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Es war einmal eine Prinzessin, ganz aus Papier. Sie trug Kleider, so weiß wie ein unbeschriebenes Blatt. Das Land, in dem sie lebte, war aus Geschichten gebaut, die ihre Großmutter, die Königin erzählte. Mit diesen Worten beginnt die Geschichte, die Amelia May einst als Kind begann. Viele Jahre später, als Amelia längst alle Geschichte aus ihrem Leben verbannt hat, hängt das Leben ihrer Schwester Matilda davon ab, dass sie diese längst vergessene Geschichte nicht nur wiederfindet, sondern abermals dem Ruf der Worte folgt ...
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Seitenzahl: 270
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Fabienne Siegmund
Alle Rechte an den abgedruckten Geschichten liegen beim
Art Skript Phantastik Verlag und den Autor*innen.
Copyright © 2024 Art Skript Phantastik Verlag
1. Auflage 2024
Art Skript Phantastik Verlag | Salach
Lektorat » Stephanie Kempin
Illustrationen » Jana Damaris Rech
Komplette Gestaltung » Grit Richter | Art Skript Phantastik Verlag
Druck » BookPress | www.bookpress.eu
ISBN » 978-3-949880-06-3
Auch als eBook erhältlich
Der Verlag im Internet » www.artskriptphantastik.de
Alle Privatpersonen und Handlungen sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit realen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
***
In den Kästen finden sich Zitate von Geschichtenliebenden, die auf die Frage antworteten, was Geschichten für sie sind. Im eBook sind diese Kästen die in fetter Schrift gesetzten Passagen.
Für meine Großmütter
Gela und Wilma.
Ihr fehlt.
Für Annika.
Weil wir schon in Kindertagen Geschichten lebendig werden ließen. Und es immer noch tun.
Und für jene, die meine Geschichten begleiten. Ohne euch ginge es nicht. Ich trage eure Tintenspuren auf meinen Lebensseiten.
von Isa Theobald
Geschichten sind mehr als aneinandergereihte Worte. Mehr als die Summe ihrer Teile, mehr als schwarze Tinte auf weißem Blatt, mehr als eine Stimme am Lagerfeuer und die Ohren, die ihr lauschen. Geschichten sind Magie.
Mit nicht mehr als – in unserer Sprache – 26 Buchstaben und den daraus resultierenden, nahezu unendlichen Kombinationsmöglichkeiten können wir Berge versetzen, Meere teilen, Drachen am Himmel fliegen und die wahre Liebe gewinnen lassen. Mit wenigen Worten können wir andere Menschen zum Lachen und Weinen bringen oder sie das Fürchten lehren. Geschichten können Flucht sein, Ablenkung und Schutz, ebenso wie Lehr- oder Zuchtmeister. Die richtige Geschichte zur richtigen Zeit kann die Mauern unserer Weltsicht zum Wanken bringen, uns unsere Moral hinterfragen lassen oder uns lehren, über den Tellerrand zu blicken. Geschichten sind Türöffner.
Menschen, die viel lesen, fällt es leichter, sich in andere hineinzuversetzen. Dazu gibt es Studien. Ich würde noch einen Schritt weiter gehen und diese These von der eigentlichen Tätigkeit des Lesens trennen (auch wenn es in der Natur der Sache liegt, dass ich den Konsum von Geschichten in Buchstabenform besonders schätze) und behaupten, dass es Menschen, die von vielen verschiedenen Geschichten umgeben sind, leichter fällt, sich in andere hineinzuversetzen. Weil sie das tagein, tagaus tun, indem sie mit den Protagonist*innen dieser Geschichten mitfiebern, mitlieben, mitleiden. Dabei ist es nebensächlich, ob sie das auf der Leinwand, vor dem Fernseher, in einem Buch oder einem Game tun. Wichtig ist, dass sie sich darauf einlassen, die Figuren in ihr Herz und damit die Magie erblühen lassen.
Es gibt kein Leben ohne Geschichten. Auch wenn man nicht liest, vielleicht nicht einmal fernsieht, ist man davon umzingelt. In der Familie, wenn die Schwester am Telefon erzählt, wie die Nichte im Kindergarten die großen Jungs zusammengestaucht hat, weil sie gemein zu einer Freundin waren. Auf der Arbeit, wenn in der Kaffeeküche das dramatische Ende der Ehe des Chefs analysiert wird. Selbst wenn man sich von allen zwischenmenschlichen Beziehungen isoliert, bleiben die Geschichten, im Vogelnest vor dem Fenster und dem Paarungsschrei der Katzen im Hinterhof. Geschichten sind der Kern des Menschlichen, zudem jeder Gedanke strebt. Geschichten sind Hoffnung.
Spricht man dieser Tage mit einem Marketingmenschen, so wird er erzählen, dass es gar nicht auf das Produkt ankommt, sondern auf das Storytelling. Aktuelle Studien legen nahe, dass die Menschen nicht aus rationalen Gründen wichtige Entscheidungen wie zum Beispiel bei Wahlen treffen, sondern aus emotionalen Gründen – und Emotionen erreicht man, Sie ahnen es schon, mit Geschichten. Die geschickte Menschen weben, deren Aufgabe es ist, zu manipulieren, Meinungen einzupflanzen und zu lenken. Geschichten sind gefährlich.
Das Narrativ – die zugrundeliegende Geschichte – unserer Gesellschaft scheint immer noch »Der Mensch ist des Menschen Wolf« zu sein. Man braucht Ellbogen, um zu bestehen, jeder ist sich selbst der Nächste, Sie kennen all die Sprüche. Würden wir uns alle dazu entscheiden, dieses Narrativ auszutauschen – z.B. in »Ubuntu« aus dem Zulu, ungefähr, aber sehr schön übersetzt in »ich bin, weil wir sind« – könnte die Welt, wie wir sie kennen, sehr schnell ein schönerer Ort sein. Stellen Sie es sich vor! Geschichten sind Wandel.
Sobald zwei Menschen aufeinandertreffen und zu sprechen beginnen, entsteht eine Geschichte. Jeden Tag, jeden Augenblick unzählige neue. Und wenn niemand anderes da ist, dem man sie erzählen kann, dann erzählt das Gehirn sie sich selbst – in Tagträumen, schlagfertigen Antworten, die einem erst Tage später einfallen, in den Gedankenwelten, die man spinnt. Geschichten sind überall.
Die Papierprinzessin ist eine Geschichte über Geschichten. Über ihre Magie, ihre Fähigkeit, Türen zu öffnen, ihre Macht, Hoffnung zu geben, die Gefahr, die in ihnen liegt, und den Wandel, den sie bringen. Aus 26 Buchstaben und den daraus resultierenden, nahezu unendlichen Kombinationen schafft Fabienne Siegmund ihren eigenen Zauber – poetisch, herzerwärmend, traurig, klug und, immer wieder, voller Hoffnung. Weil das Ende jeder Geschichte der Anfang einer neuen ist. Weil Geschichten zutiefst menschlich sind. Weil Geschichten das sind, was den Menschen treibt. Geschichten sind alles.
Öffnen Sie Ihr Herz und lassen Sie sich auf diese Geschichte ein. Sie werden es nicht bereuen.
Isa Theobald
im November 2023
If words can wake up demons
do we really want to speak?
And if my words could crush your dreams –
burn your illusionary fields –
Do you really want to hear them?
See the imaginary fade?
Do I really want to listen
if what you say opens my façade?
Do I fear the silence or long for it?
Could I put my thoughts to sleep?
After everything is spoken
and some truth does linger in the air –
stop breathing, avoid to take it in –
or just drain it, let it flow within …
Sometimes the weight of the world
Lies in the sound of one word –
getting it right or getting it wrong
And
Are we spellbound from then on?
Or are we speechless, silent?
What is reality?
Relieved and dreamless –
in imaginary …
Stephanie Kempin, Illusionary
... und das Kind
schrieb
den Namen auf
das Blatt Papier, nicht
wissend,
welche Macht
Worte haben
konnten ...
Manchmal klingelt das Telefon und man weiß schon vor dem Annehmen des Gesprächs, dass derjenige am anderen Ende der Leitung nichts Gutes zu berichten hat.
Amelia May hatte genau dieses Gefühl, als sie nach dem dritten Klingeln das Gespräch mit einem leisen »Ja?« entgegennahm.
»Miss Amelia?«
Eine alte, brüchige und unendlich vertraute Stimme. Eine Stimme, die ein Stück Vergangenheit mit sich trug, das für immer hatte Vergangenheit bleiben sollen.
Amelia schloss die Augen. Sie schluckte.
»Clara.«
Es war ihr nicht möglich, die Bitterkeit, die sie empfand, zu verbergen. Ihrem Gegenüber, Meilenweit entfernt, schien es jedoch gar nicht aufzufallen.
»Ja, Miss Amelia, Clara hier.«
Amelia meinte ein Lächeln in der Stimme zu hören, das aber sekundenschnell verblasste, als sie weitersprach: »Miss Amelia, Sie müssen sofort kommen. Bitte.«
»Nach Starnight Hights?« Aus der Bitterkeit wurde eine Mischung aus Panik und Entrüstung.
»Natürlich, Miss Amelia. Wohin denn sonst?«
Ja, wohin sonst … Amelia biss sich so fest auf die Lippen, dass sie Blut schmeckte. Sie wollte nicht zurück. Niemals mehr.
»Warum, Clara? Warum sollte ich zurückkommen?«
Sie kannte die Antwort bereits, bevor sie ausgesprochen wurde. Es gab nur einen Grund. Und da sagte Clara auch schon jene Worte, die Amelia immer gefürchtet hatte.
»Es ist wegen Miss Matilda. Etwas ist geschehen.«
Amelias Gedanken überschlugen sich.
»Was?«, fragte sie.
»Das weiß niemand so genau«, gab Clara zurück. Ihre Stimme zitterte.
»Ist sie verschwunden?«, hakte Amelia nach.
Da fällt mir ein Satz von der Uni ein: »Wir leben alle in unseren Geschichten – entweder mit ihnen oder gegen sie.« Geschichten sind immer auch das, was man daraus macht, jeder erlebt sie anders, das macht sie so faszinierend. Und auch fast unkontrollierbar. Selten lesen zwei Menschen eine Geschichte komplett gleich. Und magisch sind sie auf jeden Fall! Vor allem, wenn sie ein Eigenleben entwickeln …
― Stephanie Kempin
»Nein, Miss.«
»Hatte Sie einen Unfall?«
»Nicht, dass wir wüssten.«
»Was ist denn dann, Clara? Was ist passiert?«
Herrgott, warum rückte sie nicht einfach mit der Sprache heraus!
»Bitte, Miss Amelia«, sagte die alte Frau da leise. »Kommen Sie. Schnell.«
Und dann legte Clara auf, einfach so, beendete das Gespräch, ehe Amelia überhaupt nur hatte daran denken können, zu widersprechen.
Denn das hätte sie mit großer Wahrscheinlichkeit getan.
Sie wollte nicht nach Starnight Hights.
Sie war fortgegangen, um niemals mehr zurückzugehen.
Es war ihr sogar gelungen, alles, was damit zu tun hatte, aus ihrem Leben zu streichen. Die Erinnerungen an das, was dort geschehen war. Clara. Einfach alles.
Sogar Matilda, das letzte bisschen Familie, das ihr geblieben war.
Sie hatte geahnt, dass es eines Tages wiederkommen würde. Und ebenso, dass sie dann keine Wahl haben würde.
Wütend warf sie das Telefon auf den Boden. Der Akku sprang heraus.
Amelia ließ ihn einfach liegen, während sie ans Fenster trat und den Himmel über London betrachtete. Aber wo ihr sonst der Anblick der Stadt die beruhigende Gewissheit gegeben hatte, dass alles gut war, schienen aus den dampfenden Schornsteinen nun Geister aus Rauch aufzusteigen, die Gestalten formten, die sie einst gekannt hatte.
Rasch schloss sie die Augen.
Mit der Vergangenheit hatte sie auch die Fähigkeit hinter sich gelassen, Dinge zu sehen, die es nicht gab.
Früher, früher hatte sie daraus Geschichten gebildet.
Aber früher war alles anders gewesen.
Heute gab es in ihrem Leben keine Geschichten mehr. Sie hörte nicht einmal Musik, zumindest keine, in der Worte etwas erzählten. Ging Menschen aus dem Weg, wann immer es möglich war.
Amelia stieß einen Seufzer aus.
Starnight Hights. Wie ein Fluch lag der Name auf ihren Gedanken. Wie lange war es her, dass sie fortgegangen war?
Zehn Jahre?
Nein. Mehr. 13. Sie war jetzt 29. Matilda musste demnach fast 20 sein. Amelia warf einen Blick auf den Kalender. April. Ja, im Juni würde Matilda 20 werden. Wenn … laut fluchend trat sie gegen den Sessel.
Was war mit Matilda? Was konnte so Schlimmes passiert sein, dass sie kommen musste? Kein Unfall und nichts sonst …
Warum hatte Clara nicht einfach mit der Sprache rausrücken können?
Weil du dann nicht gehen würdest, wisperte eine Stimme aus ihrem Inneren, und Amelia wusste, dass dem genau so war. Wenn sie wüsste, was wäre, würde sie vielleicht nicht gehen.
So hatte sie keine Wahl. Leider.
Amelia seufzte erneut, warf einen letzten Blick auf die mit Schornsteinen gespickten Dächer und wandte sich ab, um ihren Koffer zu packen. Was nahm man auf eine Reise mit, die man nicht antreten wollte?
Sollte sie vielleicht nach dem Wetterbericht sehen? Kopfschüttelnd ging sie ins Schlafzimmer. Auch zu wissen, ob es regnete oder schneite, würde es nicht einfacher machen. Das würde gar nichts schaffen.
Aus reiner Gewohnheit strich sie sich den Rock ihres grauen Kostüms glatt. Hatte sie noch weggehen wollen oder trug sie es schon seit dem Morgen?
Sie wusste es nicht mehr.
S-T-A-R-N-I-G-H-T H-I-G-H-T-S.
Die Worte wurden in ihren Gedanken zu blinkender Leuchtreklame, die keinen Raum für anderes ließ.
***
Als sie am nächsten Morgen aus dem Taxi stieg, das sie von der Bahnstation hoch nach Starnight Hights gefahren hatte, wäre sie am liebsten augenblicklich wieder zurück in das warme Wageninnere geschlüpft.
Das alte Herrenhaus schien über die Jahre gewachsen zu sein, war größer und dunkler geworden. Ein Teil von ihr wusste, dass das albern war – Häuser wuchsen nicht. Sie selbst war gewachsen. Aber sie fühlte sich nicht so. In diesem Moment, wo sie vor dem Zugang zum Haus stand, war sie wieder das Mädchen, das von hier fortgegangen war.
Wütend ballte sie die Fäuste und straffte die Schultern. Sie würde nicht weiter an die Vergangenheit denken, sondern einfach hineingehen, Clara treffen und klären, was es zu klären gab.
Mit einer energischen Geste wickelte sie den Mantel um sich und stapfte auf das Gebäude zu. Der Kies knirschte unter ihren Füßen und brachte sie in ihren Absatzschuhen mehrmals aus dem Gleichgewicht, aber schließlich erreichte sie die Treppe, die von zwei steinernen Löwen gesäumt war.
Archibald und Archimedes, erinnerte sie sich der alten Namen aus Kindertagen, ging aber schnell weiter, ehe die Erinnerung nach ihr greifen konnte.
Keine Vergangenheit.
Nur hier und jetzt und schnell wieder weg.
Clara öffnete die Tür, noch ehe Amelia nach dem altmodischen Klingelzug hatte greifen können.
»Miss Amelia! Willkommen zu Hause!«
Amelia spürte, wie sich ihre Kehle zuzog, aber sie rang sich ein Lächeln ab. In der nächsten Sekunde fand sie sich in der Umarmung der alten Haushälterin wieder, die sie aufgezogen hatte.
Sanft versuchte Amelia, der ungewollten Berührung zu entkommen, bedachte ihr Gegenüber aber mit einem Lächeln, von dem sie jedoch spürte, dass es zu freundlich war. Clara bemerkte es nicht. Sie schien ganz aus dem Häuschen zu sein. Wie alt sie geworden war. Die Wangen waren eingefallen und die runzlige, von Altersflecken gezeichnete Haut schien viel zu groß für das schmale Gesicht zu sein, aber in ihren Augen lag immer noch das gleiche Funkeln, das Amelia früher immer als Magie bezeichnet hatte. Clara hingegen war kleiner als bei ihrer letzten Begegnung. Oder lag auch das wieder nur daran, dass sie selbst gewachsen war? Wie alt mochte Clara inzwischen sein? Amelia wusste es nicht und schob den Gedanken ebenso beiseite wie alle anderen.
Nur kurz nach Matilda schauen. Mehr nicht. Mehr nicht.
Sie folgte Clara ins Hausinnere, trat auf den Marmorboden. Schwarz-weiß gekachelt. Wie ein Schachbrett. Wie oft hatten Matilda und sie hier Szenen aus Alice hinter den Spiegeln nachgespielt?
Keine Erinnerung, mahnte die Stimme in ihrem Inneren. Wenn du dich erinnerst, bist du verloren …
»Ich habe Ihr altes Zimmer für Sie hergerichtet, Miss Amelia.«
Amelia schrak auf. »Was?«
Clara lächelte sie an. »Ihr altes Zimmer. Für die Nacht. Sie werden doch irgendwo schlafen müssen.«
Fassungslos starrte Amelia sie an. »Was?« Sie suchte nach Worten. Worten, die nicht verletzten, aber wahrscheinlich würde es ihr ohnehin nicht gelingen.
»Ich werde nicht hier schlafen, Clara«, sagte sie daher. »Ich werde nach Matilda sehen und wieder fahren.«
Wie sie es sich gedacht hatte, wischten ihre Worte das Lächeln von Claras Lippen wie ein Schwamm Kreide von einer Schiefertafel.
»Das wird nicht gehen, Miss Amelia«, meinte sie daraufhin nur. Sie ging die geschwungene Treppe hinauf.
Amelia folgte ihr. »Warum nicht?« So schrill färbte die Panik ihre Stimme.
»Weil … gehen Sie in den Salon. Ich bringe Ihre Sachen nach oben. Und dann erzähle ich Ihnen alles. Danach können Sie zu Miss Matilda.«
»Ist sie denn nicht hier?« Wie automatisch richtete sie ihre Blicke auf den dunklen Gang oberhalb der Treppe, fest damit rechnend, ihre Schwester jede Sekunde dort auftauchen zu sehen. So wie früher …
Aber natürlich geschah das nicht. Solche Dinge geschahen nie. Plötzlich hatte Amelia das Gefühl, jemand würde ihr die Kehle zudrücken. Sie blieb stehen, die Hand auf das blankpolierte Holzgeländer gelegt.
»Was ist mit Tilda?«, fragte sie.
Clara drehte sich um. Alles Funkeln war aus den blauen Augen verschwunden.
»Gleich, Miss Amelia. Bitte. Nicht zwischen Tür und Angel.«
Amelia biss sich erneut auf die Lippen. Sie kannte Clara gut genug, um zu wissen, dass sie nichts erfahren würde, bis sie nicht im Salon saß. Nach einem kurzen Nicken wandte sie sich ab, um der Aufforderung der alten Haushälterin nachzukommen.
Zum Glück musste sie nicht lange warten. Sie hatte nicht einmal Zeit gefunden, sich richtig umzusehen, und um ehrlich zu sein, war sie froh darüber.
Clara nahm schweigend gegenüber von ihr Platz.
Die Stille trieb Amelia in den Wahnsinn.
Geschichten sind nicht selten Erinnerungen an Dinge,
die irrtümlich zu geschehen versäumten.
Christian von Aster
»Was ist mit Matilda?«, wiederholte sie die Frage, die sie schon auf der Treppe gestellt hatte.
Clara neigte nachdenklich den Kopf hin und her. »Miss Matilda ist im Krankenhaus. Sie liegt im Koma.«
Jede Maske, die Amelia so sorgfältig aufgesetzt hatte, fiel in sich zusammen, löste sich auf und zurück blieb nichts als Entsetzen.
»Was ist passiert?« Sie hatte kaum genug Luft, die Worte hervorzupressen.
Die alte Haushälterin zuckte mit den Schultern. »Das weiß niemand so genau, aber alles spricht dafür, dass Miss Matilda versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Vorgestern fand ich sie in ihrem Bett – sie war einfach nicht hinuntergekommen, wissen Sie, so wie sonst. Sie lag einfach nur da – aber da standen Tabletten auf ihrem Nachtschränkchen …« Claras Stimme verlor sich und die alte Frau legte die Arme um ihre Schultern, als müsste sie sich selbst zusammenhalten. »Ich dachte, sie wäre tot, Miss Amelia. Aber das war sie nicht. Dem Himmel sei Dank. Sie wurde ins Krankenhaus gebracht und dort wurde ihr der Magen ausgepumpt und die Ärzte sagten, sie müsste bald wieder aufwachen, sie habe Glück gehabt, aber – sie wacht nicht auf. All ihre Werte sind wieder normal, ihr Körper funktioniert, aber sie wacht einfach nicht auf.«
»Aber … warum?« Amelia glaubte, etwas in ihr würde einstürzen. Etwas, das längst vergessen war. Ein Ort in ihr, den sie hatte vergessen wollen.
»Das weiß niemand.«
»Und was soll ich tun? Sie wird kaum aufwachen, nur weil ich da bin …«
Amelia schüttelte den Kopf. Dazu war sie zu lange fort gewesen. Zu weit.
»Wahrscheinlich nicht, nein«, bestätigte Clara. »Aber Sie können trotzdem helfen.«
Sie reichte Amelia ein Blatt. »Das hatte Miss Matilda in den Händen, als ich sie fand«, sagte sie.
Mit gerunzelter Stirn nahm Amelia es an. Das Papier war oft zusammen und wieder auseinandergefaltet worden, und es musste schon älter sein, denn es hatte einen leichten Gelbstich und die Ränder waren brüchig.
Fragend sah sie Clara an, aber die alte Dame nickte nur, so dass Amelia das Blatt auseinanderfaltete. Augenblicklich stockte ihr der Atem und ihr Herzschlag schien auszusetzen, denn sie erkannte ihre eigene, kindliche Handschrift.
Ihre Hände begannen zu zittern, als sie zu lesen begann:
Es war einmal eine Prinzessin, ganz aus Papier. Sie trug Kleider, so weiß wie ein unbeschriebenes Blatt. Das Land, in dem sie lebte, war aus Geschichten gebaut, die ihre Großmutter, die Königin, erzählte.
»Das …« Amelia sah auf. Wusste nicht, wohin mit ihren Blicken. Sie wollte nicht Clara ansehen, aber noch viel weniger wollte sie die Worte in ihren Händen sehen.
»Das haben Sie geschrieben, Miss Amelia, nicht wahr?«
Sie nickte stumm. Erinnerte sich und versuchte gleichzeitig, es nicht zu tun.
Clara betrachtete sie. »Miss Matilda hat oft über diese Geschichte gesprochen und manchmal hat sie es nicht einmal bemerkt. Das waren die Nächte, in denen sie davon geträumt hat. Es waren keine schönen Träume.«
Amelia schüttelte fassungslos den Kopf.
Sie wusste noch, warum sie und Matilda die Geschichte begonnen hatten, damals. Aber nicht mehr, wovon sie gehandelt hatte. Nur das Ende, das war ihr noch geläufig, natürlich. Oder nein – nicht das Ende der Geschichte. Das Ende der Realität, damals. In einer anderen Zeit. Doch was hatte diese Geschichte mit Matilda zu tun? Mit dem Hier und Jetzt?
»Ich weiß nicht, was es zu bedeuten hat.«
Clara schloss die Augen. »Finden Sie die Geschichte, Miss Amelia. Ich glaube nicht, dass Miss Matilda das Blatt ohne Grund bei sich trug.«
Ein bitteres Lachen entwich Amelia. »Und wie soll ich das tun? Wie soll ich eine Geschichte finden, die ich seit 13 Jahren nicht mehr gesehen habe?«
Die Haushälterin erhob sich. »Indem Sie suchen, Miss Amelia. Ihre Schwester hat Ihre alten Geschichten versteckt. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht weiß nicht einmal sie selbst es.«
Immer wieder schüttelte Amelia den Kopf.
Clara reichte ihr einen weiteren Zettel, das Papier war dünner als das davor, offensichtlich war es eine ausgeschnittene Zeitungsanzeige.
»Vielleicht kann dieser Gentleman ihnen helfen. Es scheint, er kennt sich damit aus, verlorene Geschichten wiederzufinden.«
Matilda betrachtete das dünne Stück Papier.
Sie suchen ein Buch, das als verschollen gilt? Sie vermissen alte Geschichtenschätze aus Ihrer Vergangenheit? Sie möchten ergründen, welche Wunder sich zwischen den Buchdeckeln auf Ihrem Speicher verstecken?
Ich finde für Sie jede Geschichte. Selbst solche, die es vielleicht nie gegeben hat …
Darunter stand in verschnörkelter Schrift:
Aaron Holmez
Buchdetektiv. Geschichtenschatzsucher.
»Ein Buchdetektiv?« Amelia hob die Augenbrauen.
Sie ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen. A bis Z, das ganze Alphabet umschließend und damit irgendwie jede Geschichte …
»Warum nicht? Und Sie sollten Will fragen.«
»Will? Warum Will?«
Nur dunkel konnte sie sich an den Spielgefährten aus Sandkastentagen erinnern, ein Junge, der immer nur verschmitzt gelächelt hatte, genauso alt wie Matilda.
Clara blickte überrascht über ihre Brillengläser. »Er und Matilda sind ein Paar. Bestimmt kann er Ihnen helfen.«
Amelia nickte und steckte beide Blätter in die Taschen ihres Mantels, den sie immer noch trug.
»Kann ich Matilda sehen?«
Jetzt kehrte das sanftmütige Lächeln in Claras Gesicht zurück. »Natürlich. Ich habe Ihnen schon einen Wagen bestellt.«
»Danke.« Amelia versuchte sich erneut an einem Lächeln, und dieses Mal kam es von Herzen.
Als sie wenig später in einem weiteren Taxi saß und ihre wild um Matilda wirbelnden Gedanken einigermaßen im Griff hatte, holte sie die beiden Zettel wieder hervor. Die Zeitungsanzeige steckte sie zurück und faltete das Blatt mit dem Beginn der Geschichte auseinander, den sie selbst vor so langer Zeit geschrieben hatte.
Es war einmal eine Prinzessin, ganz aus Papier. Sie trug Kleider, so weiß wie ein unbeschriebenes Blatt. Das Land, in dem sie lebte, war aus Geschichten gebaut, die ihre Großmutter, die Königin erzählte.
Eines Tages aber begab es sich, dass die Königin schwer krank wurde. Sie wurde so schwach, dass sie nicht mehr aufstehen konnte und viele Ärzte kamen in das Schloss aus Worten, in dem sie lebte.
Einzig, keiner konnte ihr helfen.
Sie alle sprachen nur vom Tintentod, der gekommen war und den niemand aufzuhalten vermochte.
Darüber wurde die Papierprinzessin traurig und zornig zugleich. Sie wollte nicht glauben, dass niemand etwas tun konnte, und so beschloss sie, den Tintentod zu suchen und aufzuhalten.
So lief sie am Abend zu den Stallungen, um das Reittier ihrer Großmutter, einen prächtigen schwarzen Schwan, zu satteln.
Sie wusste, dass alle Geschichten auf dem Weg der Bücher anfingen, der vor den Toren des Schlosses begann.
Es war ein bunter Weg, denn die Buchplatten hatten alle Größen, Farben und Muster und er führte an Blumen und Bäumen aus Papier vorbei, deren Kronen sich über der Prinzessin zu einem Himmel aus raschelnden Blättern schlossen.
Die Prinzessin wollte gerade auf den Schwan klettern, um mit ihm in die Lüfte zu steigen, da sagte das Tier: »Noch nicht, kleine Hoheit. Die ersten Schritte einer Geschichte sind immer die schwersten, sagt die Frau Königin. Man darf sie nicht leichten Herzens machen und sollte sie immer selbst gehen.«
So ganz verstand die Prinzessin nicht, aber sie trat vorsichtig auf das erste der Bücher zu ihren Füßen und dann auf das zweite und der Schwan watschelte ihr hinterher.
Das Taxi hielt, doch Amelia brauchte einige Momente, um zu begreifen, dass sie aussteigen musste. Hektisch gab sie dem Fahrer Geld, viel zu viel wahrscheinlich, aber sie hatte Mühe, sich überhaupt auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Nicht einmal, als sie schließlich auf der Straße stand, vor ihr das St. Johns Hospital, war sie in der Lage, weiterzugehen.
Immer wieder tanzten die Worte von dem Blatt durch ihre Gedanken. Sie wusste noch genau, wann sie diese Geschichte begonnen hatte. Und vor allem – warum …
Geschichten sind die ursprünglichste Form von Magie. Schon ein vierjähriges Kind, das berichtet, was es in der Kita erlebt hat, vollzieht diesen Zauber – Worte zu formulieren, die Bilder in unseren Köpfen erscheinen lassen und uns verändern.
― Bernhard Stäber
»Muss Granny jetzt sterben?«
Die beiden Schwestern hatten auf der Treppe im Flur gesessen, ganz oben, in den Schatten des Ganges, wo man sie von unten nicht sehen konnte. Ein Arzt war da, stand mit Clara auf dem Schachbrettboden. Ernste Worte wurden gewechselt, Worte, die die Mädchen zwar nicht hören, aber spüren konnten.
»Ich weiß es nicht.« Was hätte sie sonst sagen können? Schon seit mehr als einer Woche hatte ihre Großmutter, die berühmte Schriftstellerin Brittany May, ihr Bett nicht mehr verlassen. Sie hatte nicht mehr geschrieben und auch keine Geschichten mehr für die beiden Mädchen erfunden, die seit dem Tod ihrer Eltern bei ihr lebten.
Geschichten, die ihnen das Herz leichter gemacht hatten, wenn sie traurig gewesen waren und die sie durch fremde Welten hatten fliegen lassen, wann immer die Welt selbst zu grausam gewesen war.
Geschichten, die sie hatten lachen und weinen lassen, mit Figuren, die zu Freunden geworden waren und manchmal auch solchen, die man zu fürchten gelernt hatte.
Geschichten waren alles gewesen. Immer, überall in Starnight Hights.
Matilda hatte an ihrem Ärmel gezupft. »Ich weiß, wie wir Granny helfen können«, hatte die kleine Schwester geflüstert.
»Wie denn?«
»Wir schreiben eine Geschichte. Eine, in der sie gerettet wird!«
Ja, das war der Plan gewesen. Und sie, Amelia May, hatte begonnen, eine Geschichte zu schreiben. Weil sie schon damals ein gewisses Talent dafür bewiesen hatte. »Ganz die Großmutter« – die Worte hallten immer noch wie ein Echo durch ihren Kopf.
Und ja, sie hatte daran geglaubt. Weil sie in der Gewissheit aufgewachsen war, das Geschichten alles bewirken konnten.
Nach Fassung ringend zerknüllte Amelia das Blatt in ihren Händen, besann sich, strich es wieder glatt und steckte es zurück in ihre Manteltasche. Sie war nicht mehr vierzehn, kein kleines Mädchen mehr, das die Hoffnung auf etwas setzte, dessen Zerbrechen vorherbestimmt war.
Keine Geschichten mehr.
Und doch schien sie sich mitten in einer zu befinden, in einer, aus der sie fliehen wollte, aber nicht konnte. Weil sich der Zettel in ihrer Tasche befand und ihre kleine Schwester in dem Krankenhaus lag, dessen Stufen sie nun emporstieg.
Wie lange braucht es, einen Menschen aus den Gedanken zu streichen? Oft nicht mal ein paar Wochen. Aber wie lange braucht man, bis man ihn nicht mehr liebt? Manchmal mehr, als ein Leben Tage hat.
Ein Arzt hatte Amelia in Empfang genommen, nachdem sie sich bei der Rezeption nach Matilda erkundigt hatte. Umsichtig war er gewesen, seine Stimme leise und die Worte so vorsichtig formuliert, dass man hätte meinen können, er fürchtete, etwas damit zu zerbrechen.
Erst ganz am Ende hatte Amelia bemerkt, dass dem tatsächlich so war.
Es war etwas zerbrochen.
Die Hoffnung, schnell wieder nach Hause zu können. Ihr ganzes Leben. Nicht, dass es ein sonderlich schönes Leben gewesen war – meistens war ihr Leben wie ein Buch, das man am liebsten zuklappen würde, um ein neues anzufangen, weil es keine sonderlich schöne Geschichte war. Aber man las trotzdem weiter, weil man die Figur darin irgendwie liebgewonnen hatte.
Wie so oft in den letzten Stunden schüttelte Amelia den Kopf. Wie kam sie dazu, ihr Leben mit einer Geschichte zu vergleichen?
Sie lebte ein gutes Leben in London. Mit einem Job, in dem sie gut war, und einer Wohnung, in der es keine schmerzhaften Erinnerungen gab …
Geschichten
Ein zwischenzeiliger Raum
An dem Hoffnungen Sterne gebären
An dem Dunkelheit sich formt
An dem Licht aus Asche entsteht
Ein zwischenzeiliger Raum
Im Nirgendwo der Gedanken
Im Unendlichen der Herzenswirbel
Im Dämmern der ungelebten Träume
Ein zwischenzeiliger Raum
Ein Haus der wiedergefundenen Wünsche
Der versteckten Momente
Der verwunschenen Zaubereien
Und in der Mitte scheint ein
Mond aus Pergament.
― Jana Damaris Steiner
Jetzt aber war das alles so fern. Und wo sie zuvor noch hatte ihr eigenes Leben leben können, schienen nun die Geschichten wieder die Macht zu übernehmen. Als wäre sie eine Figur, die einem vorgegebenen Plot folgte. Statt in ihrer Wohnung oder im Büro zu sein, stand sie vor dem Zimmer, in dem Matilda lag. In einem Koma, für das es keine Ursache gab.
»Sie atmet selbstständig, es wird auf sie wirken, als würde sie nur tief und fest schlafen.«
Die Worte des Arztes, in ihr Gedächtnis gebrannt. Längst war der Mann mit dem weißen Kittel weg, und mit ihm der Name, den er ihr genannt hatte. Schon längst hätte sie bei Matilda sein können … nur die Klinke herunterdrücken … aber wie schwer ihre Hand mit einem Male war, wie groß die Tür schien …
Eine Schwester kam zu ihr und nahm ihr die Entscheidung ab, nicht doch einfach wieder zu gehen, in dem sie ihr einfach die Tür öffnete. »Nur keine Scheu«, sagte sie lachend und schob Amelia halb an sich vorbei in das kleine Zimmer.
Hellgelbe Wände, die an vielen Stellen Schrammen und Flecken aufwiesen. Ein Bild mit irgendwelchen Blumen, ein liebloser Farbklecks aus Pflichtgefühl. Ein Tisch, zwei Stühle, weiß und braun bespannt, abwaschbar, kalt und unfreundlich. Und dann das Bett. Weiße Bettwäsche. Warum musste Bettwäsche in Krankenhäusern immer weiß sein? Gab es nicht auch andere Farben, die man hygienisch reinigen konnte?
Oder hätten andere Farben die Menschen, die in den Betten lagen, nur noch kränker aussehen lassen? Noch blasser, wenn es um sie herum bunt strahlte? Spiegelte das Weiß nur einfach ihre Haut?
Matilda jedenfalls war blass. Blasser als die Wäsche, weißer als das weißeste Papier. Ihre Haut schien fast durchscheinend, wie Transparentpapier, durch das man die Dinge sehen konnte, die darunter lagen, schemenhaft, flüsternd. Adern, durch die das Blut pulsierte, bläulich schimmernd, das ovale Gesicht von den glatten, braunen Haaren umrandet, die ihr bis zu den Ellbogen reichen mussten. Die ganze Gestalt viel zu klein und zu zierlich für das riesige Bett … versunken in all dem Weiß, das nicht gemütlich und schützend, sondern nur kalt wirkte.
Rasch trat Amelia näher, obwohl sie am liebsten weggerannt wäre.
Der Arzt hatte recht. Es sah beinahe so aus, als würde Matilda nur tief und fest schlafen.
Wenn da nicht die Kanüle gewesen wäre, die mit Pflastern, ebenso weiß wie alles sonst, an ihrem Handrücken befestigt war, damit die Nadel im Inneren der Vene nicht verrutschte. An der Kanüle hing ein Schlauch, der zu einem Infusionsständer führte, an dem eine Flasche mit einer klaren Flüssigkeit hing.
Etwas zur Ernährung.
Wieder waren da die Arztworte …
Amelia schüttelte sie ab und griff nach Matildas Hand. So leicht. Viel zu leicht, wie ein Vogel.
»Ach, Tilda«, murmelte sie und ließ sich auf die Bettkante sinken. »Was hast du nur gemacht?«
Sie betrachtete ihre kleine Schwester. Matilda hatte sich verändert, was kein Wunder war. 13 Jahre … aus dem damals sechsjährigen Mädchen, das sie in der Obhut Claras zurückgelassen hatte, als sie selbst von Starnight Hights weggegangen war, war eine junge Dame geworden.
Was hatte Matilda erlebt? Wie war es ihr ergangen?
Schmerzlich wurde Amelia bewusst, dass sie sich all diese Fragen vorher hätte stellen sollen, aber es war zu spät, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
Jetzt gab es andere Fragen, auf die es keine Antworten zu geben schien. Unwillkürlich griff sie nach den Zetteln in ihrer Tasche.
Der Beginn der Papierprinzessin. Die Anzeige eines Mannes, der sich darauf spezialisiert hatte, Geschichten zu finden. Wie aber wollte jemand etwas finden, das nicht mehr gewesen war als eine Kindergeschichte, aufgeschrieben von Kinderhänden? Kein Buch, das verlegt worden war, nichts als lose Zettel in einer Mappe.
Ein Geräusch in ihrem Rücken ließ sie herumfahren. Sie hatte nicht bemerkt, wie sich die Tür geöffnet hatte, aber es musste so sein, denn hinter ihr stand ein junger Mann im Eingang des Zimmers.
Amelia erkannte ihn sofort. Sicher – auch er war keine sechs mehr, nicht mehr der pausbäckige und ungeschickt wirkende Junge, aber die blonden, strubbeligen Haare und die braunen Augen waren ebenso geblieben, wie das verschmitzte Lächeln, das sich nun aber in einer von Kummer erstarrten Maske aufgelöst hatte. Nur die Grübchen in den Wangen erzählten noch davon.
Will.
Sie stand auf, wie ertappt, als hätte sie kein Recht, bei ihrer eigenen Schwester am Bett zu sitzen. Matildas Hand fiel lautlos auf die weiße Decke – in ihrem Kopf hörte es sich an wie ein Knall.
Will.
Der sie ebenso anstarrte wie sie ihn.
Amelia konnte förmlich spüren, wie die Zeit aus den Uhren rann, Sekunde für Sekunde, und das Schweigen wurde zu einer Last auf ihren Schultern. Aber es war Will, der zuerst sprach, Will, der es auf den Punkt brachte.
»Du bist also hier.«
Sie nickte.
»Das wäre nicht nötig gewesen. Wir sind sehr gut ohne dich zurechtgekommen.«
Die Wahrheit ging ihm so leicht über die Lippen und schmeckte so bitter. Immer noch brachte Amelia kein Wort hervor.
Will redete für sie. »Clara hat darauf bestanden, dich anzurufen. Sie sagte, nur du könntest helfen, aber das glaube ich nicht. Weil du auch sonst nie dagewesen bist. Warum also jetzt?«
Er ging zu Matilda, beugte sich über sie und drückte ihr sanft einen Kuss auf die Stirn, flüsterte etwas, dessen Bedeutung Amelia verborgen blieb.
Sie wartete. Wusste nicht, ob sie etwas sagen sollte. Was sie sagen sollte. Schweigen war so viel einfacher …
Aber sie musste. Weil Will sie ansah, wartend. Lauernd.
»Clara dachte …«, begann sie, biss sich auf die Lippen. Setzte neu an. »Matilda hielt etwas in der Hand, als Clara sie fand.«