Das Opferlamm - Carlo Schäfer - E-Book

Das Opferlamm E-Book

Carlo Schäfer

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mord am Heidelberger Schloss! Hauptkommissar Theuer und sein Team werden zur Leiche eines jungen Mädchens gerufen. Als dann der Pfarrer des Opfers ebenfalls zu Tode stürzt, ist der Fall für Polizeidirektor Seltmann wieder einmal klar: Der Seelsorger hatte eine unerlaubte Beziehung zu der jungen Frau, wurde von ihr unter Druck gesetzt, hat sie umgebracht und reuig Selbstmord verübt. Diesmal halten das sogar Theuers Teamkollegen für die richtige Lösung. Der Hauptkommissar fühlt sich verraten: Seltmann im Recht? Das darf nicht sein. Trotzig nimmt der Ermittler Urlaub und spürt der Sache auf eigene Faust nach. Dabei trifft er auf den Mann ohne Hände ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 302

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



rowohlt repertoire macht Bücher wieder zugänglich, die bislang vergriffen waren.

 

Freuen Sie sich auf besondere Entdeckungen und das Wiedersehen mit Lieblingsbüchern. Rechtschreibung und Redaktionsstand dieses E-Books entsprechen einer früher lieferbaren Ausgabe.

 

Alle rowohlt repertoire Titel finden Sie auf www.rowohlt.de/repertoire

Carlo Schäfer

Das Opferlamm

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Mord am Heidelberger Schloss!

Hauptkommissar Theuer und sein Team werden zur Leiche eines jungen Mädchens gerufen. Als dann der Pfarrer des Opfers ebenfalls zu Tode stürzt, ist der Fall für Polizeidirektor Seltmann wieder einmal klar: Der Seelsorger hatte eine unerlaubte Beziehung zu der jungen Frau, wurde von ihr unter Druck gesetzt, hat sie umgebracht und reuig Selbstmord verübt. Diesmal halten das sogar Theuers Teamkollegen für die richtige Lösung. Der Hauptkommissar fühlt sich verraten: Seltmann im Recht? Das darf nicht sein. Trotzig nimmt der Ermittler Urlaub und spürt der Sache auf eigene Faust nach. Dabei trifft er auf den Mann ohne Hände ...

«Hut ab vor diesem Autor!»

Berliner Zeitung

Über Carlo Schäfer

Carlo Schäfer wurde 1964 in Heidelberg geboren, wohin er nach Kindheit und Jugend in Pforzheim zum Studium zurückkehrte. Er jobbte als Hilfsgärtner, Nachtportier, Cartoontexter, war Lehrer für deutsche Spätaussiedler und Mannheimer Hauptschüler aus vielen Ländern sowie Hochschuldozent.

2002 erschien im Rowohlt Verlag sein Romandebüt «Im falschen Licht», 2003 folgte «Der Keltenkreis».

Inhaltsübersicht

Auch diesmal gilt: ...Für «die Anna»Ganz zum Schluss, ...1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. KapitelDer letzte Karton ...

Auch diesmal gilt: Alles erstunken und erlogen, sämtliche kollateralen Verletzungen unbeabsichtigt.

Der Autor will nur selten wirklich kränken, dass die Welt so ist, wie sie ist, dafür kann er aber auch wieder nichts.

Und ja: Er hasst Hunde.

 

C.S., Mai 2004

Für «die Anna»

Ganz zum Schluss, als es vorbei war: Theuer setzte sich aufs Sofa, stand wieder auf, ging zum Fenster, ging weg vom Fenster, zum Bücherregal, nahm ein Buch heraus, warf es gegen die Wand, noch eines und noch einmal das Ganze. Er lehnte sich an die Tapete, spürte sie auf der Wange, kratzte ein Stück Tapete weg, riss sich Fingernägel auf, setzte sich auf den Boden, breitbeinig wie ein Penner im Suff, und trommelte einen leisen, zwanghaften Rhythmus auf seine Schenkel.

«Komm doch ins Bett, komm doch einfach. Du kannst hier genauso gut verzweifelt sein.»

«Ich hab ein Loch in die Tapete gekratzt.»

«Das flicken wir. Komm.»

«Man ist immer am Flicken? Man ist immer am Flicken?»

«Was meinst du denn?»

«Einen Fehler machen, ausbügeln und das Ausbügeln bügelt den nächsten Fehler hinein, das meine ich. Schon, dass man da ist, dass man da ist, nimmt Platz weg.»

«In deinem Fall mehr als in meinem.»

«Ja, und zwar von Anfang an, wenn es anfängt, ist schon etwas vorbei.»

1

«Herr Theuer, es brennt. Es brennt!»

Der Erste Hauptkommissar Johannes Theuer, scheinbar intensiv mit einem Verhörprotokoll beschäftigt, schaute nicht auf. Donnerstag, 2. Januar, mäßig kalt, kein Schnee – noch, vom hohen Norden sollte er kommen. Dienst, wenn alle Urlaub hatten. Das war nicht so schlimm: Das Protokoll, an dessen wackeligem Satzbau er sich mühte, beschrieb eine Prügelei zwischen zwei NPD-Funktionären, die sich gegenseitig angezeigt hatten. Keine Arbeit, die einen sonderlich mitnahm.

Unzweifelhaft hatte ihn aber eben sein Chef angesprochen, genau. Und das war schlimm, Dr. Seltmann war immer schlimm, Depp, der schwere Ermittler stellte sich taub.

«Es brennt», quiekte der Polizeidirektor noch einmal, gänzlich defensiv.

Da erst hob Theuer den Blick.

Er tat ihm fast Leid. Seltmann war nicht mehr der Alte. Seitdem er sich letzten Sommer mit einer zunächst Tatverdächtigen eine sexuelle Petitesse erlaubt hatte, konnte der Doktor die Rolle des dynamischen Behördenreformers nicht mehr überzeugend ausfüllen. Vergessen war der Wirbel, den seine wilden Umstrukturierungen zu Beginn seiner Amtszeit ausgelöst hatten, die dem alternden Theuer ein verblüffend komponiertes Team und seltsame Erfolge bescheren sollten.

Sein Team, das nun nicht minder feiertagsgeschädigt über irgendwelchen Papieren hing, seine Erfolge, die gerade nicht da waren.

Vergessen war ebenfalls die zaghaft intendierte Rücknahme derselben Reformen.

Seltmann war intensiv mit seinem zähen Disziplinarverfahren beschäftigt, es herrschte Ruhe, auch der ungefähr neuntausendste Verstoß des Kollegen Thomas Haffner gegen das 2001 verhängte Rauchverbot in allen Räumen des Heidelberger Reviers Mitte wurde nicht beanstandet.

«Wo brennt’s denn?», fragte Theuer gemütlich und rieb sich die Wange am Kragen. Er hatte wie fast immer das Rasieren vergessen. Dieser Gedanke schien ihm interessanter als alles, was sein Chef jetzt sagen würde. Dachte er.

 

Das Mädchen lag mit dem Gesicht nach unten auf dem steinernen Boden, am Fuße der hohen Befestigungsmauern des Heidelberger Schlosses, das aus dieser Perspektive weniger romantisch wirkte als auf den Postkarten. Letzte Nacht musste es passiert sein. An Silvester hatte es hier oben von Leuten gewimmelt, traditionell, die ganze Terrasse war noch mit den Spuren des tollen Treibens übersät: Bierdosen, Chipstüten, leere Apfelkornflaschen, sogar zwei Kondome waren Theuer aufgefallen. Aber am ersten Januar konnte man selbst auf einer der Schlossterrassen unbeobachtet sein. Aufhören zu sein.

Die Kälte biss ihn ins Gesicht. Von oben sah es nicht schlimm aus. Er wollte es aber schlimm finden, aus Überzeugung. Zugleich wollte er wegbleiben, nicht nahe kommen. Er wollte oft zweierlei, Esel zwischen zwei Häufen, Stereofrustrierter, der Theuer halt.

Direkt zwischen dem kleinen Haus unten und der Schlossmauer war sie aufgeschlagen, von einem Japaner entdeckt und fotografiert, vorher hatten sicher viele über sie weggeschaut, beim Blick über die Altstadt in die Ebene, es war diesig, man sah kaum bis Wieblingen, geschweige denn bis Mannheim. Aber, Theuer schüttelte sich, es war nicht sonderlich angebracht über die Fernsicht zu philosophieren. Er schaute zur Toten hinunter, er wollte nicht.

«Der Japaner», murmelte er, «habt ihr dem den Film abgenommen?»

«Wir sind mit Ihnen gekommen.» Theuer hatte nicht einmal Lust sich zu überlegen, wer aus seinem Team ihn daran erinnerte.

«Gehen wir runter», sagte er. «Ihr tragt alle die Verantwortung, dass der Japse das Bild nicht mitnimmt.»

Keiner von ihnen unternahm jemals etwas in dieser Sache.

 

Mühsam erreichten sie den Aufschlagort, Weg und Stufen waren glitschig – wieso denn, hatte es geregnet? Theuer schaute nach oben, sinnlos. Der feuchte Dunst ließ alles, sogar die Gesichter seiner Jungs glänzen. Er fühlte sich wie ein Kind, das einen simplen natürlichen Vorgang erstmals begreift – es muss nicht regnen, damit es nass ist. Es muss nichts geplant sein, um zu passieren, es muss nichts klappen.

Das Haus, ohnehin skurril unten an die Schlossmauer geschmiegt, würden die Bewohner wohl lange Zeit nicht mehr mögen, vielleicht würden sie wegziehen. Am Ende gar nicht wiederkommen? Sie waren ja nicht da – Winterurlaub vermutlich, man überprüfte das. Aber Quatsch, alles Quatsch.

In einem amerikanischen Krimi, so nahm der Kommissar zumindest an, wären diese Kondome auf der Terrasse oben der Schlüssel. Man fände die DNA eines Supertriebschurken, der aber eigentlich in einem Hochsicherheitstrakt saß, zusätzlich noch in einem Wandschrank und dort drin nochmals in einen Vogelkäfig eingesperrt. Nach achthundert Seiten käme heraus, wie das alles trotzdem ging, und man war in der Regel einfach nur erleichtert, die Schwarte gepackt zu haben. Aber ach, es war ja real. Diese Scheißrealität.

Ihr Schülerausweis war aus der Jackentasche gerutscht, das lachende Gesicht auf dem Foto hatte mit der blutigen Masse auf den ehrwürdigen Steinplatten keine Ähnlichkeit mehr.

«Wir müssen nicht überprüfen, ob das Mädchen auf dem Ausweisfoto die Tote ist», sagte Kommissar Leidig gepresst. «Man erkennt den Haaransatz und die Augenpartie. Sonst allerdings nichts mehr.»

Theuer fühlte Übelkeit aufsteigen, riss sich zusammen, so gut es ging.

Werner Stern, der Vierte im Team, hob den Ausweis vorsichtig auf. Obwohl er die vorgeschriebenen Handschuhe trug, fürchtete sein Teamchef sofort, sie könnten etwas vermurksen.

«Ja, das ist schon sie. Sie wohnt in Handschuhsheim, Mühltalstraße, Ronja Dahn. Ist am 15. November achtzehn geworden.»

«Wenigstens war sie volljährig», murmelte Haffner völlig sinnlos. «Schöne schwarze Haare hat das Mädchen. Warum macht so was nicht mal jemand Anderes?» Niemand im Team nahm mehr davon Notiz, dass er danach einen tiefen Schluck aus einem blitzblanken Fläschchen tat.

«Du darfst nicht vergessen, dass wir die letzten zwei großen Fälle gelöst haben», Theuer glaubte es selbst kaum. «Was blendet mich denn?» Er wedelte ärgerlich nach rechts hinten.

«Mein Flachmann», sagte Haffner in seiner typischen Mischung aus Stolz und Verlegenheit. «Weihnachtsgeschenk.»

«Fröhliche Weihnachten», rief der Teamchef unpassend herzlich.

Leidig schaute zur Terrasse hoch. «Oben liegt vielleicht ein Abschiedsbrief. Die Kollegen checken das. Wahrscheinlich nur ein Selbstmord.»

«Nur», echote Stern traurig. «Hätte dieses Jahr Abi gemacht.»

Auch Theuer schaute nach oben. Dort waren einige Kräfte am Werk, das wusste er, aber man sah sie nicht von unten – natürlich nicht. Es wirkte alles friedlich, romantisch, der dünne Nebel zeichnete die Formen weich. Heidelberg im Winter – auch da eine Reise wert. «Also», seufzte er: «Gerichtsmedizin, Eltern informieren, Schulnoten überprüfen und so weiter. Wir kennen das ja. Die nächsten Tage beschäftigen wir uns damit, auf welche Weise diese Welt untergegangen ist, und dann machen wir weiter, als wär nichts passiert. Wer geht zu den Eltern?» Ein metallisches Geräusch. Haffner öffnete erneut den Schraubverschluss seines schönen Präsents.

«Ich mach’s», sagte Stern überraschend. «Sind ja sozusagen Handschuhsheimer Landsleute, falls der Ausweis aktuell ist.»

«Kennst du sie?», fragte Theuer dümmlich, als hätte sein Kommissar so etwas verschwiegen, zu Recht wurde er ignoriert.

«Da oben», Haffner deutete denkbar vage zur Besucherterrasse, «da liegen zwei Lümmeltüten.»

«Hab ich gesehen, Haffner», Theuer fror.

«Benutzt, das passt ja.» Er lachte, was bei seinem zugerichteten Kehlkopf an einen tierischen Wehlaut erinnerte.

«Wie», fragte Theuer, «was, der Mörder im Vogelkäfig?»

Das konnte niemand verstehen, aber man kannte ihn ja und überging solche Sätze.

«Ne», gluckste Haffner, «der Senf, der dicke, den sie letztes Jahr aus Karlsruhe versetzt haben, der hat’s doch vorhin gesagt …»

«Wann vorhin?», unterbrach der Teamleiter verwirrt. «Bevor Seltmann gekommen ist?»

«Ja klar», sagte Leidig kaum noch überrascht. «Haben Sie das nicht mitbekommen?»

Er hatte es nicht mitbekommen.

 

Erst auf der Rückfahrt ins Revier Mitte ließ er sich die Posse erzählen. Ein eineiiges Zwillingspärchen hatte zum Jahreswechsel tatsächlich stehend mit den jeweiligen Freundinnen kopuliert, inmitten der angetrunkenen Menge. Die dummen Knaben würden nun wohl infolge der Anzeige eines hiervon gekränkten Geographiestudienrats ihre Bäckerlehre verschissen haben. Haffner hob darauf ab, dass die beglückten Damen total unterschiedlich, aber beide «kotzehässlich und älter» gewesen seien. Stern wiederum kannte den Erdkundler, er sei ein Prozesshansel und fachlich eine Niete gewesen. «Der hat tatsächlich einmal erzählt, dass der Neckar in Heidelberg in den Rhein fließt.»

«Hast du den gehabt?», fragte Haffner gemütlich.

«Nein, aber ein Kumpel aus dem Fußball.»

«Und Sie, Herr Leidig?», fragte der schwere Teamleiter desinteressiert. «Sie kennen dann vermutlich die Zwillinge?»

«Einen habe ich zweimal gesehen, ich weiß aber nicht welchen, da ich gar nicht wusste, dass es Zwillinge sind, insofern hätten es auch beide sein können», war die beinahe surreale Antwort.

Schließlich, als sie schon ausgestiegen waren und auf ihr schräg-modernistisch gebautes Revier zutrotteten, das Theuer im trüben Licht an einen havarierten Passagierdampfer erinnerte: «Warum ist der Senf eigentlich versetzt worden?» Haffner klang fröhlich, eigentlich waren sie alle gar nicht so schlechter Dinge, das war beschämend und trotzdem freute sich der erste Hauptkommissar, dass er auch mal etwas beisteuern konnte: «Hat was mit einem Furzkissen angestellt, frecher Kerl.»

Sogar der schüchterne Leidig musste lachen. Und während sich alle noch freuten, kasperte ein davon abgespaltetes Gefühl im ersten Hauptkommissar: Irgendjemand könnte die vielen verwirrenden Einzelheiten, die man Leben nennt, wie Müll über die Welt schütten.

Stern wollte gerade weiter fahren, Theuer winkte noch einmal.

«Halt mal an, Werner!»

Stern kurbelte das Fenster herunter: «Was ist?»

«Ich mach es. Ich muss es machen.»

Er fuhr Sterns Auto. Er war schon auf der Brücke Richtung Neuenheim, als ihm dieser Umstand bewusst wurde. Komisch, dass sein junger Kollege nicht interveniert hatte, zumal Theuer auch als nicht gerade perfekter Autofahrer galt. War Stern in letzter Zeit bedrückt? Der Hauptkommissar wollte gerne ein guter Chef sein, einer, der auch für die Sorgen und Nöte seiner Leute da war – immer wieder kam ihm das in den Sinn, und dann vergaß er es wieder. Und jetzt hatte er sogar einem die Karre weggenommen.

 

Er bog in die Mühltalstraße ein, die Nummer hatte er sich gemerkt.

Er hatte Angst. Selbst kinderlos, konnte er sich dennoch ansatzweise vorstellen, was er jetzt auslösen würde. Er hatte ja nichts weniger mitzuteilen, als dass das Schlimmste passiert war. Eine Apokalypse und die, die sie traf, durften nicht einmal mit untergehen, mussten bleiben und leben.

Das Haus war nach seiner Schätzung nicht allzu alt, vielleicht zehn, fünfzehn Jahre, weiß verputzt, geschmackvoll auf ein flaches Hanggrundstück gesetzt. Der kleine Garten war mit pflegeleichten, immergrünen Sträuchern bepflanzt – wie ein Grab.

Ronja Dahn war Halbwaise gewesen. Keine Geschwister. Ihr Vater saß stumm auf einer schicken Couch, Theuer, kaum weniger gebeugt, auf einem Designersessel. Hinter Dahn schaute man in den Wald. Zwischen ihnen stand ein niederer Glastisch. Das Zimmer war teuer eingerichtet, aber fast schon zu perfekt komponiert. Eine Ausstellung: Maßgeschneiderte Regalwand, in deren Zentrum ein Fernseher dieser dänischen Designer, die er sich namentlich nicht merken konnte, er dachte immer an Gang-Bang, wobei er nicht genau wusste, was das war. Dummes Zeug schoss ihm also durch den Kopf, immerhin, das Wesentliche war gesagt.

«Sie hat nicht gelitten», ergänzte er vorsichtig.

«Ich habe Sie nicht gefragt, ob sie gelitten hat», unterbrach ihn der Vater. «Ich frage mich eher, ob ich leide, verstehen Sie?»

Theuer deutete ein kleines Nicken an. Er verstand aber nicht.

Der Vater erhob sich. Auch er gekleidet, als spiele er in dieser Möbelausstellung eine Statistenrolle. Ein schlanker Endfünfziger, graue Bürstenhaare, ein furchiges Gesicht, eine randlose Brille, die in allem sichtlichem Wohlstand möglicherweise den ehemals Linken zum Ausdruck bringen sollte, allerdings einen gereiften Revoluzzer, der zum weißen Hemd eine schicke Anzugshose trug und auch zu Hause nicht von den italienischen Schuhen ließ. Dahn stand auf, ging mit klappernden Absätzen über sein erlesenes Parkett, den Kopf in den Händen vergraben.

In allem Schock, den ihm Theuer zugestand, wäre es nun nicht allmählich auch Zeit für einen tiefen Satz, ein paar Tränen, einen Schrei? Die Ruhe schien dem Kommissar schwerer erträglich als irgendeine Hysterie – ohne dass ihm zustand, da etwas zu wollen, das wusste er. Der Vater blieb stumm.

«Hatte Ihre Tochter in letzter Zeit großen Kummer?», fragte der Polizist leise, dennoch schien ihm seine Stimme von den Wänden widerzuhallen.

«Das weiß ich nicht», sagte Dahn und starrte aus dem Fenster. «Es war ein Selbstmord?»

«Das wissen wir noch nicht.» Hilflos hielt Theuer nach etwas Ausschau, was nicht brillant und leblos aussah. Schließlich fiel sein Blick auf ein seltsames Gerät, im sonst so makellosen Regalsystem abgelegt, eine Art Stock, der einer Gummigerätschaft zu entwachsen schien, entfernt an den Gebissschutz eines Boxers oder einen Zahnabdruck erinnerte, nichts woran sich ein Blick festhalten konnte.

Endlich: «Ich habe Ronja eigentlich gar nicht so richtig gekannt, sie ist bei meiner Frau, also meiner Ex, in Frankfurt aufgewachsen, und ich habe hier meine Kanzlei aufgebaut. Sie wissen ja, wie das ist.»

«Nein.»

«Ihre Mutter ist letztes Jahr gestorben, also vorletztes ist es ja jetzt, an Leukämie, ganz schnell. Da war Ronja noch nicht volljährig, und dann haben die sie zu mir gesteckt.»

«Sie wollten sie nicht?» Theuer fixierte zwanghaft den seltsamen Beißstock, Dahn schien das zu bemerken.

«Damit kann jemand, der keine Hände hat, den Fernseher bedienen.»

Dumpf schaute der Ermittler den Vater an, aber ja, der hatte Hände, makellose. Es lief alles ganz anders, als er gedacht hatte, er musste sich zwingen, bei der Sache zu bleiben, sonst entglitt ihm diese Befragung.

War es eine Befragung? Ein Vater, dem der Tod der einzigen Tochter am Arsch vorbei ging … Ja, deshalb war es jetzt eine. Theuer straffte sich, ein Halswirbel knackte.

«Dann hatte sie wohl hier nicht so viele Freunde?»

Dahn zuckte mit den Schultern: «Weiß ich auch nicht, hat mich ebenfalls nicht so interessiert. Hätte es natürlich sollen …»

«Haben Sie sie denn bis jetzt nicht vermisst? Sie lag wahrscheinlich schon heute Nacht da. Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?» Er versuchte keine Verachtung in die Stimme zu legen, es gelang nicht so recht.

«Sie hat gestern Abend gesagt, sie ginge zu jemand. Ich habe eben angenommen, sie hätte da übernachtet. Inzwischen war sie ja volljährig, da habe ich mich um den Quatsch nicht mehr gekümmert.»

«Und wo und wer das war, wissen Sie vermutlich auch nicht mehr? Ist ja alles Quatsch!»

Dahn ignorierte den angriffslustigen Ton.

«Ich war in der Kanzlei, den Kopf voller Arbeit. Mein Sozius kann das bestätigen. Ich weiß, dass heute die Väter immer automatisch die Verdächtigen sind.»

«Ich finde nicht, dass Sie ein Vater sind», entfuhr es Theuer endlich. Sofort wollte er sich entschuldigen, aber Dahn hatte wohl gar nicht zugehört. Er stand im Profil zu ihm und massierte sich die Schultern, das schien ihm wohl zu tun. Lächelte er?

«Sie sagten, sie habe keinen Freund gehabt, und dann nehmen Sie einfach so an, dass sie irgendwo übernachtet.»

«Ich habe gesagt, ich weiß nicht, ob sie Freunde hatte. Ich habe mir keine Gedanken gemacht, was sie treibt. Das war falsch. Ich bin ein schlechter Mensch, wollen Sie das hören?»

«Sind Sie eigentlich nicht traurig?», brüllte Theuer.

Dahn sah ihm in die Augen, gähnte, schaute auf die Armbanduhr. «Nein», er klang eine Spur weicher. «Nein, ich bin nicht traurig. Aber darüber, dass ich nicht traurig bin, bin ich schon traurig.»

Theuer stand auf. «Mein Beileid.»

 

«Bevor du jetzt was sagst, Haffner», der erste Hauptkommissar wedelte den bereits gleichsam ankündigend hervorgestoßenen Rauch seines Kollegen zur Seite. «Dass der Vater sich unter Schock wie ein gefühlskaltes Arschloch verhält, macht ihn noch nicht zum Hauptverdächtigen, zumal wir auch nicht von einem Mord ausgehen, dafür spricht noch nichts.»

«Woher wussten Sie, was ich sagen wollte?» Der leicht angetrunkene Polizist war ehrlich verblüfft.

Theuer überging ihn, zurück im Revier kam ihm das Erlebte unwirklich vor, ein seltsamer skandinavischer Film, schwarzweiß. «Was ansonsten?»

«Nach dem, was Sie erzählt haben, denke ich …», Stern sah seine Notizen durch, die wie immer etwas grundschulhaft geschrieben erschienen. «Wenn wir mehr wissen, was Spuren und Gerichtsmedizin rausgewurstelt haben, müssen wir den Herrn Vater schon nochmal etwas genauer anschauen. Ich kann mir das gar nicht vorstellen, dass man so reagiert, Schock her oder hin.»

Theuer nickte widerwillig. Irgendwie wollte er den Mann ungern ein zweites Mal treffen. «Und da war noch etwas Komisches, der hat so eine Utensil …»

«Sextoy», phantasierte Haffner dazwischen. «Gibt es eigentlich außer uns nur Arschlöcher?» Er klang fast besorgt.

Theuer ließ sich der Einfachheit halber nicht beirren und erzählte von dem Beißstock. Er konnte den Gesichtern seiner Jungs ansehen, dass er sie mit diesem Detail nicht gerade faszinierte. «Versteht ihr», versuchte er es hilflos, «das passt nicht. Erstens hat er Hände und zweitens habe ich gesehen, dass er sogar seine Bücher in pastellfarbenen Umschlägen aufstellt, damit sie farblich harmonieren … versteht ihr? Dieses Ding ist nicht schön …»

«Arschloch», bekräftigte Haffner zufrieden.

Als sei er gemeint, kam Seltmann ins Zimmer. Er hatte sich angewöhnt, minütlich dezent nach seiner Stichnarbe zu greifen, so auch jetzt. Immer noch aber wehte ein Hauch überwürzter Lebensfreude um ihn. Lächelnd schaute er in die Runde und sagte dann nickend: «Es brennt. Das ist, ich kann es kaum anders bezeichnen, das Motto dieses zweiten Tages des Jahres. Des dritten Jahres des einundzwanzigsten Jahrhunderts.»

«Zweiter Mord?», fragte Theuer schaudernd.

«Zweite Brandstiftung innerhalb von wenigen Tagen, wieder, jetzt ein Gartenhaus, diesmal in Wieblingen. Eigentlich ist es ja die dritte. Zunächst war es aber ein Fitnessstudio in Mannheim-Lindenhof, da haben wir nichts mit zu tun. Sie wissen, meine Herren, Mannheim ist nicht Heidelberg …»

Das wussten sie tatsächlich alle.

«Aber nun? Der Feuerteufel wildert in unserem Revier, möchte ich sagen. Eine Garage in Edingen und nun … O weih!»

«Sie vermuten da Zusammenhänge mit dem Fall des Mädchens?», fragte Leidig spitz. Gegen seinen angeschlagenen Vorgesetzten wurde er mittlerweile männlicher. Alle drückten ihm die Daumen, er möge sich doch auch zu Hause besser wehren, immerhin war er dieses Mal nicht über die stillen Tage mit seiner Mutter in den Harz gefahren.

«Nein, nein oder doch, oder, wer weiß, Zusammenhänge», Seltmann ließ sich verwirrt nieder, so verwirrt, dass er nicht bemerkte, dass Haffner die Sitzgelegenheit bereits nutzte. Er saß also kurz auf dem Schoß des Pfaffengründer Urgesteins, es sah ganz putzig aus.

«Hoppe, hoppe Reiter», grölte der dann auch vergnügt, aber intonationssicher. Sein Promillespiegel schien klug ausgepegelt.

«Ach, Verzeihung, ach … Herr Haffner, haben Sie getrunken?»

«Logisch. Hatte Durst.»

«Na, dann, ist ja alles, ich möchte sagen und das dann auch betonen, was ich sage, alles in Ordnung ist dann. Obwohl im Dienst …»

«Dienst ist Dienst und Dienst ist Schnaps», parierte Haffner souverän.

Seltmann gab nach, dem ersten Hauptkommissar kam er plötzlich gläsern und beschlagen vor.

«Meine Herren, mein Herr Theuer, Sie sind informiert. Falls die Fälle koinzidieren, korrelieren, überlappen oder sich auch nur, sozusagen be- und anlappen, dann kontaktieren Sie doch bitte den, den ich damit beauftrage, den Auftrag gebe ich jetzt gleich …» Griff an die Narbe. «Wiedersehen …»

«Ja, wer macht denn die Brandstiftung?», fragte Stern den bereits der Tür Zutaumelnden gereizt.

«Was weiß ich?», schrie der Direktor. «Der Täter ist flüchtig. In höchstem Maße.»

«Nein», Stern mühte sich, geduldig zu klingen. «Wer bearbeitet den Fall?»

«Ach so.» Seltmann kratzte sich selbstvergessen am Geschlecht. Theuer war sich längst sicher, dass sein Chef allmählich zünftig durchdrehte. Wen sollte er denn dann hassen?

«Ich dachte an Senf», hauchte der Polizeidirektor. «Den neuen, der muss sich bewähren. Der hat zwar meinem Karlsruher Amtskollegen, der übrigens eine Kollegin ist, so ein Kissen, so ein Scherzkissen … der macht’s. Guten Tag.» Weg war er.

«Der macht’s jedenfalls nicht mehr lange», lachte Haffner zufrieden und entzündete sich schmatzend eine neue Reval, filterlos, versteht sich. Filter, so hatte er einmal geäußert, wären für Tuberkulöse entwickelt worden und brächten «Normalen» Unglück.

«So fertig war der Seltmann heute morgen noch nicht», sinnierte Leidig, «hat wahrscheinlich Besuch von seiner Mutter bekommen.»

2

Staatsanwältin Bahar Yildirim, doch, doch, trotz ihres Namens deutsche Beamtin und nach allen möglichen Wirrnissen Heidelberger Pflegemutter, war aus gutem Grund schwer genervt. Sie hielt den Umschlag drohend in die Höhe. Möglicherweise sah das nicht so überzeugend aus, denn sie trug dicke Wollsocken, ihren neuen gelben Morgenmantel, Weihnachtsgeschenk des lüsternen Theuers, und eine grüne Duschhaube.

«Warst du so am Briefkasten?», fragte Babett grinsend.

«Ich war vorhin unten, aber ich kann sowieso meine Post holen, wie ich will, kleine Dame. Ich kann mit nacktem Arsch und Thermometer drin zum Briefkasten, weil es ja in der Regel meine Briefe sind, meine Rechnungen, die ich dann bezahle. Zum Beispiel diese Telefonrechnung über 321 Euro!»

Ihr Mündel schaute zu Boden.

«Mit wem telefonierst du?», fragte Yildirim leise, und in diese Frage drang Verzagtheit: Babetts leibliche Mutter war weggezogen, wohin wusste sie nicht, aber vielleicht wusste es ja das Mädchen – Ferngespräch? Den grundkorrupten Vater hatten Theuer und die Jungs mit einer schier genialen Scharade bis auf die Falklandinseln getrieben. Zu Recht, die Kleine gedieh bei ihr, sie war ja schon gar keine so richtig Kleine mehr, die Kleine, aber die Liebe eines Kindes zu den Eltern … Da durfte man nicht dagegen sein, war man aber doch. Yildirim versuchte fest zu klingen: «Ich bin Staatsanwältin, kein Filmstar. Ich kann mir das nicht leisten. Babett! Was ist los?»

«Na ja …, er heißt Ösgür.»

«Ich habe keinen Verwandten, der Ösgür heißt.» Yildirim verstand tatsächlich nicht, spürte aber, da war was, was sie so nicht vorgesehen hatte, am Ende …

«Es würde mich auch sehr wundern, wenn ihr verwandt wärt.»

Die Juristin versuchte das Unmögliche zu denken, und ihr Mädchen musste trotzdem nachhelfen: «Mein Freund.»

Yildirim nahm die Kappe ab. Die Riesenmähne detonierte über ihrem ungewohnt blassen Gesicht.

«Können wir mir mal so eine Krause machen lassen, wie du eine hast?»

«Das ist Natur, Kanakenbürste. Klar, können wir machen. Ösgür. Und wo wohnt Ösgür, auf den Seychellen?»

Babett schüttelte defensiv den Kopf: «Seine Familie kommt aus Anatolien, aber die wohnen hier. Ich hab ihn halt aufs Handy angerufen, und das ist anscheinend wirklich ziemlich teuer …»

«Anatolien, anscheinend, Freund», drei klägliche Echos statt pädagogischer, moderner Reaktion. «Sex?», es klang, als spannte man einen Pistolenhahn.

Babett nickte.

«Du hast gerade zweimal menstruiert und vögelst», hauchte Yildirim.

«Dreimal.»

«Und wenn es viermal wäre … Du menstruierst sozusagen noch im einstelligen Bereich …»

«Was hat das damit zu tun?»

«Sei ruhig.»

«Du vögelst auch den Theuer, ich hab’s gehört, ihr schreit ja wie die Tiere.»

Die überforderte Mutter trottete in die Küche, eine Socke verlor sie und bemerkte es nicht.

Sie würde jetzt rauchen, Scheiß aufs Asthma und Babetts jungfräuliche Lungen, wenn das Balg entjungfert war, was sollten dann die Lungen …

«Wir haben das nur einmal probiert», Babett kam in die Küche nach. «Und das war mir zu arg. Ich will jetzt warten.»

«Und du glaubst, das akzeptiert der», schnaubte Yildirim. «Das ist ein Türke.»

«Ist aber schon komisch, wenn du so was sagst, oder?»

Da konnte sie ihrer Ziehtochter nur von Herzen Recht geben.

 

Das Land Baden-Württemberg, im bundesrepublikanischen Maßstab eigentlich glänzend aufgestellt, musste sparen. Zwar war es Mode, widerliche Motivationsnarren für dümmliche Mitarbeiterschulungen vierstellig zu entlohnen, aber bei notwendigen Dingen wurde verzichtet. Man hatte es ja noch nicht absurd genug im Südwesten und überhaupt. Diese Sparerei ließ sich verdrängen, wenn man nur noch ein paar Jahre bis zur Pensionierung hatte, zumal die komfortablen sechzig Lenze für Polizistenruhestand noch nicht zur Disposition standen. In jenen ersten Tagen des Jahres aber bemerkte Theuer, wie knapp zum Beispiel inzwischen Urlaubsvertretungen kalkuliert waren. Die Gerichtsmedizin ließ noch nichts von sich hören, und auch die Kollegen am Schloss waren noch nicht so weit. Obwohl sie einen schlimmen Todesfall zu untersuchen hatten, machten die vier pünktlich Feierabend.

 

Der erste Hauptkommissar Johannes Theuer hatte für das Jahr 2003 einige heroische Vorsätze gefasst. Am Abend saß er in seiner kleinen Küche und versuchte, sich zu erinnern. Also, er würde ein wenig aktiver werden. Mittlerweile knietief in den Fünfzigern galt es, die Fitness im Auge zu behalten. Ja, das würde er tun. Salate und Spaziergänge, die vorbildlichen drei Liter Wasser am Tag, solche Sachen. Darüber hinaus aber: Nicht mehr so seltsam sein. Kein dummes Zeug denken, nicht einfach lossingen.

In der Silvesternacht, die er mit Yildirim und einer reichlich angenervten Babett in deren Wohnung in der Bergheimer Straße verbracht hatte, war ihm, leicht beduselt, auch der Gedanke, das Universum als eine sinngesegnete, freundliche Umfassung seiner selbst zu sehen, fast schon zum Vorsatz geworden. Warum nicht? Statt, dass man ständig das Gefühl hatte, ins Nichts zu stürzen, könnte man ja auch begreifen, dass man auf dem Grunde eines Luftozeans lebte, ummantelt von tonnenweise Atmosphäre, umschwirrt von Molekülen, besiedelt von Kleinstlebewesen … Nein, so viel schöner war das auch nicht.

Nun gut, er war jetzt nüchtern, klaren Geistes. Wie stand es mit den Zielen? Durchaus paradox hatte er nach zwölf, als Allererstes im neuen Jahr, noch fünf von Yildirims Zigaretten zugrunde inhaliert, obwohl er eigentlich Nichtraucher war, und – eingestanden – der letzte Salat war eine Weile her. Er prüfte den Inhalt seines Hängeschrankes. Das Öl war abgelaufen, eine leere Essigflasche … Essig und Öl würde er kaufen, gleich morgen, das sollte zunächst mal genügen, dem Salat wäre sozusagen der Weg bereitet.

Das Telefon klingelte nicht, da man sich ja schon geraume Zeit in der digitalen Epoche mühte, jodelte es.

«Wer bin ich?», fragte eine krächzende Stimme. Er erkannte sie sofort.

«Du bist Fabry. Der dickste Polizeipensionist der Welt. Schwarzwälder Schwerdenker. Neuerdings wieder schwer aktiv, Arschlöcher-auf-die-Falklands-Mobber, das bist du, mein Freund …»

«Du lieber Himmel», krächzte es, «eigentlich war das nur ein kleiner Scherz, weil ich annahm, meine Bronchitis verschleiert meine herrliche Identität. Stell dir vor, ich muss die doppelte übliche Menge Antibiotika nehmen, sonst passiert gar nichts bei meinen Pfunden. Wie geht’s dir? Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, saßen wir in einem saukalten normannischen Wind und du hast schwer gehadert, ob das mit deiner deutschen Türkin nochmal was wird. Ist der Babett-Erzeuger weggeblieben?»

«Ist er», sagte Theuer nicht ohne Stolz auf ihren strafrechtlich verblüffend folgenlosen Coup. «Und die Yildirim und ich … ja, wir sind, ich würde sagen. Zusammen.»

So plauderten sie, und der Ermittler genoss es. Normalerweise hätte er von dem Fall berichtet, aber – zum ersten Mal seit Unzeiten – bot sein eigenes Leben so viel Erzählenswertes, dass die traurigen Bilder des Tages aus seinem Sinn schwanden.

Es war ja wirklich Gutes geschehen. Er selbst hatte es vorangebracht, war mit einem riesigen Rosenstrauß bei Yildirim angekommen, hatte wohl auch ein wenig geweint, dann doch noch gute Witze gerissen, erstaunlich frech verführt, nicht übel geliebt und sogar noch hinterher gezärtelt, und nun waren sie schon Ewigkeiten, also gut, um die sieben Wochen, ein erstaunlich harmonisches Paar. Er würde für Babett eine Art Vater werden, irritierende, neue Bilder stiegen da in ihm auf. Das konturschärfste zeigte den Kommissar nebst Stiefziehtochter auf dem Neckar segelnd. Die lächerliche Heidelberger Rennstrecke: Ufer – Wende – Ufer, je nach Masthöhe kam man nicht einmal unter den Brücken durch, Hallenhandball in der Telefonzelle und vor allem, Theuer hatte keine Ahnung, keinen Schimmer, nicht den Hauch einer Idee vom Segeln, grade dass es mit Wind zu tun hatte …

Das Telefonat war da schon längst vorbei, er lag im Bett. Wind. Blauer Himmel wölbte sich, Wind, weiße Segel, die fliegen konnten, sich in fliegende Blätter verwandelten, auf denen verheißungsvolle, frühlingshafte Botschaften standen, er konnte sie lesen, alle auf einmal. Einem Zettel folgte er, selbst fliegend, über die Altstadt – Gassengewirr, Menschentrauben, Gemurmel, er wich den Türmen der Heilig-Geist-Kirche aus – ein Uhu saß im Glockenturm und las ein dickes Buch – steiler Schwenk nach rechts, übers Gefängnis, sogar das strahlte Frohsinn ab. Der Uniplatz, Sandgasse. Vor dem Theater waren Gaukler in Burschenschaftswichs, nach links, Richtung Gaisberg, rote Sandsteineinsprengsel im Wald, Reste feindlicher Befestigungsanlagen, Dreißigjähriger Krieg, selbst im Traum nicht vollständig erfreulich, aber so lange her, man muss verzeihen können, das Schloss, vorne, elegant von rechts angeflogen, Friedrichsbau, Ottheinrichsbau, Englischer Bau, Dicker Turm, von Fabry bewohnt, Blick nach unten, Absturz.

Ronja Dahn, achtzehn Jahre, unverzeihlich.

Theuer stand auf, zog sich schnell und fahrig an, verließ die Wohnung, erst unten, schon halb aus dem Haus, schloss er den Hosenladen.

Er parkte eingangs des Tales und ging die letzten hundert Meter zu Fuß. Bei Dahn brannte noch Licht. Jetzt erst schaute der Kommissar auf die Uhr. Zwanzig nach zwölf. War das, was er vorhatte, angemessen? Bei der Gelegenheit, was hatte er eigentlich vor? Er stand schwer atmend vor dem Haus. Man sah die Silhouette eines Mannes, der aufgeregt hin und her ging, gestikulierte. Ein wilder Haarschopf, also war es nicht Dahn. Offensichtlich war der Mann zornig, irrte sich Theuer oder hörte er eine zweite erregte Stimme? Die Männer stritten, kein Zweifel. Verstehen konnte Theuer allerdings nichts. Entschlossen nahm er die wenigen Stufen, die zur Haustür hinaufführten.

 

«Jetzt?»

«Es tut mir Leid, aber ich glaube, wir kämen wahrscheinlich nie gelegen.»

Dahn deutete ein Lächeln an – da hatte der Polizist immerhin mal den Ton getroffen. Dahn ließ ihn ins Haus.

«Ich habe gesehen, dass Sie noch auf sind», sagte Theuer eintretend. «Sie haben mit jemandem gestritten. Ich bin hier, weil ich wissen will, wer dieses komische Beißwerkzeug verwendet. Ihr Diskussionspartner?»

«Ich habe zurzeit Besuch von einem alten Studienkollegen. Ja, wir hatten eine Auseinandersetzung. Ihm geht es wie Ihnen, er hält mich für gefühlskalt.» Dahn klang sachlich, nicht wie jemand, der gerade noch voller Adrenalin war, und wenn er Vorwürfe bekommen hatte, schienen die ihm nichts weiter ausgemacht zu haben. Allmählich hätte Theuer gerne gewusst, was diesen ästhetischen Herrn überhaupt erschüttern konnte.

Er versuchte, streng zu schauen: «Das hätten Sie uns sagen müssen!»

«Ein Tatverdächtiger? Konrad komm mal.»

Aus dem Wohnzimmer trat ein Mann, der so ziemlich alles verkörperte, was Dahn nicht war. Struppige graue Haare, ein wilder Bart, lebendige Augen, gerade auch hierin unterschied sich der Besucher von seinem Gastgeber. Die Kleidung war historisch – ausgeleierte Jeans mit Hosenträgern über einem braunen, zerschlissenen Rollkragenpullover.

«Na, die modernen Bullen sehen ja fast aus wie das, was in den Siebzigern gerne unter den Gummiknüppel kam.»

Theuer ignorierte die Beleidigung.

«Sie sind Herr …»

«Pilz, Konrad Pilz. Ich habe kein Alibi, aber soweit ich weiß, hat sich die arme Ronja entweder selbst getötet, oder sie wurde von jemandem sozusagen eigenhändig in die Tiefe geworfen?»

Pilz schien – ungeachtet seiner Aggressivität – sehr traurig zu sein.

«Soweit wir wissen, ja», ein Halogenstrahler spiegelte sich auf Dahns Armbanduhr und blendete den Ermittler.

«Na, dann scheide ich wohl aus.» Pilz hatte die Arme bislang hinter dem Rücken verschränkt, jetzt zeigte er sie. Er hatte keine Hände.

Theuer nickte stumm. Ja, natürlich. Pilz schied aus. Wobei: Er hatte schon Gelähmte, Ordinarien im Lebensherbst und pensionierte Postboten überführt, alles Leute, denen man kein bisschen Gewalt zugetraut hätte. Gerade hatte Dahns Besucher nochmals die Möglichkeit eines Selbstmordes erwähnt – seltsam, der Kommissar war innerlich von dieser naheliegendsten Variante schon abgerückt. Warum? Ein einsames Mädchen, die Mutter tot, der Vater so emotional wie ein Backstein? War es berufsbedingtes Denkmuster, wünschte er sich einen Mord, etwas zum Verbeißen?

Nicht zum ersten Mal musste Theuer feststellen, dass sein Schweigen ansteckend wirkte. Die drei ungleichen Männer standen stumm im blitzblanken Flur. Der Ermittler fühlte seine Müdigkeit zurückkehren.

«Jeder ist verdächtig», sagte er leise und schaute zum Boden. «Jeder. Ihr Alibi …», er wandte sich an Dahn, «ist nicht überprüft. Und Sie …» Blick zu Pilz. «Wer sagt, dass Sie nicht Prothesen haben?»

«Schleppen können Sie mit solchen Prothesen nichts. Ich habe welche, natürlich. Ich trage sie aber nicht immer, ich kriege wunde Stellen.»

Theuer nickte, als habe er so etwas erwartet. «Ich will Ronjas Zimmer sehen.»

Dahn nickte, lächelte sogar. «Im ersten Stock, die zweite Tür auf der rechten Seite.»

Der Ermittler ging ohne ein Wort die Treppe hinauf.

Bald hörte er von unten wieder Pilz laut werden. Der Streit ging weiter.

Er scheute sich, etwas zu berühren, schämte sich absurderweise, nicht längst im Stile eines souveränen FBI-Koordinators die gesamte Hinterlassenschaft der Ronja Dahn in diesen gefrierbeutelähnlichen Tüten zu haben, um sie dann triumphierend in die Kameras zu halten. «Wir fanden unter dem Bett winzige Partikel von Robbenfell, kein Zweifel, Captain Iglo war unser Mann …» Dabei war es doch erst gestern passiert.

Im mittleren der drei Regalbretter stachen ihm drei Bücher ins Auge. Als einzige durchbrachen sie die ansonsten vorherrschende, wohl mädchenhafte Optik. Zumindest glaubte der müde Polizist, es sei mädchenhaft, die Buchrücken einander farblich zuzuordnen. Aber was, das war der Vater gewesen. Was musste ihn diese Tochter gestört haben.

Wie hineingewuchert standen da die Bibel, ein Wälzer über Studentenunruhen und Terrorismus in Deutschland, «Die bleiernen Zeiten», und eine Ausgabe von Sherlock-Holmes-Geschichten.

Vorsichtig zog Theuer die Bücher aus dem Regal. Kein Staub – zum Vergleich griff er nach dem Atlas, der rechts – perfekt in Farbe und Größe eingepasst, die Reihe abschloss. Einige Flusen wehten auf. Diese drei Bücher hatte Ronja gelesen, so oft, dass sie an diesem Punkt sogar die kranke Systematik des Hausherrn zu durchbrechen gewagt hatte, was sicher nicht leicht gegangen war.

Wäre es Hermann Hesse gewesen, Goethes Werther und was es da noch alles an Dramatischem gab, das er seit seinen gymnasialen Zeiten vergessen hatte – er hätte sich gezwungen, den Freitod des Mädchens zu erwägen. Aber diese drei Bücher?

 

Theuer saß wieder unten bei den Männern. Er hatte, bis auf Ronjas seltsame Literaturauswahl, nichts entdeckt, kein Tagebuch, auch keine Briefe.

«Das Einzige, was mir bisher aufgefallen ist», begann der Ermittler einen Satz, von dem er noch nicht wusste, wie er enden sollte, «… keine Erinnerungsstücke. Ich meine, nicht jedes Mädchen schreibt Tagebuch, aber viele tun es zumindest eine Zeit lang. Und Briefe, sie hat keine Briefe von irgendjemandem. Sie hat keine Erinnerungen, nicht einmal an ihre Mutter …»

«Und nun denken Sie, ich hätte das alles vernichtet?», fragte Dahn spöttisch.

«Das denke ich nicht, nein, eigentlich nicht. Und hätten Sie’s getan, würde ich es sicher nicht erfahren.»

«Als sie eingezogen ist, habe ich ihr klar gemacht, dass ich solchen Mist nicht brauchen kann. Ich bin Purist, ästhetischer Purist, durch und durch …» Pilz zog giftig Luft ein. «Klar hatte sie ein paar nichts sagende Urlaubsgrüße ihrer Mutter aus der Kur und Ähnliches, einen kitschigen kleinen Eifelturm besaß sie, von einer gemeinsamen Reise her, wackelige Fotos von Weihnachtsbäumen, aber ich kann so einen Krempel nicht brauchen und habe ihr das … nun ja, klar gemacht. Vielleicht war das ein bisschen hart.»

«Ein bisschen», echote Pilz und schien damit keineswegs alles gesagt zu haben.

«Was für ein Mädchen war Ronja?», fragte Theuer und wandte sich mit dieser Frage unwillkürlich an den versehrten struppigen Besucher, der anscheinend mehr für sie empfunden hatte als der Vater.