Peter Lebegerns große Reise - Max Geißler - E-Book

Peter Lebegerns große Reise E-Book

Max Geißler

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Beschreibung

Wilhelm Lebegern, der Schuster, hat für seinen Sohne Peter nur einen Traum: Er möge Dorfschulmeister werden. Peter Lebegern erfüllt diesen Traum und wird Schulmeister. Doch auch er hat einen Traum: Er will in die Welt hinaus, was mit einer Reise nach Lappland beginnt. Dann zieht er in die Berge, landet in einer Bergeinsiedelei, schließlich in dem Burgfried der Frau von Landroff an der Saale in Thüringen. Was aber noch wichtiger ist, er lernt die wunderbare Valentine kennen und er erkennt, dass seine wahre Berufung im Schreiben von Romanen liegt.-

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Max Geißler

Peter Lebegerns große Reise

Roman

Saga

Von Haus aus war Peter Lebegern wohl ein Armer — was man so arm nennt, das nicht reich ist; denn sein Vater war ein ehrsamer Dorfschuhmacher. Wenn der seine Sohlen aufnagelte, ängstigte den bescheidenen Mann in Liebe zu seinem Kinde der Traum: dieser Junge möge dereinst Schulmeister werden, womöglich gar Kantor. Aber — wie gesagt — jener Gedanke hatte etwas Beängstigendes; denn Wilhelm Lebegern, der Schuster, hielt ihn für vermessen.

Zu dem Dorfschulmeister kam es mit Peter trotzalledem. Seiner Art nach gab es keinen, der zum Lehramt in damaliger Zeit berufener gewesen wäre mit seiner Entbehrungsfähigkeit, der Kraft seiner Selbstentäusserung, Geduld und Güte.

Aber auf einmal … auf einmal kam die Sehnsucht über ihn!

Nun, Peter Lebegern, der in Bogenbach am Rotwasser die Kinder die schweren Künste des Schreibens und Lesens lehrte — dieser Peter Lebegern war kein tatenloser Träumer. Er wartete nicht auf ein Wunderbares. Er dachte nicht, dass ihn ein Unbekannter zum Millionenerben einsetzen würde. Er hatte keinen Vetter in Amerika. Nein, nein, Peter Lebegern war ein so vernünftiger Mensch, dass er sich von den sechzig Mark Monatsgehalt eines Hilfslehrers nicht einmal ein Lotterielos kaufte. Aber das wusste er von Stund an: die Wüsten Arabiens oder die Weidegärten zwischen Euphrat und Tigris hatten etwas endlos Verlockenderes für ihn als die Enge der Wände, in die er dank des Traumes seiner Väter versetzt worden war. — Es war nämlich herausgekommen, dass dieser Traum schon durch Geschlechter in den Lebegerns gespukt hatte. Aber erst Wilhelm Lebegern, der Schuster, hatte den Weg und den Mut zur Verwirklichung gefunden.

Natürlich war Peter Lebegern weise genug, sich zu sagen, dass es im Grunde keinen edleren Veruf gäbe als Menschen zu machen zu Abbildern Gottes aus den nassnasigen jungen Geschöpfen, die man ihm auf die Schulbank setzte. Jedennoch — er war auch weise genug, zu erkennen, dass er dies Geschäft besser solchen überliesse, die sich dabei ein bescheideneres Mass und Ziel steckten oder andere Verheissungen hatten als er.

Und Peter Lebegern lauschte der Stimme, die in ihm sprach. Es sei nicht das richtige Glück, in dem er lebe, lockte diese Stimme. Wie? War das wohl gar ein Ton, jenem ähnlich, der durch die wunderschöne Dichtung von der Schlange im Paradiese klingt? — Nun, Peter Lebegern hörte dennoch hin — mit lächelndem Verständnis.

Eines Tages stand es für ihn fest: er wollte seinem Glück und der Menschheit auf einem anderen selbstgewählten Posten dienen! Soviel Geld wie als Schulmeister musste sich zum Lebensunterhalt allenthalben verdienen lassen bei einer freien, seinen Neigungen mehr entsprechenden Tätigkeit.

Dieser junge Dorfschulmeister hatte nämlich alle Sinne weit offen und sah durch seine Brillengläser ein ungeheuer weites und tiefes Stück Welt in sich hinein. — Es ist nicht von ungefähr, dass jene Brillengläser genannt werden. Sie hatten mit ihrer schwungvollen schwarzen Hornfassung in dem schmalen Dorfschulmeistergesicht etwas Herrschendes. Sie griffen hinab bis auf die Jochbeine der Wangen und griffen empor bis zu der klar modellierten Stirn. — Um jene Zeit trug Peter Lebegern das blonde Haar strack nach hinten gekämmt. Auch aus dieser Tatsache lässt sich erkennen, dass er mit dem Hirtenkönig im Land Uz wenig Ähnlichkeit besass — ausser der Verheissung, die in ihm glühte.

Jedennoch — seine Träume waren anderer Art. Was nicht heissen soll: sie waren zeitgemässer. Oder: sie waren weniger verwegen; die des Abram waren das so sehr, dass er sich bekanntlich hinter den lieben Gott verstecken musste, um bei seinen Leuten den Eindruck zu vermeiden, die Wüstensonne habe ihm das Hirn verbrannt. Aber Könige waren sie alle beide — Punktum. Nur konnte der schmale Schulmeister von Bogenbach am Rotwasser sein Königtum nicht so sichtbar zur Schau tragen wie etwa der bronzebraune Kamelreiter aus dem Lande Uz in Chaldäa, dessen Herden die Weiden deckten zwischen den Rändern des Himmels.

Um die Zeit der ersten Verheissungen wurde Peter Lebegern sogar noch ein wenig schmaler und blonder; die Bauern spotteten: dem Schulmeister wüchsen die Brillen. Was daher kam, dass er die Hälfte jedes Monatsgehaltes zur Seite legte; denn Peter Lebegern hatte sich vorgenommen, eine grosse Reise zu tun, sobald seine Ersparnisse hinlänglich seien … Bei dieser Feststellung ist im Hinblick auf die Einnahmen des Lehrers von Bogenbach die Frage allerdings nicht von der Hand zu weisen: waren nicht am Ende die Eroberungspläne Abrams und die Aufrichtung eines irdischen Königstums weniger vermessen?

Nach einigen besinnlichen Stunden entschloss sich Peter Lebegern, das Land der Lappen und Eskimos zu besuchen; denn er fand, dass er die meisten anderen Gegenden der Erde aus unmittelbarster Anschauung heraus bereits kenne … wobei zu bemerken ist: diese Unmittelbarkeit der Anschauung war in der Tat vorhanden; denn über der Hingabe an seine Studien zur Welt- und Heilsgeschichte hatte er sich die Fähigkeit eines ungeheuren Einlebens in Zeiten, Länder und Völker angeeignet. Seine Augen sahen mit der Geübtheit derer des Malers. Sein nachschaffender Geist gestaltete mit der sieghaften Sicherheit des Dichters äusserlich Niegeschautes, aber zu tiefst Erlebtes. Peter Lebegern war schon um diese Zeit ein Künstler von kräftigen Massen — und wusste es nicht. Er war ein Eigener.

Manchmal dachte er darüber nach, ob es nicht eine an Blödsinn streifende Schrulle sei, von den mühsam ersparten Pfennigen eines Dorfschulmeisters in das Land der Mitternachtsonne zu reisen, um mit einem Eskimo einen Becher Tran zu trinken.

Als Pius Heidvogel, der geräderte Zeitungsmann, bei Peter Lebegern eintrat, hatte der seine grosse Reise schon hinter sich. Er hatte also den Schulmeisterrock in Bogenbach am Rotwasser hängen lassen, war mit rundlichen Lappen im Bootschlitten über verschneite Fjelds gesaust und war nun gerade im Begriffe, seine Mitbringsel in einem hochgelegenen Stübchen zu verstauen. Mitbringsel. Ja. Es waren das viele kleine und kleinste Dinge, die ihm aus irgend einem Grunde wertvoll erschienen. Zusammengetragen, zusammengepackt und wieder gepackt.

Dazwischen stand er — Peter der Lebegern. In einer im übrigen noch leeren Dachstube. Viele Giebelchen guckten zu den Fenstern herein — manche, als stünden sie auf den Zehen oder klömmen mit spitzen Fingern an Peters Fensterstock hoch, zu sehen, was das für ein Wunderling sei, der dort seinen Einzug halte. Mitbringsel muss man die Päcke nennen, die da um ihn herumlagen; denn Reisegepäck — du lieber Gott, was für Reisegepäck hat ein Schulmeister von Bogenbach, der sechs Jahre lang Geld sparen musste, um in einer Eskimohütte zu übernachten?

In dieser Lage, die man im Durchschnitt ‚verzweifelt‘ zu nennen pflegt, traf ihn Pius Heidvogel. Der stürmte die Holzstiege heran. „Ah!“ Dann drückte er den grauen Schlapphut gleich wieder auf die wirren Haare; denn er meinte: dies sei wohl nicht ein Raum, in dem Peter Lebegern wohnen wollte. Sondern eine Rumpelkammer, in der dieser Herr rasch einmal darüber nachdenke, welches der kürzeste Weg sei, sich wiederzufinden.

„Herr Lebegern? — Ah, welch ein sonderbarer Name!“ …

Peter Lebegern lächelte. Nun — ‚Pius Heidvogel‘ … das war auch nicht alltäglich. Nur trug der eine seinen Namen in der Tat, der andere hatte ihn aufgelesen von ungefähr und passte dazu wie der Kürbis in das Schüsslein der Eichel.

„Hm!“ machte Peter und setzte ein Lächeln auf; das war so grundgütig und weise — der andere hätte schamrot werden müssen, wenn er nicht Pius Heidvogel aus dem Durchschnitt gewesen wäre. Ein Stürmer und Dränger mit Schlapphut und cholerischem Haarwuchs. Und dennoch aus dem grauen Lande des Durchschnitts. Ja.

„Sie kehren von einer grossen Reise zurück, Herr Lebegern …“

„Wie man es nimmt. Ich bin der Ansicht, die grosse Reise beginnt erst jetzt.“

„Glücklicher, der Sie über ein Vermögen verfügen, das Ihnen zu leben gestattet, wie Sie wünschen! …“

Peter Lebegern zog eine dünnleibige Geldbörse aus dem Hosensack. Seine Grossmutter hatte sie aus grüner Seide gehäkelt. Es waren zwei weisse Hornringe als Schiebeschliessen daran. „Ich habe es so eingerichtet, dass ich mir nach der Rückkehr aus dem Lande der Mitternachtsonne noch etliches zu des Lebens Nahrung und Notdurft erstehen könnte. Alles das Meinige trage ich mit mir.“

„Und was gedenken Sie jetzt zu tun?“ fragte Heidvogel aus wachsendem Staunen.

„Augenblicklich beginne ich zu wohnen.“

„Wo schlafen Sie?“

„Hier,“ lächelte Peter Lebegern. „Es ist noch weithin bis zum Abend. Ich werde mir ein Bett beschaffen, einen Stuhl, einen Tisch, eine Lampe … was Sie wollen, Herr! Und bei dieser Lampe …“

„Hah, bei dieser Lampe werden Sie mir einen schönen Reisebericht schreiben! Lappen, Renntiere, Schlitten, Fjeld, Mitternachtsonne …“ Er nannte auch gleich ein leidliches Honorar, das gezahlt werden sollte. Nun, als Schulmeister von Bogenbach am Rotwasser hatte er um dies Geld zwei Monate arbeiten müssen im Dienst eines kulturfördernden Idealismus — hier sollte er das in einem Abend verdienen. — Peter Lebegern verpflichtete sich. Es war ihm ungeheuer wohlig zumute.

Der Gedanke, dass die grosse Reise für ihn leicht erst jetzt beginne, beschäftigte Peter Lebegern gemessene Zeit. — Dabei ist nicht zu vergessen, dass Peter Lebegern in einer Dachkammer sass, in der sehr viele unansehnlich gewordene Pakete um ihn herumlagen. Er gedachte aus dieser Umwelt ein gemütliches Heim zu machen, in dem er sein gerüttelt Mass von Glück leben wollte. Denn dazu stand er im Dasein. Und nun sass er hin auf den geräumigsten der Packen, in dem er das Festkleid eines Lappenfräuleins vermutete, und dachte an dem Gedanken herum, ob die grosse Reise für ihn jetzt erst beginne …

Das kam daher: auf der Fahrt ins nordische Land waren zehntausend Türen vor ihm aufgegangen. Allenthalben sah er seitdem Welt, Welt, Welt, die von ihm entdeckt werden musste. In Bogenbach hatte er gar keine Ahnung gehabt von all diesen Türen und der vielen Welt, die dahinter lag. Auch gehörte zur Entdeckung jener Welten weder ein Schiff noch ein Schnellzug. Es gehörte dazu weder eine gefüllte Börse noch ein Berufsrock, den man erst an den Nagel hängen musste. Was er dazu nötig hatte, das war in heiterem Überfluss vorhanden.

Peter Lebegern schlug sich vergnügt auf beide Schenkel. Er kam sich ungeheuer reich vor. Wie ein Schlosswart, der in eines toten Königs Bergsitz waltet und zu all den Sälen, Zimmern, Speichern den Schlüssel hat: ein Druck, und die Türen öffnen sich — es ist alles dein, Peter Lebegern, diese ganze flimmernde, köstliche, königliche Welt, an der die andern vorüberhasten und nach dem Wunder suchen, das sie glücklich macht! Dein, Peter Lebegern, alles dein!

Es muss endlich einmal gesagt werden: an einem Teile dankte Peter Lebegern seine glückliche Art dem äusserlichen Umstande seines Namens.

Wenn ein Mensch mit einem solchen Namen geboren wird, so darf er dafür schon eine Million von dem übrigen Erbe abstreichen; denn der Name Peter Lebegern ist für einen Menschen mit leidlichen Fähigkeiten solch eine Summe Geldes wert. Ein Peter Lebegern muss Philosoph werden schon in seinen ersten Schuljahren. Reizt solch ein Name nicht, das Leben von der richtigen Seite anzufassen? Und wenn die sich nicht finden lässt, so ist in jedem Augenblick die Mahnung da, aus dem Vorhandenen das Beste zu machen. Oder sich selbst herzhaft einen Narren zu nennen, wenn das Missvergnügen am Leben einmal obenaufschwimmt. — Wilhelm Lebegern war ein Schuster gewesen. Er gestand, dass er die Kunst, die ihm sein Name auferlegte, nicht immer gemeistert habe. Aber ein nachdenklicher Mann war auch er geworden an seinem Namen. Peter Lebegern wurde darüber hinaus ein glückseliger: ‚der Weise aus dem Abendlande‘ hat ihn Pius Heidvogel einmal genannt. Es war viel später.

Hätte Peter Lebegern seine Jugendjahre und die ersten seiner Selbständigkeit in behaglichem Wohlstande verbracht, so wäre die Zeit, die nun für ihn kam, der kürzeste Weg zur Weltfeindschaft gewesen. Zur Gefrorenheit bis auf den Grund. Er jedoch hatte von einem Dorflehrergehalt sechs Jahre lang für seine Nordlandreise gespart. Dabei waren ihm zwar die Brillengläser gewachsen, aber seiner inneren Freudigkeit hatte das keinen Eintrag getan. Jetzt lebte, er in einer Stadt Mitteldeutschlands — nicht zu gross und nicht zu klein und von jener Art und Lage, in der jedweder Eigenständigkeit ein gar kümmerlich Gedeihen beschieden ist.

Nun — eigentlich lebte Herr Peter nicht in dieser Stadt. Sondern — genau genommen — er lebte in sich selber. Er wohnte nur in einer der Dachstuben, sanft umplätschert vom Meere der Giebel und seiner guten schöpferischen Gedanken. Des Tages ein paar Stunden spazierte er in dem Gewühl der Strassen. Er suchte die Viertel der Reichen und Armen. Er atmete freier im bunten Spätsommerfeste der Anlagen und Wälle. Er studierte dort die trutzig getürmten Bauwerke, die aus anderen Zeiten sich herübergeträumt hatten und nun unverstanden in tiefem Schlafe lagen. Er lebte, was ihm in Bogenbach am Rotwasser nicht zu leben vergönnt gewesen war, und entdeckte die Wirklichkeit hinter etlichen der zehntausend Türen.

Zwischendurch fiel ihm in den ersten Tagen dieses Daseins ein, was hinfüro wohl aus ihm werden solle; denn Peter war nicht einer, dem die Weisheit Salomonis von den Vögeln unter dem Himmel eine heitere Verheissung bedeutete. Er war kein Zigeuner. Und der gesunde Einschlag des Romantikers, der sieghaft durch das Leben leitet, war ihm zu jener Zeit zwar kräftig eigen, aber er war ihm nicht bewusst.

Auch hielt er etwas auf seinen äusseren Menschen. Und dies war ein Erbteil seines Geschlechts. Die Lebegerns waren Schuster gewesen ihr Tag, und es war ihnen die Lehre geläufig, dass einer mit guten Stiefeln der Verschnupfung allerwege weniger ausgesetzt sei. Ein Lebegern, dem die Romantik für seine Art stärker im Blute lag, hatte übertreibend gesagt: ‚ein Bettler mit schönen Schuhen ist ein König; ein König mit zerrissenen Stiefeln aber ist ein Lump.‘ — Peter Lebegern gab diesem romantischen Ahnen heimlich lächelnd recht.

Eines Tages stürmte Pius Heidvogel die gleiche Strasse entlang, auf deren Bürgersteig sich Peter Lebegern in gütiger Oktobersonne Wohlsein liess. ‚Pius Heidvogel,‘ dachte der einstige Schulmeister von Bogenbach, ‚Pius Heidvogel trägt seinen Namen gewissermassen doch auch in der Tat!‘ Das ‚gewissermassen‘ dachte er mit besinnlichem Nachdruck; denn Pius Heidvogel fuhr dahin als hätte er heulenden Westwind unter den Flügeln. Dabei sträubten sich ihm die Haarbüschel auf dem Kopfe wie Federn — was man beobachten konnte, weil er den Schlapphut mit dem angewölkten Band in der Hand schwenkte und unablässig Reden damit hielt. Dieser Heidvogel hatte eine zerdachte Stirn. Er hatte Fenster im Kopfe, aus denen wilder Geist und zermürbte Nervenkraft schauten … könnte man sagen. Aber ‚schauen‘ ist ruhevoll. Und aus den Augen Heidvogels irrlichterte es hervor. Oder es wetterleuchtete.

Pius Heidvogel — oha, solch ein Mensch hiess Pius! — Pius Heidvogel stiess auf den Sonnenpilger Lebegern hernieder wie ein Falke.

„Lebegern, wissen Sie, dass Ihre Aufsätze gefallen haben? Sie, Mensch, es gibt eine einzige Wahrheit in der Welt, die unverbrüchlich ist: ‚Die Not ist die Mutter der Künste!‘ Jawohl, Peter Lebegern.“

Peter fing an, darüber nachzudenken. Aber es fiel ihm nicht ein, dass dies Wort mit Bezug auf ihn gesprochen sei. Die Sonnenseite der Strasse lang redete Heidvogel heftig auf ihn ein; dann merkte Lebegern, dass er ihn für einen hungernden Bummler halte, der an seiner jammervollen Lage tiefsinnig zu werden beginne ….

Nun ja, sein Vermögen zählte nach Groschen. Aber seine Genügsamkeit nach Millionen. Also war er zum mindesten nicht arm. In seiner Giebelstille hauste er und liess sich von Glück und Sonne liebkosen. Dabei spreitete seine Seele so wohlig die falterbunten klaren Schwingen. Kein Staub des Alltags lag darauf.

Da kam Pius Heidvogel, der seine Tage zerhackte wie ein Hartholzspäller! Dieser Pius Heidvogel schwätzte sein Missvergnügen über ihn dahin. Nicht das Missvergnügen an seinem zermürbten Dasein — nein, nein, Peter Lebegern, verstehe: das Missvergnügen an dir und deiner sonnenlichten Art!

„Sie Fremdling!“ krächzte Heidvogel, „Sie reiner Tor! Sie Müssiggänger! Wenn wir Menschen wären wie Sie — erkennen Sie denn nicht, dass dann die Achsen der Welt einrosteten? Was treiben Sie? Sie träumen! Sie lassen uns schuften und spielen König. Sie lassen uns die Welt vorwärtswuchten und sehen listig lächelnd zu. Wir aber — wenn wir fertig sind mit der Arbeit des Tages, dann schnurren die Räder der Maschine weiter, die wir geworden sind, und schnurren uns um den Schlaf …“

Heidvogel aus den ‚Neuesten Nachrichten‘ redete Zeitungsspalten. Immerzu. Und Peter Lebegern war ein Jungmann — im sechsundzwanzigsten Jahre. Er war voll allen Glaubens. Aber es fehlte ihm das wuchtige Selbstgefühl der jungen Leute, das seinen Sitz im wachsenden Schnurrbart zu haben scheint; denn in den Leistungen wurzelt es nicht — Leistungen fehlen um jene Zeit in der Regel.

Einem Manne wie Heidvogel, einem ‚Vorwärtswuchter der Welt‘, hatte Peter Lebegern deshalb wenig zu sagen. Es ist schlechthin zuzugestehen: er fühlte sich betroffen. Seine anfängliche Erheiterung wich einem erschreckten Schweigen. Er beschloss, darüber nachzudenken, ob es für ihn nicht am geschicktesten wäre, den fadenscheinigen Flaus von Bogenbach wieder vom Nagel zu nehmen.

So redete Pius Heidvogel den Lebegern ganz klein und hässlich. Und nach der vierten Spalte redete er sich von hinnen.

Am späten Nachmittag machte sich Peter Lebegern auf den Weg in die Zeitungsredaktion. Er hatte vor, ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft zu werden. Das hatte die überragende Persönlichkeit Heidvogels verschuldet. Eine Stunde später war er ‚Redaktionsvolontär‘ bei den Neuesten Nachrichten, was soviel hiess als: unbezahlter Mitarbeiter. Nun — für bestimmte Leistungen sollte er sogar ein Honorar erhalten. Abends hatte er gleich eine Pantoffelarbeiterversammlung in der stinkenden Kneipe einer Winkelgasse zu besuchen und einen Bericht für die Zeitung darüber zu liefern. Am nächsten Tage sass er als Referent in einer Gerichtsverhandlung. Es handelte sich um betrügerischen Bankrott …… Auch andere Prozesse durchlebte er als Referent. Es gingen Türen für ihn auf vor der Welt.

Pius Heidvogel erkannte: er hatte diesen jungen Mann aus den Angeln gehoben. Hah! Der Mensch, der sechs Jahre lang zu einer sinnvollen Fahrt ins Land der Mitternachtsonne sich das Geld groschenweise erspart hatte, um glücklich zu sein, sich selbst zu gehören, die Welt auf der Sonnenseite zu studieren, Gott zu grüssen auf allen Steigen — der selbige Mensch war ein Ding geworden, an dem das Radwerk nun, trefflich geölt, surrte, surrte bis tief hinein in seinen Schlaf.

Pius Heidvogel war zufrieden mit sich und ihm. Pius, der Vorwärtswuchter.

Ein ungewöhnliches Pflichtbewusstsein hielt die Maschine Peter Lebegern in Gang. Die Erkenntnis, dass er etwas leistete, ja, dass er zu einträglichen Stellen in seinem Fache berufen sei, liess ihn allgemach innerlich wieder fröhlich werden … lieber Gott, soviel er dieser Art Frohmut Zeit gönnte, sich einmal auszuflattern an den spröden Scheiben des grossen Geschäftshauses und sich einzubilden, dies blinkende Scheinen sei die Sonne. Lieber Gott!

Jedennoch: auch Fröhlichkeit mit Dampfbetrieb hat ihren Wert. Peter Lebegern hatte gar keine Musse, sein Dasein und die Einzelzustände, die dies Dasein derzeit ausmachten, auf ihren absoluten Wert hin zu prüfen. Es ging ihm wie den Menschen gemeinhin: er war ein Sklave und glaubte an sein Herrentum … Wie lange, Peter Lebegern? Wie lange? … Es wurde erträgliche Gewohnheit, was ihm im Kommen und Gehen der Tage oblag. Das Gelingen, das in diese Tage fiel wie freundliche Blumen, empfand er als Glück. Er leistete jemandem etwas und nahm dafür — wegen des anerkannten Wertes dieser Leistungen — nun regelmässig Geld. Er gehörte allgemach anderen, half diesen an seinem Teile zu Reichtum, beschied sich, trieb dahin in sein Leben wie alle, alle, alle, und durfte sein Herz an dem dürftigen Stolz erheben, dass er unter den vielen Vielzuvielen zu den besten zählte.

O ja, auch das ist etwas. Aber es ist damit wie mit der kleinen Münze, die von Hand zu Hand läuft. Jeder hat davon und kann sich damit einen Teil seines Tages nach mässigem Gefallen gestalten. Glück, das zur Dirne geworden ist, denn in solch einer Aufmachung gehört es allen. Die Menschen haben darüber hinaus, wenn’s hoch kommt, noch ihre Sehnsucht nach etwas Einmaligem. Manche warten auf das Wunderbare. Die gelten als ungesunde Träumer. Und sind es auch. — Ein wachsinniger Mensch hat keine Zeit zum warten.

Peter Lebegern wartete eine Zeitlang weder auf dies noch auf jenes. Er tat sein gemessen Teil von Pflicht, war in eine seiner Stellung würdige möblierte Wohnung gezogen und lebte so etwa zwei Jahre lang in dem Irrtum: das sei es nun, was der liebe Gott mit ihm vorgehabt habe. — Lieber Peter Lebegern!

Natürlich hatte er eine Menge Menschen kennengelernt. Die betrieben das Dasein ungefähr nach gleichen Formeln. Sie standen alle in den Zeichen der Zeit. Diese Zeichen waren Automobil und Luftschiff. Alle hatten den mehr oder weniger heimlichen Wunsch, reich zu werden an Gut oder Ansehen. Und alle zermürbten ihre Nervenkraft im Dienste des Alltags. Sie dachten, sie hülfen mahlen. Und lagen zwischen den gewaltigen Mühlsteinen des Lebens.

Peter Lebegern ward diese Art Betrieb des Daseins im Laufe zweier Jahre dermassen gewöhnt, dass ihm darüber — und vor allem darüber hinaus — nicht allzuviel mehr einfiel. Es fiel ihm nicht ein, in welch ungeheure Würdelosigkeit er geraten war, er, der sich das Dasein hätte ganz anders gestalten müssen, wenn er sich nicht seit zwei Jahren aus den Händen gefallen wäre. Und es fiel ihm auch sonst nichts ein, was über die verantwortungsreiche Fülle seiner Pflichten ging. Er schrieb klug, fesselnd, klar. Aber zwischen den Zeilen lächelte es nicht mehr. Er arbeitete wie eine Präzisionsmaschine. Dass er einst leuchtende Gedanken und Träume von köstlicher Eigenart gehabt — ach, Peter Lebegern, diese Träume waren verblüht! Dass er einst den Wunsch und die Kräfte verspürt hatte, dichterisch zu gestalten, was er zutiefst erlebte, — ach, Peter Lebegern, zum Wünschen liess dir dein Tag kaum noch Zeit! Und die Kräfte zu dichterischer Gestaltung schliefen irgendwo in heimlichen Gründen, über denen es lag wie der Schnee des Winters … Ja.

Er lernte viele Menschen kennen. Er hatte mit ihnen Erlebnisse: Gegensätze, Zerwürfnisse, Freude. An etlichen fand er Geschmack. Aber zuletzt blieb es doch so mit ihm: seine Stellung gebot ihm, es aller Welt recht zu machen. Dafür sorgten Chefredakteur und Verleger. Einmal stiess er mit diesem scharf zusammen, weil er ein Urteil in einem Bericht über einen Ruderverein geschrieben hatte, das hart aber gerecht war. Daraufhin bestellten sämtliche Mitglieder des Vereins die ‚Neuesten Nachrichten‘ ab. Der Verleger raufte sich die Haare und behauptete, ein Mensch wie Peter Lebegern schreibe in vierundzwanzig Minuten zunichte, was seine Tüchtigkeit und Geschäftspraxis in dem Blatte während vierundzwanzig Jahren gebaut habe … Also!

„Es ist ein unerhört nüchternes und peinliches‘ Kapitel,“ dachte Lebegern, als er die Stiege zu seinem Redaktionszimmer emporstieg. Darüber hinaus fiel ihm auch diesmal nichts ein. Nicht einmal, dass er nun in der Lage sei, sich herzhaft einen Narren zu nennen, der mit dem Reichtume nicht zu wuchern verstand, den ihm sein Name in den Schoss geworfen hatte.

Und nicht wahr, der Fall war doch lehrreich genug? Es war ein so köstlicher Fall — Peter Lebegern, wenn er noch der alte Peter gewesen wäre, hätte daran in einer Stunde völlig genesen können. Hah, als Männlein von fünf Jahren war dieser Peter ein Philosoph gewesen. Sein Vater geriet vor ihm in vermessene Träume. Und als Schulmeister von Bogenbach am Rotwasser war aus ihm ein Lebenskünstler geworden, der eine Krume Erde ein Weilchen in seinen Händen zu halten brauchte, und — es flog ein Vöglein daraus hervor. Als Schulmeister von Bogenbach hatte er auch den königlichen Mut, zu sagen: „Peter Lebegern, dein Schicksal bist du!“

Aber nun? Nun war Peter Lebegern unter die Menschen gegangen. — Oh.

Er lernte viele kennen. Darum: er war an seinem Verfalle nicht allein schuld.

Oder ist es nicht ein Verfall, wenn einer zwischen die Mühlsteine des Lebens gerät, dem der liebe Gott das Rüstzeug zum Glück in Fülle geschenkt hat?

Nun, Peter Lebegern sah und vernahm zwei Jahre nichts von der Welt, die einmal ihm gehört hatte und in der er hätte ein König heissen können … Nicht einmal das simple Bild von der grossen Mühle fiel ihm ein, in der alles Edelkorn — wie das stockige und faule — zerrieben wird. Es kann einer dabei um seine Freude kommen — und weiss es nicht. Es kann einer dabei um das klare Licht seiner Augen kommen — und bildet sich ein, er sähe nun schärfer als vordem. Es kann einem darüber sein Glück aus dem Herzen welken — aber weil er sein Auskommen an Gut und Bequemlichkeit hat, so täuscht er sich in die Meinung hinein: er sei mitsamt seinem Glück in ein Gewächshaus geraten und stehe nun über und über in Blüte. Darüber kann einer zu Tode kommen und bildet sich ein: jetzt, erst das sei das richtige Leben!

Natürlich hatte Peter auch sein hinterländisches Äussere städtisch gewandelt. Es war soweit mit ihm gekommen, dass er sich in keinem Stücke unterschied von einem leidlich eleganten Pflastertreter nach der Millionenschablone. — Brrr, Peter Lebegern!

Dieses Brrr! mag hier stehen in zwiefacher Bedeutung. Mit einem kraftvollen Brrr hält der Kutscher sein Pferd an. Bist du nun Kutscher oder Pferd, Peter Lebegern — halt an! … Es kann aber auch ein Ausdruck des Abscheus sein … Wenn du Ohren hast zu hören, Peter Lebegern, so höre!

Des weiteren wäre von den vielen Menschen, mit denen Lebegern in der Stadt bekannt wurde, nichts zu sagen. Aber draussen vor den Toren fand er eines Sonntags nachmittags ein Männlein mit einem geräumigen Ätherglas und einem Schmetterlingsnetz. Aus diesen Anhängseln des kleinen Gelehrten lässt sich unschwer erkennen: es war um die hohe Sommerzeit. Es waren grosse Ferien. Aus den alten Stadtwällen jauchzten sich die Blumen ins Blau wie Raketen; und die Sommervögel schwammen darin herum als bunte Leuchtkugeln.

Auf einmal — da kam es über den Peter zwischen den Mühlsteinen … Es war ein ungeheures Erlebnis. Man denke: ein alter Stadtwall, auf dem seit Landsknechtstagen kein Mensch mehr umhergekrochen ist! Ein alter Stadtwall, an dem die Mühlsteine der jähen Zeit vorbeigerieben haben! Ein alter Stadtwall, an dem vierhundert Jahre ihre stillen Sommerwunder getan! Hurrjeh, dem Peter Lebegern fuhr das Herz aus der Brust — eine singende Flamme! Sommer, Blühen, Seligsein, Heimat — da habt ihr mich wieder! Da habt ihr mich wieder!

Hinter seinem durchgegangenen Herzen her kletterte Peter Lebegern den alten Wall empor. Lichtnelken und Johanniskraut, die ganze Schar der aufgetanen Sonnenkinder sprangen um ihn herum. Und der kleine Professor Ferdinand Wurzler lehnte sitzend gegen das machtvolle Bauwerk des Rundturms und sah forschend dem bunten Leuchten der Schmetterlinge zu. — Er ärgerte sich über den Störenfried.

„Ich sonne und stille mich hier durch meine Ferien,“ sagte er und setzte ein Gesicht auf, das nicht von fern seine jäh verkümmernde Freude erraten liess. Ferdinand Wurzler genoss den Ruf gewichtiger Gelehrsamkeit und Besonderheit. Auch hiess es von ihm, er habe nie einem Menschen wehgetan. — So lernte Peter Lebegern den gescheiten Doktor kennen.

Vordem hätte der Junge dem Älteren und seiner Würde gegenüber leicht eine leidlich geschickte Einleitung zu gedeihlicher Unterhaltung gefunden. Heute hatte er den Kopf voller Gemeinplätze. Aber ein gütiges Geschick — oder war es die Feier der Stunde? waren es Ahnungen, die in ihrem scheuen Dasein sich ihm seit zwei Jahren verborgen? — kurz, er bewahrte sich vor einer Dummheit und sagte:

„Verzeihung, Herr Professor — es war wohl die Sehnsucht nach mir selber, die mich unbedachterweise in Ihre Kreise brechen liess! Ich schätze: Sie verstehen noch immer die Kunst, dem Weltlauf aus einem Sonnenwinkel mit gelassener Entsagung zuzusehen. Auch ich habe das dereinst gekonnt …“ Es klang schmerzlich bewegt.

Der Gelehrte horchte auf. Dies Bekenntnis war nicht gerade ausgelassen gescheit. Jedennoch: es war eine Seltenheit. Der kleine Mann nahm den Faden nicht unwillig auf.

„Dies ist ein besinnliches Geständnis, junger Mann! Aber es ist in einem Tone des Schmerzes gesprochen worden, der mir nicht gerechtfertigt erscheint … Sie haben sich selbst verloren. Hm. Das setzt voraus, dass Sie in eine Welt verschlagen wurden, in der Sie sich nicht zurechtfinden. Noch nicht, mein Freund! Ist das ein Schade? Sie wollen in Ihrem Alter doch kaum schon dem Gotte danken, an dessen Tempelwand Sie ihr triefendes Gewand aufhingen, nachdem er Sie wohlerhalten im Hafen landen liess — wie der greise Horaz.“

Der Doktor Ferdinand Wurzler sprach langsam. Ein Licht tat er damit an und stellte es dem Peter Lebegern mitten ins Herz. Nein, er tat sieben Lichter an, eins nach dem anderen, also, dass es ganz hell ward. Und Peter Lebegern erkannte, wie grausam er sich verbiestert hatte — in sich und in der Welt.

Sie sassen, bis die Sonne ihr glühendes Rot um den alten Turm wob. Da waren sie Freunde geworden. Dennoch suchte Peter das Leben ganz anderswo. Aber er wusste nun: wenn er nicht in diese Welt gegangen wäre, von der er übersättigt war bis zum Widerwillen, so wäre wohl ein kümmerndes Gewächs aus ihm geworden. Etwa: ein Baum, der in einen Winkel gepflanzt ist und seine Äste nach der schmalen Seite wendet, aus der die Sonne kommt.

Und merkwürdig: der Professor Wurzler, während er so gütig und besonnen sprach, pickte ein Gedänklein heraus aus seinem geräumigen Vorrat an Weisheit, das wirkte wie ein Zauberwort … Mit einem Male lehnte Peter gar nicht mehr gegen den Sonnenpurpur am Turm. Mit einem Male sass er auf dem grossen Packen, den er von seiner Fahrt ins Land der Lappen mitgebracht hatte, sass zwei Jahre rückwärts im Leben in einer Dachstube und überlegte, ob er seine grosse Reise nicht jetzt erst beginne. Ferdinand Wurzler nämlich, dem er von seiner Nordlandfahrt erzählte, war der Meinung: „Der Besuch bei den Eskimos war aller Ehren wert. Aber die grosse Reise, mein Freund — das ist die Reise ins Land der Menschen, die um Sie her wohnen im Bannkreis der nächsten Meile. Ich schätze, diese Reise dauert für Sie und ihre Besinnlichkeit noch etliche Jahre. Dabei geht es ohne üble Erfahrungen und vielerlei Unbequemlichkeiten nicht ab. Jetzt find Sie an der ersten Station. Es missfällt Ihnen daselbst. Sie sind um eine Hoffnung ärmer, aber um tausend Erfahrungen reicher geworden. Meinetwegen reden Sie auch von einem Eisenbahnunglück. Der Zug ist entgleist. Sie find mit gesunden Gliedern davongekommen — was wollen Sie mehr?“

„Hm,“ machte Peter Lebegern. „Aber … nun … wenn mir das zehnmal widerfährt, Herr Doktor … hm, und ich merke das immer erst nach zwei Jahren ... finden Sie nicht auch, dass das peinlich ist? Und dass man statt der grossen Reise besser von ‚Peter Lebegerns Entgleisungen‘ rede?“

Der kleine Doktor nahm den vergilbten Strohhut aus dem Gras auf und schupfte die Schultern: „Dann müssen Sie halt sesshaft werden, mein Freund — was in diesem Fall heisst: ein Mann mit der vorgeschriebenen Tagesordnung eines Beamten. Müssen warten lernen, bis Sie in die nächste Gehaltsklasse rücken ... Es ist das ein ehrlich Geschäft. Aber für Peter Lebegern ist es wohl nicht das richtige …“

Es ist aus dieser Rede zu ersehen: die beiden Männer waren in ein Fahrwasser geraten, über dem nicht mehr der rechte Segelwind wehte. Auch hatte das Wasser keine gute Strömung, die das Boot fröhlich vorwärts riss. Das kam daher: der Doktor Ferdinand Wurzler war zwar ein ungeheuer gescheiter Mensch; in dem stillen Gelehrtendasein war eine Erscheinung wie die des Peter Lebegern ein Ereignis — wenngleich nicht von jener umwertenden Macht, die das Auftreten des Doktors in dem Lebensspiel seines jungen Freundes besass … aber zuletzt: die klugen Augen des Gymnasialprofessors waren auf die Welt mit den Sehnsüchten des Peter Lebegern doch nicht ganz richtig eingestellt. Dazu waren der Gnaden, die Peter Lebegern im Übermass empfangen, zu viele. — So aber stand der gütige Doktor am gesicherten Ufer eines wildgewordenen Flusses voller Frühlingswässer. Da trieb einer daher und streckte die Arme aus der Flut. Und Ferdinand Wurzler — weil er einen Rettungsring nicht gerade bei der Hand hatte — reichte ihm den Stab eines Schmetterlingsnetzes …

Nun, das war auch etwas.

Es wäre nun sehr leicht zu sagen: ‚am anderen Tage gab Peter Lebegern seine Stellung auf und wohnte hinfüro wieder in jener Dachstube, in der er vor zwei Jahren so frohmütig vor dem Dasein gesessen und so weiter.‘ Doch, so ging das jetzt nicht mehr. Vor zwei Jahren hatte Peter Lebegern die Kunst verstanden, Paradiesvögel aus seinen Händen hervorfliegen zu lassen. Jetzt hatte er dies Zaubern verlernt; denn er war eine Präzisionsmaschine geworden. Damals vollbrachte er Wunder an Genügsamkeit. Jetzt hatte er Bedürfnisse, die seine Freude am Tage vernichtet hätten, wenn er sie nicht befriedigen konnte. Und das hätte er nicht vermocht; denn von dem fünffach höheren Gehalte des Redakteurs hatte er keine Ersparnisse gewacht wie der Schulmeister von Bogenbach. Es stand einfach so mit Peter Lebegern: er war noch nicht fertig mit der Entdeckung der Welt; aber er erkannte aus verklärenden Fernen, dass er einmal ein König und Wundertäter gewesen sei, dem Leben und Schicksal gedient hatten nach seinem Gefallen. — So wuchsen Sehnsüchte in ihm, Sehnsüchte! Aber es war kein Boot zu erblicken, das ihn über den breiten Strom dieser heimlichen blauen Wässer trug … Des weiteren erkannte er: er war in diesen zwei Jahren ein Sklave geworden. Ein Sklave der Dinge, Menschen, Gewohnheiten, wie ihn das Leben innerhalb der menschlichen Gemeinsamkeiten erzeugt. Er trug Ketten, die die Hunderttausende nicht spüren. Aber der Gedanke liess sich nicht mehr vertreiben: es sei besser, ein Asket und König zu sein, ein Wundertäter draussen im blauen Lande.

Mit derartigen Einfällen brachte er die Nacht herum, die der Begegnung mit dem Doktor Wurzler folgte. In den Tagen, die nun kamen, war er voller Unlust und Gereiztheit. Und er verfiel in eine fürchterliche Vereinsamung. Inmitten von dreimalhunderttausend schlagenden Herzen bekam er Sehnsucht nach einem Menschen! Und in Bogenbach am Rotwasser hatte er Ferientage hindurch dem kleinen Leben im Wald und auf der Heide zugesehen und alles ringsum vergessen über seinem grossen Glück und den tiefen und schönen Gedanken, die ihm die Einsamkeit eingab. — Einsamkeit ist Leben, aber Vereinsamung ist schmerzvolles Siechtum zum Tode.

Sterbensmüde wurde er nun. Er hatte das öde Referieren über Versammlungen und Gerichtsfälle längst vertauscht mit dem Schauspiel, der Oper, dem Konzertsaal. Die Kunstsalons der Stadt standen ihm offen. Er hatte in den verflossenen zwei Jahren eine Welt an Wissen sich erobert. In der Zeitung galt er als das brauchbarste Redaktionsmitglied, in der Stadt als ein milder, gerechter, nachschaffender und wegeweisender Kritiker — nicht gefürchtet, aber mit einer Achtung ausgezeichnet, die man Männern in seinem Alter in der Regel versagt.

Jedennoch: Peter Lebegern war müde, sterbensmüde. Mit einem Male. Was er schrieb, trug nicht mehr die frische, eigene Note. Und die Schablone nahm überhand, je mehr die Sehnsucht wuchs. ‚Überarbeitung,‘ lautete das Gutachten Pius Heidvogels. Der Arzt sagte das gleiche. Es folgte für Peter Lebegern ein Monatsurlaub auf Kosten der Zeitung; denn Heidvogel fürchtete, diesen brauchbaren Mann zu verlieren.

Peter Lebegern wählte die bayrischen Alpen zum Herbstaufenthalt. Sein Gesicht hatte um jene Zeit wieder Ähnlichkeit mit dem des Schulmeisters von Bogenbach, als ihm die Brillengläser gewachsen waren. Aber es war doch ganz anders mit ihm. Auf die Reise in die bayrischen Berge zog er äusserlich als Kavalier. Und in das Land der Lappen hatte er einen blauen Regenschirm mitgenommen — nein, ein Parapluie.