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Früher, da hatten sie einander Geschichten erzählt. Über das Mühlenreich hinter der kleinen Brücke, wo Schmetterlingshexe, Mottenfrau, Spinnenfee und Käferkönig leben. Früher, da hatten sie geglaubt, all diese magischen Geschichten wären wahr … Als Sofia nach vielen Jahren ins Haus ihrer Großeltern zurückkehrt, ahnt sie nicht, wie dicht dort noch alles mit der Vergangenheit verknüpft ist. Doch bald werden Fragen gestellt, auf die sie keine Antworten kennt und Sofia findet sich plötzlich in jenen Geschichten wieder, die stets auf der anderen Seite des Mühlenbachs begonnen haben
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Seitenzahl: 302
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Fabienne Siegmund
Das Mühlenreich
Teil 1
Impressum
Alle Rechte an der Geschichte liegen beim
Art Skript Phantastik Verlag und der Autorin
Copyright © 2021 Art Skript Phantastik Verlag
1. Auflage 2021
Art Skript Phantastik Verlag | Salach
Komplette Gestaltung » Grit Richter | Art Skript Phantastik Verlag
Illustrationen »Fabienne Siegmund
Lektorat » Isa Theobald
Druck » BookPress | www.bookpress.eu
ISBN Print » 978-3-945045-53-4
ISBN eBook » 978-3-945045-22-0
Der Verlag im Internet » www.artskriptphantastik.de
Alle Privatpersonen und Handlungen sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit realen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
To the girl
Who reads by flashlight
Who sees dragons in the clouds
Who feels most alive in worlds that never were
Who knows magic is real
Who dreams
This is for you
— Meagan Spooner
Und für den, der mich liebte, als ich es nicht konnte.
Damals, als alles begann …
Prolog
»Und manche der Welten von damals
sind lange, lange vorbei
und manche noch gar nicht entdeckt
oder niemals betreten
oder manche sind neu«
— Thilo Corzilius, Der Fuchs
Die beiden Mädchen rannten über die Wiesen, sprangen über Wurzeln und Äste, kletterten über hölzerne Gatter und durch Zäune aus Stacheldraht. Sie liefen über kleine Wege und dicht an Kühen, Pferden, Eseln und Schafen vorbei, doch als sie an den kleinen Bach kamen, hielten sie an.
Blieben genau vor der Brücke stehen und schauten zum gegenüberliegenden Ufer, zu der hölzernen Pforte am Endes des steinernen Brückenstegs, dem rostigen Stacheldrahtzaun mit seinen windschiefen Pfählen. Und sie schauten auf die Wiese dahinter und das kleine Waldstück, an dem das blütengespickte Grün endete.
Sie überquerten den Bach nie, der so schmal war, dass es nicht einmal einer Brücke bedurft hätte.
1 | Zurück nach vorne
Das Haus ihrer Großmutter war das vorletzte in der Straße, kurz, bevor der Asphalt zu einem schmalen Feldweg wurde, der sich zwischen Wiesen hindurch schlängelte.
Sie war so lange nicht mehr hier gewesen, fast kam sie sich wie eine Fremde vor, die die Ruhe dieses Hauses störte. Sie stand neben dem kleinen Mäuerchen, das den Weg durch den Vorgarten zur Straße hin begrenzte und traute sich nicht, den Fuß auf das Grundstück zu setzen, das sie stets als einziges, wahres Zuhause bezeichnet hatte.
»Stell dich nicht so an«, sagte sie sich selbst und straffte die Schultern. »Dort wird dich schon kein Geist erwarten …« Sie schickte sich an, auf das Haus zuzugehen, griff nach ihrer kleinen Reisetasche
»Also stimmt es«, sagte da eine kalte, schneidende Frauenstimme. »Sofia Voss ist zurück.« Ihr Name wurde schier ausgespuckt.
Sofia wirbelte herum, kurz verwehrten ihr ihre Haare die Sicht, und sie strich sie rasch aus dem Gesicht. Sie musterte die Person auf der anderen Seite des Mäuerchens irritiert. Offenbar war sie etwas älter als sie selbst, um Mund und Augen lagen tiefe Falten, die auch das sorgfältig aufgetragene Make-up nicht verbergen konnten. Umrahmt wurden die strengen Züge von schulterlangen, blonden Haaren.
Sofias Gedanken überschlugen sich. Nein. Sie wusste beim besten Willen nicht, wer da stand und warum ihr die Fremde mit so viel Hass begegnete.
»Entschuldigung …«, begann sie zögernd, doch die Frau schnitt ihr das Wort ab.
»Du solltest nicht hier sein. Du bist nicht willkommen!«
Sofia spürte Wut in sich aufsteigen. »Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind, aber das Haus hier gehörte meinen Großeltern, und jetzt gehört es meinen Eltern. Ich kann hier sein, wann immer ich will und so lange ich will!«
Die Fremde lief rot an. »Keine Ahnung, wer ich …« Ihr versagte vor Zorn die Stimme und Sofia befürchtete schon, sie würde vor ihrer Nase umkippen. Stattdessen schloss die Frau nur den Mund und stürzte davon. »Immer noch dasselbe verzogene Miststück, das sich einen feuchten Kehricht um andere kümmert!«, hörte Sofia sie schimpfen. Verwirrt blickte Sofia ihr nach. Als verzogenes Miststück war sie bisher noch nie bezeichnet worden – sie hatte als Kind sogar eigentlich immer zu viel abgegeben, so viel, dass sie am Ende kaum noch was von der Schokolade, den Gummibärchen oder Plätzchen gehabt hatte. Dann, erinnerte sie sich, war sie gemocht worden oder hatte es zumindest geglaubt. Sofia schüttelte den Gedanken an die Vergangenheit ab, sicher, dass sie davon noch viele heimsuchen würden, suchte in ihrem Gedächtnis nach einem Bild dieser Frau. In den ersten Schuljahren hatte sie noch Freundinnen in der Klasse gehabt, doch sie hatte zu lange an Puppen, Märchen, Glanzbildern und anderen Dingen festgehalten, war stundenlang in Tagträumen und Phantasiewelten versunken. Niemand hatte mit ihr spielen wollen, und so hatte sie sich meistens allein beschäftigt. In Omas Küche, dem Garten, den Obstwiesen. Manchmal waren die Kinder aus der Nachbarschaft mitgekommen, Benjamin und Frederik von nebenan, Rebecca von Gegenüber, Ivonne von der Ecke am anderen Ende der Straße … Sofia stockte. Die Fremde war von links gekommen, dort gab es nur noch zwei Häuser. Eins davon war das der Königs … Rebecca? Konnte es wirklich Rebecca gewesen sein? Aber wie um alles in der Welt hatte sie diesen Hass auf sich gezogen?
Sofia starrte die Straße noch hinauf, als Rebecca – wenn sie es denn war – längst nicht mehr zu sehen war.
Sie schüttelte den Kopf. Vielleicht würde sie später eine Antwort erhalten, was diese Szene gerade zu bedeuten gehabt hatte. Jetzt sollte sie ins Haus gehen, denn deswegen war sie hierhergekommen.
Was, wenn es nicht funktioniert? Die Stimme des Zweifels, wie so oft. Trotzig schüttelte Sofia den Kopf mit den langen, dunkelblonden Haaren, an deren Ansatz das erste Grau durchkam.
»Wenn du dich sorgen kannst, kannst du auch genauso gut hoffen«, hatte ihr Großvater immer gesagt. Sofia vermisste Wilhelm Rosner auch nach all den Jahren noch, die er schon tot war. Mehr sogar als die beiden Großmütter, die zumindest in einem Fall erst lange nach ihm gestorben waren.
Erneut straffte sie sich, ging den schmalen Weg mit den rötlichen Platten zum Haus, stieg die vier Stufen zur Eingangstür hoch, die man von der Straße nicht einsehen konnte, weil sie seitlich ins Haus führte, gut zwei Meter hinter einem kleinen Außenkorridor verborgen.
Früher hatte immer ein zur Jahreszeit passender Kranz an der massiven Holztür gehangen, jetzt sah man nur den Spion, zu dem ihre Großmutter sie immer hochgehoben hatte, damit sie sehen konnte, wer vor der Tür gestanden hatte.
Sofia steckte den Schlüssel in Schloss. Drehte ihn um. Das vertraute Klicken erklang. Es hörte sich immer noch anders an als jedes andere Schloss.
Die Tür zum Haus ihrer Großeltern im Brunnenweg 13 öffnete sich. Muffige, abgestandene Luft strömte ihr entgegen, doch darunter lag auch der Geruch von Heimat. Omas Maiglöckchenparfum. Opas Rasierwasser. Konnte das sein? Hielten Düfte so lange? Oder war es bloß eine Mischung aus Sehnsucht und Erinnerung, die sie heraufbeschwor?
Sofia betrat den Flur. Um sie herum tanzten Staubflocken im Licht der Sonnenstrahlen, die ihr von draußen gefolgt waren. Rechts von ihr, unter Laken verborgen, stand die kleine Kommode mit dem Spiegel – damit Schal, Jacke und Hut beim Verlassen des Hauses tadellos saßen … fast meinte Sofia, ihre Großmutter jetzt dort stehen zu sehen, den Blick prüfend auf die Dauerwelle gerichtet … Doch der Spiegel war ebenso verhangen wie alle anderen Möbel im Haus. Weiße Tücher verwandelten sie in geisterhafte Schemen. Vermutlich waren auch alle Jalousien heruntergelassen. Seit dem Tod ihrer Großmutter vor drei Jahren stand das Haus leer.
Ihre Eltern waren verwundert gewesen, als sie darum gebeten hatte, einige Wochen einziehen zu dürfen, aus heiterem Himmel. Aber natürlich hatten sie ihr den Schlüssel gegeben. Vermutlich dachten ihre Eltern, sie brauche Zeit für sich, um die Trennung von Philipp zu verarbeiten, aber sie fragten nicht nach.
Bestimmt war das auch ein Teil der Wahrheit. Immerhin hatte Philipp sich nach fast zwanzig Jahren Beziehung von ihr getrennt. Für Sofias Eltern war dieser Schritt aus dem Nichts gekommen, vermutlich gaben sie Philipp die Schuld. Sofia selbst wusste, dass es ein schleichender Prozess gewesen war, an dem sie ebenso viel Anteil hatte wie Philipp. Wenn man überhaupt von Schuld sprechen konnte. Am Ende waren sie schlicht und ergreifend Gift füreinander gewesen, er genauso für sie wie sie für ihn. Sie hätten sich viel früher trennen müssen, aber manchmal hielt man fest, was man einst liebte. Glaubte, es immer noch zu lieben, es lieben zu müssen, hoffte, dass es wieder so werden würde wie zu Beginn. Man fürchtete die Ungewissheit, die Fremde, das Alleinsein, gleich wie einsam man sich mitunter zu zweit fühlte. Sofia stieß ein Seufzen aus. Es war, wie es war. Sie hatte sich vorgenommen, nichts zu bereuen. Und wenn man es so wollte, waren Philipp und sie immer noch Freunde.
Dennoch konnte sie die kleine, vorwurfsvolle Stimme im Inneren manchmal nicht abstellen, die da sagte »… aber du wolltest doch immer heiraten. Und Kinder …«
Ja, das wollte ich, dachte Sofia dann, das will ich immer noch. Ich bin erst 37. Allzu oft aber wurde aus dem erst dann ein hetzendes, bedrückendes schon. Es war ja auch nicht so, dass sie seit der Trennung niemanden kennengelernt hatte. Es hatte halt nie gestimmt. Und eines Tages war ihr klar geworden, dass es an ihr lag. Nicht körperlich, auch nicht charakterlich – gut, sie hatte keine Modelfigur (dafür war sie 20 cm zu klein und 8 kg zu schwer) und natürlich hatte sie ihre Macken. Aber all das war es nicht. Sofia wurde das Gefühl nicht los, etwas Wichtiges verloren zu haben. In all den Jahren mit Philipp. Vielleicht auch schon vorher.
Deshalb war sie hierhergekommen, an den Anfang. Auch wenn sie nicht die geringste Ahnung hatte, was es sein könnte und ob sie es hier finden würde. Doch irgendwo musste man schließlich anfangen, nicht wahr?
***
Mit einem weiteren Seufzer schloss sie die Haustür hinter sich und ging durch den Flur. Sie brauchte kein Licht, um den Weg in das lange Wohnzimmer zu finden, das die rechte Längsseite des Hauses komplett ausfüllte. Zielsicher durchquerte sie den Raum, betrat das Wohnzimmer und fand dort mühelos zu einem der großen Fenster, um die schweren Rollläden hochzuziehen. Weiche, mit Staub bedeckte Teppiche verschluckten den Klang ihrer Schritte. Das hereinfallende Tageslicht machte die durch Laken in große Gespenster verwandelten Möbel sichtbar. Sofia drehte sich um die eigene Achse. An den Wänden hingen die selbstgemalten Ölgemälde ihres Urgroßvaters, ebenfalls zugehangen. Sofia konnte trotzdem jedes der Bilder vor sich sehen. Die Sicht auf sein Heimatdorf in den Bergen. Die Gänsemagd. Der Schornsteinfeger. Nur der Seidenteppich, den die Großeltern aus einem Urlaub aus dem Orient mitgebracht hatten, hing ungeschützt über dem Sofa in der rechten Ecke. Langsam trat sie näher, berührte mit den Fingerspitzen das verstaubte Gewebe. Vor dem schwarzen Grund zeigte es einen Brunnen mit allerlei Tieren. Sie suchte nach Mottenlöchern, aber offenbar hatte noch nichts an dem feinen Teppich genagt, nicht einmal die Zeit. Sofia wandte sich nach links und durchquerte den Raum, der einmal aus zwei Zimmern bestanden hatte, durch eine Schiebetür voneinander getrennt. Wieder meinte sie, die rundliche Gestalt ihrer Großmutter in der Ecke des zweiten Sofas im hinteren Teil des Raums zu sehen. Über den Gedanken innerlich den Kopf schüttelnd, verließ sie das Wohnzimmer durch die zweite Tür am anderen Ende des Raumes und fand sich in dem winzigen Zwischenflur wieder, von dem es geradeaus in die Küche und rechts auf die Terrasse ging. Links führte nur einen Schritt hinter der verschlossenen Tür eine steile Treppe in den Keller. Sofia aber entschied sich für die rechte und bewegte mit einiger Anstrengung den Hebel, der sie verriegelte, nach unten. Sie hatte nicht geplant, nach draußen zu gehen, folgte einfach nur einem Gefühl. Kurz ließ sie ihren Blick über die Terrasse schweifen, rechts der wintergartenähnlich eingefasste Teil vor dem hinteren Wohnzimmerfenster, links die lange offene Seite mit Hollywoodschaukel und einer hüfthohen Mauer, die man sogar vom Vorgarten einsehen konnte. Die Hollywoodschaukel machte den Eindruck, als würde nur noch der Rost sie zusammenhalten. An einem der Pfeiler, die von dem Mäuerchen aus in regelmäßigen Abständen das gelbe Wellkunststoffdach stützten, hing sogar noch das Vogelhäuschen. Winter für Winter hatten die Vögel dank ihrer Großmutter dort Futter gefunden, und die kleine Sofia hatte sich fast die Nase an der Küchenscheibe plattgedrückt, um sie zu beobachten. Zuerst einfach so, später dann mit einem Bestimmungsbuch auf dem Schoß. Scharen von Spatzen, Meisen, Rotkehlchen, Amseln, Buch- und Distelfinken hatte sie gesehen, manchmal sogar Gimpel, Kleiber, Zaunkönige oder possierliche Schwanzmeischen. Heute war das Vogelhaus verfallen und morsch, aber Sofia konnte die meisten Vögel immer noch bestimmen – das gelbe Leinenbuch stand zuhause im Regal. Mit einem Lächeln passierte sie das Mäuerchen und betrat über die roten Sandsteinstufen den Garten. Beide Teiche – der betonierte Seerosenteich und das künstlich angelegte Biotop, in dem früher Molche gelebt hatten - waren komplett zugewachsen, der Rasen auf den dazwischenliegenden Stücken wucherte ungehindert, ebenso wie die Hecke, die das Grundstück zur Linken ein Stück weit begrenzte, ehe ein Zaun diese Aufgabe übernahm. Sofia folgte dem großen Steinweg, vorbei an der Garage rechts von ihr, dem alten Walnussbaum und dem Biotop, in dem man das Wasser nur noch erahnen konnte. Auf der anderen Seite ragte der Sauerkirschbaum aus einer hüfthoch gewachsenen Blumenwiese, und auch die dahinter liegenden Gemüsebeete waren von Unkraut und Wildblumen überwuchert. Der einst kleine Haselnussstrauch in der Mitte war zu einem riesigen Busch herangewachsen. Kurz hielt Sofia inne – dort hatte sie als Kind ihr eigenes Stück Garten bestellen können, ein winziges Beet zwischen all den anderen. Später waren dort dann ihre beiden Meerschweinchen begraben worden, Schnucki und Teufelchen.
Gedankenverloren setzte sie ihren Weg fort, bis sie den hohen Maschendrahtzaun am Ende des Weges erreichte, der hier nicht länger rot, sondern grau war. Neben ihr endeten die Wäscheleinen, die sie ab der Pumpe an den Tannen gegenüber der Garage begleitet hatten.
Hinter dem Garten fingen die Obst- und Viehweiden an, Kühe grasten friedlich vor ihren Augen, ihr grünes Reich war mit einem elektrischen Zaun einen halben Meter vor dem Grundstück abgetrennt. Als sie Kind war, hatte es dieses Zwischenstück nicht gegeben, sie hatte Kühe und Pferde mit Gras und manchmal sogar mit frisch aus der Erde gezogenen Möhren gefüttert.
Eine Weile beobachtete sie die schwarz- und braungescheckten Tiere, dann machte sie sich auf den Weg zurück ins Haus. Sie musste die Möbel aus ihrem Schemendasein befreien, sicherlich würde ihr Vater auch bald mit ihrem Gepäck und den Einkäufen kommen. Sofia besaß kein Auto, sie fuhr trotz ihres erst kürzlich gemachten Führerscheins nicht gerne. Und sie musste entscheiden, in welchem Zimmer sie schlafen wollte … Auswahl hatte sie ja genug.
***
Sie hatte gerade angefangen, Laken und Tücher in Flur und Wohnzimmer von den Möbeln, Bildern und Spiegeln abzuziehen, als es klingelte. Der Staub, den ihr Tun aufwirbelte, bildete Nebel in den Räumen.
»Hallo Papa«, begrüßte sie ihren Vater. Einen Moment schien er in Gedanken – stellte er sich gerade vor, wie sie ihm damals als kleines Mädchen immer entgegengelaufen war, genau hier?
»Papa?«
»Was? Oh, Sofia. Da bist du ja schon. Hab deine Sachen hier. Hast du Ziegelsteine eingepackt?« Sofia lachte. Ihr Vater motzte oft, aber sie wusste inzwischen, dass er beinahe alles für sie tun würde.
»Warte, ich helfe dir. Sind ein paar Bücher drin.« Sie griff nach einem der beiden Koffer, aber ihr Vater tätschelte ihr die Schulter. »Lass mal, ich mach das schon. Hast du alles, was du brauchst?« Er machte eine Kopfbewegung, die das Haus umfasste.
»Ich denke ja.«
»Ich kann dir gleich helfen. Mit den Laken. Und es stehen sicherlich noch allerlei Sachen von Oma in den Schränken … deine Mutter und dein Onkel haben es nicht übers Herz gebracht, das Zeug wegzugeben.« Klaus Voss wirkte bei diesen Worten unzufrieden, er hasste zu viel Tinnef, wie er es nannte. Der Tod seiner eigenen Eltern lag lange zurück, seinen Vater hatte Sofia nie kennengelernt und ihre Oma väterlicherseits war gestorben, als Sofia ein Teenager gewesen war. Genau wie der Vater ihrer Mutter. Mina Rosner hingegen war noch nicht lange tot. Alles war noch viel frischer.
»Danke, Papa. Ich komme schon zurecht.«
Sie trugen die Koffer und die Lebensmittel in die Küche. Ihr Vater sah sich prüfend um, testete Wasserhähne und Lichtschalter. »Du musst die Sicherungen reintun und den Haupthahn aufdrehen«, wies er sie an. »Mama hat schon alles geklärt.«
»Mach ich später. Bisher hab ich noch kein Licht oder Wasser gebraucht. Sag Mama bitte Danke von mir, ja?«
Klaus Voss brummte und verschwand dann, vermutlich sorgte er selbst dafür, dass sie Strom und fließendes Wasser bekam. Sie hörte seine Schritte auf der Kellertreppe und lächelte. Wie sie vermutet hatte.
Als er wiederkam, hob sie fragend den Kopf.
»Auch wenn du die Heizung jetzt im Sommer vermutlich nicht brauchst, habe ich mal nach dem Rechten gesehen. Nur für den Fall«, erklärte er. Ihr Vater hatte offen gelassen, welchen Fall er meinte, aber Sofia wusste es. Für den, dass sie länger bleiben würde.
»Danke«, sagte sie schlicht.
Klaus Voss nickte und folgte ihr ins Wohnzimmer. Der Staub tanzte immer noch durch die Luft. »Du meine Güte! Oma hat sogar noch die beiden Palmen und den Flamingo, die du damals aus dem Urlaub an der Costa del Sol mitgebracht hast!« Sofias Vater schüttelte lachend den Kopf, während sie selbst die Porzellanfiguren in dem Hängeschrank neben der Tür betrachtete. Wie alt war sie da gewesen? Acht? Neun?
»Ja, hier ist noch vieles wie früher«, bestätigte sie. »Magst du einen Tee?«
»Nein, danke, lass mal. Sonst muss ich die Nacht ständig aufstehen.« Er ging zur Haustür. Plötzlich kam er Sofia schrecklich alt und gebrechlich vor. Im Flur drehte er sich noch einmal um. »Pass auf dich auf, ja? Und meld dich hin und wieder.«
»Mach ich. Aber hier wird mich schon niemand nachts holen kommen.« Sofia lachte, doch ihr Vater machte für einen kurzen Moment den Eindruck, als würde er genau das befürchten. Schließlich aber nickte er und Sofia schloss die Tür hinter ihm.
Zu spät fiel ihr ein, dass sie ihn nach Rebecca König hätte fragen können.
Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen das dunkle Holz.
Jetzt war sie also hier.
Und was nun? Sie hatte sich nie Gedanken gemacht, was sie tun sollte … sicher, die Möbel abdecken, Lüften, all die Dinge … aber was dann? Suchen? Sie wusste ja nicht einmal, wonach. Hatte sie erwartet, dass die Antworten auf ihre Fragen sie wie der Blitz treffen würden, wenn sie nur das Haus ihrer Großeltern betrat, ganz, wie es die Erinnerungen taten?
Nein. Es würde dauern. Vielleicht würde sie es sogar nie finden, was immer es war. Sofia drängte die Frage nach dem und was dann beiseite. Mit einem Ruck stieß sie sich von der Tür ab, strich mit dem Finger über das glatt lackierte Holz der Garderobenkommode. Ihre Finger streiften die Spitzenborte des grünen Zierläufers, der unter dem Laken zum Vorschein gekommen war. Sie sollte ihre Einkäufe verstauen und das Haus weiter aus seinem Geisterdasein befreien. Dann würde sie weitersehen.
***
Bisher war Sofia nicht in ihrem Zimmer gewesen, nicht einmal im ersten Stock. Jetzt stieg sie die steile Treppe empor und wunderte sich, wie sie die schmalen Stufen als Kind hatte hinauf und herunterrennen, sogar springen können. Heute suchten ihre Hände den sicheren Halt des Geländers und sie nahm Stufe um Stufe.
Oben angekommen genoss sie kurz den Ausblick auf den Garten. Vor dem Fenster stand noch immer der alte Schuhschrank, auf dem immer die Kakteen ihrer Mutter gestanden hatten. Rechts ging es zum alten Zimmer ihres Onkels, das man durchqueren musste, wenn man ins einzige Badezimmer des Hauses wollte. Sofia wandte sich nach links, wo die Türen zu Gästezimmer und einer winzigen Abstellkammer nebeneinander lagen. Um in die Einliegerwohnung zu gelangen, die sie mit ihren Eltern bewohnt hatte, musste sie dem Fenster den Rücken zudrehen. Wieder betrat sie eine Küche, ungleich moderner als die im Erdgeschoss, mintgrüne Schränke und ein weiß-blauer Linoleumboden standen im krassen Kontrast zu der dunklen Holzeinrichtung unten. Durch die Küche kam man ins Wohnzimmer, von dort durch eine schmale Falt-Schiebetür in ihr altes Kinderzimmer. Die Tür quietschte und knarzte, als wollte sie sich gegen das Öffnen wehren. Dabei hatte Sofia es einst verstanden, sie vollkommen lautlos zu öffnen, um in aller Herrgottsfrühe an dem Schlafsofa ihrer Eltern vorbei zu schleichen.
Der Raum hinter der Falttür lag im Dunkeln, die große Birke im Vorgarten ließ kaum Sonnenlicht auf das verhangene Fenster durch. Kurz fragte Sofia sich, warum die Rollläden nicht auch hier heruntergelassen waren, und riss mit einem Ruck das Tuch zu Boden. Dann schaute sie sich um. Und obwohl das Licht nicht bis in den hinteren Teil des Zimmers reichte, konnte Sofia alles erkennen. Unter der Dachschräge rechts ein schmales Bett, davor zwei kleine Sessel, ein quadratischer Tisch und die kleine Kommode, auf der offenbar noch ihr alter Röhrenfernseher stand. Dazwischen, quer an der Wand, die beiden Bücherregale. Gegenüber ihr Schreibtisch, eingefasst in Regale und Schränke einer Jugendzimmerwohnwand, daneben der Kleiderschrank. Hohe Möbel an der hohen Wand – anders ging es nicht.
Wenigstens hatte sie jetzt den Platz gefunden, wo sie schlafen wollte. Dies war ihr Zimmer.
Sie begann, auch hier die Möbel aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken. Sofia musste husten, so viel Staub wirbelte auf, und sie war froh, dass es noch einige Stunden waren, bis sie wirklich schlafen ging. So konnte sie noch lüften und das Bett beziehen. Sicherheitshalber hatte sie ihr eigenes Bettzeug mitgebracht, die Matratze war noch gut, die musste sie nur frisch beziehen, jemand hatte sie mit zwei Spannbettlaken rundherum geschützt.
Beim Anblick ihrer alten Vitrine hielt sie einen Moment inne. Ihr war nicht bewusst gewesen, überhaupt noch Sachen hier zu haben, abgesehen von einigen Büchern und ihrem Kommunionskleid vielleicht, das noch in einem der vielen Kleiderschränke im Haus hängen mochte. Neugierig öffnete sie die staubgraue Glastür. Ein paar Halbedelsteine begrüßten sie: Bergkristall, Amethyst, Sandrose, Labradonit und Schneeflockenobsidian. Die gedruckte Autogrammkarte eines Stars aus einer Jugendzeitschrift, an den sie sich nicht einmal erinnern konnte. Porzellanfiguren – eine Maus auf einem Käsestück, ein kleiner Elefant mit riesigen Ohren, zwei Katzen mit grauen Tigerstreifen, ein Miniatur-Teeservice und ein ebenso winziges Tintenfässchen, beides vermutlich aus ihrem alten Puppenhaus. Dahinter lag, fein säuberlich geglättet, ein leeres Schokoladenpapier. Sofia runzelte die Stirn. Bestimmt hatte es einmal eine Bedeutung gehabt, war die Erinnerung an einen wichtigen Augenblick mit einem bestimmten Menschen gewesen – aber sie wusste nicht mehr, mit wem. Ein Fach darüber die beiden Sammelfiguren zum Film The Crow, Eric Draven und, hinter einer kleinen Modell-Kommode, sein als Krähe geschminktes Ebenbild.
Es kann ja nicht immer regnen.
Ein Satz aus dem Film, den Sofia nie vergessen würde. Sie hatte den Film in sich aufgesogen, ihn an die hundert Mal gesehen, mitunter zwei Mal hintereinander, und so war dieses Zitat zu einer Gewissheit für sie geworden, war es immer noch.
Sofia schloss die Vitrinentür und bezog das Bett fertig, ehe sie auch noch die beiden Bücherregale von den Laken befreite. Der Staub ließ sie erneut nießen, aber sie kniete sich dennoch hin und betrachtete ihre alten Geschichtenschätze. Wie oft hatte sie zwischen diesen Seiten Zuflucht gesucht? Bücher von Michel Ende, Ottfried Preußler, Joan Aiken, Frances H. Burnett, Lewis Carol, Enid Blyton und vielen anderen – Welten und Geschichten, in denen sie Freunde gefunden hatte, als sie dachte, in der wirklichen Welt nie welche zu finden. Die Bücher hatten sie immer getröstet. Ihr Mut gemacht. Zärtlich strich sie über den ein oder anderen Buchrücken. Damals hatten diese Geschichten sie gerettet, aber das würde vermutlich heute nicht mehr funktionieren. Sofia erhob sich. Draußen dämmerte es bereits, sie hatte weitaus länger in Erinnerungen geschwelgt als gedacht, und selbst der längste Sommertag fand irgendwann ein Ende. Sie fröstelte. Das Haus sperrte die Hitze aus. Sie rieb sich die Arme und schaute sich prüfend um. Für den Moment war alles fertig. Wenn sie unten noch etwas aß, konnte sich der Raum noch mit Sauerstoff füllen, bis sie wiederkam.
***
Falls Sofia in ihrer ersten Nacht im Haus etwas träumte, wischte der Morgen die Erinnerungen daran fort wie Schlafsand, den man sich aus den Augen rieb. Eine Amsel sang ihr Lied, mehrere Spatzen schimpften. Sofia warf einen Blick auf die Digitaluhr ihres Smartphones. Sieben Uhr. Fast schon spät für ihre Verhältnisse.
2 | Alles zerbricht
Während das Teewasser kochte, wischte sie die Regale über der kleinen Küchenbank ab, auf denen weitere Figuren ihrer Großmutter standen, hauptsächlich Vögel. Ein Pirol, ein Zaunkönig und natürlich das Rotkehlchen, der Lieblingsvogel ihrer Oma Mina. Vorsichtig nahm Sofia die filigrane Figur in die Hand, doch in dieser Sekunde verlagerte sie das Gewicht auf der weichen Polsterung der Bank und geriet ins Straucheln, dabei fiel ihr das Rotkehlchen aus den Händen. Sofia schrie auf, versuchte, den Porzellanvogel noch in der Luft zu greifen – keine Chance. Als er auf dem Polster aufkam, glaubte sie für den Bruchteil einer Sekunde, Glück gehabt zu haben, doch das Vögelchen federte ab und kam mit einem dumpfen Schlag auf dem braun-weiß-marmorierten Linoleum auf und zerbrach in viele Teile. Das Köpfchen kullerte über den Boden und blieb so liegen, dass die schwarz glänzenden Äuglein Sofia direkt ansahen. Wie erstarrt stand sie auf der Bank. Ihr Herz pochte wild in ihrem Brustkorb. Eigentlich war ihr klar, dass nichts weiter Schlimmes passiert war, dennoch schnürte ihr der Anblick des Vögelchens die Kehle zu. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie kletterte von der Bank, ließ sich auf das Polster sinken. Eine Scherbe piekte sie am Fuß, sie hob ihn ruckartig hoch, schlug sich das Knie an der Tischunterseite an. Sofia fluchte, dann zwang sie sich, ruhig ein und auszuatmen.
»Sei nicht so empfindlich, Sofia Voss«, sagte sie leise vor sich hin. »Ein zerbrochenes Porzellanrotkehlchen ist kein Beinbruch. Vielleicht kann man es sogar kleben …« Ja. Das würde sie versuchen. Direkt nach dem Tee.
Sie ging zum Wasserkocher, sorgsam darauf bedacht, nicht in die Scherben zu treten. Mit zitternden Händen goss sie das Wasser auf die getrockneten Kräuter.
So gibt das nichts mit dem Kleben, dachte sie. Sie nippte an ihrem Tee und verbrannte sich die Lippen. »Verflucht!«, schrie sie.
Vielleicht sollte sie einfach ein wenig spazieren gehen, sich beruhigen. Die Scherben würden nicht weglaufen.
Also ging sie zur Garderobe, schlüpfte in ihre Schuhe, zog eine dünne Jacke über und schnappte sich den Schlüssel. Draußen wandte sie sich am Ende des Grundstücks nach links, lief zwischen den beiden letzten Häusern vorbei zu dem schmalen Feldweg, der in die Wiesen führte. Sie war diesen Weg tausende Male entlang gerannt, die Wiesen waren ihr Spielplatz und Zufluchtsort gewesen, gleich was gewesen war. Ihr Großvater hatte sie in die Geheimnisse der Wiese eingeweiht, wie ein Riese war er über Zäune geklettert, hatte ihr den Stacheldraht auseinandergehalten, damit sie hindurchschlüpfen konnte. Sie hatten Äpfel, Birnen, Pflaumen und Mirabellen gepflückt, Pilze gesammelt, Insekten und andere Tiere beobachtet. Maikäfer waren über Hände gekrabbelt, sie hatte Respekt vor Ameisenhügeln gelernt und verstohlen Mäuse, Feldhasen, Füchse und mitunter sogar Eulen und Fledermäuse beobachtet. Stundenlang war sie die Wege entlanggelaufen und über Wiesen gerannt, auf denen Tiere weideten. Jetzt aber, da sie am Beginn des Feldweges angekommen war, zögerte Sofia. Sah nach rechts, wo das Grundstück der Königs bis zur nächsten Biegung reichte. Links war direkt die erste Wiese. Der Zaun, der sie umgrenzte, war wie der hinter dem Haus zusätzlich elektrisch abgesichert, Sofia hörte das Surren des Trafos. Und obwohl es sicher Einbildung war, kamen ihr die Zäune höher vor als früher. Unüberwindbar. Oder lag es daran, dass ihr Großvater nicht mehr da war, ihr ganz persönlicher Riese?
Noch heute hatte sie die Stimme des Polizisten im Ohr, der nach dem Autounfall bei ihnen angerufen hatte. »Sind deine Eltern da?« Der Beamte hatte dem 13-jährigen Mädchen nichts sagen wollen, natürlich nicht. Danach waren ihre Besuche in den Wiesen seltener geworden. Oder hatte es einfach daran gelegen, dass sie älter wurde?
Ein stechender Schmerz riss sie aus ihren Gedanken. Sie blickte auf ihre Handflächen. Sie blutete! Unbewusst war sie an die Wiese herangetreten, hatte in den Stacheldraht gegriffen … Sofia atmete tief ein, blickte auf das grüne Gras mit all den Wildblumen, den blauen Sommerhimmel, über den ein paar Schwalben flogen. Es tat gut, einfach dazustehen und die kleinen Luftakrobaten zu beobachten. Der Schmerz in ihren Händen ließ nach, die Wunden hatten schon aufgehört zu bluten, sodass sie kurzerhand weiterging, tiefer in die Wiesen hinein. Eine Frau kam ihr entgegen, das Alter beugte ihren Rücken und eine ihrer faltigen Hände umklammerte einen Stock. Ein buntgeblümtes Tuch, das sie mit einem Knoten unter dem Kinn festgebunden hatte, schützte sie vor der Sonne, hob aber auch ihre krumme Nase und das ausgemergelte Gesicht hervor, sodass Sofia unweigerlich an eine Märchenhexe denken musste. Lächelnd begrüßte sie die Frau. Als Kind wäre sie vermutlich schreiend fortgelaufen, heute aber wusste sie, dass die hutzeligen Hexen, vor denen man als Kind weggerannt war, nur alte Frauen waren, die durchaus freundlich sind. Die Alte erwiderte den Gruß und verschwand hinter ihr.
Fünfzig Meter weiter stand Sofia an der ersten Weggabelung. Rechts folgte der Weg weiter dem Grundstück der Königs entlang bis an den kleinen Mühlenbach, links ging es zu mehr Wiesen und Wegen, bis an den nächsten Ort heranreichend. Sofia gegenüber stand ein kleiner Reitstall. Was damals nicht mehr als ein Verschlag gewesen war, hatte man zu einer modernen Stallanlage ausgebaut.
»Du warst lange nicht mehr hier«, flüsterte eine Stimme in ihrem Inneren. Sofia nickte unmerklich und überlegte, wohin sie gehen sollte. »Links«, wisperte die Vernunft, »rechts endet der Weg.« Trotzdem bog Sofia nach rechts ab, folgte dem grasbewachsenen Pfad. Äste von Silberpappeln spendeten über den Zaun der Königs hinweg Schatten, auf der anderen Seite gab es mehr Obstwiesen. Knorrige Äpfel und Birnen standen in Nachbarschaft zu Kirsch-, Pflaumen- und Mirabellenbäumen. Hier und da rankten sich Him- und Brombeeren die Zäune entlang, es gab sogar wilde Stachelbeeren und große Holundersträucher. Dann endete der Weg, und Sofia stand auf dem kleinen Stück Gras, auf dem nur noch ein schmaler Trampelpfad zu der kleinen Brücke führte, die den Mühlenbach überspannte, damit man die Weide auf der anderen Seite des Bächleins trockenen Fußes erreichen konnte. Die Brücke war keine zwei Meter lang, vielleicht einen breit, gegossener Beton, die Ränder des Steges mit inzwischen rostigem Metall verstärkt, auf beiden Seiten ein Geländer, durch dessen zwei Streben man mühelos klettern konnte.
Sofia zögerte. Sie hatte diese Brücke nie überquert, dabei lag dahinter auch nur eine weitere, nach beiden Seiten weitläufige Wiese, auf der Obstbäume standen. Vielleicht fünfzehn, zwanzig Meter hinter dem hohen Gras begann ein kleiner Wald. Sie wusste, dass irgendwo hinter den Bäumen das Gelände der alten Mühlen verborgen lag.
Und auch jetzt betrat Sofia die Brücke nicht, sondern betrachtete sie nur argwöhnisch, obwohl sie nichts Auffälliges entdecken konnte. Etwas an diesem Ort war besonders, ließ ein ungutes Gefühl in ihr aufkommen, genau wie früher. Keines der Kinder aus der Nachbarschaft hatte diese Brücke ihres Wissens je überquert.
Sofia hörte den Mühlenbach leise vor sich hingluckern, er war an dieser Stelle sehr flach und etwas breiter als sonst auf dem Weg durch die Wiesen. Sie ging näher. Das flache Wasser war klar, so dass man gut auf den rotbraunen Grundschlamm sehen konnte, und sie entschied, dass es besser war, die Wunden an ihren Händen zumindest ein bisschen auszuwaschen. Das Einfachste wäre natürlich, von der Brücke aus die Hände ins Wasser zu halten, der Steg lag so tief, dass man den Bach problemlos erreichen konnte. Doch das alte Unbehagen überwog, und so bahnte Sofia sich den Weg über einen mit hohem Gras, Wildkräutern und Blumen bewachsenen Hügel, bis sie sich an das Ufer des Bächleins hocken konnte. Zwei golden schimmernde Libellen tanzten über das Bachbett, winzige Fische huschten durch das flache Wasser und stoben auseinander, als Sofias Hände die Oberfläche durchbrachen. Vorsichtig wusch sie die Wunden aus, bemüht, nicht allzu viel Schlamm aufzuwirbeln. Dennoch trübte sich das Wasser und Sofia musste der Versuchung widerstehen, mehr Dreck zu lockern, sie mochte die wirbelnden Unterwasserwolken. Aber dann würden ihre Wunden nicht sauber werden, und so tupfte sie ihre Hände vorsichtig an ihrer dunklen Jeans ab. Sie richtete sich auf und drückte die leicht schmerzenden Knie durch. In solchen Momenten wurde ihr durchaus bewusst, wie alt sie eben doch schon war, obwohl sie sich deutlich jünger fühlte. Aber die Zeit nagte unaufhaltsam an ihr. Bei ihrer Trennung hatte Philipp sich für die gestohlenen Jahre entschuldigt – sie hatte Kinder haben wollen, er hatte sie von Jahr zu Jahr vertröstet. Ein Schauder lief ihr über den Rücken, reflexartig drehte sie sich um. Hinter ihr lag nur der Weg, den sie gekommen war.
Sie sollte zurückgehen. Da wartete ein Porzellanrotkehlchen darauf, repariert zu werden. Noch einmal sah sie in das Wasser, das langsam wieder aufklarte, dann machte sie sich auf den Heimweg.
Ein Zaunkönig landete auf dem schmalen Draht der Wiesenbegrenzung, der winzige Vogel wippte mit dem Schwanz und hob das Köpfchen. Als er Sofia entdeckte, flatterte er mit einem kleinen Tschilpen davon. Sie lächelte. Wahrscheinlich machte sie sich zu viele Gedanken. Das Rotkehlchen würde sich reparieren lassen. Und wenn nicht, wäre es auch kein Weltuntergang.
Der Gedanke, dass es schön wäre, wenn sich Herzen ebenso einfach kleben und richten lassen würden wie der kleine Porzellanvogel, führte sie später beim Kleben zu der Begegnung mit Rebecca König zurück. Was hatte sie ihr nur getan?
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Sie stellte das Rotkehlchen zum Trocknen ins Regal. Die alte Küchenuhr schlug Mittag, sie hatte gestern noch neue Batterien hineingetan. Sofia blickte auf. War wirklich schon ein halber Tag vorbei? Sie reckte sich. Oben wartete ihre Kleidung darauf, eingeräumt zu werden, es würde gut sein, wenn ihre Hände weiterhin etwas zu tun hätten.
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Das Öffnen ihres Kleiderschrankes ließ sie laut auflachen, auf den Innenseiten der Türen klebten die Poster ihrer Teenie-Idole aus Beverly Hills 90210. Jeden Samstag, 15 Uhr. Sie wusste die Sendezeit noch ganz genau. Schmunzelnd leerte sie ein Fach mit altem Bettzeug, um Platz für ihre eigenen Sachen zu schaffen. Dabei entdeckte sie hinter den Bezügen ein paar ihrer alten Stofftiere.
Drei Glücksbärchis lächelten sie an. Sie stellte die drei Stoffbären mit Regenbogen, Sonnenblumen und Mond auf den Bäuchen liebevoll auf den Bettkasten, in dem sie seinerzeit tagtäglich Kissen und Decke verstaut hatte, um aus dem Bett mithilfe zweier Schaumstoffblöcke ein provisorisches Sofa zu machen. Schmunzelnd wandte sie sich wieder ihrer Wäsche zu.
Das Knurren ihres Magens trieb sie zurück nach unten, wo sie sich ein Brot belegte und einige Tomaten aufschnitt. Morgen würde sie frisches Gemüse kaufen gehen, aber heute scheute sie den Weg nach draußen. Leise gestand sie sich ein, dass sie eine erneute Begegnung mit Rebecca König befürchtete. Dabei wäre es gut, wenn sie einfach mit der Frau reden könnte. Doch als sie auf die Straße hinausblickte, war niemand zu sehen, und Sofia fand es albern, darauf gehofft zu haben. Sie drehte sich um, überlegend, was sie als nächstes machen sollte. Zu tun gab es vieles, aber für nichts hatte sie die notwendige Ruhe. Rastlos wie ein Panther in seinem Käfig streifte sie durch das Haus, ging durch jeden Raum, betrachtete die Bilder, die sie längst in und auswendig kannte.
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