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Killer-Gorilla im Heidelberger Zoo Eine Schulklasse aus Eckernförde auf Klassenfahrt in Heidelberg. Am dritten Tag liegt im Graben des Gorilla-Geheges der vierzehnjährige Anatoli – tot. Von dem Außenseiter der Klasse weiß man wenig, nur seine große Tierliebe kennt jeder. Der Fall scheint völlig klar: Der Junge ist nachts aus der Jugendherberge durch ein Loch im Zaun in den nahe gelegenen Zoo geschlichen und von dem aufgeschreckten Silberrücken getötet worden. Wie üblich misstraut Kommissar Theuer den einfachen Erklärungen, obwohl er kaum Anhaltspunkte dafür hat. Und wenn er sonst keinen geeigneten Zeugen findet, dann muss eben erstmals in der deutschen Rechtsgeschichte ein Gorilla aussagen ...
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Seitenzahl: 285
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Carlo Schäfer
Silberrücken
Ihr Verlagsname
«Schäfer ist ein mitreißender Schilderer destruktiver Gruppendynamik ... Heimatkunde einmal anders!»
Der Standard, Wien
Killer-Gorilla im Heidelberger Zoo
Eine Schulklasse aus Eckernförde auf Klassenfahrt in Heidelberg. Am dritten Tag liegt im Graben des Gorilla-Geheges der vierzehnjährige Anatoli – tot. Von dem Außenseiter der Klasse weiß man wenig, nur seine große Tierliebe kennt jeder. Der Fall scheint völlig klar: Der Junge ist nachts aus der Jugendherberge durch ein Loch im Zaun in den nahe gelegenen Zoo geschlichen und von dem aufgeschreckten Silberrücken getötet worden. Wie üblich misstraut Kommissar Theuer den einfachen Erklärungen, obwohl er kaum Anhaltspunkte dafür hat. Und wenn er sonst keinen geeigneten Zeugen findet, dann muss eben erstmals in der deutschen Rechtsgeschichte ein Gorilla aussagen ...
«Alles, was man haben möchte: sorgsam dosiertes Lokalkolorit, glaubhafte Plots und eine emotionale Bindung an die Hauptfiguren, die süchtig macht.»
Berliner Zeitung
Carlo Schäfer wurde 1964 in Heidelberg geboren, wohin er nach Kindheit und Jugend in Pforzheim zum Studium zurückkehrte. Er jobbte als Hilfsgärtner, Nachtportier, Cartoontexter, war Lehrer für deutsche Spätaussiedler und Mannheimer Hauptschüler aus vielen Ländern sowie Hochschuldozent.
2002 erschien sein Romandebüt «Im falschen Licht», es folgten «Der Keltenkreis» und «Das Opferlamm».
Mehr dazu unter: www.carlo-schaefer.de
Für meine Schwestern Heidi und Bärbel und meinen Vater Martin.
Als ich im blauen VW noch stehen konnte, haben wir unter anderem manchmal «Wer hat die Kokosnuss geklaut?» gesungen. Und ich habe vergessen, wer es schließlich war.
Dies ist nun schon der vermutlich vorletzte Band über Theuer und sein schräges Team. Natürlich ist auch diesmal nur die pure Fiktion am Werk, mag sie sich im Nachhinein auch manchmal als erstaunlich wirklichkeitsnah erweisen.
Dass hierbei der ein oder andere glaubt, beleidigt sein zu müssen, nehme ich mittlerweile als unvermeidbar hin.
Ja doch, liebe Raubtierhalter, ich mache aus meinem Hundehass nach wie vor keinen Hehl, freilich ist eine Ausnahme zu konstatieren: Mops Mustafa O.
C.S., Dezember 2005
Der Silvestertag bescherte den davon nicht verwöhnten Heidelbergern ein wenig Schnee.
Das Neckartal räkelte sich in einer kargen weißen Bettstatt, die Ornamente an den Altbauten traten, von einem weißen Stift nachgezogen, hell hervor, Gaisberg und Heiligenberg verleideten sich mit matschigen und glatten Wegen den Spaziergängern, Wildschweine überfielen die Gärten am Wald.
Vor allem konnte man kaum zum Schloss schauen, ohne von romantischen Spasmen in der Brust heimgesucht zu werden. Ein Jammer, dass man die ganze Stadt und ihr Umland winters nicht einfach mit einer gewaltigen Hebebühne auf Alpenniveau wuchten konnte, mit Rentierschlitten zur Arbeit fuhr – diese Arbeit bestünde nur aus Zuckerbäckerei, Madonnengeschnitz …
Der Erste Hauptkommissar Johannes Theuer begann sich für seine kitschigen Gedanken zu schämen und ließ sie verblassen, der schwere Ermittler konnte das: nichts denken. Er stand in seiner Küche und schaute auf den Hinterhof. Die kahlen Zweige des Ahorns wippten im Wind. Die erleuchteten Fenster des Hauses gegenüber erinnerten an einen Adventskalender … Es ging ja schon wieder los.
Es musste an seiner späten Berufung zum Familienmenschen mit Lebensgefährtin Bahar Yildirim und Ziehtochter Babett liegen. Früher waren Weihnachten und die sonstige stille Zeit einfach nur Konsumorgien gewesen, an denen er Gott sei Dank nicht teilnehmen musste, jetzt galt es, Haltung zu bewahren, ein wenig Würde im Trubel aufrechtzuerhalten und trotzdem mitzumachen.
War aber das nicht schon mehr, sozusagen übertriebener Sozialeifer, der die nächsten Stunden prägen sollte?
Heute nämlich würde die seltsame Familie für sein Ermittlerteam sogar eine Silvesterfeier ausrichten.
Diese schien schon jetzt allen Maßstäben der bürgerlichen Innigkeit zu genügen, soweit Theuer die überhaupt kannte. Die heftig pubertierende Babett war von den Alten nicht nur entsetzlich genervt, sie war auch noch krank, keuchte und hustete. Sämtliche deutsch-türkischen Hausmittel lehnte sie selbstverständlich ab.
Zweitens schmeckte der von Theuer großmütig übernommene Kartoffelsalat nach nichts, obwohl er schon eine halbe Flasche Maggi hineingeschüttet hatte.
Drittens hatte sich seine Freundin beim Schäufele-in-den-Ofen-Schieben etwas verrenkt und erinnerte nun mehr an den Glöckner von Notre-Dame als an eine knallharte hübsche Anklägerin mit faszinierendem Migrationshintergrund – der bemühte Terminus stammte von Kommissar Leidig, Theuers Bravem im Team. Der Erste Hauptkommissar entsann sich der Formulierung, noch gar nicht so lange her, Zusammenhang vergessen, verfiel ins Nachdenken über das vergangene Jahr. Trauer um den verlorenen Kollegen Werner Stern mischte sich in seine Gemütlichkeit. Verworrenen Geistes nahm er einen Schluck Maggi.
Davon aufgeschreckt, schaute er zur Küchenuhr, zwanzig vor fünf, es wurde dunkel. Die Jungs waren auf halb sechs bestellt, viel zu früh, wie ihn Yildirim gescholten hatte. Besser zu früh als zu spät, dachte er dumm und probierte wieder den Kartoffelsalat. Nichts. Gar nichts. Kein Geschmack.
Wenn es dunkel wurde, war es dem Polizisten Dieter Senf am angenehmsten, einfach nur still dazusitzen. Er lauschte dann auf die Geräusche, die von den wenig befahrenen Straßen der dahinrottenden Schlafstadt in Heidelbergs Süden durch seine geschlossenen Fenster drangen. Schüsse? Nein, natürlich nicht, die Böllerei begann. Er wuchtete sich hoch. Lieber war er ein bisschen früher beim Theuer, als dass er durch den Beschuss gehen müsste, mit dem das friedliebende deutsche Volk 2004 begrüßte.
Er dachte manchmal an seine vielen Jahre in Karlsruhe – ein wenig erwachsener Scherz hatte ihm eine Strafversetzung eingetragen, die Fächerstadt fehlte ihm nicht, auch niemand, den er dort gekannt hatte. Er war jetzt eben im Team des wirren Hauptkommissars Theuer, zusammen mit dem wüsten Haffner und dem verzärtelten Leidig. Er mochte die drei und die meisten anderen Kollegen im Revier Mitte gut leiden. Ja, er war noch nicht einmal von Hass auf den Polizeidirektor Seltmann durchdrungen, wie man das als Heidelberger Polizist anscheinend zu sein hatte. Aber diese leichte Sympathie, die er fast allem entgegenbrachte, seine vielen Scherze, die er durchaus genoss und die ihn für seine Umwelt zu einem frechen Unikum machten – all das war flüchtig, ein Lufthauch, und danach war es dann windstill, und alles war schwarz.
Er schaute auf die Armbanduhr. Zu früh, bestimmt der Erste beim Theuer.
War er nicht, und das kam so: Kommissar Thomas Haffner hatte es sich genau überlegt. Hatte sie belauscht. Würde es heute wagen. Und dann zum Theuer und den Jungs und dann richtig feiern, das Wagnis und ebenfalls feiern: entweder, dass es geklappt oder eben, dass es nicht geklappt hatte. Man kann nämlich alles feiern.
Haffner war sicher nicht dazu erschaffen, die eigene Lebensgestaltung an biologische Gesetzmäßigkeiten anzupassen. Wenn er nicht rauchte, schlief er – er kam mit wenig Schlaf aus. Und wenn er rauchte, trank er. Nun aber stand vor ihm irritierenderweise ein Glas frisch gepresster Orangensaft. Sein Magen rebellierte vorsorglich, schon das dritte Mal fuhr seine Hand an die Brusttasche, um nach den Reval ohne zu greifen – nicht doch. Er war nun mal im «Sportpark», und er würde die Kollegin überraschen, das süße rothaarige kleine Monster. Zumindest so lange wollte er sich an die Hausordnung halten, aber keine Nanosekunde länger.
Verrückt genug, am Silvestertag noch Sport zu treiben, wobei der harte Beamte mit der standesgemäßen Herkunft aus Heidelbergs Arbeiterstadtteil Pfaffengrund wusste, dass körperliche Exerzitien den nachfolgenden Alkoholgenuss steigern konnten. Was hatte er seinerzeit das Stiefeltrinken nach harten Rugbymatches geliebt! Irgendwann hatte man ihm sogar einen Extrastiefel spendiert, weil die Mannschaftskameraden zunehmend zu kurz kamen. Die Jugend! Vorbei! Ein Glück.
Er würde sie also überraschen, die kleine Sexy-Maus, er, der sich lange nichts mehr auf dem verwirrenden Feld der Geschlechtlichkeit getraut hatte. Sein Geschenk – einen Rieslingsekt vom Alex aus der Märzgasse, stand treu unter dem Tisch. Irgendwie wie ein Hund kam ihm die Flasche vor, so verlässlich und gut.
«Aber Cornelia, was machst du denn?» Hagen König schüttelte den Kopf.
«Ich packe, wir gehen doch auf Klassenfahrt!»
«Mädchen, erst nächsten Montag, heute ist Mittwoch!»
Cornelia zuckte mit den Schultern: «Was soll ich denn sonst machen? Du gehst ja weg.»
König trat seufzend ins Zimmer seiner Tochter, den Kopf zur Seite geneigt, um nicht an die Dachschräge zu stoßen, und ließ sich auf dem Bett nieder.
«Ich habe dir seit Wochen gesagt, dass du dich mal um eine Party kümmern sollst. Ich habe das schon so lange ausgemacht.»
«Wie soll ich mich um eine Party kümmern? Was heißt das? Mich hat natürlich niemand eingeladen!» Cornelia drehte sich nicht um.
«Das weiß ich. Aber vorne in der Kirche ist offene Nacht. Und es gibt auch Veranstaltungen in der Stadt für Jugendliche.» Er hielt inne: «Ich habe mitgezählt: Du packst zehn Schlüpfer ein, für eine Woche.»
«Ich habe genug Wäsche.»
«Ich weiß, aber dann einfach so vor sich hin zu packen, das ist so …»
«Dumpf», ergänzte Cornelia ruhig. «Hast du ja mal gesagt, ich erinnere dich an eine Holsteiner Milchkuh, grobklobig und dumpf.»
«Das habe ich vielleicht mal gesagt, aber nicht so gemeint.»
«Ich weiß.»
«Ich habe dir auch gesagt, dass ich stolz auf dich bin. Ich lobe dich für deine Noten und deine tollen Gedanken, wenn du sie mir mal mitteilst …»
Cornelia wandte sich um und setzte sich auf ihren Schreibtischstuhl. Sie schaute verächtlich zu ihrem Vater: «Ich habe heute Nachmittag über Zeit nachgedacht. Ich verstehe sie so, dass sie Bewegung im Raum ist. Wenn es nur ein Objekt gäbe und Raum: In dem Moment, wo sich das Objekt ein klein wenig verändert, ist Zeit vergangen. Wenn das Objekt vollkommen unverändert ist, dann vergeht auch keine Zeit. Interessant?»
Wieder einer dieser tiefen Vaterseufzer, die sie nicht mehr hören mochte: «Ja, Mädchen. Ja, das ist interessant. Und es sind Gedanken, die ich in deinem Alter nicht hatte. Aber dann packst du zehn Schlüpfer. Ich frage mich immer, wo deine Intelligenz einmal … auf die Welt kommt!»
«Es ist nicht intelligent. Die wirklich schwierigen Fragen verstehe ich nicht. Die Relativitätstheorie verstehe ich nicht!»
«Mein Gott.» König wurde lauter. «Du musst doch auch nicht Einstein verstehen! Du sollst einfach ein …»
«Lass mal», fuhr sie ihn an, «ich mache weiter: ‹Du sollst einfach ein normales Mädchen sein. Ich will doch nur, dass du glücklich bist. Dass Mami gestorben ist, war für uns beide schwer, aber jetzt müssen wir doch auch mal wieder leben! Und dass ich eine Freundin habe, kannst du mir doch nicht ewig verübeln!› Liege ich ungefähr richtig?»
Königs Lippen wurden schmal. «Durchaus. Das habe ich alles offensichtlich schon zu oft gesagt. Ich würde Beate einladen, aber das willst du nicht. Also feiere ich bei ihr.» Er stand auf. «Ist es dir egal, wenn wir uns so traurig ins neue Jahr verabschieden?»
Sie schaute ihn nicht an. War sie traurig? Sie hätte es nicht sagen können. «Ich muss an den Bettkasten. Wir sollen Leintücher und Bezüge mitbringen.»
Erster Schluck Orangensaft, pfui Teufel. Eine dickliche Blondine, Typ Horrorkrankenschwester, fragte Haffner nach der Uhrzeit, und er entgegnete fahrig: Kurz vor 2004.
Machte die auch Sport, die Dicke? Das ergab keinen Sinn für den zunehmend seiner Mission unsicheren Polizisten, keine Logik. Was, wenn die Kleine den Sekt verschmähte oder, beinahe noch schlimmer, ihn?
Kam sie dahinten?
Desaster: Das war sie, die kleine Rote, aber ein großer gelockter Latinohengst hielt sie im Schwitzkasten, als wollte er sie gleich hier dahinnehmen, schamlos, direkt vor dem Tresen, wo eine albanische Billigtussi mit dem Mischen von Apfelschorle intellektuell ausgelastet hantierte. Zum Glück erkannte ihn die dumme Gans nicht, und nun wollen wir mal sehen, wie das ist, wenn man eben trotzdem raucht, überhaupt bieten die ja sogar Weizenbier an, wie hatte er das übersehen können, schöne Sportler sind das.
O nein, er musste seinen Schwur erneuern, ihm kam keine mehr ins Haus, blöde rote Schlampe, Haffner trat an den Tresen, orderte zwei Weizenbier, nein, ich erwarte niemanden, und rauchte dann, während er stereophonisch schluckte, wartete in aller Ruhe, beinahe erleichtert, bis er mal wieder wo rausgeschmissen wurde.
Also war er der Erste, der bei den Theuers läutete.
Zuletzt kam Kommissar Leidig, da er am Nachmittag noch seinen schwersten Gang anzutreten hatte – wie jeden Monat. Man durfte sich nicht wünschen, dass die Mutter starb, und er wünschte es sich ja auch nicht wirklich, nicht ganz, kaum, nur manchmal ein bisschen. Alle anderen aber: Pfleger, Ärzte, die Familien der Pfleger und Ärzte, die wünschten sich das mit Sicherheit, und man konnte es ihnen nicht verdenken.
Also: Jahresendbesuch. Er parkte in Nähe des Schwetzinger Schlosses. Viel lieber wäre er jetzt durch die feuchtkalten Gärten spaziert, hier in der Ebene reichte es nicht für Schnee, und dennoch hatte das barocke Gelände auch jetzt seinen Reiz, eher Verheißung des Schönen als die Schönheit selbst, quasi wie das Leben. Aber nein, der Kommissar durfte nicht spazieren gehen. Viel lieber, als die Mutter zu besuchen, wäre er beispielsweise auch in der Kanalisation nach Hause gekrochen – mit allem Mut eines erfahrenen Polizisten passierte er den Schlosseingang und bog in die nächste Querstraße links.
Seit SIE in Schwetzingen im Heim war, hatte sich Leidigs Leben vordergründig nur wenig gewandelt – gut, er hatte mit seinem Chef die Wohnung getauscht. Ob das mit dem Theuer, der Yildirim und dem Mädchen gut ging? Ihn plagten abergläubische Zweifel – in diesen über Jahrzehnte mit ostpreußischer Vertriebenenbosheit verfluchten vier Zimmern konnte das Leben doch kaum gelingen.
Jetzt betrat er das Heim, der Pförtner nickte ihm unergründlich zu. Das Verhältnis zum Personal war zwiespältig. Mal überwog Mitleid, was hatte dieser Mann wohl leiden müssen, mal Aggressivität: Nun leiden nämlich wir.
Nein, nach außen hin war alles ein sehr, ein allzu normales Junggesellenleben geblieben, in seinem stillen Alltag war jedoch durchaus Sensationelles geschehen:
Die wenigen Zigaretten, die er pro Woche rauchte, zelebrierte er, entspannt am Küchentisch sitzend, gerne in Kombination mit einer Tasse Kakao, Kaffee trank er immer noch selten.
Er aß, was er wollte, und es war klar: Nie mehr würde er in irgendeiner Zubereitungsform irgendeine Art Kraut hinunterwürgen.
Er trank gelegentlich zum Fernsehen ein Glas Wein, nur eines, aber trockenen. Die lieblichen Moseltropfen hatte er in den Neckar gekippt.
Das waren die Sensationen: kleine Dinge, die er sich dennoch selbst kaum glaubte.
Inzwischen stand er vor ihrem Zimmer. Nummer 8, die Zahl erinnerte ihn an zwei geballte Fäuste übereinander.
Er klopfte. Es blieb still. Vorsichtig trat er ein. Seine Mutter lag auf dem Rücken, hatte die Augen geöffnet. Sie blinzelte nicht. Ein unerhörter Gedanke stieg in ihm hoch, was, wenn sie … – da holte die Mutter tief Luft und erinnerte ihn lächelnd daran, wie sie ihm damals, als er noch klein und lieb gewesen war, immer die Wärzlein auf seinem kleinen Zipfel mit Salbe eingerieben habe. Ob er das noch wisse? Hat er alles vergessen, was seine Mutter für ihn getan hat?
Gar nicht genug habe er davon kriegen können, dass sie ihm die Salbe einmassierte. So drollig! Wie der winzige Zipfel grade so ein bisschen steif geworden sei!
Leidig fuhr nach dem Besuch drei irre Autobahnrunden, Heidelberg–Schwetzingen–Walldorf und zurück, bis er wieder einigermaßen in der Lage war, seinen Kollegen unter die Augen zu treten.
Cornelia war fertig mit Packen. Sie lag auf dem Bett und hörte zu, wie Regen und Wind gegen das Dach schlugen. Ihr Vater war seit zwei Stunden weg, es war elf. Sie überlegte, was sie machen könnte. Spazieren gehen? Besoffene auf der Straße, Regen, Sturm, nein, keine besonders gute Idee.
Sie ging nach unten ins Wohnzimmer. Fernsehen. Auf allen Kanälen wurde anscheinend gefeiert. Wer schaute sich so was an? Leute, die kein eigenes Fest haben oder nirgends eingeladen sind?
Auf Kabel lief ein alter Spielfilm. Sie setzte sich auf das Sofa, zog die Beine hoch. Sie hasste ihre Füße, geradezu leidenschaftlich, noch mehr als ihren ganzen Riesenkörper ohnehin. Selbst bei einem Meter achtzig war Schuhgröße 47 ein zusätzlicher Makel.
Alle in der Klasse fanden es doof, dass Fredersen die Klassenfahrt im Winter machte, sie war erleichtert. Nichts Schlimmeres, als im Sommer wegzufahren, am Ende ans Mittelmeer oder so, und wie eine gestrandete Walkuh im Sand zu liegen, während Andi und Susanne ihre Puppenärsche wackeln lassen. Sie steckte ihre Füße unter das große Kissen.
In dem Film ging es um eine junge Frau, die ein Verbrechen nach dem anderen verübte und dabei von einem älteren Detektiv quer durch Europa verfolgt wurde, so weit war ihr die Handlung klar geworden. Sie hangelte nach der TV-Spielfilm und warf dabei einen ganzen Stapel Zeitschriften auf den Boden. Sie ließ ihn liegen.
«Das Auge», alter Schinken, über zwanzig Jahre alt, pünktlich zur Mitternacht fertig.
Cornelia schaute zur kitschigen Uhr über dem Bücherregal, ein Dreimaster mit einem Zifferblatt im Rumpf, als hätte ihn das auf hoher See gerammt. Viertel vor zwölf.
«Drei viertel zwölf. Noch fünfzehn beschissene Minuten», rief Haffner aufgeregt. Auf dem steinernen Balkon zur Ebertanlage hin war nur eine Din-A4-große Standfläche übrig. Für ihn. Ansonsten strotzte der im Verkehrslärm sonst selten genutzte Vorbau von Raketen, bengalischen Feuern, Kanonenschlägen, pyrotechnischem Teufelszeug aller Art, alles von ihm mitgebracht, ja «liebevoll für den Anlass zusammengestellt».
Mit seiner kindlichen Freude hatte es Haffner geschafft, fast die ganze Festgesellschaft anzustecken, sogar Babett hatte ihre innere Emigration ausgesetzt. Wobei sie offiziell natürlich nur «einmal einen Selbstmordattentäter sehen» wollte.
«Ich werde diesen Altstadtsnobs einheizen, dass sie sich nach Bagdad wünschen, ich …» Einzig Theuer und Senf mochten nicht dabei sein, speziell der Hausherr war der ständig maßlosen Rhetorik seines Wilden überdrüssig und schloss die Tür zum Flur und die Küchentür.
«Ich hab das Böllern nie leiden können», sagte Senf und nippte am Weißwein.
«Ich auch nicht.» Theuer schenkte sich Roten nach und tat das nicht mehr ganz sicher.
«Ich trinke ja normalerweise nichts», fuhr Senf fort und gurgelte dann versonnen die ersten Takte der Nationalhymne.
«Ich auch nicht», log Theuer. Wobei, es war eine Sache der Definition, alles war ja eine Sache der Definition.
«Ich sage nicht gerne ‹Ich auch nicht›», sagte Senf raffiniert.
«Ich auch nicht.» Der Karlsruher kicherte, und auch Theuer musste lachen.
«Habt ihr das früher auch gemacht?», fragte Senf vorsichtig. «Ich meine, so zusammen gefeiert, als ich noch nicht dabei war?»
Theuer schüttelte den Kopf. «Zumindest nicht oft. Als wir unseren ersten Fall gemeinsam gelöst hatten, da haben wir gefeiert, aber da waren wir alle Singles, das heißt, Stern war ja verheiratet.
Und ich hatte eine Freundin – vergessen.
Ich Arschloch.»
Senf trank sein Glas aus. «Ich Blödmann – ein Arschloch bin ich nicht –, hab mein Auto da. Na, ich lass es stehen. Mal was fürs Parkhaus tun. Das will ja auch mal ein Erfolgserlebnis. Parkhäuser werden viel zu selten gelobt. Manchmal beschäftigt mich das schon.»
«Parkhäuser? Der Kummer von Parkhäusern?»
«Nein, ach was: Wäre Stern nicht erschossen worden, dann wäre ich nicht dabei.»
Theuer fühlte, wie ihm die gute Stimmung abhanden kam: «Wäre mein Frau nicht gestorben», brummte er, «wäre ich jetzt auch nicht hier. Was bringt das? Die Dinge geschehen.»
Senf schaute in den Hinterhof. «Ja, die Dinge geschehen. Das habe ich mir auch gesagt, nachdem mein Vater in einem Dixi-Klo verhungert ist.»
«Ist er nicht!»
«Nein, ist er nicht, hab ich nur aus Scheiß gesagt.»
Eine fürchterliche Detonation erschütterte die Wohnung, Theuer war sich sicher, sogar das Geschirr im Küchenschrank klirren gehört zu haben. «Was ist das?»
«Neujahr», sagte Senf gleichmütig. «Alles Gute.»
Theuer riss die Tür zum Flur auf, wenigstens seine Frauen wollte er heldisch aus dem Inferno retten, das Haffner offensichtlich angerichtet hatte, und den hörte er auch gleich brüllen: «Und das ist erst der Anfang! Jetzt! Achtung!»
Der Hausherr zog sich wieder in die Küche zurück.
Cornelia lag im Bett, aber sie konnte nicht schlafen. Es war drei, mindestens. Ihr Herz pochte. Früher war es ihr so gegangen, wenn die Eltern weg waren; drehte sich auch nur der Schlüssel im Schloss, war sie ruhig geworden. Heute waren die Eltern immer weg, mochte der Vater da sein oder nicht.
Sie versuchte sich abzulenken. Wie ging das nochmal? Das Rätsel, das der Mathematiklehrer dem kleinen Gaus gestellt hatte und wo das kommende Genie sofort eine Formel fand? Alle Zahlen zwischen eins und hundert zusammenzählen … Die Hälfte der zu addierenden Zahlen multipliziert mit eins plus der Gesamtzahl. Also hundert …
Nein, es half nicht, sie wurde nur immer wacher.
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, frierend, sie wollte frieren, nahm das Tagebuch aus dem Schubfach und schlug es auf.
30. 12.
Heute bin ich runter an den Strand, das Training hab ich geschwänzt. Ich mochte nicht früher heim, was weiß ich, ob er nicht Beate zu Besuch hat.
… plus die halbe Gesamtzahl durch zwei. Man kam ja bei 49 und 51 an, nein, das stimmte nicht. Dann also die halbe Gesamtzahl plus eins noch dazuaddieren?
Sie hatte keine Lust zum Rechnen, nahm sich einen Stift.
1.1.2004
Ich will tot sein.
In schönen geschwungenen Lettern.
Ich will tot sein.
In kleinen, gemeinen, fest ins Papier gekerbten Buchstabenzwergen.
Ich will tot sein.
Flott. Arztschrift.
Um vier war der Letzte (Haffner) gegangen, wenn man das gehen nennen wollte. Theuer lag einigermaßen beschwipst im Bett und betrachtete, scheinbar schon fast schlafend, wie sich Yildirim auszog.
«Brauchst gar nicht so zu tun, ich weiß, dass du guckst!», kicherte sie. «Aber ich werde nicht nackt schlafen, nicht mit dem Rücken. Ich kann ein Nachthemd anziehen, und du besteigst mich, wie die das in den Fünfzigern gemacht haben.»
Es war nicht so gemeint, aber Theuer fühlte sich gekränkt – schließlich war er ein Kind der Fünfziger. Noch schlimmer: 3. Februar 49, Salem, knapp um die Zange herumgekommen.
Yildirim ließ sich ins Bett plumpsen, und das war für den Hexenschuss anscheinend nicht optimal, denn der Anklägerin entrang sich ein kleiner Wehlaut, der den Kommissar rührte.
Sie kuschelte sich an ihn. «Ich mach mir Sorgen. Babett hat hohes Fieber, ausgerechnet jetzt. Am Freitag sind die Ärzte alle voll und den Notdienst in der alten Eppelheimer – das sind, glaube ich, verkrachte Urologen, die einem da die Brust abhören.»
«Die können das doch gar nicht.» Der Schlaf warf sein Netz.
«Richtig, Jockel. Brillant. Das habe ich gemeint. Die können das nämlich gar nicht.» Aber sie streichelte seinen dummen Kopf. Das war gut.
«Die nächsten Tage werden ganz ruhig», flüsterte er. «Wir kurieren alles aus …»
Weitere häusliche Verheißungen wisperte er seiner jungen Freundin ins Ohr, nein, es würde nicht wieder wie an Weihnachten, er würde nicht einschlafen, wenn sie mit ihm sprach, sie sehe doch, nun schlafe er ja ein, wenn er selbst spreche, das sei doch schon mal das Gegenteil … Er sah Bären und wilde Wutzen miteinander ein tolles Neujahr feiern, und eine Sau trug rote Spitze, drehte sich auf den Hufen zu einem flotten Popsong, den sang ein Marabu in grauem Federkleid.
Genau ein Platz im Bus war frei, neben Anatoli. Auf dem Doppelsitz gegenüber lag Gepäck, das nicht mehr in den Stauraum gepasst hatte. So hatte das Cornelia erwartet – wenigstens sah auch der Russe nicht glücklich aus. Sie überlegte, ob sie umräumen sollte, aber das wäre dann doch zu unhöflich gewesen. Seufzend setzte sie sich und schaute ihren Zwangsnachbarn an. Sie wusste, dass Leute ihre Art zu starren aufdringlich fanden, es war ihr gleichgültig. Was trugen wir denn heute? Braune Cordhose, irgendwelche beschissenen Halbschuhe, einen Rollkragenpullover und darüber den grauen Anorak aus der letzten Altkleidersammlung.
«Brauchst nicht so zu gucken», sagte er, «willst ans Fenster?»
Sie schüttelte den Kopf. Fredersen kam durch den Mittelgang. «Alle sauer auf den Pauker?», rief er aufgeräumt.
«Der Bus ist ja aus dem Mittelalter», keifte Andi. «Ich hab gedacht, wir haben so ’nen Doppeldecker, so irgendwie.»
«Aber klar doch, Fräulein», lachte Fredersen. «Für das viele Geld, was ich euch abgeknöpft habe, müsste man eigentlich in der Stretchlimousine abgeholt werden!»
Cornelia hasste diese Art Lehrerwitze. Wenn Besuch da war, gab sich ihr Vater genauso. Anscheinend lernten die das auf der Uni.
«Ich wüsste gerne doch nochmal, wer alles für Heidelberg gestimmt hat», rief Jörn von vorne.
«Ja, logo! Im Winter nach Meck-Pomm, das hätt’s gebracht!», rief Giovanni in Jörns Richtung zurück. «Deinen Skinheads kannst du privat das Eis von der Glatze kratzen!» Gelächter, Gejohle, erste halblaute Anraunzer des Busfahrers, sie fuhren los.
«Geht’s dir gut, Anatoli?», fragte Fredersen und lächelte an ihr vorbei.
Anatoli nickte. «Alles in Ordnung. Wirklich. Müssen Sie nicht fragen … Ich hab ja zu lesen.» Fredersen nickte und ließ sich auf dem Weg nach vorne geduldig einmal mehr dafür schimpfen, dass er nicht im Sommer hatte fahren wollen.
Cornelia schaute an Anatoli vorbei. Die flache Landschaft verschwand in Regen, Nebel und Geschwindigkeit. Als führen sie auf einem feindlichen Planeten, verdammt, unterwegs zu sein, ohne dass das etwas bedeutete, nur eben sein musste.
So war es ja auch.
«Tut mir Leid», sagte Anatoli.
«Was tut dir Leid?» Cornelia war regelrecht erschrocken.
«Musst nicht so böse gucken. Ich meine, ich hab gesagt, ich habe zu lesen, und deshalb geht’s mir gut, klingt ja nicht so nett. Fredersen freut sich immer, wenn ich lese. Weil mein Deutsch dann besser wird.»
«Ich hab das gar nicht so aufgefasst.»
«Der mag halt Außenseiter.»
«Mich mag er nicht», sagte Cornelia. «O nein. Giovanni!»
Und da war er auch schon, der Coolste der Coolen, beugte sich übertrieben zugewandt zu ihnen herunter. «Guten Tag, die Herrschaften von der letzten Bank! Giovanni Sessa von den Eckernförder News! Wir machen eine Umfrage: Was versprechen Sie sich von der winterlichen Fahrt nach Heidelberg? Und haben Sie eine Erklärung dafür, warum unser hervorragender Deutsch-, Geschichts- und Klassenlehrer Dr. ha ce Thomas Fredersen nicht im Sommer mit uns verreisen will? Und warum klaut er uns auch noch zwei Ferientage?»
«Heißt Dr. h.c.», sagte Anatoli und schaute Giovanni spöttisch an. «Ihre anderen Fragen kann ich leider nicht beantworten, Herr Sessa. Ich kenne Heidelberg nicht. Vielleicht ist im Winter ja besser.»
«Glaube ich.» Giovannis Lächeln wurde etwas dünner. «Kennst ja nur Sibirien und das Auffanglager. Aber vielen Dank für den Hinweis, Herr Schmidt. Und ’ne tolle Hose haben Sie an. Die Nebenfrau? Ein Interview für die News?»
Cornelia schüttelte den Kopf.
«Vielleicht hat Frau König anhand der Durchschnittsgeschwindigkeit von rasanten 73,5 Stundenkilometern schon unsere Ankunftszeit berechnet?»
«Wir fahren schneller als 73,5», sagte sie verächtlich. «Man muss nur die Zeit messen, die man braucht, um die dreihundert Meter vor einer Ausfahrt …»
Giovanni blies die Backen auf. «Mann, soll keiner sagen, dass ihr nicht auch mal für einen Gag zu haben seid. Herzlichen Dank!»
Er ging. Anatoli grinste.
«Was ist?», fragte Cornelia. «Macht dir so was Spaß?»
«Das macht mir Spaß.» Er hielt ein Handy hoch. «Giovanni wird das suchen. Und wie!»
Beinahe hätte sie nun auch gegrinst.
Südlich von Hannover machten sie die erste Rast. Cornelia stellte sich ganz hinten in die Schlange fürs Klo, es nützte nichts.
«Ey, König.» Susanne sprach so laut, dass es alle hören mussten. «Warum gehst du eigentlich auf Skiern pischern?» Sie deutete auf Cornelias schwarze Stiefel, die einzigen Schuhe, in denen sie sich nicht ganz so trampelig fühlte.
Der kleine Tumult, den Fredersen zu schlichten hatte, weil sich Giovannis Handy ausgerechnet in Jörns Jackentasche fand, konnte sie nicht entschädigen.
Als sie wieder in den Bus stieg, waren ihre Augen noch feucht. Anatoli schaute zu ihr, sagte zum Glück nichts. Nach ein paar Minuten bot er ihr ein Tempo an. Sie nahm es wortlos. Es roch nach Zwiebeln, nach irgendeiner Russensuppe.
«Ich hab gehört, was Susanne gesagt hat.»
Sie wischte sich die Augen und starrte auf die Sitzlehne vor ihr.
«Ich mag große Füße.»
Cornelia zuckte zusammen, sagte dann aber nur: «Ich nicht.»
«Da kann man gut drauf stehen, oder? Ich meine, bei uns im Norden ist viel Wind.»
Sie wusste, das war der Moment, wo man lächeln sollte, er schien es nett zu meinen. Aber wenn man lächelt, kommt was anderes, und dann tut es mehr weh. So war das doch immer.
«Schlimmer ist, wenn man keinen Mund hat zum Reden», sagte Anatoli schließlich und schaute hinaus.
Sie gab sich einen Ruck: «Ist es dir egal, dass sie dich hänseln? Geht dir das am Arsch vorbei? Oder denkst du, das wird anders? Sparst du auf eine coole Hose? Denkst du, dann wird es anders? Es wird nie anders. Nicht in hundert Jahren.»
Anatoli ließ die Hände in den Schoß fallen. «So wie wir in Russland gelebt haben, musste ich mir immer vorstellen, dass ich Korken bin auf dem Wasser. Die nächste Welle, über die muss ich rüber, und wenn sie noch so groß ist. Und ich komm auch rüber, ich bin Korken.»
«Ein Korken.»
Er lächelte: «Stimmt ja, dein Vater ist ja auch Lehrer. Auf jeden Fall – ein Korken und über die nächste Welle. So denke ich immer noch.»
«Na ja.» Unwillkürlich rutschte Cornelia etwas tiefer in ihren Sitz. «Ein Korken, das ginge ja noch, aber gleich eine ganze Rettungsboje?»
«Na, was! So ist es wirklich nicht.»
«Fredersen kommt.»
«Hey, Anatoli!» Der Lehrer nickte aber diesmal auch Cornelia zu, so, wie man in der Stadt Bekannte grüßt. «Wenn dir schlecht wird, vorne, neben mir, ist noch Platz.»
«Mir ist nicht schlecht, danke.»
«Wenn es mir schlecht wird? Darf ich dann auch nach vorn?», fragte Cornelia. Sie merkte selbst, dass sie giftig klang.
«Natürlich!» Fredersen schüttelte amüsiert den Kopf. «Geh ruhig nach vorne. Ich wollte Anatoli sowieso noch was fragen.»
Sie schaute zu Anatoli, der dezent die Augen verdrehte. «Nein», sagte sie. «Ich wollte es nur wissen. Nur so.»
Hinter Gießen wurde es langsam dunkel. Anatoli hatte die letzten Stunden in einem riesigen Buch über Delphine gelesen, die wenigen Male, dass er etwas sagte, ging es um irgendwelche Wunder der Tierwelt, Cornelia hatte nicht zugehört. Man wusste nicht viel über Anatoli, aber es war allen bekannt, dass er ein absoluter Tiernarr war. Und ein geschickter Taschendieb, wie sie exklusiv erfahren hatte, sie tastete nach ihrer Börse, aber die war da. Jetzt klappte er das Buch zu.
«Unsere Jugendherberge ist genau neben dem Zoo», sagte er, als sei das die beste Nachricht des Tages.
«Ist mir nicht so wichtig.»
«Und was ist dir wichtig?»
Cornelia sagte zunächst nichts. Dann: «Dass ich bald sterbe.»
Sie erwartete eine Entgegnung, aber Anatoli nahm ihren Satz scheinbar gleichmütig hin. «Ist nicht so einfach», sagte er nur.
«Wieso?», sagte sie in gespielter Leichtigkeit. «Ich gehe morgen in die Stadt und kauf mir einen Strick …»
«Na, siehst du? Geht schon mal nicht! Morgen ist hier im Süden Feiertag, Dreikönigstag. Hast du Infoblätter nicht gelesen?»
Nein, das hatte sie nicht, kein einziges. Sie kannte gerade mal das Heidelberger Schloss.
Knirschend und krachend machte sich Fredersen, diesmal per Mikrofon, bemerkbar.
«Die Herrschaften! Bevor es zu dunkel zum Lesen wird, darf ich das große Geheimnis lüften …»
Ahnungsvolles Stöhnen aus vielen Kehlen, der Lehrer hatte es im Vorfeld strikt verweigert, die Zimmerverteilung zu verraten.
Der Arzt machte ein ernstes Gesicht.
«Das ist leider schon eine ausgewachsene Bronchitis. Sie hätten vielleicht früher etwas unternehmen sollen.»
Yildirim schnitt eine Grimasse: «Wie Sie wissen, hat man in diesen Tagen des Jahres nicht gerade die größte Arztauswahl.»
«Das wird alles noch schlimmer – die Regierung …» So kannte sie Dr. Ehrhard. Seit sie selbst an Asthma litt, war er ihr Lungenfacharzt, und nie verliefen Gespräche bei ihm anders, als dass der ältere Herr zum einen grenzenlosen Pessimismus der Welt im Allgemeinen gegenüber äußerte, andererseits aber geradezu euphorisch die individuellen Genesungschancen seiner Patienten beschrieb. Insofern aber musste es Babett wirklich schlecht gehen.
«Was die Kleine betrifft – natürlich heilt das folgenlos aus.»
Na, also.
«Rauchst du denn?»
«Nein», sagte Babett, die reichlich angepisst einen AOK-Kalender an der Wand studierte. «Aber bringen Sie mal meine Eltern dazu, das zu glauben.»
Das Wort wog manche jugendliche Grobheit der letzten Zeit auf. Eltern!
«Und Sie?», fragte Ehrhard nun unvermittelt in Yildirims Richtung. «Immer noch?»
«Ja», sagte sie, ertappt. «Nur sechs Stück am Abend.»
Ehrhard zog die Augenbrauen hoch. «Na, das geht ja noch. Ich muss ja schon von Berufs wegen gegen das Rauchen sein, allerdings, die Preise allein können es doch nicht richten. Ich sage Ihnen voraus, Sie werden es in ein paar Jahren mit jungen Leuten vor Gericht zu tun haben, die für eine Schachtel Zigaretten gestohlen haben. So wird das.» Traurig kraulte er sich seine lichten Haare. «Wir können es natürlich gleich mit Antibiotika versuchen, aber ich würde gerne noch ein bisschen warten. Am besten wäre es, Sie würden ans Meer fahren, an die Nordsee. Sie erwähnten doch einmal, dass Sie sich einen Tinnitus eingefangen haben? Wie geht’s denn damit?»
«Ach, das ist besser», antwortete sie. «Ich denke kaum daran.»
«Wahrscheinlich geht das irgendwann ganz weg», befand der Arzt gegen jede medizinische Lehrmeinung. «Und junge Dame, es wird dreimal am Tag inhaliert, Tee wird ununterbrochen getrunken … Dass unsere Jugend später keine Arbeit mehr findet, das macht mir zu schaffen.»
Die Zimmerverteilung hatte keine großen Überraschungen gebracht. Cornelia war mit Danni und Jana zusammen, die auf der sozialen Leiter der 8b mal gerade die nächsthöhere Stufe besetzten. Ansonsten waren die Jörn- und die Giovanni-Fraktion einigermaßen sauber getrennt, der dumme Franco bekam das letzte leere Bett bei seinem Landsmann.
(«Bloß weil der auch Italiener ist, Herr Fredersen. Das ist umgekehrter Rassismus, ich mag den nicht!»)
Susanne und Andi hatten das erwünschte Zweierzimmer nicht bekommen, akzeptierten aber die doofe blonde Biggi huldvoll als Notlösung. Immerhin war die ja hübsch. Und da Fredersen es sich angetan hatte, so drückte er es selbst aus, ohne begleitende Lehrkraft zu fahren, bekam Anatoli ein Einzelzimmer. Das war für alle in Ordnung, besser, als ihn aufnehmen zu müssen.
Cornelia fiel es nicht schwer, seine düstere Miene zu deuten. «Wärst du lieber bei Giovanni?», fragte sie. «Sei doch froh! Vielleicht hast du sogar Ausblick zum Tiergarten.»
Er wog den Kopf. «Hast schon Recht. Aber man will ja gerne normal sein, nicht?»
Sie schwieg.