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Der Roman handelt vom Leben des bedeutenden niederländischen Malers Matheis Maris, das der Autor in drei Teilen entfaltet: Lehrjahre, Wanderjahre und Meisterjahre. Aber nur vordergründig geht es um Malerei, mehr darum, was es bedeutet, wenn einem Menschen die Kraft des Schöpferischen zufällt, welche Last und Aufgabe es ist. Es wird davon erzählt, wie der Genius das Äußerste einsetzen muss, um zur Vollendung zu gelangen, von der Sehnsucht eines außerordentlichen Menschen, der keinen Sinn für Ruhm und Vergnügen hat und einzig für sein großes Ziel lebt.-
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Seitenzahl: 455
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Max Geißler
Roman
Saga
Der Heidekönig
© 1919 Max Geißler
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711467657
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
In diesem Buch wird von Matheis Maris erzählt, der ein niederländischer Maler war von bedeutendem Ruf. Manch äusseres und inneres Geschehnis ist seinem, Leben entnommen; aber es ist nicht viel von Malerei die Rede oder gar davon, wie diese Kunst zu handhaben sei. Es kommt darauf nicht an. Jener Matheis Maris könnte ebensogut ein Dichter sein oder sonst einer, dem die Gnade des Schöpfers ein Kleinod in die Brust gelegt hat, welchem in Demut zu dienen ist. Es wird gehandelt von dem Einsatze des Äussersten zur Vollendung, von der Sehnsucht eines Ausserordentlichen unter den Menschen, von der Abseitigkeit ohne Sinn für Ruhm und Vergnügen: von dem Triebe des Genius. — Dieses Buch ist nicht die Geschichte eines Malers. Es ist die Geschichte einer Menschwerdung.
Lehrjahre
Das kleine Haus, in dem Matheis Maris geboren war, stand draussen am Rand eines holländischen Moores. Als Knabe schritt er in wuchtigen Holzschuhen über den braunen federnden Grund, sah den Enten zu, die auf den vielen geraden Wassergassen mit ihren Kindern spazierenschwammen, oder er schoss mit einem ungefährlichen Jungenpfeil nach dem Reiher, der sich des Morgens aus den Goldnebeln über der weiten heimatlichen Ebene herausschlug mit königlichem Schwingenschlage.
Er hatte noch zwei jüngere Brüder — Jakob und Willem —, die auch zur Kunstmalerei gelangten, aber zu einer wesentlich anderen Weltauffassung als er. Was an seiner Erstgeburt lag; denn Matheis, als der älteste, war in jenen Knabenjahren auf sich selbst gestellt, in denen das Licht in der Seele angeht, nach welchem der Mensch wandern muss sein Lebtag. Ja, so war das mit Matheis Maris. Menschen, die in jenen bedeutsamen Kinderjahren mit Einsamkeit und Natur hantieren, werden gemeinhin die besten und tüchtigsten; ihrer viele werden schöpferisch; aber sie bleiben von einer Feinfühligkeit — dies Wort trifft nicht; es muss heissen: Sensibilität —, mit welcher sie fremd unter Menschen gehen. Alle und ausnahmslos.
Matheis Maris war ein Träumer von Kind an. Nicht ein krankhafter, romantischer, tatenloser Träumer, sondern einer, wie sich ihn die Weisheit der Natur bildet in heilig befruchtender Kraft.
Einmal an einem zweiten Weihnachtsfeiertag, an dem die holländische Heide recht funkelblank und frosteinsam war, stapfte der Jungmann Matheis Maris über das gefrorene Moor. Da kam Nele Greefs des Wegs. „Ah, sieh mal einer an — der Matheis!“ — „Und wo willst du denn hin, Nele Greefs?“ Hurrjeh, was für ein Frühling blühte aus diesem Mädel! Aus den Augen, aus den Lippen, aus den Wangen, aus dem sonnenhellen Haar und unter der hellblauen Strickjacke, die sie zu Weihnachten bekommen hatte. Hurrjeh!
Nele Greefs lachte dem wippenden Jan van Moor mitten ins Herz. „Wo soll ich denn hinwollen? Ist nicht Tanz bei euch im Dorfe? Unsereinen von der Heidekante holt keiner dazu! So muss ich mir einen suchen. Na, Matheis Maris, wie ist das — möchtest du mich nicht zum Tanze führen?“ Sie schob ihm auch gleich den runden Arm unter den Knochen, der ihm von der Schulter baumelte wie Flegelholz, und blitzte ein paar Augen voller Frühling durch ihn hindurch. Jan van Moor meinte: jetzt, die Welt ist mit einem Sprunge hineingehüpft in den ersten Mai!
Und weil er das Mädel so von innen heraus anlachte, besann sie sich und sagte, just wegen seiner sei sie diesen Weg gekommen, der an des alten Stijn Maris Heidehause vorüberführte. An dem kleinen Giebelfenster hätte sie mit ihren Fingern den Matheis Maris herausrufen wollen zum Tanze.
Dem biederen Jan van Moor, dem es sehr merkwürdig in dem steckensteif herabhängenden Arme zuckte — dem biederen Jan van Moor fiel bei der Erzählung von den klopfenden Fingern gleich ein schönes Bild ein von der Sonne, die um die Ostern mit ihren goldenen Händen die ganze Auferstehungsmusik aus der Erde läutet. Verschwiegen sann er diesem Bild ein bisschen nach. Verschwiegen. Denn Mädel von der Heidekante haben zwar helle Augen — aber über die Zäune jener Gärten, in denen die Träume wachsen von der Auferstehungsmusik der Erde, können sie nicht gucken.
Nele Greefs wusste: Matheis Maris hatte Einfälle wie ein Buch, und er konnte reden wie die Bibel. Einmal an einem Regentage, an dem das Wasser nur so niederklackerte, war er mit dem gelben Postwagen über Land gefahren, bloss um seinen wunderlichen Gedanken nachzuhängen; denn an diesem Tage benutzte die Landpost kein Mensch. Matheis Maris aber fand es sehr schön, in dem gelben Wagen zu sitzen, der so mühselig die Sandstrassen lang mahlte. Die Fenster klapperten gemütlich, der Regen klopfte aufs Dach und die Nebel wälzten sich draussen im Sturm herum. — Ja, so etwas fand Matheis Maris schön.
Nele Greefs legte gleich ein spitzes Wort auf den roten Flitzbogen ihres Mundes. Aber sie liess es nicht fliegen; denn sie dachte: es ist ein niederträchtiges Gefühl für ein Mädel, allein zum Tanze gehen zu müssen. Und Matheis Maris hätte sie sicherlich stehen lassen, wenn sie ihn jetzt ärgerte. So sagte sie: „Es ist gar nicht ritterlich von dir, dass du dir das so lange überlegst. Bin ich dir nicht hübsch und blank genug?“
Da sah er sie an — sie wusste genau, wie ungeheuer hübsch und blank sie war. Aber dass sie einen Notnagel aus ihm machte für diesen Tag, das erkannte er nicht. „Nele Greefs — mit einem feinen Mädchen wie du geh ich gerne. Also komm.“ Da gingen sie miteinander.
Als sie für die Leute in den Häusern in Sehweite kamen, nahm sie ihren Arm aus dem seinen und legte zwei Schritt Weg zwischen sich und ihn. Aber ihre Frühlingsaugen und ihr Lachen flatterten noch um ihn wie Sommervögel um erste Blumen. — Dem Matheis Maris gefiel das sehr.
Dann kamen sie auf den Tanzboden. Die Geiger und Bläser waren schon alle da. Die Tänzer und Tänzerinnen auch. Deshalb wurden Nele Greefs und ihr Begleiter gleich von hundert Paar Augen aufgefangen. Es war, als hätten diese vielen Augen schon immerzu nach Nele gesucht. Das verschaffte ihr eine grosse Genugtuung; denn sie hatte sich den ungelenken und nachdenklichen Jungen nur angehängt, damit sich etliche andere ärgern sollten. Nun sah sie die Neugier und fühlte sich erst recht umworben. Bald lachte sie sich denn auch mit anderen an Matheis Maris vorüber, als hätte sie diesen Menschen ihr Lebtag nicht gekannt.
Maris aber hatte auf der gefrorenen Heide gerade Zeit gehabt, sich in Nele Greefs über und über zu verlieben. — Das heisst: eigentlich war das schon so gewesen, so lang er denken konnte! Bereits damals, als sie den gemeinsamen Schulweg miteinander hatten. Aus der Schultür heraus flogen die Kinder wie ein Schwarm schreiender Staren. Auf dem Wege verlor sich eins nach dem anderen. Und zuletzt, zuletzt stapften nur noch Matheis Maris und Nele Greefs weit, weit draussen gegen den Rand der Erde und waren aus dem Lande der Menschen anzusehen wie zwei Käfer, die hinkrabbelten in die blühende Welt.
Hm. Nun lehnte Matheis Maris an einer Säule aus dunklem Eichenholz mit machtvoll geschnitztem Gewinde. Und es fiel ihm ein: seine Liebe zu Nele Greefs wäre achtzehntausend Kilometer lang; denn er rechnete, er wäre acht Schuljahre mit Nele gewandert, in jedem Jahr an zweihundertfünfzig Tagen acht Kilometer, macht achtzehntausend Kilometer — etliche musste er noch zulegen; denn er hatte darüber hinaus manche Gelegenheit wahrgenommen, das hellichte Heidemädel nicht allein gehen zu lassen ...
Auf Grund dieser Statistik hätte Matheis Maris offenbar ein Anrecht gehabt auf ein liebenswürdigeres Behaben von Nele Greefs ... Aber auch das war ihm nicht neu. Und da er ein Philosoph und kein weltschmerzlicher Träumer war, fand er sich würdig mit diesem Weihnachtsbegebnis ab.
Matheis Maris war als »Säulenheiliger« von manchem milden und manchem scharfen Spottwort getroffen worden. Als unerträglich sah er seine Lage jedenfalls nicht an; denn er hielt seinen Posten, und sein entschiedenes Moorbauerngesicht log die Gleichgültigkeit, die es spiegelte, neugierigen Augen nicht nur vor. Nein nein, diese Gleichgültigkeit war echt wie sein Herz.
An einem Apriltage traf Nele Greefs zum erstenmal wieder zu freundlichem Plausche mit ihm zusammen. Sie bog von dem Weg aus der Moorheide zu ihm herüber. Er hatte den blauen Zwilchanzug über sein Alltagsgewand gestreift und stapfte in den breiten Holschen zwischen den Beeten dahin, zwischen den langen Beeten — der Frühling drängte aus der dunkelbraunen Moorerde nur so hervor: Scilla, Tulpen, Hyazinthen, Narzissen — hurrjeh, es war überweltlich! Gegen dies Funkelwunder der erwachten Erde war die lichte Aufgetanheit der Nele Greefs an jenem gefrorenen Weihnachtstage nun doch ein recht bescheidenes Spiel — dachte Matheis Maris. Ja. Und dennoch: er dachte daran.
„Nun, Nele Greefs?“
„Es ist fein, wie du es da blühen lässt, Matheis Maris! Wir da drüben plagen uns mit Dünger und Kleinvieh herum.“
„Wir da hüben auch, wenn es wachsen soll.“
„Es ist aber eine andere Sache. Du lässt jede Krume blühen, jede schwarze Erdkrume auf — na, ich schätze: auf drei Morgen Land. Wenn mir einer sagt, es wäre im Himmel schöner, wo die kleinen Engel die goldenen und sibernen Sternblumen aufgehen lassen, so lach ich ihn aus.“ Matheis Maris sah das blonde Mädel an. Er wusste, das Himmelsbild hatte sie sich von einem anderen malen lassen. „Als die Krokus blühten — das war auch fein! Man dachte: darüber hinaus gäbe es nichts an Frühlingsherrlichkeit ... Warum sagst du denn gar nichts, Matheis Maris? Weil du ein reicher Mann geworden bist, seit wir Stijn Maris begraben haben?“
„Ich habe zu keiner Zeit viel gesagt.“ Er deutete gegen die blühende Erde. „Vor dieser Osterpredigt ist Menschenwort Geschwätz, Nele Greefs. Höchstens die Lerchen haben da noch ein bisschen zwischenzureden. Verstehst du mich?“
„Hm,“ machte Nele Greefs. „Nun, man kennt dich ja! Um die Sterbezeit von Stijn Maris hätt’ ich dir auch gern ein Wort gesagt. Aber es liegt dir nichts daran. Weisst du, wir hier draussen am Rande der Erde sollten miteinander umgehen wie Nachbarsleute. Die Viertelstunde Wegs über die Heide könnte man sich in jeder Woche ein paarmal erübrigen. Was meinst du dazu, Matheis Maris?“
„Ja doch. Wenn man Sehnsucht nacheinander hätte, so würde sich die Zeit dazu wohl heraus schlagen lassen.“
„Sehnsucht! Denkst du, unsereiner hat keine Sehnsucht, wenn er mit seinem Jungsein so allein ist da drüben?“
Matheis Maris kniete nun zwischen den Blumen und wühlte mit der Hand in der atmenden Frühjahrserde. „Hast du Sorge, dass dir der Mund zuwächst?“
Sie wurden immer gleich steil voreinander. Nur an jenem gefrorenen Weihnachtstage waren sie mitsammen gegangen in der Harmlosigkeit aus den Schuljahren — auf der Stiege zum Tanzboden war sie aber schon zerbrochen. Matheis Maris hatte über seinen Arbeiten in den Kulturen im Februar und März gründlich über den Fall nachgedacht. Und wenn er sich einmal zu einer Erkenntnis durchgerungen — was mit einem Aufwande von Bedacht geschah —, dann musste ein gewaltiger Wandel der Dinge eintreten, ihn eines anderen zu belehren. — Nele Greefs hatte das vor.
Ja. Aber der Weihnachtstag lag zwischen ihnen. Sie dachte, Matheis Maris hätte auf diese Stunde der Abrechnung gewartet. Dass er sich so fest zuschloss vor ihr — nun, das lag in seiner Moorbauernnatur; denn Blumenzüchter sind von anderer Art. Und dass er sie damit peinigte — es war unbequem. Freilich. Aber sie musste wohl stillhalten. Wenn man das hübscheste Mädchen ist neun Meilen in der Runde, so darf man am Ende auch einmal eine Dummheit machen wie jene auf dem Tanzboden ... Inzwischen war Stijn Maris gestorben, der einen Ruf als Blumenzüchter gehabt hatte. Die Dinge lagen auch sonst anders um Nele Greefs. Es war, als hätten sich die Burschen gegen sie verschworen, weil sie an jedem etwas auszusetzen hatte. „Matheis Maris,“ sagte sie, „ich habe seit dem Tode deines Vaters ungeheuer oft an dich gedacht. An jedem Tag ein paarmal. Und ich sehe dir oft zu, wenn du in den Kulturen arbeitest.“ Sie setzte sich auf eine Kiste. Die Haarschnecken, die sie sich über den Ohren gedreht hatte, flimmerten in der Sonne. Und ihr Herz flimmerte auch.
Matheis Maris merkte, wohin sie zielte. Zuerst redete sie in abgebrochenen Sätzen — denn sie hatte zuvor nie nötig gehabt, zu werben. Aber Matheis Maris war aus Eichenholz. Da war das eine andere Sache. Und es konnte kein Mensch erlauschen, was sie miteinander sprachen. Die Schuppen und Keller lagen weit rückwärts gegen das Haus hin. Da zog Nele Greefs auf mit dem klingenden Spiel ihres Lachens und ihrer funkelnden Jugend. — Nun, Matheis Maris war sein Lebtag keinem ins Wort gefallen.
„Es ist gut und umsichtig, was du dir da ausgedacht hast, Nele Greefs,“ sagte er danach, „aber es geht nicht hinaus über unsere Grenzsteine.“ Und dass Matheis Maris in jeder Feierstunde vor der Natur sass, sie abzubilden mit Stift, Kohle und Farben, das war ihr nicht einer kleinen Rede wert gewesen! Sie trachtete, den beiderseitigen Besitz einmal zusammenzuwerfen. Aus dem Eselein, mit dem die Maris ihre Blumenzwiebeln über die Heide zur Bahn fuhren, könnten dann leicht zwei Pferde werden, und aus den Geissen auf der Weide ein Dutzend bunte Kühe. „Wäre das nicht etwas?“ — „O ja.“
Aber die Gedanken des Matheis Maris — wenn er einmal recht voll von sich selber war — die Gedanken des Matheis Maris fingen ihre grosse Reise erst an, wo die von Nele Greefs aufhörten. Seiner Klugheit, seines Fleisses, seiner tätigen Wortkargheit hatte sie gedacht. Sie war lustig geworden an diesem, und sie legte einen gewichtigen Respekt in ihre Worte vor jenem. Nur die Malerei des Matheis Maris war ihr nicht der geringsten Rede wert! Deshalb sagte er: die Welt finge für ihn erst an, wo sie für Nele Greefs aufhörte. Das verstand sie nicht. Da erklärte er ihr: seine Brüder Jakob und Willem seien in der Lehre bei tüchtigen Malermeistern, seit vierzehn Tagen; der eins in Utrecht, der andere in Amsterdam — weil die kleine Blumenzucht ihrer drei nicht trüge. Er aber wolle das Anwesen verkaufen, wenn es soweit wäre, dass sie ihrer Mutter einen Zuschuss an Geld geben könnten. Einen Augenblick dachte er auch daran, der Nele auseinanderzusetzen, welch ein Unterschied zwischen der Malerei wäre, die er triebe, und jener, die seine Brüder erlernten. Aber nur einen Augenblick; denn bei diesem Gedanken machte sein Herz eine halbe Drehung wie ein Soldat, der einen Befehl erhalten, und marschierte über die Grenzsteine, die Nele Greefs so mädchenklug aufgerichtet hatte — marschierte hinaus ins blaue Land.
Da ging Nele Greefs ihres Wegs. Einmal noch blieb sie stehen. Es war für sie nun eine ausgemachte Sache: die Leute hatten recht, die da behaupteten, im Kopfe des Matheis Maris wäre nicht alles in Ordnung. „Nun, ich werde noch manchmal an dich denken, Matheis Maris. Aber viel Gutes für dich wird dabei nicht herauskommen.“ — „Siehst du,“ sagte er, „das ist die Hürde, die zwischen uns steht! Ich muss begraben in mir wie eine Erinnerung, dass du so schön bist und in deiner Art klug und dass ich dich lieb gehabt habe, seit ich denken kann.“ Da richtete er sich in seiner ganzen Länge vor ihr auf: „Nele Greefs, blanke blonde Nele Greefs, es kann sich ein Mann wegen einer kleinen Liebe nicht ein grosses Leben zerschlagen! Bei einem Weibe ist das wohl umgekehrt.“
Nele Greefs sah ihn mit weiten Augen an. „Matheis Maris, du hast dir das Hirn zersonnen. Ja.“ Dann ging sie hastigen Schrittes wie ein Mensch, der sich auf nächtlichem Pfade fürchtet. Sie dachte, nun müsse er mit langen Sprüngen hinter ihr dreinkommen und sie mit seinen Wunderlichkeiten quälen. — Sie glaubte: an allem sei der Tanzboden schuld.
Neben den drei Morgen Blumenzwiebeln, die der alte Maris seit Jahren zu anerkannter Vollkommenheit gezogen hatte, lag da noch eine Fläche für Freiland-Rhododendren und Azaleen. Die abseitige Lage machte den Versand beschwerlich und den Ertrag des Geschäftes bescheiden. Aber die Freude des Stijn Maris hatte das nicht gemindert. Er hatte auf seine Söhne gewartet, und er hatte wohl auch davon geträumt, dass einst eine Zweigbahn durch die Stille dieser Moore führen würde, die sein Werk mit einem Male zu der Grösse bringen sollte, die ihm vorschwebte. — Dann starb er.
Die tiefe Liebe zu dem, was er mit herzlicher Hingabe geschaffen, hatte von seinen Söhnen nur Matheis überkommen. Stijn Maris hatte die Gärtnerei in Harlem erlernt. Aber die Sehnsucht nach dem Moorlande seiner Kinderjahre, und die Fremdheit, mit der er unter den Menschen gestanden, wiesen ihm später einen eigenen Weg ins Leben. Zwischen Blumen und Einsamkeit versann er sein Dasein. Der lange Mensch mit dem bartlosen Gesichte war aus Holz geschnitten. Aber seine Augen — ja, die waren voll von dem Glanze, der über seinem blühenden Lande lag in jedem jungen Jahr. Stijn Maris zeichnete auch — Gartenanlagen, die ihm vorschwebten, und die ihm unter den Landschaftsgärtnern wohl einen ausgezeichneten Ruf eingetragen, wenn er es hätte über sich gewinnen können, sich in den Dienst eines grossen Gemeinwesens zu stellen oder in menschlicher Gemeinsamkeit zu leben. Er zog es vor, ein armer König zu sein, dessen Reich die Moorheide war, über die der Fuchs strich — aber doch ein König; denn er schrieb diesem Reiche die Gesetze. — Das war Stijn Maris, den sie begraben hatten, als der Frühling vor den Toren stand.
Dann war noch Flossy Maris, die Witwe, die ihre Zwillingssöhne Jakob und Willem vor zwei Wochen zu den Meistern nach Utrecht und Amsterdam geschickt hatte.
Flossy Maris war der einzige Mensch der Welt, der um diese Zeit wusste, wie es mit Matheis Maris stand und wohin er zielte. Zuerst hatte sie lächelnd zugesehen und in hellem Erstaunen. Oder soll eine Mutter nicht erstaunt sein, wenn sie erkennt, dass der junge Sohn mit einem armen Stift oder mit einem noch ärmeren Stück verkohlten Holzes dem lieben Gotte die Welt nachschafft im Bilde? Die Namen vieler berühmter Maler kannte sie und hatte Bilder gesehen in den Museen der Städte. Aber von dem Sohne, den sie unter ihrem Herzen getragen, bis zu jenen berühmten Männern reichte ihre Erkenntnis nicht. Darum: als sie gewahr wurde, dass seine Liebe zu Stift und Pinsel heisser war als zu dem Werke seines Vaters — von Stund an verlegte sie sich aufs Schelten. Taugenichts sagte sie zu Mattheis, wenn die Bitterkeit über sie kam, und Tagedieb. Aber dann schämte sie sich ihrer Härte wieder; denn in Wahrheit war der Junge fleissig über die Massen, auch als Lehrling in den Kulturen. — Danach versuchte sie es mit mütterlichen Lehren: der Matheis sei nun in dem Alter, in dem der Mensch verständig würde. Er müsse diese Narrenspossen also ablegen und einsehen, dass ...
Ja doch, Matheis sah ein. Aber Stift und Kohle liefen ungerufen in seine weise Hand. Und als er einmal den Holzverschlag, bei der Stiege nach oben, mit einer Moorlandschaft bemalt hatte und das Bild hernach mit himmelblauer Leimfarbe und einem Kalkpinsel übertünchte — da war es Flossy Maris, als habe ihr der Junge mitten ins Herz geschlagen. Sie aber sagte nur: „Und es war solch ein feines Bild.“
Einmal am Ostermorgen trat in dem Verhältnis der Mutter zur Kunst ihres Sohnes abermals eine Wandlung ein. Die beiden Jüngsten waren fort. Und der Vater war begraben. Matheis hatte mit der Mutter Kaffee getrunken. Das Geschirr stand noch auf dem Tische. Flossy Maris hantierte draussen im Hausgange mit wundem Herzen. Der Matheis sass auf der Wandbank im Winkel zwischen den beiden Fenstern. Ostersonne jubelte von rückwärts herein. Aus der Uhr in dem schweren Holzkasten neben der Stubentür klang bedachtsam der Schritt der Zeit. Ein rauher Teller aus rotem Ton stand auf dem Tische. Matheis rückte den bäuerlichen Brotlaib zurecht, lehnte den Teller daran, ergriff den Kohlestift, der in der Wasserrinne der Fensterbank lag. Wehmütig und voll Erinnerungen für ihn war die Stunde. Aus leichten Linien, die er auf den Grund des Tellers warf, bildete sich das Antlitz seines Vaters. Schier im Traume wuchs es auf den roten Ton. Einmal erwachte der Zeichner und lehnte sich prüfend zurück gegen die Wand. Noch einmal erwachte er — da hielt er den Teller auf Reichweite fort von dem sinnvoll wägenden Auge. Dann stützte er den Kopf wieder mit der Linken, und die Kohle schurrte über den rauhen Malgrund. Mit der Spitze des vierten Fingers wischte er hier die harte Linie zu weichem Schatten, modellierte er dort Leben, wo der karge Stift nur Konturen gezogen. Die gleiche wundertätige Fingerspitze begann breithin über den Rock und Schulteransatz zu streichen, zuerst noch schöpferisch — in zwei Sekunden vielleicht schon zerstörend, wie ein übermütiger Junge die Wände eines Hauses durcheinanderwühlt, die er als ungefüge Striche in den Sand gezeichnet ... Da hatte die weisse Ziege im Stall ihre Osterlämmer geboren!
Flossy Maris erschien im Rahmen der Tür und läutete die freudige Botschaft durchs Haus. Oh, Flossy Maris lachte ja wieder! Es war Ostern in der Welt.
Matheis sprang ihr nach. Da ihm draussen noch allerlei unter die Hände kam, erschien die Mutter nach einer kleinen halben Stunde allein in der Stube. Sie trat an den Tisch, das Geschirr abzutragen, und erschrak vor Stijn Maris, der sie aus dem Grunde des Tellers anschaute — auferstanden!
Ein Sprung lief ihr durchs Herz, ein Glück an dem Sohne— hinausjubeln hätte sie es mögen! Kein Photograph hätte die Züge des Stijn Maris so voller Leben auf seine Platte bannen können. Es hatte seit ihrem Hochzeitstag auch keiner die Aufforderung dazu bekommen. Stijn Maris — so wie sie ihn gesehen in seinem Hause, sinnend vor seinem Werke, mit all der Hingabe, die ihn bald zu einem Träumer, bald zu einem Wundertäter gemacht hatte inmitten seiner Blumen! Ein Stück verkohltes Holz hatte dies vermocht auf einer Scherbe aus rohem Ton!
Flossy Maris fasste den Teller mit beiden Händen, als hielte sie einen grossen Schatz. So stieg sie die hölzerne Stiege nach oben in ihre Kammer. Sie legte aus einer kleinen verschliessbaren Kiste eine Menge Dinge heraus — Buchzeichen aus dem dicken Band ihres Lebens —, tat den Teller hinein und brachte den Kasten in Sicherheit zu unterst in ihrer Truhe.
Es wurde von diesem Vorgange kein Wort geredet zwischen ihr und Matheis. Nicht an jenem Tag und nicht in der künftigen Zeit. „Sie wird den Teller gespült haben,“ dachte der Sohn. Das aber merkte er nicht, dass das Auge der Mutter in Stunden der Ruhe an ihm hing wie an einem schönen ungelösten Rätsel, wie an einem Besitze, der ihr gehörte, soweit er ... nun ja, soweit er irdisch war. Aber sie geriet in ihm an eine Grenze, darüber konnte sie nicht hinweg mit ihren einfältigen Sinnen.
Eigentlich war das schon lange so gewesen. Ja. Aber zuvor hatte sie gescholten, so oft sie diese Grenze erkannte. Jetzt aber war ihr, als müsse sie in Demut ihre Stirne neigen vor der geheimnisvollen Kraft, die in diesen Menschen hineingeboren, der doch ihr Sohn war.
Fortan schalt sie nicht. Sie schwieg sich an diesen Dingen vorüber in Furcht und Hoffnung. Aber die Furcht war stärker. — Ein zweischneidig Schwert ist das Gottgeschenk des Genies.
Ein zweischneidig Schwert. Deshalb stellt sich die Welt auf diese gefährliche Gottesgabe gar nicht erst ein, ehbevor sie nicht ein Museumsstück geworden ist.
Durch Nele Greefs ward es ruchbar: Matheis Maris will die Kulturen verkaufen. — Weil seine Jugend dazu kein Recht hatte, musste er die Mutter von dieser Notwendigkeit überzeugt haben.
Wenn es nun geschah, dass Menschen aus dem Dorfe mit Flossy Maris zusammentrafen, brachten sie die Rede darauf; es sei eine Angelegenheit, die ihnen doch sehr am Herzen läge. Sie warteten mit Ratschlägen auf, um die sie niemand gebeten hatte. Sie liessen Weisheiten los, die Flossy Maris nicht von ihnen forderte. Sie machten die Frau bange vor dem Leben. Und verspürten doch keinen Hauch von den Dingen, auf die es in diesem Fall ankam. Es spielte sich in jenem Winkel das Trauerspiel ab, über dem der Vorhang nie heruntergeht, wo Menschen wohnen. An dem Kern der Sache redeten sie himmelweit vorbei. Aus Matheis Maris machten sie vor der Mutter einen Narren, der obendrein ein brutaler Junge sei, dem der Holzschuh hinter die Ohren gehöre. — Es sah aus, als hätten sie eins Meile im Umkreis nichts weiter zu denken. Über diesem Feuer gerieten die Sorgen von Flossy Maris in Treibhausluft. Sie redete mit ihrem Sohne von den Meinungen der Leute, abendelang. Und tagelang weinte sie heimlich in sich hinein. — So hatten die Menschen Flossy Maris mitten entzweigerissen.
Flossy ward scheu und mied sie. Das ruhsame Gemüt des Matheis geriet zu Zeiten in Sturm. Die Menschen zertraten das Glück und den Frieden des kleinen Hauses. — Es ist keine Rettung vor ihnen, auch nicht für den, der zwischen sie und seine Zäune eine halbe Meile Weg legt.
Zuerst — wenn sich einer an Matheis selbst herandrängte mit seinen Ansichten — gedachte der ihn zu überzeugen. Aber das ging nicht. Es war da wie bei Nele Greefs: ihre Welt war mit Brettern verschlagen an einer gewissen Stelle, über die sie hinweg mussten. Also: es ging nicht. Dann kam der Trotz über ihn, und er verbat sich jede Einmischung in Dinge, die sie nichts angingen und für die sie zu dumm wären. Da war die Feindschaft fertig. Die Revolution der Seele des Matheis Maris begann. Er wollte nichts von den Menschen: kein Almosen, keinen Rat, keine Freundschaft, keinen Handel. Es war niemand so still, friedsam und abseitig wie er. Nichts als diese Stille, Friedsamkeit und Abseitigkeit sollte man ihm lassen. Man weigerte es ihm. — Darüber wuchs eine Feindschaft zwischen dem Haus auf der Heide und draussen — eine Feindschaft, nicht zu sagen!
Als alle Bande zerrissen waren und Flossy Maris — wenn sie einmal einkaufen gehen musste — mit bitterem Munde und scheuen Augen unter die Menschen trat, sagten sie: „Himmel, was ist aus dieser Frau geworden! Das hat der Matheis getan. Bewahr uns Gott vor einem Kind wie diesem.“
Daher kam es, dass Flossy Maris die Einkäufe nicht mehr in jenem Dorfe besorgte und in ihrem Hause erzeugte, was irgend möglich war.
In dem Sommer, der nun heraufkam, verkaufte Matheis die Kulturen. Aber das kleine Haus behielt Flossy Maris für sich. Der neue Besitzer baute sich ein anderes. Und die Witwe trat gegen Tagelohn für Gelegenheitsarbeiten in seine Dienste. Die Leute im Dorfe schrien, weil die alternde Frau nun frönen müsse. Der Matheis Maris aber sässe die langen Tage draussen im Heidemoor und liesse sich die Sonne auf das falschgehende Hirn scheinen.
Er hatte sich ein ganzes Regal mit Büchern über Malerei angeschafft. Lief mit dem Malkasten hinaus in die Heide. Und wenn es kam, dass einer draussen an seiner eifernden Einsamkeit vorüberging, klebte der sich gleich an ihn fest. „Na, Matheis Maris, wie steht das?“ Matheis schaute nicht auf. „Du hast es gut. Das lässt man sich gefallen. So etwas möcht’ unsereiner auch können. Aber wir sind dazu nun einmal zu dumm.“ — „Das wohl.“ — „Holla!“ — „Nun?“ — „Nein, Matheis Maris — so ist es: wir haben es nicht gelernt wie du, dem Herrgott die Tage zu stehlen. Wir sind zu gescheit dazu, und wir haben auch ein Gewissen!“ — „Auch recht,“ sagte Matheis, trat mit dem Holzschuh ein Loch in den Grund und schalt auf die Schnaken. So deutlich war er, dass der Nachbar ihn ohne Gruss stehen liess. — Zuvor aber spützte er durch den Mundwinkel ... zsch.
Dass Matheis keinen Heller in das kleine Haus trug, aber für Farben, Bücher, Pinsel, Öl ein beträchtliches Stück Geld hinaus — nun, es braucht einer nicht einmal ein Kleinhäuslersohn von der Moorheide zu sein, um bitter davor zu werden. „Es sind die Lehrjahre, Mutter.“ So oft hatte er sie getröstet, und doch änderte das nichts an der harten Wirklichkeit: Flossy Maris musste sich um drei Jungen sorgen. Um den ältesten waren die Sorgen am schwersten. Der Matheis werkte an jedem Morgen mit Harke und Forke in Hof und Stall. In die junge Sonne lief er mit der blanken Sense über der Schulter. Und manchmal, wenn sich das zwiegeschliffene Schwert ihm durch die Seele schlug, dass er sich keinen Rat wusste und keinen Weg mehr sah, weil ein Bild nicht dem ähnlich werden wollte, das er strahlend im Geiste trug — ach ja, manchmal legte er Palette und Pinsel daheim in den Winkel, ging zu dem neuen Besitzer und sagte: „Da bin ich, nimm mich in deinen Dienst, Pieter Bosboom; denn zum Malen bin ich zu dumm.“
„Zu dumm, Matheis Maris? Ich weiss das nicht. Aber das weiss ich: du müsstest einmal zu einem Meister wandern, in Amsterdam etwa, oder in Antwerpen. Es ist da einer mit Namen Alma Tadema, weisst du. Dem müsstest du erzählen, wer du bist und was du getrieben hast und es ihm zeigen, dass er dir sagt, ob es mit deiner Kunst etwas ist. Ob du das richtige Genie hast, weisst du.“
„Hm,“ sagte Matheis Maris, „das muss wohl einmal kommen. Im nächsten Sommer etwa, Pieter Bosboom; denn ich meine, man muss da einen Rückensack voll Bilder mitbringen. An der Nase sieht man einem das Genie nicht an, Pieter Bosboom.“
Darauf wühlte Matheis Maris eine Woche in der Erde und wühlte sich wieder die Sehnsucht in die Seele nach den Bildern, die der Herrgott weitum in der Moorheide aufgehängt hatte. „Hurrjeh, es braucht sie einer nur so wegzunehmen, Pieter Bosboom.“ Pieter lachte ihm sein befreiendes herzliches Lachen ins Herz. „Du darfst nicht zag sein, Matheis Maris; über dies eine Jahr werden wir dich schon hinwegbringen, weisst du. Dann erfahren wir, wie es um dich steht. Ich aber sage dir: wenn einer das kann, so aus sich heraus, dann hat er Genie! Und damit basta.“
Ringsum hatte der liebe Gott Bilder aufgehängt — Bilder, so schön, so himmeleinsam, so erdenbunt und falterfröhlich ... es war, als habe er — ein richtiger lieber Gott — gleich den Garten mit erschaffen, in dem die Wunderblume dieses Genies zur vollen Entfaltung gelangen sollte. Heimlich träumende Wässer in schmalen Armen zwischen Busch und Wiesen. An den Ufern flüsterndes Schilf. Dazwischen die treibenden Schifflein der Wasservögel mit den bunten Wimpeln ihrer Stirnenspiegel. Manchmal wechselte ein Reh vom Eichenbruch durchs betaute Gras. Der Silberreiher stand im Ried in sinnender Betrachtung. Im Blauen rüttelte der Falk, schlug der Häher flugfroh seine Bahn, und über der Heide in der flämmernden Luft wogte das Gewimmel der Schmetterlinge.
Wenn Matheis Maris einmal recht gottfroh und voll Vertrauen zu sich selber war, dann dachte er, all die bunten Sommervögel habe der Schöpfer ersonnen, damit er — der Jan van Moor — nach diesem Rezepte seine Farben mische.
Er hatte daheim einen trockenen Eichenast von wunderlich knorrigem Wachstum zu diesem Zweck mit Schmetterlingen besteckt, denen er die Schwingen sorgsam ausgespannt, Von jeder Art hatte er ein schönes Stück gesammelt, beim kleinen Bläuling angefangen, der die Perlenreihen um seine Flügel trägt; die Flügel aber sind aus Himmel gewoben. Ja, vom kleinen Bläuling angefangen bis zum stolzen Admiral und Ritter Schwalbenschwanz im goldenen Rüstzeug.
Unter den Kusselföhren tummelten sich die wilden Kaninchen. Enten schnitten im Dreieckflug pfeifend darüber hin. Im hohen Grase wiegte sich der Wind und sang. Und ferne, vor das Blau des Himmels, waren Eichen gestellt, ein machtvoll rätselreiches Tor: wer in den Himmel wollte, musste da hindurch ...
Matheis Maris hatte sich die Geschichte von dem Garten mit den ersten Menschen in seine Heideheimat herübergedichtet. Durch diesen Garten wandelte er. Und in diesem Garten hörte er an jedem Tage die Stimme Gottes: „Matheis Maris, wo bist du?“
Einsam macht das Gottgeschenk des Genies.
Matheis Maris erfuhr das schon in den Tagen der Jugend, in denen er anfing, die Natur abzubilden. Über der Hingabe an sein Werk ging er der menschlichen Gemeinsamkeit verloren. Alle Steige der Jugend verrasten zwischen ihm und den Mitmenschen. „Was ist das mit Matheis Maris?“ fragten die Leute. Und als sie die Sache prüften, da hatten sie kein anderes Mass als jenes, das ihnen ihre Durchschnittsart in die Hände gab. Darüber gelangten sie zu ihrer falschen Rechnung. Was für sie Wert hatte, taugte dem Matheis nicht. Und was für Matheis das Leben war, erachteten sie als ein müssig Spiel. Es war — wie im Gleichnis — kein Weg aus der Welt des einen in die Welt der anderen, Von Anfang an. — Die Geschichte mit Nele Greefs führte zu einem Verzicht, der in Matheis das Glück an seinem Talente nur noch erhöhte. Aber an dem Gebaren der anderen wurde ihm zum ersten Mal die Seele wund. Es war das in jener Zeit, von der gesagt worden ist: in ihr gehe das Licht an, nach dem der Mensch wandert sein Leben lang.
„Hör mal zu, Pieter Bosboom!“ sagte Matheis Maris eines Tages. Das klang herzfroh. Pieter Bosboom hatte den versonnenen Jungen nie so aufgeschlossen gesehen.
„Nun, Matheis Maris?“
„Ich werde die Geschichte vom Paradiese aufführen — freilich nur den ersten Teil.“
Pieter Bosboom — ein kluges Gesicht machte der nicht gerade zu diesem rätselhaften Vorhaben.
„Ja. Und nun hebe deine Augen auf, Pieter Bosboom! Da drüben liegt Eden! Keine halbe Wegstunde von hier. Und wo der Himmel die Heide küsst — das ist der Gartenzaun auf der anderen Seite. Pieter Bosboom, ich werde mir eine Hütte in der Mitte dieses Gartens erbauen und darin wohnen. Was meinst du zu diesem Einfall, Mensch?“
Sie redeten zwei Stunden lang darüber. Als Pieter dann mit seiner Arbeit fertig geworden, widmeten sie sich der Angelegenheit mit verdoppelter Hingebung.
Am anderen Morgen. Da rollte Matheis Maris Balken und Werkzeug mit dem Eselfuhrwerk Bosbooms über die Moorheide. Zwei Tage dauerte dies Geschäft. Dann baute er das Haus und ward fertig damit. Pieter Bosboom half ihm nach Feierabend und sagte: „Es ist fein. Nun kann die Geschichte des neuen Paradieses beginnen.“
Das Haus war noch viel kleiner als das der Flossy Maris. Es war nur so gross wie die Stube, in der Matheis mit seiner Mutter gelebt hatte. Das Balkenwerk der Wände bildete halbe Geviertmeter, in deren jeden ein Geflecht aus Heide gesetzt worden war, nach aussen mit Lehm verputzt. Ein Fenster, einen Laden vor dies Fenster und eine Tür, dazu einen kleinen Herd und eine Lampe am Draht — die daheim schon, wer weiss wie lange? ausser Dienst gewesen allesamt — nun hatten sie wieder einen Daseinszweck. Das Dach war zuverlässig aus Sparren gefügt und so dick mit Röhricht gedeckt, dass Matheis Maris, der Narr vor den Menschen, dem feindlichsten Winter darunter hervor sehr vergnügt ins Gesicht lachen konnte. Eine weisse Ziege hatte Flossy Maris ihrem Sohn als Aussteuer gegeben, und was das Mutterherz in seiner liebenden Sorge sonst noch entbehren wollte. Es war nicht zu wenig; denn Matheis brauchte zwei Tage zu diesem Umzug. Auf reichlich bevölkerte Kaninchenställe hatte er schon als Knabe Wert gelegt. An der einen Giebelseite des Hauses war die Tür, an der nach Norden das Fenster. Auch für die Ziege war ein Stall errichtet worden, und daneben noch ein Stadel zur Aufbewahrung von Futtervorräten.
Weil die Moorheide oder die Schirrkammer von Stijn Maris das. Baumaterial und das Häuschen von Frau Flossy die Inneneinrichtung geliefert hatten, forderte das neue Anwesen nicht den Aufwand eines einzigen Groschens. Und da der Staat um jene Zeit so abseitige Streifen im Heidemoor zur Besiedelung verschenkte, so würde im Ernstfalle wohl auch über den Grund und Boden einig zu werden sein — dachte Matheis Maris. So also einer von Rechts und Gesetzes wegen einen Einwand gegen seinen Aufenthalt hatte, konnte er sich ja melden.
Nun hatte freilich selbst Pieter Bosboom nicht einsehen wollen, dass diese Neudichtung der Geschichte vom Paradiese so unumgänglich nötig sei, wie Matheis Maris behauptete.
Dies überzeugend darzustellen, war das Schwierigste bei dem ganzen Unternehmen. Es gelang auch nicht. Pieter Bosboom behauptete nämlich: Matheis sei in seiner bisherigen Umgebung genau so einsam und unbeirrt in seinem Schaffen — ja, bei Lichte besehen sei dies in noch höherem Grade der Fall, da ihm Mutter Flossy eine Menge Sorgen um kleine Dinge abnehme, die da draussen nun seine Sache seien. Ordentlich beweglich wurde der hölzerne Mensch Matheis vor diesen Einwürfen. Er begann mit Armen und Beinen zu reden und mit gefährlichem Wurfe seines Kopfes, weil er nun auch in Pieter Bosboom die heillose Brettwand entdeckte — nein, nicht nur in Pieter, sondern auch in sich selbst! Er konnte da nicht hinüberrufen. Er fand die Worte nicht für das letzte, das unaussprechliche Bedürfnis der Künstlerseele, in ungeheurer Beseligung, Blumenhaftigkeit und Stille hineinzublühen in die Sonne, die — unsichtbar und unausstaunlich für andere —allein geschaffen ist von Gott für diese Seele. —
Danach fing Matheis Maris an zu wohnen — was am ersten Tage darin bestand, dass er eine Bank neben die Haustür zimmerte.
Er kam auch damit zustande. Dann fiel ihm ein, er sei Adam und Robinson in einer Person. Und er erkannte: der erste Mensch müsste in weit höherem Masse Robinson gewesen sein, als es ihm in der Schule dargestellt worden war. Also: der schöne weisse nackte spazierengehende Mensch Adam, für den der liebe Gott erst nach dem Sündenfalle die Arbeit erfand, war in dieser Aufmachung offenbar das Erzeugnis einer höchst gedankenlosen Überlieferung ...
So wurde das neue Paradies für Matheis Maris gleich vom ersten Tag an eine ungeahnt gedankenvolle Einrichtung. Zum Malen kam er darüber vorerst nicht; denn er fand, dass er für den Winter Futter aufstapeln und dazu noch ein schützendes Dach errichten müsse.
Danach aber lief alles in die Ordnung, die er seinem neuen Dasein gesetzt.
Das Haus lag an einer Erdwelle, die mit niederen Föhren bewachsen war und die rasenden Winde zerbrach. Nach Süden schaute er von der Bank neben der Tür — bis ins Herz Gottes könne er da sehen, dachte er! Diesem Gedanken sann er nach und verfiel darauf, dass dies Schauen ins Herz Gottes das Geheimnis beschlösse, um das seine junge Seele rang ... Ach, kein Wort ist ja imstande, die Weite zu malen und die Finsternis, durch die ein Mensch mit kümmerlicher Dorfschulweisheit zu wandern hat bis zu der Sonne, die ihm die Gnade Gottes gesetzt hat mitten ins Herz!
Einmal gegen Abend sass Matheis Maris vor der Tür seiner Hütte. Es war eine nachdenkliche Stunde wie jede, die er in dieser Abseitigkeit lebte. Wenn er zu nicht weit vorgeschrittener Nachtzeit sich zu Bette legte, reckte er seine langen Glieder in einem behaglichen Überschuss an Kraft. Er reichte dann mit den Händen bis an das Röhricht des Daches — oh! Nie zuvor war ihm die Herrlichkeit des Lebens bewusst geworden wie jetzt ... Einmal gegen Abend sass Matheis Maris vor der Tür seiner Hütte ... Es war wunderlich, wie oft in diesen Tagen er in den Worten der Schrift dachte. Da rollte Pieter Bosbooms Eselwäglein über die Heide. Flossy Maris und der Gärtner trotteten daneben her. Sie brachten einen Stamm Hühner, die sich in ihrem Gefieder kaum von der Scholle unterschieden — so sehr sorgte sich Mutter Maris um ihren Einsiedler im braunen Lande! Umsichtigerweise hatten sie auch gleich die Horde mit aufgeladen, in der sie wohnen und ihre Eier ablegen sollten.
Flossy Maris betrat das Paradies zum ersten Mal. Sie ging mit bäuerlich wortlosem Staunen um alles herum. Aber die Bangigkeit ihrer Augen löste sich. O ja, es konnte ein Mensch hier leben! Sogar einen Quell hatte sich dieser Mensch aus dem Moorwasser herübergeleitet. Durch eine Furt aus hellem Heidesand sickerte er in ein Becken, das war wieder aus Sand gebildet und so klar wie frischgefallener Tau. — Sie sah auch die Beete, von denen Matheis die Heide gerodet und die er mit Braunkohl bepflanzt hatte, der nun schon seine dunklen Blätter in die Sonne kräuselte. „Wenn einer Gärtner ist!“ sagte Matheis mit stolzbewusstem Lächeln.
Dann aber — sie standen nun vor den Büchern, von denen etliche offen auf dem Tisch am Fenster lagen. Diese Bücher waren für Mutter Flossy fast so geheimnisvoll wie die Bilderkammer der Seele ihres Jungen. Dann aber reckte Matheis seine Arme und hiess Pieter Bosboom hinsitzen auf den Bettrand neben die Frau. „Es geht an jedem Tag mehr auf in mir, ihr Leute! Und es wächst, sag ich euch — denn es ist jungfräuliches Land in mir und da draussen! Was ich vor ein paar Wochen nicht wusste — ich will es euch heute sagen! Damals dacht’ ich: ein Maler — das ist ein Mensch, der ein Stück Welt in den Rahmen bringt, den er aus seinen zwei Zeigefingern und Daumen bildet und auf das er hinlugt. Gefällt es ihm, dann macht er ein Bild daraus — so getreu nach der Natur als er es vermag. Je getreuer, desto rühmlicher.“ Ja. So hatten sich Pieter Bosboom und Mutter Flossy die Sache etwa auch vorgestellt.
„So dumm!“ Matheis Maris sah mitleidig in sich hinein. „Jetzt aber hab ich das anders gefunden. Nämlich so: wenn der Maler prüfend durch den Rahmen seiner Finger guckt, so schaut er über ein Stück Welt bis hinein ins Herz Gottes. Ins Herz Gottes, sag ich. Dort steht das Bild, wie es gemeint ist von diesem Gott selber. Den Gedanken des Weltschöpfers darzutun vor den Augen der Menschen mit Pinsel und Farbe — das ist es, ihr Leute! Darum: die Kunst des Malers — hör’ zu, Pieter Bosboom, hör’ zu, Mensch! — dis Kunst des Malers, alle Kunst, wie sie immer heisse, die kommt aus dem Schauen ins Herz Gottes! Gottes Gedanken zu erkennen, neuzuschaffen, was er mit der Welt vorgehabt hat — das ist es!“
Heimwärts trottete das Eselein. „Es wächst in ihm, Mutter Flossy, es wächst!“ sagte Pieter Bosboom, ganz des Geistes voll, den er an Matheis Maris verspürt hatte. „Ich kann mir nun denken: solch einer wie er muss sich losmachen von all dem Kram, von dem unsere Tage voll sind, Mutter Flossy! Sonst fällt ihm der Staub auf die Augen. Und wie will ein Bauernjunge sehen ins Herz Gottes, wenn er staubige Augen hat?“
„Was er nur meint mit dem Herzen Gottes?“ forschte sich Mutter Flossy an den hellsinnigen Gärtner heran.
„Tja!“ machte Pieter Bosboom und zog die Schultern. Dann aber liess er eine Rede los — das Eselfuhrwerk rollte immer wieder mitten hindurch! — darin wurde gehandelt, dass das Herz Gottes solch ein Sinnbild sei ... das Letzte dabei denken könne sich von allen Menschen nur Matheis Maris ... Pieter Bosboom rieb sich die Nasenwurzel. „Kopfweh bekommt unsereiner davon, Mutter Flossy!“ Flossy Maris aber sagte: „Der Matheis wird sich das Hirn wohl doch noch zersinnen.“
Daran dachte Matheis Maris aber nicht. Überhaupt: das Sinnieren! Zuvor war es eine ungeheure Anstrengung gewesen. Nun war es eine Herrlichkeit. Nur das Lesen in den Büchern, das schuf seiner brüchigen Wissenschaft zuzeiten grosse Not. Es waren da Fremdwörter, deren Bedeutung nicht zu erraten war. Pieter Bosboom ward auch darin Helfer. Er brachte von einem Althändler in Haarlem ein Fremdwörterbuch mit. Das kostete drei Gulden und war eine schwere Rechnung. — Ach, kein Wort ist imstande, die Weite zu malen und die Finsternis, durch die der Mensch mit kümmerlicher Dorfschulweisheit zu wandern hat bis hin zur Sonne!
Nun war das so mit Matheis Maris: der Abend, in den er das Bild vom Herzen Gottes gestellt, war eine Weltscheide für ihn geworden. An diesem Abend warf er sich in den Kleidern aufs Bett und lag die Hälfte der Nacht mit heissen Augen. Die waren weit offen vor Glück. Und starrte über sich gegen das braune Röhricht des Daches und konnte den Morgen nicht erwarten und lief mit dem Malzeug hinaus, als der Saum der Erde rot wurde; denn er wollte gleich die Probe machen auf sein Exempel.
Aber zum Malen kam er nicht. Nicht an diesem Tag und nicht am nächsten. Er merkte, er hatte eine solche Fülle von Wissenschaft in sich hineingelesen, dass er da erst gründlich Ordnung schaffen musste. Aber über allem stand der Spruch vom Herzen Gottes. Und der war seine eigene Erfindung.
Seit diesem Morgen sah er die Welt anders. Es war, als habe sie im Dornröschenschlafe gelegen. Das Wort vom Blick ins Herz Gottes war die Zauberformel, vor der sie erwacht war. Nun war ihre Schönheit siebenmal so schön. Und ihr Leben, das zuvor leises Atmen und holdselige Bewusstlosigkeit gewesen, redete nun zu ihm von einem tiefen Wesen der Dinge, das er zuvor nicht geahnt hatte. Und nicht gesehen. Was gestern Stoff und Spröde gewesen war, vor denen er mühselig herummass und Farben wog, das hatte auf einmal Macht und Grösse.
So war sein Kampf mit der Natur ein anderer geworden. Sieger konnte er sein — nicht wenn er diese Welt der tausend Masse nachahmte in Fläche und Farbe; denn das hiess nichts weiter als: zu Tode malen, was nun lebendig geworden war vor ihm! — nein, Sieger konnte er sein, wenn er es machte wie Gott: er schuf und blies dem Geschaffenen einen lebendigen Odem ein. — Das war die andere Zauberformel.
Eine Woche rang er um diese Erkenntnis, ehe er fand, dass sie sich in die zwei Worte vom lebendigen Odem füllen liess! Er aber war um diese zwei Worte gelaufen, Tag und Nacht und Nacht und Tag, dass ihm die Pulse zu bersten drohten.
Dann hing er alle Bilder ab in seinem Hause. — Sie waren seine Freude gewesen. Flossy Maris hatte davorgestanden in herzfroher Demut; und Pieter Bosboom hatte von ihnen gesagt: „Wer das gemacht hat, der hat das Genie.“ Diese Tafeln wollte Matheis Maris über Jahr und Tag in seinem Rückensack zu dem grossen Meister Alma Tadema tragen. Nun gedachte er daraus einen Scheiterhaufen zu machen und den einfältigen Menschen Matheis Maris von ehedem darauf zu verbrennen. — Aber er besann sich. Er holte die Eier vom Neste und kochte sie darüber.
Einmal, da der Tag am heissesten war, stampften ein paar Holzschuh über das Torfmoor. Das Mädchen, das darin steckte, hatte einen blauen Linnenkittel an und die weisse Schleierhaube tief ins Gesicht gezogen. Sie kam nicht den braunen Steig daher, sondern lief sich durch das Heidegestrüpp die Lungen heiss, guckte bei der Tür hinein ins Haus und suchte ringsum. Da schob sich der Kopf des Matheis Maris über den Rand einer Torfkuhle empor.
„Na, Nele Greefs?“
„Fürchtest du dich vor mir, Matheis Maris, weil du dich in der Kuhle verkriechst?“
Da sah er, dass die blanke blonde Nele Greefs eine feine Staffage wäre. Er setzte sie an den gegenüberliegenden Rand der dunkelbraunen Moorkuhle. Setzte sie hin und tupfte den blauen Rock in sein Bild und die gelben Holzschuh, und tupfte den weissen Schleierhut gegen den Himmel ... In zwei Minuten war das gemacht. Nele Greefs aber lief herzu und sagte: „Wenn ich so aussehe, dann wundert’s mich nicht, dass du mich nicht leiden magst, Matheis Maris.“ Er betrachtete sie. „Du siehst einen ja an, als nähmest du Mass zu meinem Sarge.“
„Ich will dich malen, Nele Greefs. Wenn du ein paar Mittage zu mir herauskommen willst ...“
„Und wenn du dir nicht einbildest, dass ich dir nachlaufe ...“
Sie standen nun beide vor der Staffelei. Nele Greefs sah, wie er die Farben breit und wuchtig hingestrichen. Es war ein schönes Bild und voller Leben. Ein Streif Moorheide war da unter einen sehr stillen Himmel gelegt. Es war zu sehen, wie sich die Kraft der Erdeinsamkeit reckte gegen den Himmel.
Diese Kraft lief gleich in Nele Greefs Augen. Aber ihre Augen wurden fremd davor. Und sie schwieg. Dann sagte sie: „Es ist anders, was du nun malst.“
„Ja. Jetzt mach’ ich lebendig. Zuvor schlug ich die Welt tot mit meinem Pinsel.“ Und damit stiess er so hart gegen die Brettwand in Nele Greefs — sie erschrak davor und fragte: „Na, und die weisse Ziege? Und die Hühner? Das Feuer unterm Herd? Das Kaninchen in der Pfanne? Und du selber — wie schläfst du?“
Matheis Maris erstattete gern Bericht.
„Fein hast du’s hier. Aber im Winter?“
„Es ist da auch nicht anders als bei euch.“
„Wohl,“ sagte Nele Greefs. „Aber wenn dir der Mund zuwächst in deiner Einsamkeit?“
„Ah, ich male ja mit den Händen.“
In dieser Sonnenstunde machte Matheis Maris eine Entdeckung, nämlich: dass in seinen Gedanken die Menschen immer sehr freundlich aussahen und sein Glaube an die Menschen gross war. Versunken in seinem Gedächtnis war dann, was sie ihm und seiner Mutter angetan. Seine Gedanken, sein Leben, ja sogar seine Erinnerungen — alles in ihm schritt eben nach einem anderen Ziele. Und wenn er an Nele Greefs dachte — wenn er an sie dachte, da war sie noch viel blanker und blonder als die richtige Nele Greefs, und hatte einen so roten Mund, und dieser Mund konnte so lieb reden von allem, was ihn anging, und ihr Herz — dies kleine selbstsüchtige eitle Mädchenherz — fand ein festliches Gefallen an seinem Paradies und hegte ganz insgeheim den Wunsch, das Dasein mit ihm zu teilen. — Ja. So war das, wenn der Mensch in diesem Paradiese sich auseinandersetzte mit der Welt von ehegestern — in seinen Gedanken. Es kam auch daher, dass er das Mass für draussen von sich selber abnahm. Dass er besser, klüger, reiner, dass er gegen die anderen ein richtiger Feiertagsmensch sei, der mit Sonntagsgedanken spielte wie der junge Morgen mit den Klängen der Glocken — soweit reichten diese Gedanken noch nicht.
Und nun — Nele Greefs stand neben ihm, ein Holländermädel, in dem der liebe Gott offenbar so was wie sein Meisterstück hatte machen wollen. Gelb und rot und süss und blank wie eine reife Glaskirsche. Der Wind — wie er sie entdeckte — lief ihr gleich nach auf den Heidehügel, auf den sie nun stiegen, stupfte ihr ans Röckchen und stupfte ihr an die Löckchen: „Na, Nele Greefs?“
Aber Matheis Maris war nicht im geringsten eifersüchtig. — Sie standen recht lange auf dem gelben Sandrücken, von dem die Sonne die Erikabüschel hinweggesengt und der Sturm des Winters das borstige Gestrüpp vollends abgefressen hatte. Und Neles Augen flogen ein paarmal um die Scheibe der Welt.
„Matheis Maris, es ist von hier bis an den Himmel keine zwei Stunden ...“
„Ja,“ unterbrach er sie, „aber bis in den Himmel ist es keine zwei Minuten.“
Da merkte er — zum wievielten Male in der kurzen Zeit, in der sie bei ihm war? — da merkte er, dass sie ihn nicht verstand.
„... keine zwei Stunden,“ sagte sie und färbte ihre Stimme mit Enttäuschung, „und es ist kein Dorf, kein Haus, keine Hütte, es ist überhaupt nichts Lebendiges da als ein paar dumme Kiebitze und eine Handvoll Schmetterlinge. Das ist fad.“
„Nein, es ist merkwürdig; denn es liegen Häuser zwischen hier und dem Ringe des Himmels, sogar drei Dörfer. Aber es kuscht sich alles entweder hinter einen Eichwald oder — wie euer Haus, Nele Greefs — hinter eine Kussel Föhren.“
„Unheimlich und fad,“ sagte sie und machte ein Gesicht wie eine, die den Weg nicht mehr weiss.
Da setzte sich Matheis Maris in Bewegung, als hätte er ganz vergessen, dass sie da wäre. Er sah sich nicht einmal um, ob sie mitkäme. Es war ihm auch ganz gleichgültig. — Nach Menschen hatte sie Ausschau gehalten in dieser heiligen Stille, durch deren Tiefe man den lieben Gott gehen sehen konnte, so man die richtigen Augen hatte! ... Darüber schloss sich ihm der Mund nun doch wieder auf.
Drei Schritte hinter ihm ging sie den Sandhang hernieder. Es war ihr zu heiss auf der Bank vor der Tür. Da trat sie ins Haus und setzte sich auf seinen Stuhl. Er aber sagte: „Warum suchst du nach Menschen? Weisst du nicht, dass sie dem lieben Gotte die Welt verhunzen?“ Sie lachte ihn aus — nicht etwa weil sie seine Worte rasch und bis auf die Neige durchdacht hatte, sondern weil sie darin eine grosse und bittere Auflehnung verspürte.
Matheis Maris aber hatte seine Entdeckung gemacht: die Freundlichkeit oder Farblosigkeit seiner Gedanken über die Menschen verlor sich in ihrer Gegenwart ... Nun ja, wie vorhin die Nele Greefs so gegen die Torfkuhle heranblühte, da hatte er auf seinem Jungmannsherzen eine Fahne hochgezogen. Aber die flatterte nun nicht mehr; denn sagte Nele Greefs etwas, so war das dürr wie vorjähriges Ried. Und sagte Matheis Maris etwas, so verstand sie ihn nicht oder sie bekam davor müde Augen oder sie suchte nach Menschen.
Die Revolution seiner Seele sprang in Matheis Maris auf in einer jähen Flamme — nur zwei Minuten brauchte er mit einem Menschen zusammen zu sein. „Ich will dir sagen, wie das ist, Nele Greefs: ich habe an euch genau soviel auszusetzen wie ihr an mir. Wir schelten uns gegenseitig Narren. Wenn wir uns aber nicht begegnen, so brauchen wir nicht zu entscheiden, auf wen dies Narrentum zutrifft. — Der Himmel, Nele Greefs, ist aus blauer Seide ...“
„Hurrjeh!“
„Ich wollte, er wäre aus blauem Stahl; da könnte von draussen niemand herein zu mir. Und wenn ich nicht gerade auf den Sandsack steige, den mir der Heidewind hinter das Haus gelegt hat, so kann ich des vergnügten Wahnes sein, die gesamte daseinverhunzende Menschheit hat der liebe Gott aus seinem Himmel ausgesperrt.“
Diese Gedanken bewegten sich in einer Welt, zu der Menschen gemeinhin keinen Zutritt haben. Deshalb kam auch das Lachen in Nele Greefs und sie pickte die blaue Seide, den blauen Stahl, sogar den plumpen Sandsack gleich heraus aus seiner Rede, wie ein Huhn die Körner von der Tenne. Es war ihr über die Massen, dass solch ein Bauernjunge von der blauen Seide des Himmels redete als von einer platten Selbstverständlichkeit, die einem nur so im Munde liegt. Überhaupt — nie zuvor hatte er so an ihr vorbeigedacht und über sie hinweggeredet wie heute.
„Weisst du, ich habe mich nun dreimal an dir geärgert, Matheis Maris.“
„Dann wären wir uns also nichts mehr schuldig.“
„Und das Bild, das du mir versprochen hast?“
„Es war voreilig, Nele Greefs. Du bist für mich bloss Staffage.“
„Ist das wieder eine Niederträchtigkeit?“
„Nein, Nele Greefs — das ist eine schmerzliche Wahrheit.“
„Na, denn mag es sein. Und wann wirst du mich malen?“
„Gar nicht. Aber wenn dir daran liegt — ich will dir das Bild in Jahr und Tag schenken; die Moorkuhle mein ich, an die ich dich vorhin gesetzt habe. In Jahr und Tag, hörst du? Es ist das eine hübsche Erinnerung für dich; denn du kannst darunter schreiben: »Wie ich im Paradiese war«.“
Geraume Zeit war vergangen, da erschien Pieter Bosboom. Er fand das Haus offen, die Welt sommerstill und den Menschen Maris bei einer Beschwörung in Einsamkeit. Diesmal war Pieter gekommen, ihm Vorwürfe zu machen: er behandele die Menschen wie Luft und seine Freunde wie Feinde. „Da du im Finstern nicht malen kannst, Matheis Maris ...“ — „Aber bei der Lampe lesen, Pieter Bosboom!“ — „ ... so könntest du dich wohl manchmal für eine Stunde hinüber finden zu uns.“