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Das fulminante Finale von Hauptkommissar Theuer und seinem ungewöhnlichen Team Im letzten Jahr vor Theuers Pensionierung scheint in Heidelberg das Verbrechen zu schlafen. Doch dann findet sich am Neckar die Leiche eines älteren Mannes. Die Szene ähnelt gespenstisch dem Verbrechen von Theuers erstem Fall. Und merkwürdigerweise scheint der Tote auch irgendwie damit in Verbindung zu stehen. Sollte damals die Sache nicht vollständig aufgeklärt worden sein? Theuer hat keine Zeit, lange darüber nachzudenken, denn dieser Mord ist nur der Beginn einer brutalen Serie, die das Team endgültig überfordert. Höhnisch schreibt der Serienkiller: «Herr Theuer, beim Ostereiersuchen würde man sagen: Kalt. Sie sind weit davon entfernt, mich zu kriegen.» Doch am Ende überrascht Theuer alle ...
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Carlo Schäfer
Schlusslicht
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Das fulminante Finale von Hauptkommissar Theuer und seinem ungewöhnlichen Team
Im letzten Jahr vor Theuers Pensionierung scheint in Heidelberg das Verbrechen zu schlafen. Doch dann findet sich am Neckar die Leiche eines älteren Mannes. Die Szene ähnelt gespenstisch dem Verbrechen von Theuers erstem Fall. Und merkwürdigerweise scheint der Tote auch irgendwie damit in Verbindung zu stehen. Sollte damals die Sache nicht vollständig aufgeklärt worden sein? Theuer hat keine Zeit, lange darüber nachzudenken, denn dieser Mord ist nur der Beginn einer brutalen Serie, die das Team endgültig überfordert. Höhnisch schreibt der Serienkiller: «Herr Theuer, beim Ostereiersuchen würde man sagen: Kalt. Sie sind weit davon entfernt, mich zu kriegen.» Doch am Ende überrascht Theuer alle ...
«Carlo Schäfer ist einer der besten deutschen Krimiautoren. Theuer hat das Zeug zum Kult.»
Sonntag Express
«Liest sich höchst amüsant.»
Stuttgarter Nachrichten
Carlo Schäfer (1964–2015) war Lehrer, Hochschuldozent und Autor.
Nun also der letzte Band der Reihe: Theuer geht, manche wird es freuen, bei mir mischen sich Wehmut und Erleichterung.
Vielleicht gibt es einmal ein Wiederlesen mit einem zeitweilig reaktivierten Hauptkommissar, der (fast) jährliche Auftritt des wirren Teams endet aber unwiderruflich.
Natürlich ist ansonsten alles, wirklich alles frei erfunden. Wer trotzdem beleidigt sein will, dem sei das ausdrücklich zugestanden, ferner möge er es für sich behalten. Heidelberg 2007
Paraphrasierungen und Zitate Ernst Blochs sind im Wesentlichen dem Band «Seminar: Freies Handeln und Determinismus», herausgegeben von Ulrich Pothast, entnommen. Für eine freundliche Auskunft bezüglich eines weiteren Bloch-Zitats gilt mein Dank Jan Robert Bloch in Berlin.
Für meine Neffen und Nichten
Friedel, Klara, Dodo, Max, Annika, Luisa, Karsten, Thomas
unsere Patenkinder
Janis, Emma, Rachel, Maximilian
und last, but not least die kleinen Ex-Nachbarn
Jule und Nick
* Friedel muss nicht gekränkt sein, dass er «nur» als Neffe systematisiert ist, selbstverständlich bleibe ich auch in seinen erwachsenen Jahren sein Pate und sage ihm das auch, falls ich zu Wort komme.
In der Nacht von 2004 auf 2005 träumte der erste Hauptkommissar, Babett und er äßen Draht.
Das konnte er sich am nächsten Morgen immerhin erklären: Seit er im Herbst vergessen hatte, der Ziehtochter ein Geburtstagsgeschenk zu besorgen, stand er im Wort, sie unten am Fluss zum Sushi einzuladen, drückte sich aber, weil ihm von Fisch immer übel wurde.
Babett wiederum hatte ihn kurz vor Weihnachten im Büro besucht und ihn nervös gemacht, weil sie immer mit einer Drahtrolle herumhantierte, die sie in der Schule im Fach Kunst gebraucht hatte. Am Ende vergaß sie die Rolle, und sie lag immer noch in seinem Schreibtisch. Gut, das Vergessen einte ihn mit seinem Mädchen, wie er sie in verstecktem Stolz zunehmend nannte.
Er träumte weiterhin, die Yildirim masturbiere ihn im Vatikan. Monate später wollte er sich angesichts des deutschen Papstes hierfür beinahe das Zweite Gesicht zusprechen, aber die Kollegen redeten ihm das aus.
Schließlich träumte er, dass er ganz alleine über den Mond spaziere – durchaus mit der Angst zu ersticken, aber auch in einer riesigen Freude darüber, nicht mehr auf der Erde zu sein.
Er fürchtete nach diesem Traum, er könnte das Jahr nicht überleben, und schalt sich dafür – abergläubisch war er eigentlich nicht.
Der Zug wurde langsamer, also war er schon im Großraum Frankfurt. Ein kalter Februarregen schlug gegen die Scheiben, gleich würde die Skyline auftauchen.
Noch eine knappe Stunde. Er musste sich alles noch einmal durchsehen, am besten auch heute Abend! Aber natürlich vorher den wöchentlichen Rapport nach Amerika mailen: Was sind die neuesten Werte? Wie stehen die Leukozyten? Frederick wollte es immer genau haben, ihn interessierten nicht die allgemeinen Aussagen der Ärzte, er wollte sich selbst ein Bild machen und wusste es natürlich besser als die Internisten, der tolle Chirurg.
Dabei genügten doch die Worte des Oberarztes, vorhin auf dem Flur in dem entsetzlichen gelben Krankenhausflurlicht, mit dem entsetzlichen Krankenhausflurgeruch: «Ihre Mutter wird wohl nicht mehr lange leben.»
«Und was macht die Philosophie?» würde der letzte Satz in Fredericks Antwortmail sein, es schien dem vielbeschäftigten Bruder nichts auszumachen, dass Armin darauf nie antwortete.
Alles das klang ihm selbst trübe, und er war verwundert und erleichtert festzustellen, wie sehr er sich dennoch auf die nächtliche Lektüre freute. Er hatte endlich seine Aufgabe gefunden. Bannerträger des großen Ernst Bloch!
Schon nach den ersten Zeilen, die er vom Meister gelesen hatte, durfte er das fühlen: Das war Seines, ganz Seines, als ob Bloch zu ihm spräche, ihm erklärte, dass man etwas tun kann und muss und damit nicht alleine ist. Andere mochten so etwas in der Religion suchen, in esoterischen Zirkeln – wie viel würdiger, klarer und eigenständiger aber war man in der Philosophie Blochs wahrgenommen. Einsamer vielleicht, nicht modern, ein Marxist! Das machte Armin nichts aus. Er hatte gefunden, was viele Menschen gar nicht zu suchen schienen – einen Punkt in allem Gewimmel.
Das Prinzip Hoffnung, Hoffnung auf eine noch nicht gewordene Welt, der zum Werden zu verhelfen möglich ist, deren Werden vom tätigen Subjekt ermöglicht werden muss: Kein Getriebenwerden mehr und kein Kampf gegen Windmühlen, sondern im Strom der historischen Dialektik kräftig und mutig zu neuen Ufern schwimmen.
Der Zug fuhr in den Frankfurter Bahnhof ein.
Am Montag war wieder einmal nichts geschehen, am Dienstag gar nichts, überhaupt nichts am Mittwoch, und alles sprach dafür, dass dieser Donnerstag genauso würde, fand der allererste Hauptkommissar Johannes Theuer und stellte sich einen Geschlechtsverkehr vor, einen etwas furioseren, als er ihn letzte Nacht zuwege gebracht hatte.
Staatsanwältin Bahar Yildirim stand vor dem Badezimmerspiegel und zupfte an ihren Wimpern, Ziehtochter Babett war schon in der Schule. Theuer stand, erwähnterweise in unkeuschen Gedanken gefangen, unter der Tür und schielte nach dem Gesäß seiner Lebensgefährtin, tat aber so, als warte er, dass sie fertig würde. Und als könne man das nur in der geöffneten Badezimmertür.
Die Staatsanwältin würde um neun einen hochbrisanten Prozess haben: Das Volk gegen einen gewissen Paul S., weil es das Volk leid ist, dass Paul S. seine Schäferhündin «Hexe» immer auf Spielplätze kacken ließ, trotz diverser Verwarnungen, Bußmandate, inzwischen sogar Vorstrafen.
Der wirre, aber ansonsten gemütliche Polizist wünschte dem Angeklagten die Galeere und war daher sehr einverstanden, dass sich seine Lebensgefährtin zur Vernichtung des Mannes hübsch machte, das würde S. noch mehr demütigen! Speziell Schäferhunde hielt Theuer nämlich für Bestien, er hätte aber auch niemals sonst einen Hund, gerne aber einen großen Bären zum Freund gehabt. Dieser Bär spazierte mit ihm aufs Schloss, und dann entkorkten sie beide einen Met … Theuer träumte im Stehen und vergaß sogar kurz den Po der Freundin. Leider musste er rasch wieder aufwachen, denn es war nicht zu leugnen, er schob eigentlich seit zehn Minuten Dienst.
Es wunderte ihn selbst ein bisschen, aber seit er es offiziell hatte, dass er zum ersten Januar 2006 in Rente gehen würde, vernachlässigte er praktisch alle seine Pflichten, noch mehr als früher – und das schadete überhaupt nichts.
Sein Team hielt ohnehin dicht, der neue Chef Magenreuter war bislang beschäftigt genug, den Irrsinn seines Vorgängers Seltmann aufzuarbeiten, vor allem aber machte das Böse, das doch in der ganzen Welt zuschlug, wie lange nicht mehr einen Bogen ums beschauliche Heidelberg. Es gab einfach nichts zu tun.
Krieg im Irak, Krieg in Afghanistan, Gewalt allerorten, und der letzte Fall auf seinem Schreibtisch war eine Anzeige wegen nächtlicher Ruhestörung gewesen.
Donnerstag, eine Überraschung: Frederick kam mit seiner neuen Freundin, sie hieß Deborah (war sie Jüdin?), schon morgen – vielleicht ließe sich ja dann ausnahmsweise etwas in Sachen Armin feiern: die Prüfung.
Er war der Erste. Gerade war Professor Pittus gekommen, hatte ihm zugenickt, vielleicht ein wenig irritiert. Natürlich, natürlich, Armin war nicht mehr zur empfohlenen Prüfungssprechstunde gegangen. Warum eigentlich nicht? Hatte er sich zu sicher, zu geborgen in des Meisters Worten gefühlt? Das durfte er jetzt nicht denken. Frederick kam morgen. Daran denken: Besuch, der Bruder kommt zu Besuch, und sie würden seine Prüfung feiern.
Allerdings kam Frederick nicht deshalb, sondern weil ihn die neuen Blutwerte so beunruhigten. Armin konnte sich nicht recht vorstellen, dass die Mutter bald sterben könnte, es passte nicht zu seinen lebendigen Gefühlen der letzten Zeit.
Wie sagte Bloch? Ich kann mir das Nichts nicht vorstellen.
Jetzt fühlte er es wieder, dieses Feste, diesen machtvollen Duktus des Denkers.
Die erste Passage des Aufsatzes, über den er sich prüfen lassen wollte, konnte er auswendig:
Nur im Leeren kommt man blind voran. Steht aber etwas herum, im oder auf dem Weg, dann muss es achtsam angegangen, berücksichtigt werden. Zum ältesten Erfahren gehört bereits, dass es Kopf und Wand gibt. Dass der Kopf sich an der Wand stößt, wenn er sie nicht sieht oder nicht wahrhaben will. Dass der Kopf durch die Wand nicht hindurchkann, es sei denn, er regiere in der Hand ein Werkzeug und habe sich mit dem Stoff der Wand vertraut gemacht …
Er wusste auch, wie er beginnen würde:
‹Ich habe ergänzend zu Blochs Aufsatz in Das Prinzip Hoffnung gelesen – Blochs Sicht der Musik als noch nicht gewordene Sprache fasziniert mich, wobei ich nicht so weit ginge zu behaupten, dass ich sie verstünde … Was ich, glaube ich, begreife, ist der grundsätzliche Unterschied seiner Philosophie zu jeder anderen zeitgenössischen: Sie ist nicht einfach Philosophierezeption, sie will gestalten! Sie will nicht gelernt, sondern praktiziert werden!›
So musste er das gleich rüberbringen! Die Prüfung in die Hand nehmen, aktiv sein!
… und habe sich mit dem Stoff der Wand vertraut gemacht …
«Herr Hahn?»
Wenn nicht, dann nimmt das aufprallende Ich bedeutend mehr Schaden als das Nicht-Ich und merkt es, ganz und gar nicht allein in der Welt zu stehen.
«Herr Hahn, das sind doch wohl Sie? Ich möchte Sie prüfen! Oder besser gesagt, Sie wollen sich prüfen lassen.»
Armin stand auf, plötzlich rebellierte der Magen. Pittus sah nicht aus, wie man sich einen Philosophieprofessor landläufig vorstellte. Da war nichts Verschrobenes, Entrücktes, Spleeniges, nein, sein Prüfer war ein kräftiger Mann mit Dreitagebart, gutaussehend, was machte das, aber es störte ihn, was waren das für Gedanken, er musste sich zusammenreißen …
«Jetzt wundere ich mich aber doch, dass ich Sie noch nie gesehen habe!»
«Ich war in dem Seminar im letzten Sommer, über Willensfreiheit …»
Armins Knie zitterten, als es ihm klarwurde: Er hatte sich beim falschen Prüfer angemeldet.
Alles nach seinem Kopf gehen zu lassen ist unreif, nichts mehr als Wand zu sehen, das ist ältlich.
«Aha. Beim Kollegen Pfisterer, nehme ich an. Und warum prüft Sie der dann nicht? Hat er Sie zu mir geschickt?»
Armin wollte es erklären: ‹Es›, das ihm eben immer wieder passierte, aber er konnte es ja nicht. Manche haben Schuhsohlen mit eingebauter Bananenschale, was gab es da zu erklären? Was herauskam, war ein zittriges: «Nein.»
Der Professor hob die Brauen, seufzte, schließlich, nach einer deutlichen Pause, sagte er: «Gut, das werden wir jetzt nicht klären können. Dann kommen Sie jetzt herein.»
Theuer war nach wie vor nicht so richtig eifrig – eben ließ er die Altstadt hinter sich und überquerte am Adenauerplatz die Rohrbacherstraße. Menglerbau, Volksbank, Sparkasse – ein Gebäude hässlicher als das andere. Vielleicht könnte er ja mal einen Bildband über das hässliche Heidelberg herausbringen? Das wäre doch mal was Neues!
«Also, Herr Hahn. Jetzt lassen wir uns von diesem etwas verkorksten Beginn nicht irremachen. Zunächst etwas Organisatorisches. Aufgrund der auch bei uns gegebenen viel zu großen Anzahl an Studierenden und der damit einhergehenden zusätzlichen Belastung führen wir, wie Sie ja sicher wissen, die Zwischenprüfungen mittlerweile alleine durch. Sie müssten hier unterschreiben, dass Sie damit einverstanden sind.»
Pittus, kein Zweifel, einer der im Leben stand und sich trotzdem in der Welt der Ideen bewährte. Und er, Armin, war ein Idiot, der zwei Namen schon dann verwechselte, wenn beide ein «i» enthielten.
Hinter der Gardine des großen, steingefassten Fensters sah er dürre Zweige eines Baumes, welche Sorte? Keine Ahnung, keine Ahnung von Bäumen, Bäume nur so als Beispiel.
«Und wenn ich nicht unterschreibe?»
«Wir bevorzugen», Pittus klang nun gereizt, «wenn uns das schon bei der Meldung zur Prüfung mitgeteilt wird. Aber formell haben Sie das Recht, auch jetzt noch auf eine Nachprüfung mit zwei Prüfern zu bestehen. Zwei Prüfer, die von diesem Zusatztermin ganz begeistert sind.»
«Nein, ich», Armin versuchte zu lächeln, «ich unterschreibe. Ich bin ziemlich nervös.»
«Natürlich.» Pittus schaute freundlich, wenn auch etwas bemüht. «Danke schön. Na, der Unterschrift sieht man an, dass Sie Ihre Nerven beherrschen müssen. Nur ruhig Blut! Wir haben das alle mal überstehen müssen, solche Prüfungssituationen. Jetzt sollten wir allerdings langsam anfangen. Könnten Sie mir Ihr Thesenpapier geben?»
Armin griff in die Brusttasche seiner Regenjacke und erwartete eigentlich nun auch noch dieses Blatt zu Hause vergessen zu haben, aber da war es. Etwas ruhiger reichte er das Papier seinem Prüfer.
«Handgeschrieben?» Nun war es schwer, Pittus’ Verärgerung nicht zu bemerken. «Und ich muss mich korrigieren! Ihre Unterschrift verdankt sich keiner Nervosität, Sie schreiben unleserlich! Freier Wille und Determinismus. Aha.» Der Professor schwieg einen Moment, um Armin dann ziemlich fassungslos anzuschauen. «Sie haben einen Aufsatz von Ernst Bloch als Prüfungsthema angegeben. Einen einzigen Aufsatz!»
Armin fühlte das Blut ins Gesicht schießen, empfand Ekel vom fauligen Geschmack in seinem Mund.
«Das stand schon auf meiner Anmeldung», krächzte er.
Pittus kramte in seinen Papieren. «Oh, ja, jetzt erinnere ich mich. Die Anmeldung, die ich nicht lesen konnte.» Der Professor schüttelte den Kopf.
«Ich habe ergänzend zu Blochs Aufsatz im Prinzip der Hoffnung gelesen – Blochs Sicht der Musik als noch nicht gewordene Sprache fasziniert mich – wobei ich nicht so weit ginge zu behaupten, dass ich sie verstünde … Was ich, glaube ich, begreife, ist der grundsätzliche Unterschied seiner Philosophie zu jeder anderen zeitgenössischen: Sie ist nicht einfach Philosophierezeption, sie will gestalten. Sie will nicht gelernt, sondern praktiziert werden!»
Pittus sah müde aus. «Oh doch, junger Mann. Sie will auch gelernt werden. Nur weiter.»
Der nach wie vor eher flanierende, denn zügig der Arbeit zustrebende Hauptkommissar besaß leider nicht einmal einen Fotoapparat, um sein eben ersonnenes, bereits wieder vergessenes Buchprojekt anzugehen.
Es gab so vieles, was er nicht besaß! Beispielsweise besaß er kein Teleskop. Besäße er eines, könnte er wenigstens ferne Monde betrachten, dann im nächsten Jahr. Ja, mitunter mischte sich ein wenig Furcht in die gemütliche Grundstimmung: Was würde er denn tun, wenn er nichts mehr täte?
Rentner – ein seltsames Wort. Man dachte an Leute, die sich mit Gehhilfen missgelaunt durch Supermärkte quälten und Kinder grundlos schlugen.
Mal wieder nach Italien – klar, vielleicht mal nach England, von London hatte Ex-Freundin Hornung immer so begeistert berichtet. Ein Ziel war weggefallen: Sein bester Freund Fabry war im November im Schwarzwald an seiner fürchterlichen Fresssucht gestorben, man könnte fast sagen, verendet. Die Trauerfeier auf dem regentrüben Friedhof von St. Georgshöfen gehörte zu den nicht wenigen traurigen Bildern der letzten Jahre.
«Danke, Herr Hahn. Wirklich, es reicht jetzt.
Man soll also warten, bis die historischen Umstände einem eine SMS schicken, in der steht, dass nun die Revolution losgehen kann – sozusagen. Das ist das Konservativste, was ich seit langem gehört habe.»
«Das habe ich so nicht gesagt.»
«Natürlich nicht. Von einer SMS war nicht die Rede. Entschuldigen Sie meinen Sarkasmus, aber Sie muten mir hier schon einiges zu. Das ist allenfalls gymnasiale Oberstufe.»
Armin fühlte sich ins Bodenlose stürzen, ganz und gar fallen und paradox schon im Fall zerschmettert. «Ich meine, ich sage das jetzt nicht zu meiner Verteidigung, sondern zur Verteidigung Blochs, ich …»
«Ich denke, Ernst Bloch benötigt Ihre Hilfestellung nicht.»
Armin schwieg. Die Katastrophe war zu groß, ließ ihn geradezu ehrfürchtig verstummen.
«Herr Hahn.» Man merkte, dass der Professor milde klingen wollte und dass ihm das kaum gelang. «Wir murksen hier schon die doppelte normale Prüfungszeit herum, das hat keinen Sinn!»
«Ich kann versuchen, meine Gedanken umzuformulieren, ich war sehr aufgeregt. Diese Prüfung ist sehr wichtig für mich …» Armin brach ab. Wie sollte er das auch begründen? Wenn er in einer Prüfung versagte, war das eine Sache, eine, die ihm nicht neu war. Aber wenn er mit Bloch versagte, war das eine unerträgliche Schande. Er fühlte sich, als seien die erblindenden und dennoch so festen Augen des Philosophen in diesem Moment auf ihn gerichtet.
«Der Mensch erringt seine Freiheit als tätiges Subjekt in der Geschichte …», stammelte er.
«Ich glaube Ihnen gerne, dass diese Prüfung für Sie wichtig ist. Eine Zwischenprüfung ist ja auch etwas Wichtiges. Aber sie ist jetzt vorbei.»
«Ich …»
«Jetzt.» Pittus schaute in seine Notizen, seufzte: «Also, Herr Hahn. Ausreichend. Bestanden.»
Armin erwiderte nichts.
«Ich sehe, dass Sie sich vorbereitet haben. Mehr sehe ich allerdings nicht. Ihre Beziehung zu Bloch scheint eine Art Liebesverhältnis zu sein. Es ist in unserer Wissenschaft, in der Wissenschaft allgemein, eher hinderlich, sich mit den Urhebern von Theorien zu identifizieren. Sie studieren Philosophie im Nebenfach, wie ich sehe …»
«Ich wollte eigentlich wieder ins Hauptfach wechseln.» Er hätte sich auf die Zunge beißen können. Er hätte sie blutig beißen, abbeißen und ausspeien mögen.
Pittus’ Blick war fest, hart und erfasste ihn ganz: «Ach, einer von denen, die die Klausur sparen wollen. Diese Lücke in der Prüfungsordnung müssen und werden wir schließen. Aber selbst, wenn es noch geht: nein. Schlagen Sie sich das aus dem Kopf. Sie bringen die Voraussetzungen nicht mit.»
«Ich will die Wissenschaft vom besseren Leben studieren, das wollte ich schon immer.» Armins Stimme zitterte.
Pittus fasste sich an den Kopf.
«Sie können mir das bis an den Sankt-Nimmerleins-Tag auszureden versuchen.» Was war das? Wut? Wut. «Frei sein wollen heißt sich empören, und was allerdings könnte bei unrechten Zuständen besser sein?»
«Ich nehme mal an, das waren wieder Zitate des Meisters. Das zweite kenne ich sogar aus meiner sozialistischromantischen Phase.» Pittus stand auf. «Wenn man Blochs Sprache verwendet, sollte man sein Format haben. Ich hätte nicht gedacht, dass ich nochmal einen Marxisten verteidige. Das Ergebnis wird zentral gespeichert. Sie brauchen keinen Beleg. Und noch etwas: Philosophie ist die Wissenschaft vom besseren Denken, nicht vom besseren Leben. Sie studieren einem Missverständnis hinterher. Machen Sie Urlaub auf Mallorca, Ballermann. Das ist für manche das bessere Leben.»
Armin erhob sich ebenfalls, alles verschwamm vor seinen Augen, er stieß sich am Tisch.
«Das sollte ein Scherz sein, ich wollte Sie nicht kränken.»
Nur raus hier.
«Das hat man davon, wenn man großzügig ist», hörte er noch, dann schlug er die große Tür hinter sich zu.
Zum Glück war der alte Steinflur nicht erleuchtet, im Dämmer sah er vielleicht nicht ganz so zerstört aus, wie er sich fühlte.
«Lief’s nicht so?», fragte eine Stimme. Armin schüttelte den Kopf und ließ sich auf einen der herumstehenden Stühle fallen. Er studierte die Fugen der Bodenfliesen, genoss ihre rechtwinklige Ordnung.
«Ist die Frage, ob es dann fair ist, so lange zu verhandeln», sagte die Stimme. «Wir sind jetzt schon eine halbe Stunde über dem Plan.»
«Planwirtschaft», sagte Armin und musste lachen. «Fünfjahresplan oder was?» Er lachte lauter. «Planerfüllung! Plan ist erfüllt. Ausreichend erfüllt!»
Eine Tür ging auf, er musste nicht schauen, welche. «Der oder die Nächste?» Armin versuchte seinen Lachanfall zu kontrollieren, aber das wollte kaum gelingen. «Und Sie», hörte er durch sein eigenes Glucksen, «Sie gehen jetzt bitte.»
Nickend, lachend, mit Tränen in den Augen stolperte der Kandidat Hahn davon, zitternd vor Kälte an einem doch so milden Heidelberger Februartag.
Feiern hatte er wollen! Schon das Wort schien einer Fremdsprache zu entstammen. Und morgen kam Frederick, das war das Schlimmste, die Mutter starb, natürlich war das das Schlimmste. Ausreichend, das Allerschlimmste.
Jemand sprach ihn an. Was? Ach so. Eine dieser japanischen Gruppen und ein lächelnder älterer Herr, der ihn offensichtlich bat, ein Gruppenfoto zu machen. Armin nahm den Apparat und warf ihn mit aller Macht auf den Boden, ging mitten durch die empört murmelnde Gruppe hindurch.
Langsam, wirklich langsam näherte Theuer sich der Römerstraße. Im Grunde war er einfach ein halbes Jahrzehnt aus der eigenen Biographie rausgeschmissen worden. Früher ab und zu an der Ermittlung von Gewaltdelikten mehr oder weniger beteiligt, und dann ab 2001 dieser ach so innovative neue Direktor Seltmann mit seinen wohl dereinst legendären Teamstrukturen, die sich letztlich als erste zittrige Skizze eines großen Planes erweisen sollten, eines Bauplans für ein Wahngebäude, in dem der frühpensionierte Doktor nun seine Tage fristen musste. Jedenfalls waren dann die großen Fälle bei Theuer und den Seinen gelandet, auf die Tische geplumpst.
Jetzt hatte es der erste Hauptkommissar doch irgendwie geschafft. Er hatte das Revier Mitte betreten, eines dieser Gebäude, die, hochmodern konzipiert, gleich wieder veraltet aussahen, hatte den Pförtner (wahrscheinlich) ignoriert, den Fahrstuhl (offensichtlich) benutzt, die richtige Tür (hoffentlich) angesteuert, nur noch die Klinke und ja, da waren sie: der rauchende Säufer, das verwaiste Muttersöhnchen, der dicke freche Karlsruher mit verwundeter Kinderseele: Haffner, Leidig, Senf, Letzterer Nachfolger des getöteten Werner Stern, noch ein trauriges Bild. Momentan aber am traurigsten: Der Halbafrikaner mit badischem Akzent war auch da und schaute auf die Armbanduhr: Dr. Magenreuter. Sein Chef.
«Das ist aber nett, dass Sie vorbeischauen, Herr Theuer. Am Neckar ist eine Leiche angeschwemmt worden, so was kennen Sie doch?»
Yildirim saß dem leitenden Oberstaatsanwalt gegenüber und spürte bereits wieder, wie geil sie diesen kahlen Eierkopf machte. Das war ihr mittlerweile geradezu körperlich unangenehm. Nach einer Phase der Erbitterung und libidinösen Nachlassens, nachdem ihre Beziehung zu Theuer bekannt geworden war, hatte Wernz ihr leider verziehen und begehrte sie, nun da es auch für ihn hoffnungslos sein musste, nur umso unverhohlener – auch dass Staatsanwalt Mommsen, Yildirims bestgehasster Kollege, und das wollte schon etwas heißen, dabeisaß, hinderte den obersten Ankläger der Stadt nicht, ein wenig zu keuchen.
«Ja, Frau Yildirim … Das ist ja erfreulich schnell gegangen mit diesem Hundehalter. Ein Jahr ohne Bewährung, was wird aus dem Hund?»
Die Anklägerin entsann sich der Tierliebe ihres Chefs und sagte: «Der wird wohl eingeschläfert werden.»
«Ja, gut, gut, besser gesagt, ganz furchtbar … Also, weshalb ich Sie beide hierher gebeten habe, ist das Folgende: Wir haben wieder eine Wasserleiche. Diesmal hat sie sich an einem der Ankertaue des Schiffsrestaurants verfangen. Ein spindeldürrer Mann …»
«Sie meinen, wie damals der Fall mit dem Turner-Bild, das dann keines war …» Yildirim erinnerte sich gut, und Wernz wusste das.
«Ihr erster Fall damals, da haben Sie auch den Herrn Theuer …», seine Miene verfinsterte sich, «kennen- und schätzen gelernt. Sind Sie eigentlich inzwischen verheiratet?»
«Nein.»
Wernzens Miene hellte sich etwas auf. «Es ist so: Normalerweise wäre Dr. Mommsen mit diesem Fall zu betrauen …»
«Allerdings», knödelte der eifrige Kollege.
Wernz schaute noch nicht einmal in seine Richtung. «Aber angesichts dessen, dass Frau Yildirim den so fatal ähnlichen Fall damals bearbeitet hat und mit Herrn Theuer nur lose liiert ist …»
Yildirim fühlte sich zornig werden, das hatte er nicht schlecht gemacht, der Chef. Wenn sie mit Theuer zusammenarbeiten wollte, musste sie diese Relativierung im Raum stehen lassen. Plötzlich aber wurde ihr schwindelig: Wollte sie denn überhaupt mit Theuer arbeiten?
Die Szenerie ähnelte der aus dem Jahre 2001 geradezu fatal: Nebelflusen umtanzten das Schloss gegenüber, Publikum auf der Ernst-Walz-Brücke, Haffner hatte eine Fahne.
Theuer schaute widerwillig zur Leiche. Und wieder ein dürrer Mann, er hatte sogar das Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben. Zum Glück war die Leiche nicht vom Wasser aufgedunsen, was darauf schließen ließ, dass er vor nicht allzu langer Zeit ermordet worden war – Theuer hätte unpassenderweise fast gegrinst: So professionell deformiert war er also, dass er bei einem Ertrunkenen an Mord dachte – nur weil es schon einmal so gewesen war.
«Bevor ihn die Rechtsmedizin nicht untersucht hat, kann man wenig sagen.» Er wandte sich an Magenreuter, der irgendeinen Pressevertreter kräftig zusammenschiss. «Wahrscheinlich was Banales, vielleicht im Rausch von der Brücke gefallen. Ich glaube, ich kenne das Gesicht aus der Altstadt.»
«Erzählen Sie mir von der Geschichte vor fünf Jahren[*]», sagte der neue Polizeidirektor. «Ich mag absolut keine solchen bedeutungsschwangeren Zufälle.»
«Es sind vier Jahre», mischte sich Leidig ein, aber Theuer war ja eigentlich gottfroh, wenn er nicht reden musste.
«2001 wurde eine Wasserleiche ohne Papiere gefunden. Ihr Vorgänger wollte die Sache klein halten, aber wir haben herausgefunden, dass der Tote ein Turner-Bild gefälscht hatte. Für seinen Liebhaber, der seinerseits mit seiner Kunstgeschichtsprofessorin ein sadomasochistisches Verhältnis hatte und sie dahin manipulierte, die Echtheit des Bildes zu testieren.»
«Der hat ihr», versuchte Haffner die Sache zu präzisieren, «Wäscheklammern an die Elefantentitten gepfetzt und so.»
«Danke.» Magenreuter nickte traurig. «Danke, Herr Haffner.»
Inzwischen waren sie wieder im Revier, Yildirim war dazugestoßen. Magenreuter hatte den ersten Fall des Teams so weit verstanden, auch die Art und Weise, wie er gelöst worden war.
«Das heißt, Sie haben sofort, augenblicklich, quasi mit dem ersten gemeinsamen dienstlichen Akt gegen alles verstoßen, was man sich so vorstellen kann. Es ist einfach unglaublich.»
Haffner nickte mit feuchten Augen. «Das waren noch Zeiten. Wisst ihr noch, wie wir damals beim Chef am Schluss gesoffen haben? Aber richtig gesoffen haben wir! Weißt du noch, Senf?»
«Ich war noch nicht dabei», entgegnete Senf schlicht. «Aber du hast davon erzählte. Etwa dreiundzwanzigmal.»
Theuer starrte auf ihre dahinkümmernde Topfpflanze und fragte sich, warum sie dieses tat und nicht einfach längst restlos verdorrt war. Niemand goss sie, Haffner drückte seine Kippen mitunter auf den fleischigen Blättern aus, ohnehin atmete er sie häufig an, was eigentlich zum Tod eines jeden Lebewesens führen musste. Und wie hieß die Pflanze? War das ein Gummibaum, wie er sich zu erinnern glaubte? Das musste er unbedingt herausfinden, solange er noch Beamter war.
«Ich kenne den Toten», sagte Leidig zögernd. «Wir haben doch damals in der Floringasse Willys Wohnung gefunden.»
«Ich erinnere mich», sagte Senf blöde.
«Haben unten in der Weinstube die …»
«Besatzung hochgenommen, genau», schrie Haffner. «Eine richtige Besatzung war das», erläuterte er in Magenreuters Richtung und entkorkte nebenbei routiniert ein Produkt, das er wohl im Laden des nahen Stift Neuburg, Heidelbergs verwaisendem Benediktinerkloster, erworben hatte, Theuer erkannte Mönchsgewänder auf dem Etikett und las «Weingetränk mit Artischockenextrakt zur Stärkung der Leber».
Haffner schien endlich vernünftig zu werden.
«Stern hat da mit einem gesprochen», nahm Leidig den Faden wieder auf, «der ein Antiquariat in der Ingrimstraße hatte, und der hieß Kohl.»
«Ich habe mal auf das Wahlplakat von einem gebrunzt, der hieß auch Kohl», jubelte Haffner nach den ersten, anscheinend stärkenden Schlucken.
Magenreuter schaute müde zum wüsten Pfaffengrunder. «Herr Haffner, Sie haben es zwar über die Jahre geschafft, Ihr aberwitziges Trinkverhalten sozusagen durchzusetzen, aber da war ich noch nicht da. Es gibt Alkoholprogramme für Kollegen, die …»
«Ja, ich weiß, für Alkoholiker», nickte Haffner. «Aber ich bin ja keiner.»
«Worin unterscheiden Sie sich von einem?», fragte Magenreuter und rieb sich die Stirn. Theuer schoss der Gedanke – er konnte sogar sagen, woher, nämlich von halb links hinten – in den Kopf, dass ihm nun nach Monaten erst wieder auffiel, dass sein neuer Chef ungeachtet seines badischen Namens schwarz war. ‹Ein Neger›, ergänzte wenig korrekt sein Innerstes.
«Alkoholiker haben so Gruppen, wo sie hingehen», erläuterte Haffner. «Und da sagen sie dann: Ich bin Detlev, und ich bin süchtig nach Alkohol, Valium, Hustinetten und Pfennigabsätzen im Arsch. Das ist nichts für mich.»
«Natürlich.» Yildirim schaltete sich ein. «Und ich hätte fast die gelackten mit Pfennigabsätzen angezogen, Herr Haffner! Wenn wir jetzt vielleicht Herrn Leidig …»
«Ja, viel mehr ist nicht», setzte der leicht gekränkte Leidig erneut an. «Aber es ist doch seltsam, dass einer aus dieser damaligen Geschichte so ähnlich zu Tode kommt wie das erste der damaligen Opfer, oder?»
Alle nickten, und das sah hinreißend blöde aus.
Leidig hatte recht, der Tote hieß Werner Kohl und hatte bis zu seinem Ableben ein Antiquariat besessen, das aber eigentlich nur noch der Pflege seiner Lebenslüge diente. Die ersten Befragungen in der Nachbarschaft zeichneten das Bild eines Wracks, dem es gerade noch gelungen war, morgens zwei Stunden größenwahnsinnig zu sein, bevor die ersten Flaschen entkorkt wurden.
«Verkauft hat der gar nichts mehr», sagte eine ältere Frau, die über dem Antiquariat lebte und sich als Künstlerin bezeichnete. Auf Theuers freundliche Frage, welcherart Kunst denn ihre sei, war die Antwort gewesen: Überhaupt keine mehr, seit Jahrzehnten, dies sei aber Teil ihres künstlerischen Konzepts.
Die von Magenreuter befehligten Fußtruppen hatten mehr oder weniger die halbe Altstadt ins Revier gekarrt, hier glich Kohl nämlich dem toten Willy nochmals: Jeder kannte ihn, kaum einer richtig, familiären Anhang gab es keinen. Allerdings hatte er Ausweis, Schlüsselbund, Papiere bei sich, und das nahm dem Fall eine allzu bedrückende Ähnlichkeit. Dennoch war es dem schweren Ermittler schon wieder ein wenig übel angesichts der dummen Reden, und der Feierabend schien noch weit. Selbst schon eine Zeit Altstädter und mithin quasi Intensivheidelberger, konnte der erste Hauptkommissar den vielen Lebenskünstlerdarstellern des Viertels nach wie vor so gut wie nichts abgewinnen.
«Ich bin Jurist», hörte er einen sagen. «Jurist und Weinhändler.»
«Und wo haben Sie Ihr Geschäft?», fragte Haffner gierig.
«Gar keines zurzeit. Bedanken Sie sich bei den Aldi-Brüdern, die sind Deutschlands größter Wine-Dumper …»
(Noch vor dem Einschlafen hörte Theuer diesen dummen Anglizismus in sich herumirren und musste stöhnen.)
«Ich bin Verleger.»
«Ihr Firmensitz?»
«Meine Wohnung und das Café Burckhart.»
«Ich bin nur noch selten in Heidelberg. Ich lebe die meiste Zeit des Jahres in der Bretagne. Beruf habe ich keinen, will ich auch keinen.»
Einer mit mongolischem Gesichtsschnitt sagte, er sei Schamane und man dürfe ihn keinesfalls berühren. Haffner griff dem geheimnisvollen Mann schwungvoll in den Schritt, woraufhin der Schamane sagte, dies sei die Ausnahme, in der Tat, an der Nudel könne man schon mal zupfen, woher Haffner das wisse, ja, der Polizist habe vermutlich das dritte Auge.
Kurze Pause: «Ich hätte lieber die zweite Leber und von mir aus nur ein Auge und drei Lebern. Das war ein Ding, dass ich dem da reingezwickt hab …»
«Hören Sie», hauchte Magenreuter, der gebeugt am Fensterbrett hing und traurig die geschlossenen Jalousien einer gynäkologischen Praxis gegenüber betrachtete. «Ich habe bei der Gelegenheit dasselbe gefühlt wie als Kind, als ich beim Radfahren von einem Lkw gerammt wurde. Dieser schwebende Moment, wenn man weiß, jetzt passiert gleich etwas Furchtbares, aber noch ist es nicht so weit. Ein winziger Moment, eine Prise Zeit, seltsamerweise ein beinahe schönes, auf jeden Fall großes Gefühl. Da fasst einer meiner Beamten einen Zeugen mit Migrationshintergrund vor weiteren Zeugen mit immerhin Augen im Kopf in den Schritt. Einfach so. Und was passiert? Nichts. Ich verstehe diese Stadt nicht.»
«Ach, alles halb so wild», lachte Haffner und schlug Magenreuter unangemessen hart auf die Schulter. «Wir kennen den alle. Von wegen Schamane, der Vater war Koreaner. Und in Wirklichkeit ist er übrigens eine Frau.»
Magenreuter seufzte ergeben.
Theuer kannte den oder die keineswegs, sagte aber ebenfalls nichts. Sodass es auf einmal still war.
Zehn Uhr, der erste Hauptkommissar war müde. «Wie viele haben wir noch?»
Magenreuter straffte sich. «Sind noch einige draußen, aber vielleicht nehmen wir nur noch das alte Weiblein, das ich vorhin gesehen habe, damit sie’s hinter sich hat. Die anderen müssen halt nochmal wiederkommen. Was ist unser derzeitiger Stand?»
«Dass Herr Kohl ertrunken ist», sagte Senf würdig.
Es gab erhebliches Gemurre unter der anwesenden Zeugenschar, man habe schließlich zu tun, und noch ein halber Tag auf dem Revier gefährde letztlich die Existenz und ob der mit dem Schnurrbart, der die ganze Zeit rauche, bitte aufhören könne zu schreien.
Die alte Dame, die ihnen schließlich gegenübersaß, war dann aber eine wirklich erfreulich unprätentiöse Gesprächspartnerin, einfach nur eine zusammengerutschte pensionierte Grundschullehrerin. Den aufgehellten Mienen der Polizisten war zu entnehmen, wie angenehm das im Vergleich zum Maulheldensyndikat war.
«Sie wohnen also in der Floringasse?», fragte Theuer. «Schräg gegenüber von der Weinstube?»
Die alte Dame nickte. «Therese Guttinger heiße ich, und ich werde im Sommer 81!», ergänzte sie stolz. Theuer, dem diese Daten vorlagen, nickte trotzdem anerkennend. «Donnerwetter, Sie haben sich aber gut gehalten!»
Guttinger spitzte kokett ihre welken Lippen.
«Ja, Frau Guttinger», auch Magenreuter klang entspannt. «Können Sie uns etwas über Herrn Kohl sagen?»
«Aber gewiss doch!» Die alte Dame nickte energisch. «Wenn man in so engen Verhältnissen lebt wie in diesem Teil der Altstadt, können Sie die Blähungen der gesamten Nachbarschaft statistisch auswerten.»
«Hoho!», lachte Haffner. «Na na, Großmütterchen!»
Sie schickte ihm einen vernichtenden Blick. «Junger Mann, 1958 hat Bill Haley als erster Rock ’n’ Roll-Musiker Europa bereist. In Deutschland ist er in Berlin aufgetreten. Es gab Krawalle. Ich war dabei. Ich habe einen Stuhl zertrümmert und mit seinem Kontrabassisten geschlafen. Bitte, behandeln Sie mich entsprechend.»
Haffner nickte in einer Demut, die Theuer bei seinem Wüterich all die Jahre noch nicht wahrgenommen hatte.
«Und alles das mit Billigung meines Mannes», fuhr sie stolz fort. «Wir waren Existenzialisten, ich bin es noch.»
«Und Ihr Mann?», fragte Leidig seltsam aufgeregt.
«Ist tot», sagte sie. «Seit fünfzehn Jahren. Mir reicht die kleine Wohnung, die ich habe. Ich bin schnell auf dem Markt und in den anderen Geschäften.»
«Kohl …», insistierte Magenreuter vorsichtig.
«Ach, er hat mir leidgetan!» Die alte Dame lächelte. «Er hat auf mich immer wie ein Kind gewirkt, das per Hexerei in einen erwachsenen Körper gesteckt wird. Dieses Antiquariat! Am Schluss hat er drin gewohnt. In Wirklichkeit war das Erbe seiner Eltern durchgebracht, und wenn er im Suff gerade noch lallen konnte, musste er noch betonen, dass er vierzig Sprachen spreche.» Sie schüttelte den Kopf.
«Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?», fragte Senf.
Guttinger zuckte mit den Schultern, was ein ziemlich verheerendes Knacken ertönen ließ. «Na, meine Augen sind nicht mehr die besten, aber ich denke mal, als er heute Morgen ins Wasser geworfen wurde, wenn er es denn war.»
Plötzlich war keiner mehr müde.
Obwohl die Zeugin ihnen allen sympathisch war, zwang sich Theuer doch zu ein wenig Strenge, betonte, das hätte sie früher, ja sofort sagen müssen, und erntete ein skeptisches Nicken.
«Wissen Sie, ich finde, die Alten wollen oft genug als Erste reden. Ich bin mir ja gar nicht sicher! Wie gesagt, ich sehe nicht mehr gut. Ich wache normalerweise sehr früh auf und gehe dann ein bisschen spazieren, mein Mann ist, wie gesagt, tot, die einzige Tochter ist uns vor dreißig Jahren verunglückt. Wovor soll ich mich fürchten? Wenn ich so um halb acht draußen herumlaufe, ist die Stadt noch leer, im Winter ist es zwar dunkel und kalt, aber ich habe es immer gemocht, Wege für mich allein zu haben. Öfters mal ist mir Herr Kohl da begegnet und hat dann so getan, als drehe er auch seine Runde. In Wirklichkeit ging er zum Bahnhof, um billigen Cognac zu kaufen, oder er kam sogar erst nach Hause, von irgendwelchen wüsten, öden Gelagen.»
«Na ja», murmelte Haffner. «Müssen ja nicht öde gewesen sein, ich meine, was ist schon öde daran, wenn man mal …»
Theuers Blick genügte, das wunderte den Ermittler – dass er immer noch Autorität besaß, wo er doch nun bald ebenfalls Rentner würde.
«Heute Morgen bin ich in der Nähe des Wehrs spazieren gegangen, zwischen sieben Uhr dreißig und acht. Und da glaubte ich ihn zu sehen, ein anderer Mann war bei ihm. Hat ihn plötzlich gepackt und ins Wasser geworfen …»
«Von wo aus haben Sie das beobachtet?» Magenreuter erhob sich halb und verharrte sichtlich jagdlustig in dieser athletischen Position.