Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert -  - E-Book

Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert E-Book

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Beschreibung

Das Neue Testament ist das Ergebnis einer einheitlichen Redaktion in der Mitte des 2. Jahrhunderts. Die Beiträge dieses Bandes greifen diese These von David Trobisch auf und fragen, was sie für das Neue Testament, für seinen Text und für die neutestamentliche Theologie bedeutet. Wie lässt sich die These einer Endredaktion kritisieren, differenzieren, weiterdenken? Was besagt sie für die Datierung der neutestamentlichen Texte, welchen Einfluss hat sie auf die Vorstellungen zum gottesdienstlichen Gebrauch? In welchem Verhältnis steht die Endredaktion zu der Schriftensammlung, die für Marcion bezeugt ist? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Textkritik? Wie müssen die Varianten beurteilt, wie die frühe Geschichte der Textüberlieferung verstanden werden? Welche theologischen Implikationen hat die These der Endredaktion? Die Beiträge des Bandes machen das große Potential der Endredaktionsthese deutlich und zeigen, dass die Diskussion noch ganz am Anfang steht.

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Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert

Jan Heilmann / Matthias Klinghardt

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-7720-0063-8

Inhalt

VorwortDas Neue Testament und sein Text im 2. Jh.1 Die Kanonische Ausgabe und die Kanonische Redaktion1.1 Forschungsobjekt1.1 Die editio princeps des Neuen Testaments1.2 Die Kanonische Redaktion der Evangelien1.3 Die Kanonische Redaktion und der Text des Neuen Testaments2 Fragen und Aufgaben2.1 Textkritik und Textgeschichte2.2 Die Kanonische Ausgabe und ihre Vorgeschichte3 BeiträgeDie These einer editio princeps des Neuen Testaments im Spiegel der Forschungsdiskussion der letzten zwei Jahrzehnte1 Methodische Anfragen an die Auswertung des Handschriftenbefundes2 Sozial- und kirchengeschichtliche Argumente2.1 Die Kodexform habe schon vor einer mutmaßlichen Herausgabe der editio princeps für christliche Schriften Anwendung gefunden.2.2 Im 2. Jh. sei es vor allem unter ökonomischen und technischen Gesichtspunkten noch nicht möglich gewesen, die neutestamentlichen Schriften in einem Kodex bzw. in einer „Vollbibel“ unterzubringen.2.3 Die These Trobischs stünde im Widerspruch zu den Quellen (z. B. Irenäus, Canon Muratori, Origenes, Euseb), die eine Diskussion über die kanonische Geltung neutestamentlicher Schriften belegten.2.4 Die These Trobischs widerspreche „dem entscheidenden Movens [der Sammlung von neutestamentlichen Schriften bzw. des Kanonisierungsprozesses], die liturgische Lesung im Gottesdienst!“2.5 Die Theorie Trobischs setze ein viel höheres Niveau von Strukturierung und Zentralisierung voraus als im zweiten Jh. vorhanden.3 Kritik an fehlender historischer Kontextualisierung4 Das Problem der katholischen Briefsammlung5 Schluss und FazitGeschätzt und bezweifelt. Der zweite Petrusbrief im kanongeschichtlichen Paradigmenstreit1 Der zweite Petrusbrief als Marker einer dynamischen Entwicklung2 Der zweite Petrusbrief als Zentralelement einer gezielten Publikation2.1 Methodologische Grundentscheidungen2.2 Kodexform2.3 Nomina Sacra2.4 Titel2.5 Die Reihenfolgen der Einzelschriften3 Der zweite Petrusbrief als Knotenpunkt eines intertextuellen Netzwerks4 Zusammenfassung und AusblickNo Liturgical Need for a Gospel in the Second Century1 Questions and Presuppositions2 Celebrations of Liturgies of the Word3 Liturgical Functions of the Gospels in the Gospels and in 1 Corinthians?4 A Liturgy of the Word in Justin’s Congregation?5 Celebrations of Torah in Judaism6 ConclusionsChristian Manuscripts from Egypt to the Times of Constantine123 The earliest christian manuscriptsMarcion in der Turing-GalaxieEinleitung1 Zur Medialität des Textbegriffs2 Digitale Analyseansätze in der Erforschung der neutestamentlichen Textgeschichte3 Digitale Erschließung der Frühgeschichte des neutestamentlichen TextesConclusioVarianten in der Textüberlieferung des Johannesevangeliums1 Textkritische Varianten im Johannesevangelium im Rahmen des Dresdner Modells2 Der Auserwählte oder der Sohn Gottes in Joh 1,343 Joh 13,27 und der Verräter4 Der Beiname von Judas im Johannesevangelium als Beleg für die besondere Relevanz des Textes in D5 Mahl und Nachfolge in Joh 21 ─ die Relevanz von ἀκολουθοῦντα in Vers 206 SchlussüberlegungenThe Gospel According to John in the Light of Marcion's Gospelbook1 Literary-Critical Assessment: The Gospel According to John as an Edited Version of the Manuscript of the Beloved Disciple2 Redactional-Critical Assessment: Gospel According to John in the light of Marcion’s GospelSummaryMethodological Assumptions in the Reconstruction of Marcion's Gospel (Mcn)1 The first Trajectory – or Markan/Q Priority, the Two-Sources Hypothesis and the Posteriority of Mcn1.1 Markan/Q Priority and the Two-Sources Hypothesis1.2 The Markan/Q Priority, the Two-Sources Hypothesis and the Posteriority of Mcn as Framework for its Reconstruction2 The Priority of Mcn in the Synoptics3 Which text of the Lord’s Prayer? Different frameworks and their results3.1 The Lord's Prayer in Mcn following the Markan/Q Priority and the Two-Sources Hypothesis3.2 The Lord's Prayer in Mcn based on the Priority of Mcn in the SynopticsSection 1:Section 2:Section 3:Section 4:Section 5:Section 6:Section 7:Section 8:Section 9:Section 10:3.3 The Lord's Prayer in Mcn based on the Priority of Mcn and Mcn being written by MarcionThe frame of the pericope:Section 1: ἡμῶν ὁ ἐν τοῖς οὐρανοῖςSection 3: the additional ἐλθέτω σου ἡ βασιλεία3.4 Early reception of the Lord's Prayer4 The Lord’s Prayer in McnAbraham als Element der Kanonischen Redaktion1 Abraham in der Marcionitischen und in der Kanonischen Ausgabe1.1 Abraham in der marcionitischen Ausgabe1.2 Abraham in der Kanonischen Ausgabe2 Abrahamskindschaft2.1 Abrahamskindschaft in der marcionitischen Ausgabe2.2 Abrahamskindschaft in der Kanonischen Ausgabea. Nutzlosigkeit der Abrahamskindschaft ohne Ausweis der Würdigkeitb. Verlierbarkeit der Abrahamskindschaftc. Erworbene Abrahamskindschaftd. Zusammenfassung3 Abrahams Glaube und seine Werke der Gerechtigkeit3.1 Zum Verhältnis von Jakobus und Paulus3.2 Unpaulinisches bei Paulus: Glaube und Werke3.3 Glaube und Werke bei Jakobus und Paulus: Ein inszeniertes Missverständnis4 Einige Ergebnissea. Abraham im Neuen Testamentb. Textualität und Selbstreferentialität der ÜberlieferungKanonische Ausgabe und neutestamentliche Theologie1 Zum Profil der textgeschichtlichen These2 Kanonische Ausgabe und kanonische Auslegung3 Kanon und historisch-kritische Hermeneutik4 Der „Sinnüberschuss“ der Einzelschriften in der Kanonischen Ausgabe5 Kanonische Ausgabe, historischer Jesus und Altes Testament6 FazitLiteraturverzeichnisDie Autoren

Vorwort

Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die im März 2015 an der TU Dresden zum Thema „Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert/The New Testament and its Text in the 2nd Century“ stattfand; sie wurde großzügig durch die Fritz Thyssen Stiftung gefördert. Die meisten Beiträge gehen auf die Vorträge zurück, die bei dieser Tagung gehalten wurden; der Beitrag von Wolfgang Grünstäudl basiert auf einem Vortrag, den er im Juni 2013 an der TU Dresden gehalten hatte.

 

An dem Zustandekommen dieses Bandes waren viele Menschen beteiligt, denen hier unser Dank ausgedrückt werden soll. Zunächst ist Nathanael Lüke, Fridolin Wegscheider und Johann Meyer für ihre organisatorische Begleitung der Tagung zu danken. Ein besonderer Dank gilt unserer Institutssekretärin, Eva-Maria Kaminski, die für einen reibungslosen verwaltungstechnischen Ablauf der Tagung gesorgt hat. Für die Begleitung und unermüdliche Hilfe im Redaktionsprozess danken wir Daniel Pauling, Tobias Flemming, Fridolin Wegscheider und Kevin Künzl.

 

 

 

Dresden, im September 2017

 

Jan Heilmann und Matthias Klinghardt

Das Neue Testament und sein Text im 2. Jh.

Eine Einführung

Jan Heilmann, Matthias Klinghardt

1Die Kanonische Ausgabe und die Kanonische Redaktion

1.1Forschungsobjekt

Der Titel dieses Bandes besitzt trotz seiner offenen Formulierung einen programmatischen Kern. Er impliziert eine Basisthese, auf die sich alle Beiträge – in Zustimmung, Weiterführung, Differenzierung und Kritik – beziehen: Das Neue Testament ist das Ergebnis einer Edition im 2. Jh. Zu Beginn sollen dieser gemeinsame Bezugspunkt der folgenden Beiträge kurz erläutert und seine inhaltlichen Implikationen skizziert werden.

1.1Die editio princeps des Neuen Testaments

Die Ausgangsthese einer Edition des Neuen Testaments im 2. Jh. ist nicht neu. Sie geht auf David Trobisch zurück, der schon vor 20 Jahren herausgearbeitet hatte, dass die 27 Einzelschriften des NT nicht in einem längeren, anonymen Sammlungs- und Ausscheidungsprozess zu einer literarischen (und theologischen) Einheit zusammengewachsen sind.1 Diese Einheit sei vielmehr das Produkt einer einmaligen, historisch in der Mitte des 2. Jh. zu verortenden Edition. Diese Ausgabe trug bereits den Titel „Neues Testament“ (ἡ καινὴ διαθήκη) und war von vornherein als zweiter Teil einer christlichen Bibel, also mit dem Blick auf das „Alte Testament“ konzipiert. Weil diese Ausgabe des NT sich in der Folge gegenüber konkurrierenden Ausgaben durchsetzte und kanonische Geltung erlangte, wird sie als „Kanonische Ausgabe“ bezeichnet.

Trobischs These wurde von der Forschung bislang nur zurückhaltend aufgegriffen: Abgesehen von etlichen sehr allgemeinen (zustimmenden und ablehnenden) Voten und seltenen Thematisierungen von Einzelaspekten steht eine umfassende Diskussion des Konzeptes als solchem aus. Diese Zurückhaltung hat vermutlich mehrere Gründe. Man wird kaum fehlgehen in der Annahme, dass schon der methodische Ansatz auf unvertrautes Terrain führte. Denn im Unterschied zur älteren Forschung zur Entstehung des NT, die durchweg auf der sekundären Bezeugung der einzelnen Schriften durch die patristische Literatur basiert, hatte Trobisch die These einer editio princeps aus Beobachtungen an den neutestamentlichen Handschriften gewonnen. Die Einsicht, dass den Handschriften als den primären Zeugen für das NT ein größeres methodisches Gewicht vor den sekundären Testimonien der Patristik (und den tertiären Schlussfolgerungen daraus) zukommen muss, setzt sich nur langsam durch. Neben dem ungewohnten methodischen Zugang erklärt sich die Zurückhaltung wohl auch durch die gravierenden Implikationen der These: Sie erfordert eine Neuorientierung in weiten Teilen der gesamten neutestamentlichen Forschung, aber auch der Patristik. Es ist das Ziel dieses Bandes, die Diskussion dieser These zu beginnen: ihre Voraussetzungen zu überprüfen, ihre Tragfähigkeit zu evaluieren und die Reichweite ihres Erklärungswertes zu erkunden.

1.2Die Kanonische Redaktion der Evangelien

Die entscheidende Innovation dieser These einer editio princeps liegt nicht so sehr in der Vorstellung, dass das NT schon im 2. Jh. vollständig vorlag (was ja immerhin eine Neujustierung der patristischen Belege für die Diskussion „umstrittener“ Schriften erfordert – etwa die Bestreitung der paulinischen Verfasserschaft des Hebr durch Origenes), als vielmehr in der Annahme, dass alle nt.lichen Schriften einer einheitlichen und vereinheitlichenden redaktionellen Bearbeitung durch den (oder die) Herausgeber dieser Kanonischen Ausgabe unterzogen wurden. Trobisch hatte diese integrierende Redaktion an paratextuellen Signalen festgemacht: Kodexform, Nomina Sacra und Überschriften. Aber es liegt auf der Hand, dass eine redaktionelle Bearbeitung sich nicht auf diese Elemente beschränkt haben muss.

In diesem Zusammenhang ist die Analyse des literarischen Verhältnisses zwischen dem Evangelium, das aus der für Marcion bezeugten Schriftensammlung bekannt ist, und dem kanonischen Lukasevangelium von Bedeutung.1 Obwohl diese Untersuchung von ganz anderen Beobachtungen und methodischen Voraussetzungen ausgeht, konvergiert sie mit Trobischs These der Endredaktion des NT, differenziert deren Ergebnisse und führt sie weiter. Die Analyse des Abhängigkeitsverhältnisses zeigt sehr deutlich, dass das traditionell angenommene Bearbeitungsverhältnis zwischen dem marcionitischen Evangelium und dem kanonischen Lukasevangelium umzukehren ist: Das für Marcion bezeugte Evangelium ist keine sekundäre Bearbeitung und „Verstümmelung“ des Lk, wie ihm von den altkirchlichen Häresiologen bis Harnack und darüber hinaus vorgeworfen wurde; vielmehr ist umgekehrt Lk eine redaktionelle Bearbeitung (und zwar überwiegend eine Ergänzung) eines älteren, vorkanonischen Textes. An dieser Stelle liegt die Konvergenz zu Trobischs These der Endredaktion des NT. Denn es lässt sich wahrscheinlich machen, dass die redaktionelle Hand, die das marcionitische Evangelium bearbeitet und in das kanonische Lk verwandelt hat, mit der von Trobisch angenommenen Endredaktion identisch ist oder in ihre unmittelbare Nähe gehört. Wenn diese „lukanische“ Redaktion ein Teil der Endredaktion des Neuen Testaments darstellt, dann lässt sich die Verfahrensweise dieser Endredaktion anhand der Bearbeitung des marcionitischen Evangeliums konkretisieren und differenzieren. Diese Kanonische Redaktion hat demzufolge sehr viel mehr getan, als paratextuelle Signale, Layoutentscheidungen oder die Titelgestaltung der einzelnen Schriften zu vereinheitlichen: Sie hat tief in den älteren (vorkanonischen) Textbestand eingegriffen und eigene redaktionelle Schwerpunkte gesetzt. Vor allem hat sie die vor-neutestamentliche Überlieferung der Evangelien abgeschlossen und das Vier-Evangelienbuch in die neue Ausgabe integriert.

1.3Die Kanonische Redaktion und der Text des Neuen Testaments

Angesichts des Umstands, dass die Herausgabe der Kanonischen Ausgabe von einem umfassenden theologischen Gestaltungswillen getragen war, der sich in umfangreichen redaktionellen Eingriffen in die älteren Texte äußert (wenige Kürzungen, etliche Änderungen und zahlreiche Ergänzungen), dann überrascht es nicht, dass ein Teil dieser Eingriffe seine Spuren in der handschriftlichen Überlieferung hinterlassen hat. Der Vergleich zwischen dem vorkanonischen Evangelium der für Marcion bezeugten Sammlung und dem kanonischen Lk hat an zahlreichen Stellen Berührungen mit Varianten gezeigt, die in den kanonischen Lk-Handschriften enthalten sind: In rund zwei Dritteln aller (weit über 500) Fälle korrespondieren die für Mcn bezeugten Abweichungen gegenüber Lk mit Varianten des kanonischen Lk-Textes. Diese Korrespondenzen begegnen bevorzugt (aber nicht ausschließlich) in Handschriften des sog. „Westlichen Textes“.

Diese enge Beziehung ist am besten so zu erklären, dass die Textgestalt des vorkanonischen Mcn auf die kanonischen Lk-Handschriften eingewirkt hat. Sofern Mcn kein sekundär bearbeiteter, sondern ein vorkanonischer Text mit einer breiten Rezeption ist, ist es leicht vorstellbar, dass dieses alte, vorkanonische Evangelium noch einen länger anhaltenden Einfluss auf die kanonischen Lk-Handschriften ausgeübt hat. Da sich auch der umgekehrte Einfluss der kanonischen Lk-Handschriften auf die Textüberlieferung des marcionitischen Evangeliums wahrscheinlich machen lässt,1 gab es eine Interferenz der beiden handschriftlichen Überlieferungen. Sie bezeugt das Nebeneinander von zwei verschiedenen Ausgaben desselben Textes, in diesem Fall der vorkanonischen Fassung des Evangeliums (Mcn) neben seiner kanonischen Überarbeitung (Lk).2

So, wie die Textgestalt des marcionitischen Evangeliums einen Einfluss auf die Textüberlieferung des kanonischen Lk ausgeübt hat, haben wahrscheinlich auch andere vorkanonische Texte auf die handschriftliche Überlieferung der späteren „neutestamentlichen“ Fassungen eingewirkt. Für die anderen Evangelien lässt sich ein solcher Einfluss auch feststellen; er ist allerdings nur in einem geringeren Umfang und vor allem mit einem geringeren Grad an Sicherheit feststellbar als bei Lk. Es ist eine sinnvolle Vermutung, dass sich ein ähnlicher Befund auch für die Paulusbriefe ergeben könnte; zumindest existiert mit den zehn Briefen der Marcionitischen Ausgabe eine Kontrollgröße, die eine Überprüfung dieser Annahme erlaubt. In jedem Fall liegt der Schluss nahe, dass die marcionitische Ausgabe eine Vorgängerausgabe des kanonischen Neuen Testaments war: Das Nebeneinander zweier Ausgaben und eine dazwischen liegende Redaktion ist der Kern der Grundthese, dass das Neue Testament das Ergebnis einer einheitlichen und vereinheitlichenden Edition ist.

2Fragen und Aufgaben

Diese Skizze der Ausgangsthese mit ihren Implikationen stellt nicht die gemeinsamen methodischen Voraussetzungen der folgenden Beiträge dar (dafür liegen Arbeitsgebiete, Prägungen und Fragestellungen viel zu weit auseinander). Aber sie markiert doch einen Bereich gemeinsamer Interessen – verständlicherweise, denn im Umfeld der These einer Kanonischen Redaktion ergeben sich weitreichende Perspektiven, die teilweise erhebliche Auswirkungen auf das Verständnis des Neuen Testaments besitzen. Dieses Potential soll hier sehr grob angedeutet werden.

2.1Textkritik und Textgeschichte

Ein erster Aspekt schließt gleich an die Beobachtung an, dass die älteren, vorkanonischen Textfassungen die kanonische Handschriftenüberlieferung beeinflusst haben, so dass unter den Lesarten der kanonischen Handschriften auch Elemente der älteren Texte auftauchen. Diese textgeschichtliche Beobachtung stellt die Textkritik vor ganz neue Aufgaben und macht zugleich ein empfindliches Defizit ihrer Methodologie deutlich. Denn bei aller Differenzierung der erstrebten Textform („Urtext“; „Ältester Text“; „Ausgangstext“) und der angewandten Methode (Lokal-genealogische Methode; Coherence-Based Genealogical Method) ist das Verfahren insofern gleich, als es unter allen Varianten die jeweils älteste Textform zu eruieren sucht. In allen Modellen werden die zahlreichen Varianten als später vorgenommene, sekundäre Veränderungen des einen Bezugstextes (Urtext, Ausgangstext usw.) gedeutet, und zwar, sofern sie nicht auf Abschreibfehler zurückgehen, als redaktionelle Veränderungen. Man kann diese sekundären Veränderungen als Wucherung oder Verwildung kritisch beurteilen, man kann sie als Ausweis von „Lebendigkeit“ der Textüberlieferung positiv würdigen1 oder sie als gezielte theologische Korrekturen verstehen2 – in jedem Fall ist die Entstehung der Varianten gegenüber dem wie immer gedachten Bezugstext sekundär, so dass dieser Ausgangstext durch eine einfache duale Leitdifferenz „primär/sekundär“ identifiziert werden kann.

Sofern man jedoch mit Varianten in signifikanter Zahl rechnet, die nicht durch sekundäre Veränderungen entstanden sind, versagen alle bekannten Methoden. Denn wenn die Varianten in der handschriftlichen Überlieferung auf Textformen zurückgehen, die vor dem Text der Kanonischen Ausgabe liegen, wenn also die „Varianten“ primär sind und der (erstrebte) „Text“ sekundär, dann führt die Suche nach den relativ ältesten Lesarten in der Regel zu vorkanonischen Überlieferungsstufen, die von der Kanonischen Redaktion geändert wurden. Um zwischen vorkanonischen und kanonischen Lesarten unterscheiden zu können, bedarf es eines gänzlich anderen Verfahrens. Wie dieses aussehen und methodisch validiert werden könnte, ist vorerst offen: Dies ist keine geringe Aufgabe.3 Die Annahme, dass ein signifikanter Teil der Varianten durch den Einfluss von Vorstufen des Textes entstanden ist, macht im Übrigen auf ein bemerkenswertes Defizit der gängigen Textkritik aufmerksam. Denn abgesehen von Schreibversehen, die sich in der Regel relativ leicht identifizieren lassen, gibt es keine historisch befriedigende Erklärung für das Zustandekommen von Varianten: Zeiten und Orte (wann und wo wurden Änderungen vorgenommen?), Akteure (wer ist dafür verantwortlich?) und Umstände (warum und wie wurde geändert?) – all das bleibt in aller Regel unbeantwortet und unbeantwortbar. Der gelegentliche Hinweis auf „Kopisten“ erklärt bestenfalls die Versehen, nicht aber redaktionelle Varianten. Demgegenüber eröffnet die Annahme der Kanonischen Redaktion eine historisch nachvollziehbare Erklärung für zahlreiche Varianten: Zeit, Ort, Umstände, Absichten usw. sind nicht beliebig, sondern Elemente der Kanonischen Redaktion und helfen, diese genauer zu profilieren.

2.2Die Kanonische Ausgabe und ihre Vorgeschichte

Die neuen Perspektiven, die sich aus einer Unterscheidung von zwei Ausgaben der nt.lichen Schriften ergeben, werden vor allem in zwei Bereichen sichtbar: Zum einen rückt mit der Differenzierung unterschiedlicher überlieferungsgeschichtlicher Stadien die Vorgeschichte des NT in den Fokus, zum anderen gewinnt gerade dadurch das letzte Überlieferungsstadium der Kanonischen Ausgabe ein neues Profil.

Wenn das historische Verstehen von Texten das Verstehen ihrer Genese impliziert, dann erlaubt die Identifizierung einzelner Überlieferungsstadien ein neues historisches Verständnis der neutestamentlichen Schriften. Für die Evangelien ist aufgrund der unbestreitbaren literarischen Beziehungen die Geschichtlichkeit der Überlieferung seit dem Anfang der historischen Kritik mitgesetzt. Es ist schon deutlich geworden, dass sich das Bild dieser Überlieferung grundlegend verändert, wenn man in der Marcionitischen Ausgabe eine Vorstufe der Kanonischen Ausgabe - und in dem für Marcion bezeugten Evangelium eine Vorstufe des kanonischen Lk – sieht. Dies bezieht sich vor allem auf die Theorien zum „Synoptischen Problem“, geht aber noch darüber hinaus, weil sich auch Joh in diesen Prozess der schriftlichen Evangelienüberlieferung einordnen lässt. Will man nicht davon ausgehen, dass die Kanonische Redaktion alle anderen Schriften des NT neu geschaffen hat (für den 2Tim und den 2Pe liegt diese Annahme jedoch in der Tat nahe), dann muss man davon ausgehen, dass auch diese anderen Schriften in älteren Vorstufen vorgelegen haben – und wahrscheinlich redaktionell bearbeitet wurden.

Dies gilt vor allem für die Paulusbriefe, weil für diese die längste Vorgeschichte anzunehmen ist. Nimmt man einmal die zehn Briefe der marcionitischen Apostolossammlung als Ausgangspunkt, dann liegen hier die sieben mutmaßlich authentischen Briefe neben drei pseudepigraphen Ergänzungen vor. Da Pseudepigraphen immer einen existierenden Kontext voraussetzen, in den sie sich einschreiben, liegt dieser Zehn-Briefesammlung mindestens (!) eine Sammlungsstufe voraus, die Sieben-Briefesammlung. Selbst wenn man (was eher unwahrscheinlich ist) einmal konzediert, dass Eph und Kol auf derselben Überlieferungsstufe wie 2Thess in diese Sammlung eingefügt wurden, ergeben sich mit der postulierten Sieben- und der bezeugten Zehn-Briefesammlung bereits zwei Sammlungs- bzw. Überlieferungsebenen vor der Kanonischen Ausgabe, für die redaktionelle Eingriffe sehr wahrscheinlich sind. Für die Zehn-Briefesammlung erlaubt die häresiologische Bezeugung eine ungefähre Abschätzung der Unterschiede zu den Fassungen in der Kanonischen Ausgabe; die redaktionellen Veränderungen bei der Erstellung der Zehn-Briefesammlung dagegen kann man noch nicht einmal ahnen und schon gar nicht konkretisieren. In jedem Fall sind wir von den dokumentarischen Fassungen der Paulusbriefe denkbar weit entfernt, ohne diese Entfernung auch nur halbwegs genau einschätzen zu können: Das hat einige Auswirkungen auf die Sicherheit, mit der das Bild des „historischen Paulus“ aus seinen Briefen erhoben werden kann.

Da sich der Umfang der Kanonischen Redaktion der Marcionitischen Apostolossammlung in etwa abschätzen lässt, lassen sich redaktionelle Überarbeitungen und Ergänzungen innerhalb der Paulusbriefe mit hinreichender Sicherheit identifizieren. Im Unterschied zu der seit vielen Jahrzehnten diskutierten Literarkritik der Paulusbriefe, für die in langen Forschungsperioden Pendelausschläge nach beiden Seiten ihre Konjunktur hatten, geht es dabei nicht um den Rückschluss von inhaltlichen „Spannungen“ oder „Brüchen“ auf die Verarbeitung von Quellen, sondern um den umgekehrten Weg: Die sekundären Bearbeitungen, die sich für die Kanonische Redaktion wahrscheinlich machen lassen, eröffnen die Möglichkeit, redaktionelle Spuren auch dort zu identifizieren, wo solche Spannungen bisher gar nicht aufgefallen waren, und sie für die Interpretation fruchtbar zu machen.

Datiert man die Endredaktion des Neuen Testaments auf die Mitte des 2. Jh., dann liegen ihr rund 100 Jahre Überlieferungsgeschichte von den frühesten Anfängen der dokumentarischen Paulusbriefe (bei der üblichen Datierung in die 50er Jahre des 1. Jh.) voraus. 100 Jahre Überlieferungsgeschichte heißt auch: 100 Jahre theologische Entwicklung, die sich in den Überlieferungsstufen einzelner Teilsammlungen und ihrer Redaktion niedergeschlagen hat. Ob es gelingt, die „dunklen Jahrzehnte“ der frühesten Geschichte des Christentums aufzuhellen, bleibt abzuwarten. Immerhin wird deutlich, dass diese 100 Jahre theologischer Entwicklung durch die Produktion, Rezeption und Redaktion von Texten gekennzeichnet sind.

In dem Maß, in dem Umfang und Gestalt der Marcionitischen Ausgabe deutlich werden, gewinnt schließlich auch die Kanonische Ausgabe Profil und wird das theologische Konzept der Kanonischen Redaktion sichtbar. Dieses redaktionelle Konzept könnte der Schlüssel zu einer historisch fundierten Theologie des Neuen Testaments sein. Der theologische Gestaltungswillen dieser Ausgabe lässt sich zwar nicht einfach auf die redaktionellen Veränderungen reduzieren, wird hier aber in besonderer Weise erkennbar, weil auch die aus der Vorstufe der Marcionitischen Sammlung rezipierte „Tradition“ erst im Licht der „Redaktion“ ihr Eigengewicht erhält: Diese Redaktion gibt zu erkennen, in welcher Hinsicht der Vielfalt der übernommenen Traditionen eine Einheit zukommt: Das redaktionelle Konzept der Kanonischen Ausgabe kommt dem am nächsten, was man als Theologie des Neuen Testaments bezeichnen könnte.

3Beiträge

Diese Überlegungen deuten die möglichen Konsequenzen an, die sich aus der These der Endredaktion mit ihren Erweiterungen und Differenzierungen ergeben könnten. Aber wie lässt sich die Ausgangsthese über die von Trobisch genannten Argumente hinaus validieren? Wie der Eindruck vermeiden, dass in einem geschlossenen System nur jeweils die eigenen Voraussetzungen bestätigt werden? Da sich die Richtigkeit historischer Urteile nicht beweisen, sondern nur plausibilisieren lässt, liegt die wichtigste Begründung für die Tragfähigkeit der Ausgangsthese in dem Nachweis, dass sie viele – und zwar: viele verschiedene – Fragen in einem einheitlichen Modell zu beantworten in der Lage ist. Das bedeutet aber im Umkehrschluss auch, dass man sich zunächst auf die These der Kanonischen Ausgabe und ihre Weiterungen einlassen muss, um sie auf ihre Tragfähigkeit hin zu befragen. Die folgenden Beiträge machen dazu einen Anfang.

Am Anfang steht verständlicherweise Trobischs These von der Endredaktion des Neuen Testaments. 20 Jahre nach ihrer ersten Formulierung ist es notwendig, sie kritisch zu evaluieren und sie auf ihre Tragfähigkeit hin zu überprüfen. Dazu gibt zunächst Jan Heilmann einen auswertenden und systematisierenden Überblick über die bisherige Rezeption der These in der Forschung. Dabei stellt er auf der Grundlage einer Auswertung der relevanten patristischen Quellen, die traditionell zur Frage der Kanonentstehung herangezogen werden, außerdem die These auf, dass sich die von Trobisch in den Handschriften identifizierten Teilsammlungen auch in diesen metatextuellen Zeugnissen widerspiegeln und zieht daraus die Schlussfolgerung, dass die patristischen Zeugnisse nicht einen dynamischen Wachstumsprozess der Integration und Ausscheidung reflektieren, sondern die Diskussion über eine bereits bestehende Zusammenstellung in vier Teilsammlungen.

Wolfgang Grünstäudl diskutiert die These einer Kanonischen Ausgabe anhand der Rolle, die Trobisch dem Zweiten Petrusbrief zuweist: Er hält die Ausgangsthese in der von Trobisch vorgetragenen Form für nicht haltbar. Mit seinem Widerspruch hat Grünstäudl deutlich gemacht, an welchen Stellen und mit welchen Fragen die weitere Diskussion einsetzen müsste. Denn ähnlich wie Heilmann kann er bei seiner kritischen Würdigung entlang von Trobischs Begründungsstruktur zeigen, dass die These häufig aus unzutreffenden Gründen zurückgewiesen worden sei.

Einwände gegen die These der Kanonischen Ausgabe des Neuen Testaments beruhen aber nicht nur auf der Interpretation der (handschriftlichen und patristischen) Zeugnisse, sondern auch auf alternativen Vorstellungen von der Entstehung des „Kanons“ als Resultat eines dynamischen Sammlungs- und Ausscheidungsprozesses. Am wichtigsten ist hier die von Theodor von Zahn breit begründete Theorie, die in der gottesdienstlichen Verlesung einzelner Schriften das entscheidende Movens für deren Sammlung und Kanonisierung sieht. In diesem Zusammenhang untersucht Clemens Leonhard in liturgiewissenschaftlicher Perspektive die Frage eines Zusammenhangs zwischen liturgischer Lesung und der Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte der Evangelien. Dabei zeigt er, dass standardisierte Formen liturgischer Lesungen sich erst im 4. Jh. entwickeln und die Quellenbelege aus dem 2. Jh. und aus der ersten Hälfte des 3. Jh. viel weniger standardisierte Formen der Rezeption von biblischen Texten zeigen, als gemeinhin angenommen wird. Dieses Ergebnis entzieht dem Zahn’schen Modell die Grundlage und stellt daher auch die damit verbundene Vorannahme zur Entstehung der Sammlung in Frage.

Willy Clarysse und Pasquale Orsini, die in einem wichtigen Aufsatz theologisch motivierte Frühdatierungen neutestamentlicher Handschriften problematisiert hatten,1 führen diese Arbeit hier fort und ergänzen ihre bisherige Arbeit um Handschriften mit alttestamentlichen und patristischen Texten. Ihre Arbeit zeigt, dass der handschriftliche Befund für das 2. Jh. sehr überschaubar ist. In Bezug auf die Frage einer Kanonischen Ausgabe im 2. Jh. bedeutet dies, dass der Befund sowohl wegen der geringen Stichproben (zeitlich und regional) als auch wegen des zumeist fragmentarischen Zustandes der Papyri, die sich möglicherweise in das 2. Jh. datieren lassen, keinen Aussagewert für die Frage der Entstehung des Neuen Testamentes in Form von 27 Schriften hat. Hinsichtlich der Ausgangsthese bleibt dieser Befund ambivalent: So wenig, wie er ein dynamisches Wachstumsmodell plausibilisieren kann, so wenig erhöht er die Wahrscheinlichkeit einer Erstausgabe. Umgekehrt kann der handschriftliche Befund diese These aber auch nicht widerlegen. Denn das Alter einer Hs. sagt noch nichts über das Alter des enthaltenen Textes aus.

Ein zentraler Aspekt der Annahme einer einheitlichen Kanonischen Redaktion liegt in den Konsequenzen für die Textkritik, weil die Entstehung von Varianten nicht auf sekundäre Veränderungen reduziert werden kann. Wenn ein Prätext des kanonischen Neuen Testaments im Marcionitischen Evangelium vorliegt, ist es von zentraler Bedeutung, wie sich der rekonstruierte Text digital erschließen lässt und welche Vorteile damit verbunden sind. Das ist eines der Ergebnisse des Beitrags von Juan Garcés. Er führt aus, dass die textkritische Forschung und damit auch die Forschungsbemühungen um die These einer Kanonischen Ausgabe und deren Vorgeschichte im Zeitalter des digitalen Medienwandels vor neuen Herausforderungen stehen; umgekehrt eröffnen sich aber auch ganz neue Möglichkeiten. Garcés analysiert, wie die bisherige textkritische Forschung trotz fortgeschrittener Implementierung digitaler Methoden medientechnisch noch immer durch das Druckzeitalter beeinflusst ist, und zeigt auf, wie sich sowohl die Forschungsmethodik als auch die Repräsentation von Texten im digitalen Zeitalter wandelt.

Der Beitrag von Jan Heilmann und Peter Wick fragt danach, wie mit redaktionellen Varianten umgegangen werden soll, bei denen einerseits aus der Sicht der traditionellen textkritischen Kriteriern nur schwer eine eindeutige Entscheidung getroffen werden kann und die andererseits große Auswirkungen auf das narrative Gefüge des Johannesevangeliums haben. Sie nehmen explizit das heuristische Modell der Unterscheidung eines vorkanonischen und eines kanonischen Johannesevangeliums auf und untersuchen anhand exemplarischer Textvarianten, ob in der handschriftlichen Textüberlieferung des Johannesevangeliums Spuren eines vorkanonischen Johannesevangeliums zu identifizieren sind. Sie zeigen, dass sich im Rahmen des Modells durchaus plausible Erklärungen für die Entstehung einzelner redaktioneller Varianten finden lassen.

Wenn die These von der Kanonischen Redaktion zutrifft, dann hat sie ihre Spuren nicht nur in der handschriftlichen Überlieferung hinterlassen, sondern auch das redaktionelle Gesamtkonzept des Neuen Testaments gestaltet. In diesem Sinn analysiert David Trobisch das Johannesevangelium und identifiziert mögliche Passagen eines editorischen Eingreifens in den Text. Davon ausgehend vergleicht er die Figur des Jüngers Johannes in der für Marcion bezeugten Sammlung mit dem Konzept in der Kanonischen Ausgabe. Während Johannes in der für Marcion bezeugten Sammlung ein farbloser Nebencharakter ist, wird er durch den (die) Herausgeber der Kanonischen Ausgabe als Gegengewicht zu Paulus deutlich aufgewertet.

Die Identifizierung der Kanonischen Redaktion korreliert zwingend mit einer bestimmten Gestalt des Prätextes; da dessen Rekonstruktion auch immer umstritten ist, liegt hier die Gefahr einer zirkulären Argumentation nahe. Markus Vinzent diskutiert in seinem Beitrag am Beispiel des Vaterunsers die Bedeutung der methodologischen Vorannahmen für die Rekonstruktion des für Marcion bezeugten Evangeliums, das er für ein Produkt von Marcion hält. Vinzent zeigt, welche Auswirkungen die Bestimmung des Bearbeitungsgefälles zwischen dem für Marcion bezeugten Evangelium und dem kanonischen Lukasevangelium für die Rekonstruktionsentscheidungen hat, bzw. wie die Einschätzung, ob Marcion selbst der Verfasser des Evangeliums war oder nicht, sich auf die Rekonstruktion auswirkt.

Die Kanonische Redaktion hat ihr gestalterisches Potential auch mit umfangreichen und komplexen Ergänzungen unter Beweis gestellt. Matthias Klinghardt zeigt anhand der neutestamentlichen Abrahamüberlieferung, dass sich ihr Wachstum in mehreren Überlieferungsschritten nachvollziehen lässt. Auf der letzten Ebene der Kanonischen Ausgabe wird die vielgestaltige Abrahamtradition gezielt zur Klärung des Verhältnisses zwischen Paulus und Jakobus eingesetzt: Die mit dem Abrahambeispiel verbundene Redaktion erklärt einerseits die Spannungen zwischen beiden, dient andererseits aber dem Nachweis, dass sie in den fundamentalen Fragen völlig übereinstimmen.

Trotz der Unterschiedlichkeit der einzelnen Beiträge und der notwendigen Differenzierungen hat der Ansatz seine Validität und Fruchtbarkeit in sehr verschiedenen Bereichen gezeigt. Was die neuen Perspektiven, die sich hier ergeben, methodologisch und theologisch bedeuten, untersucht Günter Röhser. Er skizziert und systematisiert in seinem Beitrag die Konsequenzen der These einer Kanonischen Ausgabe für die neutestamentliche Wissenschaft. Dabei unterscheidet er zwischen exegetisch-historischen und theologisch-hermeneutischen Konsequenzen und kommt zu dem Ergebnis, dass die These der Kanonischen Ausgabe vor allem in historischer Hinsicht ein „Altering of the Default Setting“ (Dunn) bedeute, insofern sich insbesondere die Grundlagen für die neutestamentliche Textkritik veränderten. Aus hermeneutischer Sicht habe die These das Potential, neutestamentliche Theologie bzw. kanonische Auslegung historisch zu begründen.

Die These einer editio princeps des Neuen Testaments im Spiegel der Forschungsdiskussion der letzten zwei Jahrzehnte

Jan Heilmann

„Die Geschichte des Neuen Testamentes ist die Geschichte eines Buches. Eines Buches, das von einem konkreten Herausgeberkreis an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt herausgegeben wurde.“1

Dies ist die zentrale These einer Herausgabe von 27 Schriften mit dem Titel „Neues Testament“ im zweiten Jahrhundert, die David Trobisch in seiner 1996 erschienen Habilitationsschrift aufgestellt hat. Seine These beruht bekanntermaßen auf vier zentralen Beobachtungen zur Einheitlichkeit des neutestamentlichen Handschriftenbefundes:

„Die Notierung der nomina sacra, die Kodexform, die in den Handschriften einheitlich überlieferte Reihenfolge und Anzahl von Schriften, die Formulierung der Titel und die Hinweise darauf, daß die Sammlung von Anfang an einen einheitlichen Namen hatte, all das sind Elemente, die auf eine sorgfältige Endredaktion zurückzuführen sind.“2

Darüber hinaus arbeitete Trobisch das literarische Konzept der in Sammlungseinheiten herausgegebenen neutestamentlichen Schriften heraus. Das Ziel dieser Ausgabe habe darin bestanden, die Geschichte des frühen Christentums in einer spezifischen Perspektive, mit einer Tendenz zur Harmonisierung darzustellen und v. a. den Konflikt zwischen Paulus und den Autoritäten in Jerusalem zu entschärfen.3

Die Reaktionen in der Forschung auf diese These reichen von polemischer Ablehnung4 über wohlwollende Kritik und Skepsis5 bis hin zu vereinzelter produktiver Aufnahme der Ideen Trobischs.6 Als Ausgangspunkt für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der These einer editio princeps des Neuen Testaments (im 2. Jahrhundert) erscheint der Versuch sinnvoll, die bisher in der Forschung formulierte Kritik an Trobischs Studie systematisierend zusammenzufassen und zu evaluieren. Dazu werde ich die Reaktionen auf die These Trobischs unter den folgenden Kategorien verhandeln.

Methodische Anfragen an die Auswertung des Handschriftenbefundes

Sozial- und kirchengeschichtliche Argumente

Kritik an fehlender historischer Kontextualisierung

Das Problem der Sammlung der Katholischen Briefe

Zuletzt möchte ich den Ertrag dieser Durchsicht im Hinblick auf das Thema des Sammelbandes und für die weitere Forschung zusammenfassen. Im Anschluss an die englischsprachige Ausgabe von Trobischs Habilitationsschrift7 verwende ich den metasprachlichen Begriff editio princeps/Erstedition statt „kanonische Ausgabe“, um Missverständnisse zu vermeiden und schon begrifflich den Neuansatz zu markieren, der mit der These Trobischs verbunden ist. Zudem wird die Instanz, welche die von Trobisch postulierte Ausgabe zu verantworten hat, im Singular als Herausgeber bezeichnet, weil Trobischs These eine einheitliche Bearbeitung voraussetzt. Damit ist aber weder über Anzahl noch über das oder Geschlecht der Person(en) irgendeine Aussage gemacht.

1Methodische Anfragen an die Auswertung des Handschriftenbefundes

Das Hauptgewicht der kritischen Anmerkungen zur These einer editio princeps liegt auf methodischen Vorbehalten bezüglich der Auswertung des Handschriftenbefundes. So wird a) von einigen Kritikern moniert, dass Trobisch einen Großteil der neutestamentlichen Papyrusfragmente, die s. E. für eine Feststellung der Reihenfolge der Schriften nicht auswertbar seien,1 als eigene Evidenzgröße nicht berücksichtige und er seine Beobachtungen stattdessen b) v. a. an den jüngeren „Vollbibeln“ gewonnen habe.2 Abweichungen von der postulierten Reihenfolge der Sammlungseinheiten in sog. „Vollbibeln“ als auch innerhalb der Sammlungseinheiten selbst würden c) als nicht aussagekräftige Ausnahmen dargestellt.3 Vor allem sei d) die Argumentation bzgl. der Sammlungseinheiten für die alttestamentlichen Hss. nicht durchzuhalten.4 e) Zudem wird Trobisch von D. C. Parker vorgehalten, seine auf den Überschriften basierende Argumentation hielte der Evidenz nicht stand, da die zugrundeliegenden Daten von Hengel unzulänglich seien.5 So seien die Überschriften in 𝕻4.64.67 sicher und in 𝕻66 „vielleicht“ (1992)/„wahrscheinlich“ (2001) von einer späteren Hand hinzugefügt worden.6 Er expliziert sein Gegenargument in seiner Rezension nicht, es müsste aber, um argumentative Stoßkraft gegen Trobischs Untersuchung zu entwickeln, lauten: Evangelien seien in Sammlungen auch ohne Titel zirkuliert. f) Weitere häufig genannte Gegenargumente beziehen sich auf Trobischs Beobachtungen zu den Nomina Sacra, deren Notierung in den Handschriften gerade nicht einheitlich durchgehalten würde,7 die auch in außerkanonischen/apokryphen christlichen Schriften vorkommen8 und – ich muss ergänzen – sogar archäologisch bezeugt sind.9 g) Parker, der selbst mit der Metapher des „lebendigen Textes“ arbeitet,10 fragt zudem an, wie Trobischs These mit der großen textkritisch feststellbaren Varianz des neutestamentlichen Textes (er spricht von Texttypen) vereinbar sei: „Would one not expect a greater uniformity?“11; h) P. Brandt, der in seiner Arbeit zur Endgestalt des (alttestamentlichen) Kanons die These Trobischs einer Endredaktion eingehend im Hinblick auf ihre heuristische Kraft würdigt,12 merkt kritisch an, dass Trobisch nur die griechische Rezeption, z. B. aber nicht die Reihenfolge in der altlateinischen Handschriftentradition berücksichtige.13

Zu den Kritikpunkten a)–c) ist zunächst anzumerken, dass die Schlagkraft des Arguments, das vor allem auf der Annahme des höheren Alters und damit Wertes der Papyrusfragmente gegenüber den „Vollbibeln“ basiert, angesichts der gut begründeten Problematisierung der häufig theologisch motivierten Frühdatierung deutlich sinkt.14 Vor diesem Hintergrund ist auch der Versuch einer statistischen Erhebung der Überlieferungslage, wie er bei S. Petersen zu finden ist, methodisch problematisch und wenig aussagekräftig.15 Die Annahme, bei einer Herausgabe einer Vierevangeliensammlung schon im 2. Jh. „müßten wenigstens annähernd gleich viele Exemplare der Einzelevangelien wieder aufgetaucht sein,“16 scheitert nicht zuletzt auch an der geringen Reliabilität des papyrologischen Befundes, der sich durch – vor allem regionale – Kontingenz und eine geringe Stichprobengröße auszeichnet. Zudem ist mit 𝕻66 ein Einzelkodex bezeugt, der, wenn die Titelformulierung ursprünglich ist, mit hoher Wahrscheinlichkeit aus einer Evangeliensammlung stammen muss.17 Wenn man aus einem Sammelband nur mit einem Aufsatz arbeiten möchte, kopiert man nicht das ganze Buch. Davon, dass Trobisch die (wenigen!) Abweichungen in der Reihenfolge der Schriftenanordnung als „nicht aussagekräftige Ausnahmen“18 darstelle, kann keine Rede sein. Vielmehr zeigt er begründet, wie sowohl die Abweichungen der Reihenfolge innerhalb der Sammlungseinheiten als auch insb. die Abweichungen in 𝕻46, D05, D06 und W032 zum Teil auf bewusste editorische Entscheidungen zurückgehen und sich als redaktionelle Umordnungen einer editio princeps interpretieren lassen.19 Darüber hinaus ist das Phänomen bekannt und nicht ungewöhnlich, dass Schriften aus ihren ursprünglichen Sammlungskontexten herausgerissen und neu zusammengestellt werden. Diesbezüglich kann auf verschiedene Beispiele verwiesen werden:

Papyrus Bodmer V.VII–XIII.XX (entspricht z.T. 𝕻72): u.a. Jud; OdSal 11; Melito von Sardes, Passahomilie; Ps.-Pls. 3Kor; Ps 33 f. LXX; 1/2Petr.20 Im Rahmen des Modells einer Erstedition ist der Papyrus Bodmer VII–IX im engeren Sinne nicht als „neutestamentliche“ Handschrift zu werten, sondern als Neuzusammenstellung mit einem eigenständigen redaktionellen Interesse. B. Aland hat eindrücklich herausgearbeitet, dass die singulären Textvarianten, die sie auf die Schreiber des Sammelkodex zurückführt, mit dem („antihäretischen“) redaktionellen Interesse der Sammlungszusammenstellung korrelieren.21

Im Crosby-Schøyen Codex (vermutlich Ende des 3. Jh., koptisch-sahidisch) sind mit einem Auszug aus 2Makk (5,27–7,41) und dem Jonabuch eindeutig Werke aus anderen Sammlungszusammenhängen zu einer neuen Sammlung verbunden und mit neuen Überschriften versehen worden.22

P. Bodm. 3 (ed. Kasser) ist eine koptische (pbo) „Edition“ von Joh und Gen, deren Motivation sich vermutlich vor allem aus der Bezugnahme von Joh 1 auf Gen 1 ergibt. Bei beiden Texten ist der Titel erhalten: bei Gen als inscriptio (ⲅⲉⲛⲉⲥⲓⲥ); die subscriptio von Joh (ⲉⲩⲁⲅⲅⲉⲗⲓⲟⲛ ⲕⲁⲧⲁ ⲓⲱⲁⲛⲛⲏⲥ) entspricht der in den griechischen Hss. überlieferten Form, die Trobisch mit der Erstedition in Verbindung bringt oder die doch zumindest auf die Zusammenstellung einer Vierevangeliensammlung zurückzuführen ist (s. u.).

Bei P. Mich. 3520 (4. Jh.; Koh, 1Joh, 2Petr) ist leider nicht mehr ersichtlich, ob die Briefe nummeriert worden sind, da die letzten Buchstaben der subscriptio von 1Joh fehlen und der Text des Kodex nach 2Petr 3,14 abbricht.23

P. Mich. 3992, ein fragmentarisch erhaltener, einlagiger Kodex in kleinem Format (ca. 14×9 cm), von Husselmann auf das 3./4. Jh. datiert, war eine Zusammenstellung von Joh, einem nicht mehr zu identifizierenden Text, 1 Kor, Tit, Ps und Jes.24

Zu Recht betont W. Grünstäudl gegen eine zu starke Suggestion des statistischen Arguments, dass sich die Argumentation Trobischs bezüglich der Reihenfolge der Einzelschriften in den einzelnen Teilsammlungen auf 20 bzw. 21 Manuskripte (zzgl. der drei großen Kodizes 01 02 03) aus den ersten sieben Jahrhunderten bezieht, von denen fünf bzw. sechs eine andere Reihenfolge bieten.25 Es ist richtig, dass es sich hier nicht um „beeindruckende 99,8%“ handelt, die „den einheitlichen Befund bestätigen.“26 Lässt man nun die strittigen Hss. 𝕻45 und 016 sowie 𝕻72 wegen des eindeutigen Charakters einer redaktionellen Neuzusammenstellung (s. o.) außen vor, sind es immer noch knapp 80% der auswertbaren Hss., welche die Reihenfolge innerhalb der Sammlungseinheiten der großen Kodizes bestätigen, wobei die Reihenfolge der vier Abweichler durchaus in Relation zu den anderen interpretiert werden kann (s. o.). Abgesehen von der Frage nach der Reihenfolge der Einzelschriften innerhalb der Teilsammlungen zeigt Trobischs Auswertung ganz deutlich eine hohe Konstanz der Teilsammlungen e p a r über einen großen Zeitraum hinweg, die sich sowohl in den griechischen Hss. manifestiert als auch – wie eine erste kurze Durchsicht zeigt – in einigen alten Übersetzungen ihren Niederschlag gefunden hat.27

Hier muss in Umkehrung von Anfragen an Trobischs Methode die Frage gestattet sein, ob vor dem Hintergrund eines Modelles, das die Entstehung des Kanons mit den Kategorien wie Zirkulation und Sammlung in und zwischen den Gemeinden, Wachstum sowie Integration und Ausscheidung beschreibt, nicht eine größere Heterogenität in den Hss. zu erwarten sein müsste. Es bleibt m. E. bei der Feststellung Trobischs, dass die Organisation in Teilsammlungen in den voneinander unabhängig entstandenen großen Kodizes des 4. und 5. Jh. auf einen Vorläufer zurückgeführt werden muss.28 Die Frage ist nur, wann diese Anordnungen entstanden sind. Und neben der hohen Konstanz der Teilsammlungen im hss. Befund sind es hier gerade die literarischen Quellen, in denen sich die Sammlungseinheiten schon früher widerspiegeln (s. u. Punkt 2 und zur Frage von Apg und katholischen Briefen auch Punkt 4).29

Völlig zutreffend ist jedoch d) die von Holmes und Grünstäudl geäußerte Kritik an Trobischs Idee, dass das Neue Testament zusammen mit dem Alten Testament „publiziert“ worden sei. Die Argumentation über die festen Sammlungseinheiten und über die Reihenfolge der Einzelschriften auch innerhalb der alttestamentlichen Hss. kann m. E. nicht aufrechterhalten werden.30

Das mit der Kritik unter Punkt e) angesprochene Problem der Titel und der Platzierung der Paratexte in den neutestamentlichen Handschriften ist eigentlich zu umfangreich, um es im Rahmen eines Sammelbandes zu behandeln und bedarf m. E. im Blick auf die These von Sammlungszusammenstellungen einer eigenständigen Untersuchung. Ein Desiderat besteht zudem m. W. in der Untersuchung der handschriftlich überlieferten Titel in den Sammlungseinheiten neben den Evangelien.31 An dieser Stelle ist aber schon gegen Parkers Kritik an Trobisch und Heckel in Stellung zu bringen, dass seine Vermutung, die Überschrift in 𝕻66 sei eine spätere Hinzufügung, ebenfalls auf tönernen Füßen steht. Er entfaltet diese These nämlich nicht selbständig, sondern verweist lediglich auf Turners Standardwerk zu den griechischen Handschriften,32 der ebenfalls ohne eigene Argumentation vermutet „that the title on the first page […] seems to be a later addition.“33 Die auf der Tagung anwesenden Experten im Bereich der Paläographie und Papyrologie haben die These des sekundären Charakters der Überschrift zurückgewiesen.34 Turner selbst warnt zu Recht vor dem zu einfachen historischen Narrativ: Rollen waren in der großen Mehrzahl der Fälle mit subscriptiones ausgestattet, bei der Übertragung der Texte in Kodizes sei diese Praxis übernommen worden, die Praxis, inscriptiones in Kodizes zu verwenden sei eine späte Entwicklung.35 Selbst wenn wir zwei Beispiele mit später hinzugefügten Titeln hätten, so bliebe immer noch die Evidenz in 𝕻75 bestehen: Auf f. 44r findet sich sowohl die subscriptioευαγγελιον κατα λουκαν als auch die insciptioευαγγελιον κατα ιωανην. Zudem hat Gathercole zuletzt zu Recht gezeigt, dass das Problem von neutestamentlichen Paratexten gerade nicht auf die Frage nach subscriptio und inscriptio reduziert werden kann.36 Paratextuelle Informationen zum Titel können in einem Sammelkodex prinzipiell an vier Stellen vorkommen: a) am Beginn, b) am Beginn einer Kapitelliste, c) in der fortlaufenden Kopfzeile, d) am Ende.37 Diskutiert man die Edition von Sammlungen neutestamentlicher Schriften, sollte man sich darüber Gedanken machen, welche paratextuellen Formen der Titel auf die Entscheidung im Kontext der Zusammenstellung von Sammlungsersteditionen zurückgehen und inwiefern Varianten im Handschriftenbefund als Abwandlungen dieser ursprünglichen Form interpretiert werden könnten, die wiederum auf editorischen Entscheidungen anderer beruhen.

An Trobischs Schlussfolgerungen bezüglich der großen Einheitlichkeit der Titel ändert das alles nichts. So wird man S. Petersen Recht geben müssen, wenn sie gegenüber der These Hengels einer sukzessiven Entstehung der Evangelientitel betont, dass sie „eine Konsequenz aus dem Zusammentreffen verschiedener Evangelien“38 sind. Allerdings ist zu überlegen, ob nicht das Modell „Zusammentreffen in einer Sammlung“39 mehr Plausibilität besitzt als Petersens ohne weitere Begründung vorausgesetztes dynamisches Gemeindezirkulationsmodell, bei dem der Konsens über die einheitlichen Evangelientitel im diskursiven Austausch über die Texte gefallen sein soll.40 Wirft man Trobisch an anderer Stelle vor, er könne keine positiven Belege für seine These anführen, so gilt dies für die Annahme einer sukzessiven Titelentstehung oder der These einer Titelentstehung im Kontakt umso mehr. Zudem müsste Petersen konsequenterweise dann die Entstehung der Evangelientitel und die Entstehung der Titel in den Briefsammlungen unterscheiden. Hier hat das einheitliche Erklärungsmodell Trobischs, das die Titelformulierung auf eine editorische Entscheidung zurückführt, eindeutige heuristische Vorzüge. Grünstäudl weist zudem darauf hin, dass die Titel „nur innerhalb der Teilsammlungen ‚einheitlich strukturiert sind‘“41. Dies wird von Trobisch auch nicht bestritten, der zudem die Funktion der unterschiedlichen Titelgebung im Vergleich der Teilsammlungen untereinander mit dem Redaktionskonzept insgesamt erklärt.42 Das Argument Trobischs für eine einheitliche Redaktion ist, dass die Titel in den Handschriften einheitlich überliefert sind, und nicht, dass sie über die einzelnen Teilsammlungen hinweg einheitlich gestaltet sind. Die umgekehrte Annahme, dass das NT in Form von 27 Schriften sich in einem dynamischen Sammlungs- und Ausscheidungsprozess formiert hätte, ließe aus der Sicht Trobischs eine höhere Diversität innerhalb des Handschriftenbefundes erwarten. Daher ist m. E. Grünstäudls Schlussfolgerung nicht zwingend, die Titel könnten nicht auf eine einheitliche Teilsammlungsedition im 2. Jh. zurückgehen. Für die damit verbundene zwingende Zusatzannahme, die Zählung der Briefe beruhe „auf dem Zusammentreten von zwei (bzw. im Fall der Johannesbriefe: drei) Texten“43, gilt die oben geübte Kritik an der Vereinbarkeit der Einheitlichkeit mit den Implikationen eines dynamischen Gemeindezirkulationsmodells.

Etwas stärkere argumentative Gegenkraft haben die Einwände bezüglich der Nomina Sacra. Hieraus folgt, dass erstens alle außerkanonischen Befunde in Texten und in den archäologischen Zeugnissen44 als Reaktion auf die stilbildende Innovation einer editio princeps zurückführt werden müssen, was allerdings aus chronologischer Sicht durchaus möglich ist. Zweitens ist noch einmal hervorzuheben, dass der Herausgeber in Trobischs Modell lediglich das System, nicht aber die genaue Ausgestaltung etabliert habe. Es wäre daneben aber drittens auch möglich anzunehmen, dass der Herausgeber einen bestehenden Identitätsmarker der frühen Christen aufgegriffen haben könnte. Auch dies könnte die Verbreitung und Variabilität erklären, wäre aber immer noch kein Gegenbeweis der These Trobischs. Insgesamt sollte man aber die Beweislast, die man den Nomina Sacra für den Nachweis einer editio princeps aufbürdet, nicht allzu stark strapazieren.

Die weiteren Einwände – zur Disparatheit der hss. Überlieferung (g) und zu den Abweichungen in der altlateinischen Überlieferung (h) – können hier nicht ausführlich thematisiert werden. Allerdings kann man im textkritischen Befund doch einige Muster und Regelmäßigkeiten bzw. statistische Auffälligkeiten erkennen, die ein Dynamizitätsparadigma wie das des „living texts“ in Frage stellen. Diesbezüglich sei angemerkt, dass das von M. Klinghardt angewandte Modell der Interferenz verschiedener Ausgaben („vorkanonisch“ – „kanonisch“) zur Erklärung von Varianten in der neutestamentlichen Textüberlieferung,45 das in der Theorie und auf der Basis des historischen Befundes konzeptionell noch zu verfeinern wäre, mutmaßlich weiterführende heuristische Potentiale bereithalten kann.46 Der Einbezug der altkirchlichen Übersetzungen (h) wäre sicher eine weiterführende Forschungsperspektive, die erkundet werden müsste. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Übersetzungen selbst schon eine eigene Tradition entwickelt haben könnten und im Sinne des Interferenz-Modells von „vorkanonischen“ Texten und Sammlungen beeinflusst sein könnten.47

2Sozial- und kirchengeschichtliche Argumente

Zahlreiche weitere Argumente, die Trobischs These in der Forschung der letzten Jahre entgegengebracht worden sind, können unter der Kategorie Sozial- und Kirchengeschichte subsumiert und in fünf Hauptargumente zusammengefasst diskutiert werden:

2.1Die Kodexform habe schon vor einer mutmaßlichen Herausgabe der editio princeps für christliche Schriften Anwendung gefunden.1

Dieser Anfrage möchte ich angesichts der Veränderung in der Forschungslage seit der Herausgabe von Trobischs Habilitationsschrift einige weiterführende Fragen gegenüberstellen: Muss man nicht sogar davon ausgehen, dass „vorkanonische“ Sammlungen wie z. B. eine Paulusbriefsammlung oder die Bibel Marcions in Form eines Kodex herausgegeben worden sind? Ist die Annahme der innovativen Einführung der Kodexform durch den/die Herausgeber der editio princeps eine notwendige Bedingung der These Trobischs? Kann man nicht vielmehr annehmen, dass der/die Herausgeber eine bestehende christliche Editionspraxis von Sammlungen aufnahm und weiterführte? Der Kodex wäre in der frühchristlichen Publikationspraxis damit ja nicht „durch mehrere unabhängig voneinander arbeitende Herausgeber“2 eingeführt worden, sondern einfach nur von Herausgebern und Editoren älterer, vorkanonischer Sammlungen. Dies ändert alles nichts an der Einheitlichkeit des Befundes, auf denen Trobischs Schlussfolgerungen beruhen.

Ergänzt werden können die Schlussfolgerungen durch eine Beobachtung von Scheele an den literarischen Quellen der Alten Kirche. Er resümierte schon in den 1970er Jahren:

„Die Verwendungsart von ‚codex‘ in den hier herangezogenen Schriftstellen […] könnte vermuten lassen, daß sich in der alten Kirche ein bestimmter Aufteilungsmodus der Schriften der Bibel mehr oder weniger einheitlich gebildet hätte. Soweit ich sehen kann, ist diese Frage noch nicht gestellt und untersucht worden“.3

2.2Im 2. Jh. sei es vor allem unter ökonomischen1 und technischen2 Gesichtspunkten noch nicht möglich gewesen, die neutestamentlichen Schriften in einem Kodex bzw. in einer „Vollbibel“ unterzubringen.

Dieses Argument halte ich aus sozialgeschichtlicher Perspektive für nicht tragfähig – man denke nur an das mutmaßliche Vermögen Marcions oder an die Kosten, die durch die paulinischen Reisen entstanden sein müssen.3 Hinter diesem Argument steckt eine m. E. fragwürdige Vorstellung des frühen Christentums als „subkulturelles Phänomen“4, das vor allem für die Unterschichten attraktiv war und in dem der Austausch biblischer Schriften ausschließlich über private Netzwerkstrukturen abgelaufen ist.5 Dabei wird ein sozialromantisches Bild (das aus dem 1Kor und Thesen zum historischen Jesus abgeleitet wird und schon für das 1. Jh aus vielen Gründen fragwürdig ist) ohne Kenntnis der Verhältnisse auf das 2. Jh. übertragen. Diese weit verbreitete Vorstellung in der Forschung ist ein Grund, warum Trobischs These von einer Publikation neutestamentlicher Schriften als Anachronismus gewertet wird.6 Diese Sicht wird zusätzlich genährt von einer gewissen Skepsis in der altphilologischen Forschung gegenüber den älteren Arbeiten7 zum antiken Buchwesen.8 Allerdings wird in der Arbeit Trobischs auch nicht ganz deutlich, wie er sich die Publikation der christlichen Bibel in vier Teilsammlungen (e a p r) im 2. Jh. rein technisch ganz genau vorstellt9 – als Publikation in einem oder zwei Bänden oder in mehreren Teilbänden.

In der Spätantike sind „Teilausgaben“ der Bibel in Kodexform ikonographisch10 und in den literarischen Quellen bezeugt. Es wäre weiterführend zu erörtern, ob und wie die neun Kodizes, die im Codex Amiatinus (f. 4r) abgebildet sind,11 sowie die bei Cassiodor (inst. 1, praef. 8) belegten neun Kodizes mit den von Trobisch postulierten Sammlungseinheiten in Zusammenhang stehen. Cassiodor hatte die gesamte Bibel in (vermutlich alt-)lateinischer Übersetzung12 und in Form von neun Kodizes vorliegen,13 wobei der achte Kodex die „kanonischen Briefe der Apostel“ – vermutlich in der Reihenfolge Paulusbriefe, katholische Briefe – (inst. 1,7,1) und der neunte Kodex die Apostelgeschichte und die Apokalypse (inst. 1,8,1) enthielt. Ein redaktionelles Interesse für diese Zusammenstellung (aus der Sicht Trobischs müsste man sagen: Neuzusammenstellung) liegt in der mutmaßlichen Zusammenfassung nach gattungsmäßigen Kriterien (Briefe vs. Erzähltexte im weitesten Sinne). Cassiodor nimmt aber die Paulusbriefe trotz Zusammenstellung mit den anderen Briefen als eine Einheit wahr; zudem stehen die Katholische Briefe am Ende von Kodex 8 und die Apg am Anfang von Kodex 9 noch in einer gewissen Nähe.14

Für eine Entscheidung vor dem technischen Hintergrund der antiken Buchproduktion besteht für das 2. Jh. ein dramatisches Quellenproblem, das mit der zeitlichen und regionalen Verteilung des handschriftlichen Befundes zusammenhängt: Wir besitzen aus dem 2. Jh. einfach keine materiellen Zeugnisse aus den geographischen Räumen (Kleinasien und Italien), die für eine von Trobisch postulierte Edition in Frage kämen. Den dünnen papyrologischen Befund aus dem provinziellen ägyptischen Hinterland für die technische Frage der frühchristlichen Buchproduktion im 2. Jh. auszuwerten – das gängige Vorgehen –, ist aus meiner Sicht methodisch nicht unproblematisch. Die auf dieser Basis gewonnene Evidenz kann die Beweislast eines validen Gegenarguments nicht tragen, umgekehrt ist aber auch der Beweis einer Existenz von einem Kodex, der das gesamte NT schon im 2. Jh. enthielt, nicht möglich.15

Chr. Markschies weist bei seiner Untersuchung von Bibliotheksinventaren darauf hin, dass „ein vollständiges Neues Testament dagegen häufiger aufzutreten“16 scheint und führt dazu fünf bzw. sechs Bibliotheksinventare an. Die Auswertung des Befundes von Papyri, Ostraka und Inschriften müsste jedoch m. E. im Einzelnen noch einmal diskutiert werden. Wie sicher ist es z. B., dass, wie Markschies vermutet, die Bezeichnung „Apostolos“ wie bei den Lektionaren17 stets die Sammlung der Paulusbriefe und die Sammlungseinheit des „[Prax]apostolos“ (= Apg und Katholische Briefe18) umfasst?19 Besteht hier nicht die Gefahr, Quellensprache und in der Textkritik historisch gewachsene Metasprache zur Bezeichnung der Sammlungseinheiten (e a p r) unsauber zu trennen? Das Ostrakon Till Nr. 148 (KO 679; Crum, Short Texts, 41, Nr. 165) belegt z. B. mit der Auflistung eines „kleinen Apostolos“ (ⲟⲩϣⲏⲙ ⲛⲁⲡⲟⲥⲧⲟⲗⲟⲥ) und eines „kleinen [anonymen!] Evangeliums“ (ⲟⲩϣⲏⲙ ⲛⲉⲩⲁⲅⲅⲉⲗⲓ̈ⲟⲛ) doch eher eine für die Marcioniten bezeugte Bibel. Die Interpretation, das „klein“ bezöge „sich wohl auf das Format der Bücher“20, scheint eher der Verlegenheit aus Ermangelung einer besseren Erklärungsmöglichkeit geschuldet. Dass ein kleiner Apostolos hier zusammen mit einem „kleinen Psalter“ genannt wird, korrespondiert mit den Angaben über einen Psalter häretischer Gruppierungen im muratorischen Fragment. Vgl. C. Mur. 81–85 (Lietzmann, Fragment, 10: arsinoi autem seu Valentini vel Miltiadis nihil in totum recipemus qui etiam novum psalmorum librum Marcioni conscripserunt una cum Basilide Asianum Cataphrygum constitutorem).

2.3Die These Trobischs stünde im Widerspruch zu den Quellen (z. B. Irenäus, Canon Muratori, Origenes, Euseb), die eine Diskussion über die kanonische Geltung neutestamentlicher Schriften belegten.1

Diesem Kritikpunkt muss man zugutehalten, dass der Canon Muratori tatsächlich nicht die von Trobisch postulierte Zusammenstellung von 27 neutestamentlichen Schriften in vier Sammlungseinheiten belegt. Die diesem zudem noch schwer datierbaren und in seinem Zustand wenig vertrauenswürdigen Text zugemutete Beweislast in einigen Entwürfen zur Geschichte des neutestamentlichen Kanons ist allerdings ebenfalls diskutabel.2 Die These Trobischs ist auf der Grundlage der traditionell für die Kanonfrage ausgewerteten Quellen nicht so einfach zu falsifizieren. Vielmehr ist doch Trobischs Argument einigermaßen plausibel, die in den Quellen ablesbare Diskussion über die Zugehörigkeit einzelner Schriften zum „Kanon“ als „historisch-kritische Reflexionen über eine bereits bestehende Publikation“3 zu interpretieren. Gerade die Konstanz dieser Diskussion und ihre Fortsetzung über einen vermeintlichen „Abschluss des Kanons“ im 4. Jh. hinaus4 lässt das Modell Trobischs, das mit der Herausgabe von Sammlungen operiert und über den „kanonischen“ Status keine Aussage macht, plausibler erscheinen als die These, die „kanonische“ Zusammenstellung der 27 neutestamentlichen Schriften sei im Rahmen eines Identitätsfindungs- und Aushandlungsprozesses erst im 4. Jh. (zumindest vorläufig) abgeschlossen worden.5 Methodologische Schwierigkeiten bereitet zudem der weit verbreitete Ansatz, den Stand des „Kanonisierungsprozesses“ über die Zitation bzw. Nicht-Zitation einzelner neutestamentlicher Schriften in den Schriften der Alten Kirche zu bestimmen.6 Die so gewonnenen Ergebnisse basieren grundsätzlich auf einem argumentum e silentio.

Man kann Trobisch lediglich entgegenhalten, dass er die Hypothese einer kritischen Diskussion über eine bestehende Sammlung an den Quellen selbst nicht ausführlich durchgespielt,7 sondern nur knapp skizziert hat. Vor allem die früh bezeugte Diskussion über die paulinische Verfasserschaft des Hebräerbriefes8 erklärt sich viel einfacher, wenn man seine Zugehörigkeit zu einer Paulusbriefsammlung annimmt, da aus dem Text selbst heraus die paulinische Verfasserschaft bekanntermaßen gar nicht erschlossen werden kann.9 Darüber hinaus ist es erstaunlich, wie gut die von Trobisch auf der Grundlage des Handschriftenbefundes vorausgesetzten Sammlungseinheiten (e a p r)10 auch in den Quellen belegt sind. Nur deshalb kann T. Zahn die frühe Existenz eines ideellen Kanons postulieren.11

Man braucht demgegenüber schon einen großen argumentativen Aufwand, um einen Abschluss des vermeintlichen Sammlungs- und Ausscheidungsprozesses mit Athanasius’ 39. Osterfestbrief ins 4. Jh. zu datieren. Der These, der Sammlungsprozess sei erst bei Athanasius abgeschlossen, stehen nämlich zwei Zeugnisse entgegen, die man entweder wegerklären oder sich passend machen muss: So muss man etwa Orig. hom. in Jos 7,1 als Interpolation des Rufinus verstehen12 und die von Euseb angelegten Kategorien zur Systematisierung der neutestamentlichen Schriften gegen den Strich bürsten.13 Gerade an diesen beiden Quellen kann man die in den Handschriften belegten Sammlungseinheiten besonders gut ablesen:

Orig. hom. in Jos 7,1: vier Evangelien in der Reihenfolge Mt, Mk, Lk, Joh; die Apg wird losgelöst vom Evangelium mit den wahrscheinlich sieben katholischen Briefen zusammen genannt (zwei Petrusbriefe, Jakobus und Judas, Anzahl der Johannesbriefe nicht genannt); Vierzehnbriefesammlung des Paulus.14 Dass im Übrigen Origenes an anderer Stelle (hom. in Gen 13,2) die acht Autoren der neutestamentlichen Schriften in der Reihenfolge Matthäus, Markus, Lukas, Johannes, Petrus, Jakobus, Judas und Paulus aufzählt, die den Brunnen des Neuen Testaments gegraben hätten, deutet ebenfalls darauf hin, dass ihm das Neue Testament in Form der von Trobisch herausgearbeiteten Sammlungseinheiten vertraut war. Auch an der Diskussion der neutestamentlichen Bücher bei Euseb (Eus. h. e. 2,23,24f.; 3,25,1ff) lassen sich die Sammlungseinheiten sehr schön ablesen, wobei diese Aufzählung nach den Kriterien der Echtheitskritik in akzeptierte (ὁμολογούμενος), bezweifelte (ἀντιλεγόμενος) und gefälschte (νόθος) Schriften noch einmal untergliedert ist. A. D. Baum hat die Relationalität dieser Kategorien mit philologisch präziser Begründung differenzierend beschrieben: So unterscheidet Euseb „zwischen solchen Antilegomena, die er nicht für echt hielt (νόθοι), und solchen, die er damit implizit als γνήσιος einstuft.“15 Dabei ist auffällig, dass Euseb keine der 27 neutestamentlichen Schriften den νόθοι zuordnet. Es ist zu beachten, dass Euseb nicht die Reihenfolge der Schriften in den Handschriften diskutiert. Euseb reiht die Schriften nach dem Prinzip der Echtheit, nicht aber nach den vorliegenden Sammlungseinheiten. Dass die Sammlungseinheiten in diesen weniger deskriptiv als normativ orientierten Aufzählungen dennoch durchscheinen, ist daher umso aussagekräftiger.

Auch andere Quellen16 weisen auf die Konstanz der Sammlungseinheiten hin:

Zu verweisen wäre z. B. auf Kyrill von Jerusalem (catech. 4,36); Athananasios von Alexandria (epist. fest. 39); den in seiner Ursprünglichkeit umstrittenen 60. Kanon des Konzils von Laodicea;17 Chrysostomos (synopsis Script. Sacr.; PG 56 317); Augustinus (de doctr. Christ. 2,8,13); Innocentius in seinem Brief an Exsuperius, den Bischof von Toulouse;18 Cassiodor (instit. 24); Johannes von Damaskus (de fide Orthod. 4,17). Auch wenn in einigen dieser Quellen die Apg nach den katholischen Briefen aufgeführt wird, so sind die Sammlungseinheiten dennoch klar erkennbar. Anstelle von vier Ordnungen19 kommt eine teilsammlungssensible Kategorisierung lediglich auf zwei Ordnungen. Die weiteren von Zahn postulierten Ordnungen sind lediglich als Umordnung der Sammlungseinheiten zu interpretieren. Die Stellung der Apg zwischen den Evangelien und der Paulusbriefsammlung, die in den „byzantinischen Handschriften“ des NT dokumentiert ist20, kann m. E. plausibel als sekundäre Umstellung (der lectio difficilior „Praxapostolos“21) interpretiert werden, bei der die narrativen Texte zu einer eigenen Sammlung zusammengestellt werden. Vgl. zu dieser Aufteilung der neutestamentlichen Schriften Gregor von Nazianz (carm. 12,31); Amphilochius (Iambi ad Seleucum);22 Rufinus (Comm. in Symb. Apost. 37);23 zur Aussagekraft des muratorischen Fragments s. die Ausführungen oben. Aus Tert. pud. 7–11 und Iren. adv. haer. 3,11,9–3,12,1 sowie der Art der Zitation der Paulusbriefe in den folgenden Kapiteln abzuleiten, die Apg wäre (gegenüber der Sammlungseinheit „Praxapostolos“ ursprünglich) zwischen den Evangelien und den Paulusbriefen eingeordnet gewesen, ist methodisch schwierig. Denn die Argumentation orientiert sich dort entlang der Chronologie, die durch die Hintergrundnarration des NT geprägt ist.24 Ob bzw. wann die Stellung der Apostelgeschichte nach den Evangelien materialiter realisiert wurde, muss offen bleiben. So zeigt Philastrius haer. 88 – ein eindeutiger Beleg für die Sammlungseinheit „Praxapostolos“25 – eindrücklich, dass die gerade genannte Zuordnung der Apostelgeschichte zu den Evangelien (… et Prophetas et Evangelia et Actus Apostolorum, et Pauli tredecim epistolas …) eine materielle Zusammenstellung nicht zwingend impliziert: … et septem alias, […], quae septem Actibus Apostolorum conjunctae sunt. Ganz eigenwillige Zusammenstellungen bieten dagegen die schwer datierbaren Stichenverzeichnisse im Codex Claromontanus und der sog. Cheltenham-Kanon. Es ist jedoch methodisch schwierig, diese beiden Zeugnisse, deren historischer Aussagewert nur schwer einzuschätzen ist, zur Modellbildung der Entstehung des neutestamentlichen Kanons zu stark zu belasten. Die Aufzählung in Can. Apost. 85 (SC 336 8,47) dokumentiert eine Art (im Rahmen der Ersteditionsthese: sekundär) erweiterte Sammlungseinheit „Praxapostolos“, die zusätzlich zwei Clemensbriefe enthält.26 Darüber hinaus ist die Sammlungseinheit „Praxapostolos“ auch für die koptische Überlieferung und für die Altlateiner belegt (s. u.). Aus dem Quellenbefund insgesamt lässt sich m. E. methodisch nicht sicher ableiten, dass die Apostelgeschichte und die katholischen Briefe später als die Paulusbriefe und die Evangelien in verbindlichere Corpora eingetreten und zunächst als Einzelschriften zirkuliert wären.27 Der recht einheitliche Quellenbefund deutet doch eher darauf hin, die wenigen Abweichungen als Neueditionen zu verstehen, die jeweils aus unterschiedlichen Gründen vorgenommen worden sind. Im Befund der neutestamentlichen Handschriften haben die Abweichungen bis auf die Zusammenstellung der narrativen Texte vor die Briefcorpora jedenfalls keinen Niederschlag gefunden.

Die Quellen, die Trobisch selbst als positive Evidenz für seine These heranzieht, werden von seinen Kritikern zumeist übergangen: z. B. die indirekte und direkte Bezeugung des Titels „Neues Testament“28 und das Zitat des sog. anonymen Antimontanisten bei Euseb, der keinesfalls den Anschein erwecken möchte, „als wollte ich dem Worte der neutestamentlichen Frohbotschaft (τῷ τῆς τοῦ εὐαγγελίου καινῆς διαθήκης λόγῳ) etwas ergänzend beifügen, da doch keiner, der entschlossen ist, nach diesem Evangelium zu leben, etwas beifügen noch abstreichen darf,“ (Eus. h. e. 5,16,3).29

Das gängige Verständnis dieser Stelle in der Forschung, der anonyme Antimontanist würde nicht auf den Titel einer Sammlung, sondern ganz allgemein auf die Botschaft einer als καινὴ διαθήκη gekennzeichneten Ära verweisen,30 ist a) angesichts der Verbsemantik von προστίθημι (vgl. z. B. P. Amh. Gr. 2 77,15) und ἀφαιρέω viel unwahrscheinlicher; vgl. z. B. die gesamte Wendung in Thuc. 5,23, und insb. in Pol. 21,43,27, wo es um einen Vertragstext [συνθήκη] geht. b) Es ist unsachgemäß, Eus. h. e. 5,17 gegen die These in Stellung zu bringen, dass der Antimontanist in Eus. h. e. 5,16,3 auf eine Schriftensammlung verweist. Euseb zitiert hier wiederum den anonymen Antimontanisten, der u. a. formuliert: „Doch wird man weder aus dem alten noch aus dem neuen [scil. Bund] einen Propheten nennen können, der auf solche Weise vom Geiste ergriffen worden wäre. Sie werden sich nicht auf Agabus oder Judas oder Silas oder die Töchter des Philippus oder Ammia in Philadelphia oder Quadratus oder auf sonst jemanden berufen können; denn mit diesen haben sie nichts zu tun,“ (Eus. h. e. 5,17,3; Üb. HÄUSER; leicht modifiziert JH). Laut C. W. van Unnik könne sich der Antimontanist mit der Wendung τῶν κατὰ τὴν παλαιὰν οὔτε τῶν κατὰ τὴν καινὴν nicht auf Schriftensammlungen beziehen, weil in der darauffolgenden Aufzählung Namen stünden, die nicht in diesen Schriften auftauchten.31 Dazu ist zunächst anzumerken, dass der Begriff διαθήκη im Zitat aus der Schrift des Antimontanisten gar nicht auftaucht, sondern in 5,17,2 von Euseb interpretatorisch eingefügt wird; auch die Annahme, der Antimontanist habe Quadratus und Ammia zu den prophetischen Gestalten des Neuen Bundes gerechnet, entstammt der Interpretationsleistung des Euseb (5,17,2), die man strikt von der Aussage des Fragments trennen muss. Sodann: Soweit man den argumentativen Zusammenhang aus dem Fragment noch erkennen kann, impliziert die Formulierung nicht zwingend, dass alle genannten Namen zum vorher definierten Prophetenkreis gehören. So werden Quadratus und Ammia ja von der Gegenseite eingebracht (ὥς φασιν; 5,17,4), wobei nicht deutlich wird, auf welche „Quellen“ sich die Gegenseite stützt; Agabus (Apg 11,28; 21,10–14), Judas und Silas (Apg 15,22.27.32[!]), und die Töchter des Philippus (Apg 21,9) werden hingegen in der Apg als Propheten bezeichnet. Daher ist die viel einfachere Erklärung, es werde, wie auch in den späteren Quellen, schon vom anonymen Antimontanisten mit dem „Worte der neutestamentlichen Frohbotschaft“ auf den Titel einer Schriftensammlung verwiesen, auch aus Gründen des Sparsamkeitsprinzips vorzuziehen. Ein indirekter Verweis auf das Alte und Neue Testament in 5,17,3 (wodurch sonst sollte man wissen, wer zu den Propheten des Alten und Neuen Bundes gehört?), wäre eingehender zu prüfen.