Der Keltenkreis - Carlo Schäfer - E-Book

Der Keltenkreis E-Book

Carlo Schäfer

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Beschreibung

Mord im Heidelberger Bahnhofsviertel Auf offener Straße wird spätabends ein Mann erschossen. Die Zeugenaussagen sind vage. Sie beschreiben einen verwahrlost aussehenden Mann, der geflüchtet sei. Für Polizeidirektor Seltmann ist die Sache klar: Der Mörder ist der «Plasmamann», der stadtbekannte, bisher als völlig harmlos geltende Irre. Und der ist spurlos verschwunden. Doch Hauptkommissar Theuer misstraut sich selbst, noch mehr Seltmann, am meisten aber einfachen Lösungen. Ehe er noch anderen Spuren nachgehen kann, geschieht ein zweiter brutaler Mord. Der melancholische Ermittler muss schleunigst den Plasmamann finden, wenn er und sein skurriles Team ihre Jobs behalten wollen ...

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Carlo Schäfer

Der Keltenkreis

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

«Spannung bis zur letzten Seite.»

Badische Neueste Nachrichten

 

Mord im Heidelberger Bahnhofsviertel

 

Auf offener Straße wird spätabends ein Mann erschossen. Die Zeugenaussagen sind vage. Sie beschreiben einen verwahrlost aussehenden Mann, der geflüchtet sei. Für Polizeidirektor Seltmann ist die Sache klar: Der Mörder ist der «Plasmamann», der stadtbekannte, bisher als völlig harmlos geltende Irre. Und der ist spurlos verschwunden. Doch Hauptkommissar Theuer misstraut sich selbst, noch mehr Seltmann, am meisten aber einfachen Lösungen. Ehe er noch anderen Spuren nachgehen kann, geschieht ein zweiter brutaler Mord. Der melancholische Ermittler muss schleunigst den Plasmamann finden, wenn er und sein skurriles Team ihre Jobs behalten wollen ...

 

«Voller Wortwitz und äußerst unterhaltsam.»

Mannheimer Morgen

Über Carlo Schäfer

Carlo Schäfer wurde 1964 in Heidelberg geboren, wohin er nach Kindheit und Jugend in Pforzheim zum Studium zurückkehrte. Er jobbte als Hilfsgärtner, Nachtportier, Cartoon-Texter, war Lehrer für deutsche Spätaussiedler und Mannheimer Hauptschüler aus vielen Ländern sowie Hochschuldozent.

2002 erschien im Rowohlt Taschenbuch Verlag sein Romandebüt «Im falschen Licht». «Der Keltenkreis» ist der zweite Fall des Theuer-Teams.

Inhaltsübersicht

Der zweite Roman ...Für Dorit und ...Er besaß im ...I. Plasma1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. KapitelII. Unsichtbar13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. KapitelEpilog

Der zweite Roman um den Ersten Hauptkommissar Johannes Theuer bietet dem Autor die Gelegenheit, seine Dankbarkeit gegenüber der realen Heidelberger Polizei, dem wirklichen Polizeidirektor, der echten Staatsanwaltschaft zum Ausdruck zu bringen. Alle Genannten und viele andere, die hätten beleidigt sein können, waren in der Lage, Fiktion und Wirklichkeit zu trennen, und haben nobel reagiert – nämlich gar nicht.

Denen, die sich mit solcher Zurückhaltung schwerer tun, sei versichert, dass alle Lebewesen, ihre Namen, Tätigkeiten, Gebrechen und Handlungen in den Theuer-Romanen ausschließlich erfunden sind, dass Ähnlichkeiten mit realen Ereignissen oder Personen, am Ende Hunden, rein zufällig sind.

 

C.S., Mai 2003

Für Dorit und Robbi

Er besaß im Übermaß die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Ihm war manchmal, als kröche er in eines anderen Haut, schaute durch dessen Augen, hörte dessen Stimme, wie man seine eigene hört, vertraut, nah. Aber auch, als spräche er diese Stimme, als wäre sie also ganz seine. Er fand im Anderen seines.

Wenn er sprach, versuchend, er selbst zu sein, ging es ihm nicht so. Er verfehlte dann die beabsichtigte Bedeutung um ein Winziges, das ihn dennoch schmerzte. Das eigene Wort, mit dem er täuschen wollte, erzählte stattdessen – zumindest fürchtete er das immer – genau das, was er zu verbergen versuchte.

Wenn er jemanden hasste – und er hasste viele –, dann konnte es geschehen, dass ihm die gespielte Freundlichkeit gänzlich misslang, dass der blanke Hohn schon in der Begrüßung zutage trat. Wenn er jemanden mochte – das gab es auch einmal –, dann gerieten ihm die Worte triefend, sentimental, wirkten unterwürfig und kindisch.

Das passierte nie, wenn er in der Rolle eines anderen war, sich in einen fremden Leib geschraubt hatte. Dann gelang ihm Satz um Satz, saßen die Pointen, lasteten die Pausen schwer, perlten die Sentenzen des beiläufigen Gesprächs dahin. Er konnte er selbst sein, wenn er nicht er war.

Für ihn war sicher: Das verband ihn mit allen anderen Menschen. Die Lüge, was konnte sich mit der Lüge messen? Einen Satz, der wahr sein will, kann man interpretieren, zerlegen, zermahlen. Die Lüge ist nur sie selbst.

Ob er sich nun irrte oder nicht, was das Verhältnis anderer zur Wahrheit betraf – mehr als die Lüge verband ihn nicht mit der Welt, das war schon richtig.

Als er klein war, vor Unzeiten, dachte er sich einen Jungen aus, den er Laurent nannte. Einen Jungen, den er sich in ständig wechselnder Gestalt, an den verschiedensten Orten, in immer völlig anderen Zusammenhängen vorstellte. Nur der Name hielt diese Figur zusammen, hinreichend, dass er sogar von ihm träumte. Dann war Laurent klein, altbacken gekleidet und hatte einen frechen grünen Blick unter struppigen Haaren.

 

Die Türglocke läutete.

Sie kam herein.

«Wir haben telefoniert?»

«Ja, guten Tag. Ich bin Laurent.»

Sie hatte inseriert, sie stehe für phantasievolle Rollenspiele zur Verfügung. Da hieß es, sich keine Illusionen zu machen. Das Äußerste an sexueller Kreativität war vielfach, sich in Latex einzuschnüren und bessere Faschingsmasken zu tragen. Er konnte sich andere, unerhörte Szenarien vorstellen. Aber er war ja nicht er, sondern Laurent, und der war scheu, nervös und ein wenig geil, schaute verstohlen auf den Busen der Besucherin.

«Ich bin die Chris, hallo.»

Sie gab ihm die Hand.

«Hab das noch nie gemacht», sagte er leise.

«Kein Problem», sie lächelte mechanisch. «Wir können alles besprechen. Was du willst und was ich anbiete. Es soll dir Spaß machen.»

 

Er betrachtete sie lange. Sie lag nackt vor ihm, halb abgewandt. Ihr Arm bewegte sich rhythmisch, fuhr auf und ab, Teil einer Maschine.

«Ich möchte nicht, dass du das tust.»

Er legte verhaltene Verzweiflung in seine Stimme. Fast war er über sich selbst gerührt. Es gelang ihm, augenblicklich zu weinen.

«Gefällt es dir nicht?»

«Nein, das ist es nicht … Ich habe gedacht, es bringt mir etwas zurück. Etwas, das ich verloren habe … Es kommt nicht zurück. Ich missbrauche dich nur …»

«Du darfst ruhig sagen, was du haben möchtest. Ich mach sowieso nichts, was mir zu arg ist. Willst du es anders? Willst du, dass ich tanze?»

Das merkte er sich. Da lugte doch hervor, dass sie sich möglicherweise zur Kunst, zu Höherem berufen fühlte. Er musste sie ganz erkennen. Und er würde erfolgreich sein – bei ihr, bei der Nächsten, bei irgendeiner.

«Ich will …» Er brach kalkuliert ab, jeder, die dümmste Kuh würde kapieren, welch schlichtes Alltagsglück er wünschte. Sein Zustand machte es den Menschen so herrlich einfach, sich sensibel zu fühlen.

Durch den Schleier wohldosierter Tränen sah er, wie sie sich mit angezogenen Beinen an die gegenüberliegende Wand setzte, nackt wie sie war. Er verfügte über die Erfahrung, dass es einen winzigen Unterschied machte, ob sie sich gleich wieder anzogen oder nicht, sogar bei ihnen.

«Ich war einmal anders», keuchte er schließlich. «Es ist dieses Gefängnis, in dem ich stecke.

Es tut mir Leid.

Vielleicht können Sie mir noch ein wenig Gesellschaft leisten?

Ich habe doch niemanden zum Reden.»

Sie stand auf und griff nach ihrer Wäsche, aber nicht wie eine, die gleich gehen will. Mehr als Slip und BH, beides künstlich glänzende Spitzenmodelle der eher niederen Klassen, zog sie nicht an.

Er sah Schneeflocken vor dem Fenster tanzen. «Hier ist es so dunkel, es ist so kalt draußen. Ich bin immer alleine.»

Herrliche B-Film-Prosa. Sie trat zu ihm und lächelte. Jetzt aus der Nähe war er sich sicher, dass sie noch älter war, als sie auf ihrer Homepage behauptete. Also log sie. Natürlich log sie.

«Na, was willst du denn loswerden? Hier drin ist es ja jedenfalls nicht kalt.»

 

Der Anfang war gemacht, schon beim fünften Versuch.

Eine hatte vor ihm ausgespuckt.

Eine hatte versucht, ihn mütterlich zu masturbieren – er hätte nicht sagen können, was ihn mehr anwiderte.

Nummer drei war zu dumm und trostlos gewesen, hatte folgsam die Beine gespreizt und gezeigt, dass sie genau das gerne machte, wofür er bezahlte, und die vor zwei Wochen hatte gelacht und gemeint, er müsse zufrieden sein mit dem, was er bekäme.

«Ich heiße nicht Laurent», sagte er wie unter großem Schmerz. «Laurent war ein kleiner Junge mit schwarzen Haaren und frechem grünem Blick. Er wäre heute sechzehn. Ein Nachbarsjunge, er ist gestorben.»

Er überlegte, ob das eine zu kühne Wendung war, aber es schien schon richtig so.

«Erzähl ruhig, wenn dich das erleichtert», sie nahm sich einen Hocker und setzte sich neben ihn. Er schaute wie betreten zu Boden und musterte ihre Füße. Sie war mindestens zehn Jahre älter als angegeben, so knotig, wie die aussahen. Er stellte sich vor, wie sie nach etlichen wüsten Nummern mit müdem Becken an der Aldi-Kasse anstand. «So viele wollen doch eigentlich nur reden.»

Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, er wollte mittelfristig keineswegs nur ein Gespräch von ihr.

 

In der nächsten Woche war sie wieder da. Sie unterhielten sich lange. Er hatte Kaffee gemacht. Sie hatte gelächelt, strahlend diesmal, als sie die schrundig getöpferte französische Riesentasse mit beiden Händen zum Mund führte. Diesmal hatte sie viel erzählt. Das war genauso geplant. Ihr gütiges Statement, dass viele reden wollten, hatte ihn bewogen, so weiter zu verfahren. Die Art, wie sie es gesagt hatte, diese Nuance, Überzeugung und Wunsch in winziger Mischung, die bedeutete, dass es ihr nicht anders ging. Sie sprachen, bis tief in die Nacht. Jede Stunde legte er einen neuen Schein auf den Tisch. Sie nahm alle, aber beim dritten zögerte sie.

Sie erzählte die übliche Soße. Menschliche Biographien, die verworfenen zumal, erinnerten ihn manchmal an das Stakkato eines Technostroboskops.

Nicht – so – geboren – Vater – früh – tot – kein – Geld – Schulabbruch – dann – die – Mutter – krank – kein – Geld – Party – Gevögel – Spaß – am – Sex – Mutter – tot – Spaß – am – Sex – kein – Geld – Party – Gevögel – einer – fragt – für – Geld?

Darüber brach die fünfte Stunde an und mit sicherem traurigem Ton sprach er es aus.

«Ich gebe dir jetzt kein Geld. Nicht, weil ich keines mehr habe» (er hatte keines mehr), «sondern weil du es nicht verdienst, eine zu sein, die bezahlt wird.»

Sie blieb noch zwei Stunden, einfach so, wie eine Freundin, sagte sie.

So hatte er sie schon gezähmt.

Jetzt begann die Dressur.

Die Kunst der Dressur besteht darin, zu erkennen, welches Kunststück im Vieh angelegt ist. Der gute Dompteur hält den Löwen thronend auf Abstand und lässt sich vom Hündchen durch die Manege begleiten.

Der schlechte probiert es genau einmal umgekehrt.

I. Plasma

1

Der Erste Hauptkommissar Johannes Theuer ging müde den Kiesweg entlang. Ein großes Rind, nur durch den Stacheldraht von ihm getrennt, trottete neben ihm her. Die Weide des Bauern war zwanzig Meter vom alten Fachwerkhaus entfernt, wo er und seine Freundin Renate Hornung sich für zwei Wochen eingemietet hatten. Ein Ort, wie für Theuer gemacht: Der Weg, auf dem er gerade spazierte, gehörte zum Grundstück. Allein achthundert Meter waren es vom Gatter zum Haus, das man von der Straße aus nicht sehen konnte. Allein sein, wirklich allein, in einem riesigen Garten, gemischt aus Alt und Neu, verwunschen und gepflegt, wie sich der Heidelberger Ermittler die ganze Welt wünschte. Gelegentlich brach ein Kalb aus und rannte verwirrt übers Grundstück. Nach erster Angst davor war dem Kommissar aufgefallen, was man sich ohnehin hätte denken können: Für ein beschränktes Kalb war er ein großes drohendes Wesen, vor dem man abhaute.

Für das Rindvieh im Dämmer seiner schlichten Rasse war er das nicht. Noch immer lief es an seiner Seite, groß, dumm und treu.

Jetzt kamen sie zur kleinen Baumgruppe, die Kuh blieb stehen. Es war mild. Der Abendhimmel dunkelte ein, fast türkisfarben. Der Kommissar hatte gesagt, er brauche Bewegung, aber eigentlich wollte er nur alleine sein.

Alles war schön, nicht nur das Quartier: Die Normandie, von der er keinerlei Vorstellung gehabt hatte, erwies sich als vollkommen für ihn: warme Tage, kühle Nächte, kleine Fachwerkflecken mit billigen Gasthäusern, in denen man ständig damit rechnete, Jean Gabin käme von der Toilette. Aber dem Kommissar wollte sich kein Glück einstellen.

Seine Freundin und er hatten sich viel von der gemeinsamen Zeit versprochen. Letztes Jahr waren sie durch eine große Krise gegangen. Im Zuge einer Ermittlung, die den Anfangsfünfziger, der eigentlich davon ausgegangen war, bis zur Pensionierung mehr oder weniger nichts mehr zu tun, ums Haar das Leben gekostet hätte, gelang es ihnen, wieder zueinander zu finden.

Aber auch, so dachte er zunehmend, weil halt was los gewesen war. Das kurze wilde Leben hatte sie aneinander geschubst.

Und nun: alle Tage Alltag, was ihn doppelt deprimierte: erstens sowieso, zweitens die zunehmende Erkenntnis dessen: Selbst Mörderjagd wird Alltag, und der würde ihn immer weiter bedrücken.

Reife Leistung eines halben Jahrhunderts.

Sie hatten an Ostern drei herrliche Tage im Piemont verbracht und in den Wochen bis zum Sommer davon gezehrt. Dann Herbst – großes Rumoren in der Welt, das ihn schon wieder wenig erreichte. Winter und die Hoffnung auf danach. Winterliche Gefühle im Frühjahr und die wilde Zuversicht: Wenn wir verreisen und mal so richtig Zeit haben, wird das wieder anders.

Da waren sie. Einsam zwischen zwei Städtchen, Cormeilles und Beuzeville, inmitten strotzender Natur und zugleich auf einem letzten Vorposten der Galaxie, irgendwo in der Dunkelheit und Kälte des Pluto.

Sie bekamen schnell Streit. Hornung kannte jede Pflanze im Areal und fand es ersprießlich, ihn zu belehren. Das Stadtkind Theuer konnte gerade noch Obst- von Nadelbäumen unterscheiden und wollte es damit belassen. Seine Freundin verlangte gotische Gemäuer zu besichtigen, er genoss es, im Wind zu sitzen und sich einen kleinen Schwips nach dem anderen zu gönnen. Wenn ihm nächtens das Fleisch wuchs, schlief sie schon, und wenn sie wollte, konnte er nicht.

Theuer lehnte es ab, sich in all dem Dumpfen auch noch von der Natur unter Druck setzen zu lassen, das erschien ihm gleichsam unfair, zwei gegen einen. Trotzdem: Im Frühling hatte es zu knospen und zu sprießen, allüberall. Stattdessen welkte es zwischen ihnen, und er war ein letzter schrumpliger Apfel, vom Baum plumpsen und verfaulen, auch eine Perspektive.

Alles machte ihn melancholisch: der kleine tote Maulwurf nach dem Regen am dritten Tag, das verrostete Kinderfahrrad, dem die Tochter der Besitzer entwachsen war. Wenn er nachts deutsche Sender über Satellit sah, belämmerten ihn sogar die Berichte von den Verletzungssorgen der deutschen Nationalmannschaft. Die würden in Asien ganz schön Senge kriegen. Er musste dazu nur ins Nachbarland verreisen.

Johannes Theuer war am Gatter angekommen. Verstohlen nahm er den kleinen Armagnac-Flachmann aus der Jackentasche und lehnte sich auf das Tor wie ein Rentner auf seine Fensterbank. Gegenüber, jenseits des kleinen asphaltierten Sträßleins, erstreckte sich ein Acker. Dahinter sah man den Schatten eines Getreidesilos, dieses wiederum hatte er auch vom Parkplatz am Marché in Beuzeville gesehen, demnach lag das Örtchen in dieser Richtung. Für ihn eine beachtliche Orientierung nach sechs Tagen, und er ärgerte sich trotzdem, denn er wollte nichts wissen, nichts lernen und möglichst nicht der Theuer sein.

Schatten von hinten rechts, er fuhr herum, die Kuh stand da und glotzte ihn an.

Er steckte den Schnaps wieder ein, kurioserweise schämte er sich vor dem Tier. Er kehrte um.

Immer ersehnte er sich eine Art Erholung, da er aber gar nicht genau wusste, wovon – um die Arbeit konnte er sich normalerweise ganz gut drücken –, fand er auch kein Wodurch.

Wieder passierte der Kommissar das kleine Waldstück. Es war fast dunkel, und so sah er seine Freundin nur am Glimmen der Zigarette entgegenkommen. Eigentlich rauchte sie selten, keineswegs täglich, in diesem Urlaub war es mehr. Hier konnte ja eine Analogie zu seinen recht gewissenlos eingenommenen Anisdrinks im hellen Mittagslicht vermutet werden, aber auf solch einen feinen Gedanken kam der Kommissar nicht. Wenn ihm düster zumute war, vernachlässigte er seine Mitmenschen. Das wenigstens wusste er, und es machte ihn noch trüber gestimmt. Weiter auf der nach unten offenen Theuer-Skala, einer, um das Nichts zu messen.

«Dir ist aber schon klar, dass du spinnst, Johannes?» Hornung klang heiter, aber man ahnte, dass es eine flüchtige Heiterkeit war, die es nun einzufangen und zu bewahren gälte. Das machte der Ermittler prompt ganz ausgezeichnet: «Du rauchst ja schon wieder.»

Hornung blieb stehen. In der Dunkelheit konnte er ihren Gesichtsausdruck nicht lesen, aber die Stimme klang sehr eindeutig: «Hundert Punkte, Theuer. Wir sitzen beim Abendessen. Ich habe gekocht. Vielleicht nicht umwerfend gut, aber immerhin. Dann frage ich dich etwas, was ich gar nicht wiederholen möchte, nur so viel: Als Dreizehnjähriger wird man rot, wenn man ein solches Angebot erhält. Du aber hörst nicht zu, stehst auf, gehst zu deinem Waschbeutel, der seit unserer Ankunft zu meiner Verwunderung auf der Kommode neben der Eingangstür steht – aber man lässt seinem Partner, dem reiferen zumal, ja gerne seine Macken – nestelst senil herum …»

«Na, na», rief Theuer, «ich bin gerade erst 53 geworden! Im März.»

«Im Februar, du weißt nicht einmal deinen eigenen Geburtstag. Ich wiederhole daher und ohnehin: senil. Und ich kann das begründen. Du bemerkst nämlich nicht, dass an der Wand ein Spiegel hängt und ich also genau sehe, dass du deinem Beutel ein Schnapsfläschchen entnimmst. Dann sagst du irgendetwas von frischer Luft und gehst raus. Ich höre dich die Außentreppe hinunterstapfen, und vor allem höre ich, dass du das Laternenlied singst.»

«Welches Laternenlied?» Theuer war ehrlich entsetzt.

«Na, ‹Ich geh mit meiner Laterne und meine Laterne mit mir …›»

«Ra bimmel, ra bammel, ra bum», ergänzte der blamierte Kommissar in unbegabter Intonation. «Ich hab doch gar keine Laterne …»

«Macht die Sache nicht verständlicher … ach, Mann», sie drückte sich an ihn. «Schau mal die Sterne …»

Theuer blickte nach oben, sah eine tiefblaue, wenn nicht schwarze Fläche mit jeder Menge kleinen weißen Löchern.

«Umwerfend», versuchte er es. «Und dahinten schimmert noch ein Rest von der Sonne …»

«Das ist Le Havre, du willst doch nicht sagen, dass dir bei keinem der aberwitzigen Sonnenuntergänge, seit wir hier sind, auch nur der Ort am Horizont aufgefallen ist … Schlaf mit mir, hier im hohen taunassen Gras, wie verstohlene Teenies, und dann trinken wir deinen Schnaps und kriegen Blasenentzündung und lassen uns von einem kettenrauchenden Landarzt krankschreiben und bleiben noch drei Monate …»

Aber es ging nicht. Theuer schämte sich vor der Kuh.

2

Die wenigen, viel zu wenigen Zeugen hatten jeweils eines ganz genau gesehen: Gestern Nacht war ein Mann durch einen Schuss ins Gesicht getötet worden. Das war geschehen in der an sich belebten Mittermaierstraße in Nähe des Bahnhofs, aber am späten Abend ist Heidelberg dann doch eine kleine Großstadt, viel zu wenige, viel zu wenige Zeugen.

«Gesehen haben sie einen Mann, also noch einen, außer dem Opfer. Viel exakter wird’s nicht. Unser erster Zeuge berichtet von Mündungsfeuer. Ein dunkel gekleideter Mann sei weggerannt. Die zweite Aussagende hat ebenfalls den dunklen Mann gesehen, ist sich aber nicht sicher, ob er geschossen hat. Auch der dritte Zeuge nennt diesen Mann, der habe geschossen. ‹Tausend Prozent.›

Der Verdächtige sei Richtung Ernst-Walz-Brücke weggerannt. So viel wissen wir und nicht viel mehr. Tatzeit: Donnerstag, 16. 5. gegen 23 Uhr. Der zu Suchende ist verwahrlost, langhaarig und bärtig. Haarfarbe schwarz, aber nachts sind alle Katzen grau.»

Der leitende Oberstaatsanwalt Wernz ließ seine Manufactumkladde sinken und blickte seine beiden Untergebenen an, als habe er soeben einen letzten Aufruf aus dem Führerbunker verlesen.

Bahar Yildirim, einzige Staatsanwältin Heidelbergs mit türkischer Abstammung – weckte man sie nachts um drei, sie würde ihren Namen mit diesem Zusatz herunterrasseln –, schwieg. Das war erfahrungsgemäß die beste Methode, ihren Chef vom hohen Ross zu stoßen. Aber sie war nicht allein.

Neben ihr saß der neue Kollege, Dr. Frank Momsen, der neue, DER neue Kollege. Seit ersten April war er da, Mitte April waren sämtliche Akten auf alphabetische Linie gebracht, seit dem Einzug in die damals neuen Räume das erste Mal. Und der Umzug hatte während der Ölkrise in den Siebzigern stattgefunden.

«Eigentlich ja gar nicht unsere Aufgabe, aber Momsen, am Wochenende …»

Ende April hatten die Heidelberger Justizbehörden nach langer Zeit wieder einmal einen Betriebsausflug unternommen. «Der gute Wille war ja jedes Jahr da, aber es fehlte eben einer, der die Dinge auch mal in die Hand nimmt, so wie Kollege Momsen jetzt …» (Sie hatten die Karlsruher Kunsthalle besucht, und Yildirim war gegen die perspektivische Darstellung eines langen Ganges gerannt, als sie schnell aufs Klo musste.)

Jede Woche erschien plötzlich ein Artikel über die verschiedenen Abteilungen des Rechts in der «Rhein-Neckar-Zeitung»: Das Familiengericht – Gerechtigkeit ohne Urteil, das ist unser Ziel – Wirtschaftskammer: Schwarze Schafe fressen Arbeitsplätze – Jugendgericht: Überzeugen statt Strafen.

«Seit Momsen die Öffentlichkeitsarbeit macht, sind wir ja die reinsten Popstars. Und er macht das zusätzlich, in seiner Freizeit …»

«Der Typ ist schon in mehr Arschlöcher gekrochen als Mick Jagger in Groupies.» Dieser letzte Satz war so nicht im Amt gesagt worden, der stammte von Yildirim, ins Allein um sie herum gemurmelt, frustriert am Küchentisch vor sich hin rauchend, gestern Abend.

Zusatz: «Und zwar kopfüber.» Dann hatte sie schweigend dem Pfeifen im linken Ohr gelauscht, das wieder mehr geworden war, seit der Neue die Preise verdarb.

«Frau Yildirim», der Chef lächelte sie an. Im Licht der unnötig funzelnden Schreibtischlampe sah man ein singuläres Haar seinem Nasenrücken entspringen, fontänenhaft nach vorne. «Eigentlich wäre das Ihr Fall, und es steht Ihnen selbstverständlich frei, die Sache anzugehen. Herr Kollege Momsen zeigt allerdings großes Interesse, nun mal eine richtig große Geschichte zu bearbeiten …»

«Nicht, dass ich etwas gegen Stammtischprügeleien hätte», knödelte der Junge dazwischen, «da trifft es nie den Falschen, und man kann schöne Anklagen zimmern», er lachte herzlich, «letzte Woche sperrte einer im Gilberts in Handschussheim seinen Kumpel ins Klo, bevor er ihn durchbläute. Der wird Augen machen, wenn er auch noch eine Freiheitsberaubung fängt.»

Meckernd stimmt Wernz ins neuerliche Gelächter Momsens ein. «Köstlich, ja, Freiheitsberaubung, wenn nicht, wenn nicht», spaßhaft dozierend hob er den Finger, «Entführung!»

Allein schon für das windige Präteritum hätte Yildirim dem Bubi gerne die Hosen strammgezogen. «Der Stadtteil heißt ‹Handschuhsheim›, nicht ‹-schussheim›, manches ist friedlicher, als man denkt.» Sie hörte selbst, wie genervt sie klang. «Ich suche eigentlich nicht nach besonders originellen Anklagen, mir reicht es, wenn sie angemessen sind.»

Momsen hob eine Augenbraue himmelwärts. Er war ein ganz prächtiger Einserjurist, das heißt, unter normalen Menschen sah er aus wie eine Wachsfigur aus der guten alten Zeit. Grauer Anzug, blütenweißes Hemd, diffus zwischen allerhand Grautönen changierender Binder und obendrauf ein bleicher Knabenkopf mit mistfarbener Tolle und Franz-Schubert-Brille. Er war nicht sehr groß, die schwarzen Halbschuhe erinnerten Yildirim verdächtig an die Sonderanfertigungen, die früher immer auf der Rückseite von Fernsehzeitschriften angepriesen wurden: Zehn Zentimeter größer in zwei Sekunden.

«Vor sechs Monaten war Heidelberg für mich nichts weiter als ein Postkartenmotiv, das man selbst in Berlin gelegentlich im Angebot hatte, in der Abteilung: ‹Deutschland ist schön›, hier beuge ich mich gerne der Ortskenntnis der waschechten Kurpfälzerin», dabei schaute der Streber sie an, als sei sie eine zugehängte Taliban-Mieze. «Ich denke, ich lasse ansonsten aber schon das richtige Augenmaß walten, Frau Kollegin. Wenn einmal nicht, dann können Sie mir das aus der Warte Ihrer größeren Erfahrung sicher aufzeigen.»

Yildirim lächelte, als wollte sie ihn verspeisen. «Da Sie schon selbst Ihre geringe Erfahrung in den eigentlichen Aufgabenfeldern unseres Berufes erwähnen, fände ich es nicht gut, wenn gleich einer Ihrer ersten Fälle ein Tötungsdelikt wäre. Tut mir Leid, Herr Wernz, ich möchte das behalten.»

Ihr Chef war sichtlich verblüfft, irgendwie hielt er es bei einer Frau für der Ehre genug, wenn sie einen Beruf hatte; sollte dann auch noch mitgeredet werden, kam ihm das unpassend vor.

«Tja dann», war somit das Äußerste, was er seinen Gedanken zunächst an Ausdruck abringen konnte. «Tja dann, Herr Momsen, vielleicht lassen Sie uns dann nochmal ein wenig alleine reden, Frau Yildirim und mich, Sie könnten ja auch», er schaute zur Uhr, «eine Ihrer sagenhaft vielen Überstunden …»

«Oh, Arbeit gibt es massenhaft!», lachte Momsen. «Ich werde mich mal an ein paar Fälle machen, wo sonst die Verjährung droht. Das wären dann allerdings auch ein paar von Ihren, Frau Kollegin.»

«Nur zu», zischte Yildirim, «auch ich kann ruhiger schlafen, wenn ein paar Falschparker zwei Tage in den Bau einfahren.»

Momsen wandte sich schulterzuckend zum Gehen.

«Wenn einer seinen Strafzettel nicht bezahlt, macht das die Welt nicht schlechter, aber wenn solches Tun so schamlos und lange praktiziert wird, dass es unsere Rechtstradition in den Rang einer Straftat aufrücken sieht, würde es uns schwächen, wenn wir dem nicht Ausdruck verliehen. Und ein schwächeres Rechtssystem macht die Welt schlechter.»

«Er kann druckreif formulieren», sagte Wernz wie zu sich selbst. «Diesen Satz könnte man drucken.»

Die Anklägerin studierte angewidert den perspektivischen Verlauf einer Weststadt-Straße Richtung Rohrbach. Rohrbach war ihr scheißegal, aber: Fluchtpunkt. Da wollte sie hin.

 

Als sie alleine waren, änderte sich Wernzens Körpersprache vollkommen. Ohne dass er es bemerken mochte, schob sich sein Becken aus den Untiefen seines Sessels, beschleunigte sich sein Atem in ein verstohlenes Hecheln. Bahar Yildirim war es mittlerweile gewöhnt.

«Sie wissen aber schon noch, dass einer Ihrer ersten Fälle letztes Jahr diese Wasserleiche war? Wir haben Ihnen da doch auch vertraut!» Wernz legte schelmisch den Kopf schief. Seine greisenhaft große Ohrmuschel wetzte am Hemdkragen.

«Ja, ich weiß», entgegnete Yildirim und bemühte sich, ein wenig zerknirscht zu wirken, aber es kam nur die Wahrheit heraus, sie war müde und man sah es. «Ich weiß auch, dass ich damals ein paar Böcke geschossen habe. Ich weiß nicht …»

«Na ja», nickte Wernz, «Momsen macht ja genug, und er macht ja auch eine ganze Menge richtig, hervorragend, muss er halt warten, bis der nächste Mord im schönen Heidelberg passiert. Wenn er Glück hat, dauert’s nicht wieder ein Jahr …»

«Glück», echote die Anklägerin verächtlich, aber Wernz bemerkte ihren Unterton nicht.

 

In ihr Büro zurückgekehrt, was immer etwas dauerte, da sie ins Familiengericht ausgelagert war, ärgerte sie sich über sich selbst. Erstens: Ins Zentrum der Abteilung aufzurücken und Momsen auszusiedeln, hatte sie großmütig ausgeschlagen, was sich zunehmend als falsch erwies. Und zweitens hatte sie genug um die Ohren. Warum hatte sie sich diesen Fall aufgehalst? Purer Trotz, natürlich. Der Trotz, mit dem sie es geschafft hatte zu werden, was sie war, trieb sie ständig weiter. Nur dass dieses Weiter kein Ziel mehr hatte. Sie schüttelte zornig ihre schwarze Mähne. Das war wie bei einem Superreichen, der nur immer reicher werden wollte, der Unterschied zu so einem zeigte sich allerdings auf ihrem Girokonto.

Die bisher vorliegenden Akten zu studieren, fehlte ihr jetzt jedenfalls die Zeit, alternativ konnte sie sich ihrer freundschaftlichen Beziehungen zu Theuer und seinem seltsamen Team bedienen. Mit den Jungs spielte sie seit der Turnergeschichte manchmal Lift, eine Rohform des Skat, die auch Kommissar Haffner kapierte. Sie griff nach dem Telefon.

 

«Also du willst heute schon nach Hause.» Hornung schaute an Theuer vorbei. Irgendetwas am kleinen Froschteich, hundert Meter hinter dem schweren Ermittler, schien sie brennend zu interessieren. «Es ist sehr nett, dass du mir das immerhin sagst, bevor du den Motor anlässt. Kleinigkeiten, wie dass die Vermieter zur Abnahme erst morgen in einer Woche wiederkommen, interessieren dich da nicht besonders.»

Theuer zählte Grashalme. «Ich kann mit dem Zug fahren, dann hast du noch ein paar Tage für dich – so ohne mich, also …»

Hornung nahm ihre Brille ab, als wollte sie ihn nicht mehr sehen, gar nichts mehr sehen, nicht einmal den Teich. «Ein paar Tage? Morgen ist Samstag, ich werde die Hälfte der Zeit alleine sein.

Was ist denn eigentlich los?», fragte sie leise. «Jetzt verlieren wir uns wieder, was sind wir denn für zwei?»

«Wir sind halt zwei», sagte Theuer traurig. «Mal näher, mal weiter … ich meine, wenn wir uns gerade voneinander entfernen, dann heißt das ja auch, dass wir uns wieder annähern, ich denke, das ist sogar sehr wahrscheinlich, statistisch. Seltmann hat am Telefon gesagt, dass gestern Nacht jemand erschossen wurde, einfach so, in Bergheim, ganz in der Nähe von deiner …» Er erschrak, aber es war schon gesagt.

«In Bergheim wohnt die junge, temperamentvolle Staatsanwältin Yildirim», Hornungs Stimme hätte zum Rasieren getaugt. «Die alternde, frustige Mittelbaudozentin, die gerne Pflanzen bestimmt und Dome betrachtet, wohnt in Dossenheim. Und mit Seltmann telefoniert man also auch neuerdings, muss es dir dreckig gehen, dass du deinen Intimfeind anrufst.»

«Da war so ein ungutes Gefühl, Bulleninstinkt», log Theuer. In Wirklichkeit hatte er in aller Herrgottsfrühe das Handy gepackt, aus dem spontanen Entschluss heraus, irgendeinen Grund für die Heimkehr zu finden, und sei es, dass Seltmann berichtete, der Gummibaum im Theuer-Team-Zimmer habe Läuse. Und nun ein Mord – also das war doch wohl wirklich nachzuvollziehen.

«Ein ungutes Gefühl. Immerhin: ein Gefühl. Du machst dich.» Sie stand auf. «Ich rufe die Vermieter an. Wir fahren nachher. Und heute besauf ich mich noch. In meinem herrlichen Dossenheimer Wohnzimmer, über den herrlichen verkehrsberuhigten Straßen. Ja, genau, ich könnte ja so richtig das Saufen anfangen. Vielleicht verwechselst du mich dann mit deinem gesunden jungen Kollegen Haffner. Da spränge für mich einiges mehr an Zuwendung heraus.»

 

Yildirim seufzte. Der Ton war jetzt im ganzen Kopf und pulste, Morsesignal zwischen zwei Hirnhälften, die gegeneinander Krieg führten. Keine raschen Informationen: Der Esel von Theuer machte Ferien, und noch nicht einmal sein Team war vollzählig. Stern hatte frei, weil er um ein Reihenhaus steigerte, Haffner hatte sich krankgemeldet, was bedeuten dürfte, dass er gegen neun Russen angetrunken hatte, nur der Leidig war im Dienst, aber irgendwo unterwegs oder schon zu Hause, seiner Furcht einflößenden Mutter die dritten Zähne polieren. Unklar, wie die Struktur der Polizei, waren auch die Unterlagen zum Fall zusammengetragen. Sie würde sich reinhängen müssen.

Um 18 Uhr hatte sie den Termin auf dem Jugendamt, es war fünf, sie überflog jetzt doch die wenigen Seiten, die schon vorlagen. Gestern Nacht also, entgegengenommen vom Kollegen, der Bereitschaft hatte. Fast jeden Abend nach zehn war Elmar Reister, freier Journalist, ein wenig spazieren gegangen, die Mittermeierstraße Richtung Neckar, über die Ernst-Walz-Brücke und dann durch ein paar Straßenzüge des Villenviertels Neuenheim gebummelt.

Er hatte immer von einem Haus dort geträumt, berichtet seine gefasste Witwe. Aber so eines war nie für ihn drin gewesen, er schrieb fürs Anzeigenblatt und nicht besonders gut. Und das war’s auch schon, was man bisher über ihn wusste.

Der Zeuge, der, der den ominösen schwarzen Mann «tausendprozentig» als Täter nannte, konnte laut seinem Hausarzt eigentlich gar nicht aussagen, bei Aufregung würden ihm die Adern wie Seifenblasen platzen, das Herz bliebe stehen, die Bandscheiben flögen heraus. Aber er wollte seiner Bürgerpflicht nachkommen. Die weibliche Zeugin war zwar nicht geschwächt, sie konnte nur eigentlich gar nichts Großartiges beisteuern, und der Herr, der es mit dem Mündungsfeuer hatte, war ein schwieriger Kandidat: renitent und bereits jetzt genervt, da er doch «alles» schon «zweimal» gesagt habe.

Also hing das Ganze gleich zu Beginn. Die Spurensicherer und Gerichtsmediziner waren noch am Werk und hatten ebenfalls auf den nächsten Tag verwiesen beziehungsweise – Pfingstwochenende – auf Dienstag. Staatsanwältin Bahar Yildirim ließ die Akten Akten sein und schaute knurrend zur Uhr. Sie probierte es nochmal bei der Polizei. Jetzt war immerhin einer da. Leidig ging ans Telefon. Wenn das kein guter Tag war.

Nach den verbindlichen Floskeln, in die man ein Dienstgespräch human einbettet – dieser Teil missriet Yildirim gewöhnlich, und so war es auch diesmal –, kamen sie auf das Delikt zu sprechen.

«Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass wir den Fall kriegen, unser Team bin ja im Moment nur ich.» Leidigs Stimme klang am Telefon immer ein wenig schrill, als habe er eine kleine Sünde zu beichten, dabei war eher das Gegenteil sein Problem. Sie konnte ihn sich vorstellen, wie er im knappen Anzug auf seinem Schreibtischstuhl lümmelte, traurigkenntliches Imitat eines lässigen Profis.

«Was im Moment läuft, ist ja eine reine Routinekiste. Das ist so eine Untersuchung, die sich von alleine abwickelt, da werden jetzt Spuren gesammelt und ausgewertet … das könnten dressierte Affen.»

«Ich weiß», entgegnete Yildirim etwas spitz, «ich bin einer der dressierten Affen. Und das Schlimme ist, ich muss die Akten auf Knien lesen. Wissen Sie, Herr Leidig, Sie kennen doch die wunden Schimpansenärsche, und das im Staatsdienst. An welches Team soll ich mich jetzt wenden? Ihr habt doch noch diese Gruppenstruktur?»

Fast wäre der Hörer rot geworden, Leidig war so leicht zu beschämen, dass es der Anklägerin gar keinen rechten Spaß machen wollte. Außerdem war die Frage nicht ohne weiteres zu beantworten. Anfang letzten Jahres hatte der neue Polizeidirektor Dr. Ralf Seltmann die Heidelberger Kriminalpolizei in der unscharfen Vision einer effizienten, modernen, quasi businesskompatiblen Behörde in teilweise pikant besetzte Vierertrupps aufgeteilt. Nun war aber schon einiger Kredit nach oben hin verspielt, und man bekam den Eindruck, als wollte der wendige Chef heimlich, still und leise wieder zu den alten Organisationsformen zurückkehren – so recht zugegeben war’s freilich auch noch nicht.

Theuer und die Seinen, eigentlich charakterlich so homogen wie eine Käfiggemeinschaft von Würgeschlangen und Nagetieren, hatten sich gegen jedes soziologische Theorem lieb gewonnen. Andererseits war die Dummheit der derzeitigen Strukturierung unübersehbar – also niemand wusste, ob er sich freuen sollte oder ob Unheil drohte im Herbst.

Plötzlich war die Leitung tot. Yildirim schüttelte ungläubig den Kopf, so was kannte sie nur aus Filmen. Sie bezog es schnell auf sich und stellte sich vor, irgendein Knecht, der in den Eingeweiden der Justizbehörden Kabel lötete, hätte feixend eines durchgeknipst: «Drehen wir der Türkin mal den Saft ab.» Gleichzeitig wusste sie, dass das Quatsch war. Der Umgang mit ihrer Abstammung wurde dann doch subtiler praktiziert. Sie versuchte es nochmal – besetzt.

Wie viel Zeit hatte sie noch? In einer Dreiviertelstunde war ihr Gesprächstermin in der Altstadt, vom Büro bis zum Bismarckplatz waren es keine zehn Minuten, mit ihrem Stechschritt schaffte sie es dann also in einer knappen halben Stunde bis ans Ende der Unteren Straße. Noch ein Versuch. Leidig war wieder dran. Er klang etwas verlegen:

«Der Chef, also Seitmann, ist reingekommen, da hab ich irgendwie instinktiv aufgelegt. Ich weiß auch nicht … war ja eigentlich nichts dabei, war ja ein Dienstgespräch.»

Yildirim schüttelte spöttisch den Kopf. Das passte zu dem Knaben, solche wie er fühlen sich anlasslos ertappt wie andere nicht beim Röntgen mit fünf Heroinkondomen im Wanst.

«Also, es ist so», fuhr Leidig fort. «Haffner hat sich wieder gesundgemeldet und wollte sogar für eine Stunde noch kommen, das hat Seitmann aber abgelehnt. Und Stern hat auch angerufen. Er hat das Haus nicht, und irgendwie hat er auch versprochen, demnächst nicht mehr wegen so was zu fehlen. Als ob es nötig wäre, der Administration private Eide abzulegen», das Altkluge, Leidigs zweite Seelensäule, auf dass er nicht zusammenfalle und nur noch ein wimmerndes Bündel sei, trat hervor, «und schließlich hat sich sogar der Theuer gemeldet, vorher sogar mit Seltmann telefoniert, er kommt schon am Dienstag wieder in den Dienst, gleich nach dem Feiertag. Demnach bearbeiten wir den Fall doch. Die anderen Teams sind anscheinend alle beschäftigt oder ebenfalls im Urlaub … Ich muss mich jetzt allerdings erst mal einarbeiten …»

«Da gibt es möglicherweise noch einen Grund, dass ihr herrlichen Burschen das macht», unterbrach ihn Yildirim. «Euer dämlicher Seltmann hält euch bestimmt für rechte Teufelskerle seit der Turnergeschichte und will so einen spektakulären Fall seinen besten Leuten geben.»

«Dafür muss man doch nicht dämlich sein», protestierte Leidig, aber er lachte dabei.

Dann ging sie. Sie schmiss sich in ihre Jeansjacke, sie rannte die Treppen hinunter. Während sie dieses angesichts ihrer asymetrischen Absätze lebensgefährliche Manöver absolvierte, zwängte sie sich ihren Rucksack mit Bewegungen, die an einen schlechten Rückenschwimmer erinnerten, aufs Kreuz. Wenn man schnell läuft, wird man weniger angesprochen. Wenn man rast, gelingt es einem nicht einmal, an sich selbst zu denken. Es war sonnig, ein kleiner, kaum warmer Wind spielte in ihrer schwarzen Mähne, wie sie da die Kurfürsten-Anlage Richtung Adenauerplatz entlangjagte. Umgeben von Bauwerken, für deren jedes einzelne man den Architekten verdreschen sollte. Nur nach vorne hin boten die ersten Häuser der Altstadt etwas Trost. Sie kämpfte sich nach links durch die Straßenbahn-Bus-PKW-Geschwulst am Bismarckplatz, hechelte am Darmstädter-Hof-Zentrum vorbei, überholte einen bummelnden Fahrradfahrer und war endlich am Neckar. Jetzt ging sie langsamer. Flussaufwärts lag die alte Brücke im Licht. Man musste schon sehr stumpf sein, um nicht doch immer wieder ein Gefühl der Heiterkeit geradezu zu erleiden, so putzig, so schön, so Heidelberg.

So spät schon?

Ihre Absätze knallten auf den Asphalt. Rechts passierte sie das Kurfürst-Friedrich-Gymnasium, den orangen Klinkerbau, in dem Babett, die kleine Ziehtochter, das Ihre zum deutschen Abschneiden bei der Pisa-Studie beitrug. Babett Schönthaler, die sie aus Motiven, über die sie sich unsicher war, auf dem Jugendamt zur Pflegetochter bekommen wollte. Na, jetzt waren Pfingstferien, da konnte man wenigstens keine Sechser schreiben.

Dann, vielleicht weil im Fluss links neben ihr im Frühjahr die Wasserleiche gefunden worden war, ihr erster Mord, die Turnersache, an die sie heute schon zweimal gedacht hatte, fiel ihr die gestrige Tat wieder ein. Sie schämte sich. Da war ein Mann erschossen worden, einfach so, zwei Ecken von ihrer eigenen Wohnung entfernt. Geradezu exekutiert, und sie war schon routiniert genug, das zu vergessen, für minder schwer zu halten, wenn Feierabend und ein paar private Sorgen zusammenfielen. Allmählich näherte sie sich der alten Brücke. Warum erschießt ein Mann einen anderen? Notfalls gänzlich grundlos. Sie bog rechts Richtung Heilig-Geist-Kirche ab.

3

«Wissen Sie, es geht nicht um Gut oder Böse», die Frau vom Jugendamt mit dem schönen Namen Krafft sah tatsächlich aus wie jenseits von beidem, eine dralle Matrone mit hart zurechtfrisiertem, rot getöntem Dickkopf, nur durch die Intellektuellenbrille ohne Rand nicht an der Supermarktkasse denkbar, aber weich und wolkig, quasi indisch gekleidet. «Es geht einzig und allein um das Wohl des Kindes.»

Yildirim nickte, sie biss sich dabei allerdings fast eine Plombe aus den Zähnen. Um was eigentlich sonst als um Gut und Böse ging es ihr? Um sich selbst, musste sie zugeben, und sie war schon fast so weit, das Böse zu finden.

«Es ist für ein Kind immer wichtig, Kontakt zu seinen leiblichen Eltern zu haben, soweit das möglich ist. Wir wissen inzwischen aus einer Vielzahl von Studien, dass Kinder in der Adoleszenz schwerste Identitätsprobleme bekommen, wenn sie nicht sehen, aha, die haben mich auf die Welt gebracht, aus denen, verstehen Sie, bin ich. Stellen Sie sich vor, Sie wüssten nicht, aus welchem Land Sie stammen!»

Jetzt musste die Staatsanwältin um ihr ganzes Gebiss fürchten: «Nun, zum Glück weiß ich, dass ich aus Heidelberg stamme und somit Deutschland meine Heimat ist. Das Land, wo ich gerne an den Küsten spaziere oder im Bodensee plansche, auf der Zugspitze jodle und mich in der Moschee wegen unverschleierter Auftritte auspeitschen lasse. Können wir jetzt über Babett reden, Frau Krafft?»

Ihr Gegenüber rückte pikiert irgendwelche Papiere zurecht. Yildirim war klar, dass eine so gut gepunktete Runde durchaus auch einen K.o.-Schlag der Gegenseite herausfordern konnte.

«Na ja, Frau Yildirim … Sie möchten also Pflegemutter für die kleine Babett Schönthaler werden. Sie wohnt bei Ihnen im Haus beziehungsweise jetzt schon ein paar Monate mit Duldung des Jugendamtes und der Mutter bei Ihnen. Frau Schönthaler ist wegen schwerer Alkoholprobleme in stationärer Behandlung. Einer dauerhaften Pflegschaft steht sie allerdings ablehnend gegenüber. Wir haben auch noch nicht über den Sorgerechtsentzug befunden …»

«Wissen Sie», Yildirim versuchte möglichst höflich zu klingen, «Frau Schönthaler hat nicht einfach Alkoholprobleme. Sie säuft sich tot. Niemand kümmert sich um Babett, überhaupt niemand. In wachen Momenten beschimpft die Mutter das Kind. Sie empfängt Männer für Geld, das kann ich nicht beweisen, aber es spricht vieles dafür. Man glaubt es ja nicht, aber manche zieht es wohl an, sich so ein Wrack zu unterwerfen, oder am Ende bedient es die niedersten Triebe, ihr zu gehorchen und weniger als nichts zu sein. Einfach, weil sie geboren hat, hat sie Rechte, aus keinem anderen Grund. Babett ist zu mir gekommen, immer öfter. Sie hatte Hunger, sie wollte reden, in den Arm genommen werden. Lauter so Sachen, worum Kinder, die Eltern haben, eigentlich nicht bitten müssen. Ich habe sie lieb gewonnen, allmählich. Gar nicht gleich. Sie ist keine kleine Prinzessin, die einen um den Finger wickelt. Sie hat Pickel. Einen dicken Kopf. Sie schreibt ‹Mathe› ohne ‹h› und verwechselt in Erdkunde Ecuador mit dem Äquator. Sie kommt leider in manchem ganz schön nach ihrer Mutter.»

«Es ist für ein Kind immer wichtig, Kontakt zu seinen leiblichen Eltern zu haben, soweit das möglich ist. Wir wissen inzwischen aus einer Vielzahl von Studien, dass Kinder in der Adoleszenz schwerste Identitätsprobleme bekommen, wenn sie nicht sehen, aha, die haben mich auf die Welt gebracht, aus denen, verstehen Sie, bin ich. Stellen Sie sich vor, Sie wüssten nicht, aus welchem Land Sie stammen!»

Yildirim wurde unwirklich zumute.

«Das haben Sie doch gerade eben schon gesagt!»

Sozialpädagogin Krafft schaute ein wenig ratlos drein.

«Ja, stimmt. Das habe ich gerade eben schon gesagt. Wissen Sie, wir sagen das immer. Jetzt fällt’s mir auch ein, Sie kommen aus Heidelberg, also Deutschland.»

Yildirim nickte und schaute aus dem Fenster. Das Jugendamt lag zu einem gepflasterten Innenhof hin. Das hektische Treiben der Unteren Straße hörte man kaum, und dass dreißig Meter hinter ihr eine der frequentiertesten Touristenmeilen Europas, Heidelbergs Hauptstraße, lag, hätte man nicht geahnt. Es war gerade einfach sehr still.

«Also gut», nahm sich Frau Krafft schließlich zusammen. «Vielleicht ist es für das Kind wirklich das Beste, wenn Stabilität in die Sache kommt. Nur – es gibt auch einige formale Hindernisse, Gesetze, es gibt nun mal Gesetze.»

«Das ist mir bewusst», sagte Yildirim, «ich bin Juristin.»

«Ja eben», Krafft blickte auf eine schlechte Kinderzeichnung an der Wand, als sähe sie sie zum ersten Mal. «Sie sind beispielsweise berufstätig. Da ist eine Pflegschaft problematisch.»

«Ich kann für Babett eine Hausaufgabenbetreuung organisieren, wenn es endlich Klarheit über den weiteren Verlauf der Angelegenheit gäbe. Außerdem», jetzt log sie, «trage ich mich mit dem Gedanken zu reduzieren.»

Krafft war nun da, wo Pädagogen gerne öfters wären, am längeren Hebel. So ließ sie sich mit einer Antwort Zeit.

Schließlich aber lächelte sie. «Einerseits ähneln sich unsere Metiers, wir müssen beide Paragraphen kennen, aber im Familienrecht wird andererseits doch vieles auf einen Kompromiss zugunsten des Kindes ausgerichtet. Und Sie sind eine starke Bezugsperson für Babett …» Sinnend schaute die Beamtin aus dem Fenster. Dann entnahm sie in unerwarteter Eile ihrer Schreibtischschublade zwei Puppen, blumig berockte Stoffsäckchen, ein großes und ein kleines.

«Nehmen wir mal an, das ist ein schönes großes Spielzimmer für Sie und Ihre Babett», energisch schob Krafft Stempel, Unterlagen, Slim-Fast-Riegel und was nicht alles da lag, mit den Unterarmen von der grünfleckigen Schreibtischunterlage.

«Wie würden Sie sich auf den Boden setzen und richtig miteinander kuscheln? Stellen Sie es mal mit den Puppen nach.»

ÜBER DIESER STADT WÖLBT SICH EIN HIMMEL | DER SEINE FARBE ÄNDERT | ABER NACHTS STETS DUNKEL IST | ZWISCHEN DIE HÄUSER HAT SICH EIN FLUSS GELEGT | VOM LANGEN FLIESSEN SCHON GANZ HART | HÜGEL VERHINDERN STETS EINE EBENE | SIE SIND BEWALDET | DORT | WO DAS NICHT SO IST | NICHT | DORT WECHSELN BÜSCHE | BÜSCHE WECHSELN MIT GRAS AUF DEN UNBEWALDETEN FLÄCHEN | ANSONSTEN HÄUSER | KIRCHEN | UNIVERSITÄTEN | EIN SCHLOSS | STETS DER GANZE DRECK | IM HAUS DA DRÜBEN WOHNT EIN MANN | DER EINEN SELTSAMEN ZEITVERTREIB PFLEGT | IN SEINER WOHNUNG STEHT EINE SCHLACHTBANK | NACHTS HOLT ER DIE KINDER | DIE FÜR IHRE VÄTER BIER UND ZIGARETTEN HOLEN | WIE UNENDLICH ELEND IST STETS DAS ENDE DER STADTKINDER AUF DER SCHLACHTBANK DES MÖRDERS | WENN SIE ABER TOT SIND | WIRFT ER IHRE LEICHENTEILE IN DEN FLUSS | DA DER ABER HART IST | HART IST WIE STEIN | GLEITEN DIE ABFÄLLE STETS ÜBER DIE OBERFLÄCHE | EIN NICHT ENDEN WOLLENDER STROM VON FÜSSCHEN | HÄNDCHEN | IN ENTSETZENSSCHREIEN ERSTARRTEN MÜNDERN | MAN SUCHT DEN MÖRDER | ABER MAN FINDET IHN NICHT | DER ANBLICK DIESES GRAUENS MACHT DIE BEWOHNER DER STADT KLUG | AM BAHNHOF | VON DEM AUS STETS ZÜGE IN VIELE WELTEN GEHEN | STEHEN SIE | DIE SCHMUTZIGEN JUNGEN | SIE TRAGEN STETS DIESELBE KLEIDUNG | ROSA JACKEN ÜBER IHREN WEISSEN OBERKÖRPERN | GELBE PUMPHOSEN UND AZURBLAUE SANDALEN | OB ES WARM IST ODER KALT | SEIT DEM LETZTEN KRIEG MÜSSEN SIE SICH SO KLEIDEN | EINE VERORDNUNG | DIE IN DEN WIRREN DER SCHLACHTEN EINEN BEGRENZTEN SINN GEHABT HABEN MAG | DIE NUNMEHR ABER VÖLLIG SINNLOS IST | MAN SIEHT FREILICH NICHT EIN | DIESEN JUNGEN ZU WILLEN NEUE VERORDNUNGEN ZU ERLASSEN | SO BLEIBT ES DABEI | WENN MAN SIE WILL | GEHT MAN ZUM BAHNHOFSKIOSK UND KAUFT SICH STETS DIE LATERNE | EINE ZEITUNG | DEREN DECKBLATT | ZU EINEM SCHIFF GEFALTET | DAS ZEICHEN FÜR DIE JUNGEN IST | ALSO BESTEHT DIE ZEITUNG NUR NOCH AUS DIESEM DECKBLATT | AUF DAS STETS DIESELBE ÜBERSCHRIFT GEDRUCKT WIRD | DER MÖRDER NACH 1000 JAHREN NOCH NICHT GEFASST | DER VERFASSER DIESES ARTIKELS | EIN JETZT NATÜRLICH ARBEITSLOSER JOURNALIST | HAT SICH DEM VÖLLIGEN TRUNK ERGEBEN | MAN FINDET IHN IM GASTHAUS ZUM ESEL | ZUM PFERD | ODER IM GASTHAUS ZUR FLEDERMAUS | DORT IN DIESEM DÜSTEREN | SEIT JAHRZEHNTEN NICHT MEHR VERPUTZTEN HAUS LIEGEN IM ZWEITEN STOCK DIE ZIMMER ANEINANDER GEREIHT | IN DENEN DIE BUBEN DEN MÄNNERN FÜR 100 SILBERLINGE DIE STUNDE BEFREIUNG UND FRIEDEN GEBEN | DIE STRICHJUNGEN SIND ZÄRTLICH UND VERSCHWIEGEN | SIND DER STOLZ DER STADT |||

UNTEN ABER ISST MAN GÄMSEN UND STEINBÖCKE |||

PLASMA | DIE STÄDTE IN DENEN WIR LEBEN WERDEN | KENNEN KEINE WEGE UND STRASSEN MEHR |

PLASMA |

WAS WIR IN DER BEBAUUNG NOCH IN EINZELNE ELEMENTE DIFFERENZIEREN | IN HÄUSER | STRASSEN | PLÄTZE | DAS WIRD EIN GEWÖLBE WERDEN UND WIR WERDEN SPÄTER AUCH DIESES GEWÖLBE SPRENGEN |

PLASMA |

KEINE BLÜTE | DIE AUS EINER KNOSPE TREIBT | EIN SCHLEIMIGES KÜKEN | SCHAMLOS NACKT WERDEN WIR SEIN | WEIL WIR DANN EINS SIND | NACHGEBURT DER EVOLUTION | ENDLICH OHNE ORDNUNG | SYSTEM | SOMIT OHNE ÜBERTRETUNGEN | KEINE STRAFEN |

PLASMA UND SPRACHLICHE EVIDENZ |

STETS VORWÄRTS UND RÜCKWÄRTS BUCHSTABIERT

GLEICH |

TOT AUCH |

Yildirim hatte die Püppchen herzzerreißend ineinander gezwirbelt, dabei musste sie etwas richtig gemacht haben, denn Krafft schaute milde. Vielleicht war es auch die erfolgreiche Demütigung, eine Erwachsene mit Puppen spielen zu lassen, die die Pädagogin das Humane ins Auge fassen ließ? Yildirim jedenfalls schien es so.

«Sicher, Sie könnten Betreuungsmöglichkeiten für das Mädchen finden. Und als Staatsbeamtin können Sie ja reduzieren. Nur», Sorgen durchfurchten die Miene der Entscheiderin, «eigentlich machen wir das nicht … Was sagt Ihr Partner dazu? Ich unterstelle mal, Sie haben einen, denn wissen Sie, sonst … Zieht der da mit? Das wäre uns schon wichtig!»

Yildirim wurde es eiskalt. Sie kam sich unheimlich doof vor, mit so einer Frage nicht gerechnet zu haben. Wer kam schon darauf, dass eine hübsche Frau in den Dreißigern die engste Bindung zu einem Maskulinum mit dem Staubsauger hatte?

«Na ja», log sie verzweifelt, «er weiß natürlich, dass auch auf ihn etwas zukommt … also, er steht aber schon dahinter. Also er ist dabei. Er mag die Kleine auch gerne …»

«Sie sind verheiratet?»

«Nein», da saß ein Mädchen in zu großen Jeans, die Jacke zu schwer, die Haare von einer Hexe an den Schmusekopf gezaubert, ich bin’s, die kleine Bahar, aber jetzt muss ich heim, ich muss noch baden. «Das heißt, wir haben das vor, das heißt, er kann nicht, er muss erst … aber bald …»

«Die Männer sind alle gleich», nickte Krafft. «Ich sollte halt einen Namen eintragen. Also, wie heißt der stolze Ritter?» In allem Verständnis doch irgendwie verschlagen griff sich Krafft einen Kuli. «Damit wir auch mal mit ihm sprechen können.»

«Johannes Theuer», sagte Yildirim und hörte ihr Herz pochen. «Erster Hauptkommissar bei der Kriminalpolizei. Und die Adresse …»

«Na, die haben wir ja», nickte die Beamtin, «Bergheimer Straße …»

«Ja», Yildirim war zum Sterben. «Die haben Sie. Sie haben meine Adresse. Logisch.»

 

Als sie wenig später die Untere Straße zurückging, konnte sie ihren üblichen Schritt nicht halten. Die Knie waren zu weich.

Sie hatte gelogen. Sie hatte sich den schweren alten Bullen als Bräutigam angedichtet, genauso gut hätte sie behaupten können, ihre Eltern stammten aus Finnland. Zwanghaft fixierte sie ihre braune Nasenspitze, die Welt lag unscharf weit weg. Was würde seine Freundin sagen? Das machte ihr mindestens so viele Sorgen wie die Reaktion des seltsamen Theuer, die war ohnehin schlecht vorherzusehen. Sie mochte Hornung, das war nicht so eine, die sich an der Jugend festkrallte, nur damit ihr die Männer zu Füßen lagen.

In diesem Moment landete ein Mann vor ihren spitzen Stiefeln mit einem satten, klatschenden Geräusch auf dem Kopfsteinpflaster.

«Alles klar», tönte es von unten, «ist nichts passiert. Kein Problem, gestolpert. Alles bestens.» Es war Kommissar Haffner. Mühsam richtete er sich auf, noch auf dem Boden fingerte er nach seinen Revals und steckte eine in Brand. «Ach Gott, die Yildirim, und wie?»

Wenn ihm an ihrer Begegnung irgendetwas peinlich war, dann merkte man es ihm nicht an.

«Gut», sagte Yildirim. «Und selbst?»

«Ach, geht so», mühsam rappelte sich der Betrunkene hoch. «War heute ein bisschen krank und hab mich krankgemeldet. Das hier ist aber vollkommen egal.» Sein unscharfes Attribut erläuterte er mit einem Handzeichen zu den vielen Kneipen um sie herum, das an eine Umarmung erinnerte.

«Egal», wiederholte Yildirim ratlos.

«Legal», korrigierte sich Haffner. «Legal, mein ich. Ich hab mich nämlich schon wieder gesundgemeldet, aber jetzt ist Feierabend. Deshalb feiern wir. Weil Feierabend ist.» Zuletzt war seine Stimme immer leiser geworden, als ahnte er schon, dass seine Erklärungen etwas bemüht wirkten.

«Das ist Jan!», rief er dann und zog einen kleinen, kugelrunden Blondschopf neben sich, der Yildirim bisher gar nicht aufgefallen war. Auch er war sturzbetrunken.

«Jan ist aus Flensburg und kennt sich nicht aus. Ich zeig ihm alles.»

«Scharfes Luder», sagte Jan, «geile Tante. Heiße Else.»