbar, dem Prediger: „Er ist ein Jan van Moor. Es hat wohl früher ein Bär aus ihm werden wollen. Es kommt mir so vor, als hätten sie ihn draussen im blauen Lande nicht verbrauchen können.“