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Sie ist in einer tödlichen Falle eingesperrt: Der mitreißende historische Roman »Das Pestzeichen« von Deana Zinßmeister jetzt als eBook bei dotbooks. Man schreibt das Jahr 1671, der Dreißigjährige Krieg liegt lange zurück und die Pest ist nahezu ausgerottet. Der Arzt Urs und seine Frau Susanna leben mit ihren Kindern Gritli und Michael in Trier, wo sie die Schrecken der Vergangenheit endlich hinter sich lassen wollen. Doch als die junge Gritli einen Botengang in ein kleines Dorf an der Mosel unternimmt, bricht dort völlig unerwartet die Pest wieder aus. Das Dorf wird abgeriegelt – und Gritli ist gefangen, ohne Hoffnung auf Entkommen. Susanna und Urs versuchen alles, um ihre Tochter zu befreien. Aber mit jedem Tag, der vergeht, wächst das Risiko, dass der Schwarze Tod auch Gritlis Leben fordert ... »Ein ›Pestseller‹, wie er im Buche steht.« Saarbrücker Zeitung online Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der authentische historische Roman »Das Pestdorf« von Bestsellerautorin Deana Zinßmeister ist der dritte Teil ihrer Pesttrilogie und wird Fans von Iny Lorentz und Doris Röckle begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 651
Über dieses Buch:
Man schreibt das Jahr 1671, der Dreißigjährige Krieg liegt lange zurück und die Pest ist nahezu ausgerottet. Der Arzt Urs und seine Frau Susanna leben mit ihren Kindern Gritli und Michael in Trier, wo sie die Schrecken der Vergangenheit endlich hinter sich lassen wollen. Doch als die junge Gritli einen Botengang in ein kleines Dorf an der Mosel unternimmt, bricht dort völlig unerwartet die Pest wieder aus. Das Dorf wird abgeriegelt – und Gritli ist gefangen, ohne Hoffnung auf Entkommen. Susanna und Urs versuchen alles, um ihre Tochter zu befreien. Aber mit jedem Tag, der vergeht, wächst das Risiko, dass der Schwarze Tod auch Gritlis Leben fordert ...
»Ein ›Pestseller‹, wie er im Buche steht.« Saarbrücker Zeitung online.
Über die Autorin:
Deana Zinßmeister widmet sich seit einigen Jahren ganz dem Schreiben historischer Romane. Bei ihren Recherchen wird sie von führenden Fachleuten unterstützt, und für ihren Bestseller »Das Hexenmal« ist sie sogar den Fluchtweg ihrer Protagonisten selbst abgewandert. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern im Saarland.
Deana Zinßmeister veröffentlichte bei dotbooks bereits »Der Duft der Erinnerung«, »Fliegen wie ein Vogel«, die Pesttrilogie mit den Romanen »Das Pestzeichen«, »Der Pestreiter« und »Das Pestdorf« sowie die Hexentrilogie mit den Romanen »Das Hexenmal«, »Der Hexenturm« und »Der Hexenschwur«.
Die Website der Autorin: www.deana-zinssmeister.de
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eBook-Neuausgabe Juni 2024
Copyright © der Originalausgabe 2015 by Deana Zinßmeister und Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Motivs von © Adobe Stock / Customer Media sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)
ISBN 978-3-98952-193-3
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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13, 4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!
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Deana Zinßmeister
Das Pestdorf
Historischer RomanDie Pesttrilogie 3
dotbooks.
Diesen Roman widme ichmeiner ehemaligen LiteraturagentinIngeborg Rose
Die mit einem * versehenen Personen haben tatsächlich gelebt.
Einwohner von Trier
Susanna und Urs Blatter, Eheleute in Trier
Michael, Urs’ und Susannas Sohn
Margarete, genannt Gritli, Urs’ und Susannas Tochter
Jaggi, Urs’ Vater
Barbli, Urs’ Mutter
Bendicht, Urs’ verstorbener Onkel, Jaggis Bruder
Elisabeth, Bendichts Frau
Nathan Goldstein, Goldhändler jüdischen Glaubens
Melchior Hofmann, junger Fuhrunternehmer
Thomas Hofmann, Melchiors Vater
Eva Hofmann, Melchiors Mutter
Ulrich Recktenwald, in Gritli verliebter junger Mann
Juliana Recktenwald, Ulrichs Mutter
Karl Kaspar von der Leyen* (1618–1676), Kurfürst und Erzbischof von Trier
Urban Griesser, mittelloser Mann ohne Heimat
Einwohner von Piesport
Friedrich Pitter, Weinbauer
Bärbel Pitter, seine Frau
Gesinde am Weingut Pitter:
Achim, Holzknecht
Ines, junge Lehrmagd
Jakob, Knecht
Martha, Magd
Martin, Großknecht
Christian, Knecht am Weingut Scheckel
Gottfried Eider, reichster Mann in Piesport
Dorothea Eider, seine Frau
Johann Burkhard von Piesport* (1603–1675), Freiherr von Piesport
Kloster Eberhardsklausen
Johann Peter Verhorst* (1657–1708), Weihbischof von Trier
Johann Schuncken* (1691–1718), Prior
Saur*, Priester (Vorname u. Lebensdaten unbekannt)
Blasius*, Priester (Vorname u. Lebensdaten unbekannt)
Piesporter Sage von der Michelskirch
Gegenüber waldbewachsnen Höhen
durch manche Sage wohlbekannt,
wo auf Mosellas Ufern wehen,
liegt ein Dörfchen an des Flusses Rand.
Piesport heißt es, buntgestreifte Auen
schließen es von allen Seiten ein,
hinter ihnen ziehen sich die blauen
grünen Berge, bepflanzt mit Wein.
Dort stehet auf geweihter Stelle,
gnadenspendend ein Marienbild,
eine Blumenkrone in den Haaren
und von weißem Schleier eingehüllt.
Früher prangte eine goldne Krone
auf der Jungfrau hochgeweihtem Haupt,
jedoch sie wurd mit frevelhaftem Hohne
vom Ritter Chlodwig einst geraubt.
Ueber Simmern kam er hergeritten,
manche Burg besaß er an dem Rhein,
die er seinen Nachbarn abgestritten,
durch verwegnen Trutz und Heuchelschein.
Chlodwig gedachte hier am Moselstrand
seiner Tochter einen Gemahl zu frein;
denn in seinem eignen Vaterland
wollte keiner Schwiegersohn ihm sein.
Kaum erholte er sich von dem wilden Ritte,
als ein Gewitter über Piesport zog,
und drängte durch das offne Gitter,
wo er mit seinem Pferd zum Schutze floh.
Und er nahte dem geweihten Orte
nicht mit andachtvollem Sinn,
sondern drängte durch die zweite Pforte
keck sein Ross bis zum Altare hin.
Und er setzte dem Göttlichen zum Hohne
auf des Rosses Haupt die goldne Krone.
Kaum ermisst es die goldne Last,
als ein schreckliches Rasen es erfasst.
Und es rannte in verwegnem Wahn
bis auf den nahgelegnen Felsen an,
wo früher herrschte eine glatte Silberbahn.
Und es sprang in rasender Wut
samt dem geraubten Gut
über den hohen Fels hinab in die tiefe Flut.
Schäumend schlägt die aufgereizte Welle,
wenn der Schiffer kommt an diese Stelle,
wo er dann zum Himmel blickt
und fromme Gebete zur Mutter Gottes schickt.
Oft sah man in den heilgen Nächten
Ross und Reiter ziehen gen die Flut,
einen glühenden Zügel in der Rechten
und in der Linken das geraubte Gut.
(mitgeteilt nach der Überlieferung von J. Bomberding)
In Trier, im Mai 1655
Urs hielt die Nase in die Höhe und schnupperte. »Mir läuft das Wasser im Mund zusammen!«, sagte er und blickte Susanna leidend an.
»Wenn du dich von jeder dieser Köstlichkeiten verführen lässt, wirst du so kugelrund wie ich«, erklärte sie lachend und zeigte auf ihren vorgewölbten Bauch. Ein spitzbübisches Schmunzeln überzog Urs’ Gesicht, als sein kleiner Sohn sich an seine Beine presste.
»Was ist mit dir, Michael?«
»Nimm ihn auf die Schultern. Die vielen Menschen ängstigen ihn sicherlich«, überlegte Susanna und strich ihrem Sohn durch das braune, leicht gewellte Haar. Sie sah, wie sich seine Augen mit Tränen füllten, und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. »Du musst dich nicht fürchten, mein Engel«, versuchte sie ihn zu trösten.
»Komm her, du kleiner Angsthase«, neckte Urs den Jungen und hob ihn auf seine Schultern.
»Nenn ihn nicht so. Er ist keine zwei Jahre alt und sieht nichts, außer den vielen Beinen um sich herum. Wenn er von deinen Schultern herunterschauen kann, wird seine Angst vergehen«, belehrte Susanna ihren Mann.
»Wo ist mein kleiner Schatz?«, fragte hinter ihnen eine Stimme.
»Barbli«, rief Susanna erfreut, als sie ihre Schwiegermutter sah. Sie umarmte die Frau, ebenso Urs’ jüngere Schwester Vreni. »Du siehst hübsch aus«, lobte sie das Festgewand der Fünfjährigen und drehte sie im Kreis, wobei das helle, offene Haar des Mädchens hin und her wehte.
»Was hast du, mein großer Junge? Schenkst du deiner Großmutter heute kein Lächeln?«, fragte Barbli ihren Enkel und kniff ihm liebevoll in die Wange. Michael blickte mit großen braunen Augen um sich, wobei seine Mundwinkel verdächtig zuckten.
»Ich glaube, dass ihn die vielen Leute und die Geräusche ängstigen«, entschuldigte Susanna das Verhalten ihres Kindes.
»Das sieht einem Blatter nicht ähnlich. Alle männlichen Nachkommen sind mutig und waghalsig, selbst wenn sie keine Soldaten werden«, erklärte Barbli und sah ihren Sohn aus hellgrauen Augen herausfordernd an.
Urs schaute erschrocken zu seiner Frau, die anscheinend weder den bissigen Unterton ihrer Schwiegermutter noch das Entsetzen ihres Mannes bemerkt hatte. Hastig gab er seiner Mutter ein Zeichen zu schweigen. Es war weder der Ort noch der Zeitpunkt, seiner Frau reinen Wein einzuschenken. Schließlich musste er sich für diesen Augenblick, wenn er Susanna die Neuigkeit mitteilte, erst innerlich wappnen, da er wusste, dass sie sein Vorhaben nicht gutheißen würde. Er straffte die Schultern. Den heutigen Tag wollte er sich durch nichts verderben lassen, sondern das außergewöhnliche Spektakel genießen. Morgen war schließlich auch noch ein Tag, um Susanna die Wahrheit zu gestehen.
Barbli wusste, dass sie ihren Sohn mit der Bemerkung nicht nur reizte, sondern auch in die Enge trieb. Anscheinend hatte er Susanna noch immer nichts von seinen Plänen erzählt, für die sie – ebenso wie für sein Schweigen – kein Verständnis hatte.
Ihre Sohnesfrau schien von all dem nichts mitzubekommen, denn sie scherzte mit dem kleinen Michael, um ihn von seiner Angst abzulenken.
»Sicher wird unser zweiter Sohn ein wahrer Blatter«, sagte Urs versöhnlich in Richtung seiner Mutter.
»Falls der Vater überhaupt erfährt, dass es ein Junge ist«, flüsterte Barbli, sodass nur er es hören konnte.
Der verzog genervt die Mundwinkel, während Susanna lachend fragte: »Woher willst du wissen, dass es wieder ein Junge wird?«
»Da seid ihr ja!«, rief eine krächzende Männerstimme, und dann in hohem Ton: »Es wird Zeit! Sie werden jeden Augenblick kommen!«
Aller Augen blickten zu Susannas Vetter Arthur, der neben ihnen aus dem Getümmel aufgetaucht war. Der Fünfzehnjährige war mittlerweile einen Kopf größer als seine Base und von muskulöser Statur.
»Deine Stimme wird jeden Tag wandelbarer«, erklärte Susanna lachend.
»Diesen Weg muss jeder Bursche beschreiten, um ein Mann zu werden«, erklärte Barbli verständnisvoll und sah ihren zweitgeborenen Sohn an. »Leonhard wird ebenfalls bald in den Stimmbruch kommen.«
»Darauf kann ich verzichten«, erklärte der Elfjährige und blickte seinen Freund kichernd an.
Arthur schlug ihm mit der flachen Hand sanft auf den Kopf und raunte freundschaftlich: »Halt’s Maul.«
»Gott zum Gruße«, erklang eine weitere Stimme neben ihnen. Hansi Federkiel blickte kauend in die Runde, schluckte und schob sich den Rest einer wohlriechenden Fleischpastete zwischen die Zähne. Dann leckte er sich genüsslich jede einzelne Fingerkuppe ab.
»Ich wusste, dass wir zu spät sind!«, rief Barbli erschrocken, als sie den Stallburschen erblickte. Da Hansi Federkiel die Fürsorge über die Pferde der kurfürstlichen Garde oblag, konnte seine Anwesenheit nur bedeuten, dass der Festzug des Kurfürsten bereits unterwegs war.
»Habt keine Bange, Frau Blatter. Der Erzbischof und die Soldaten haben mich vorgeschickt, da sie zu Pferd schneller sind. Außerdem ist es nicht einfach, sich einen Weg zu Fuß durch die Menschenmenge zu bahnen. Die Leute schieben sich dichtgedrängt vorwärts, sodass man nur mit Mühe an ihnen vorbeikommt. Deshalb muss ich auch sofort weiter. Aber auch Ihr und die Euren sollten nicht länger warten, Frau Blatter, denn sonst kommt Ihr womöglich nicht nah genug an das Podest heran. Seht nur, wie die Menschen zum Domplatz drängen!«, rief er aufgewühlt. »Es wäre eine Schande, wenn Ihr Euren Mann in seiner stattlichen Uniform nicht sehen könntet, nur weil Ihr in der letzten Reihe stehen müsstet, Frau Blatter.«
»Das ist wohl wahr, Hans. Lasst uns sofort losgehen, damit wir eurem Vater zuwinken können, wenn er den Kurfürsten zum Podest geleitet. Gewiss wird ihm nie mehr in seinem Leben solch eine Ehre zuteilwerden«, sagte Barbli voller Stolz und reichte ihrer Tochter die Hand. »Komm, Vreni, ich möchte nicht riskieren, dich in der Menschenmenge zu verlieren. Behalte Michael auf deinen Schultern, Urs. So kommen wir schneller voran.«
Schon von Weitem konnte man das Holzgerüst an der Domfassade erkennen.
»Schaut nur!«, rief Arthur aufgeregt und zeigte zu den Musikern mit Trompeten und Trommeln, die die Zeigung des Heiligen Rocks musikalisch untermalen sollten.
Die Fanfaren setzten ein, und alle blickten neugierig die Straße entlang, wo sich die Menge teilte, um einen Korridor zu schaffen. Als die Trompeten verstummten, hörte man Hufgeklapper und Pferdeschnauben. Schon kam das prächtige Ross des Kurfürsten und Erzbischofs Karl Kaspar von der Leyen in Sicht. Ihm folgten Seite an Seite seine beiden Hauptmänner Jaggi Blatter und Eberhard Dietz. Die Menschen brachen in Jubel aus und huldigten ihrem Regenten. Der nickte ihnen zu, sodass seine Locken, die seitlich unter dem Hut hervorspitzten, im Takt wippten. Er war in dunkelblauer Festtagstracht gekleidet, und trotz der frühlingshaften Wärme hatte er einen schweren Umhang umgelegt, der mit weißem Pelz verbrämt war. Auch die Männer seiner Garde waren wegen des besonderen Ereignisses neu eingekleidet worden.
»Seht nur, wie stattlich euer Vater in seiner Uniform aussieht«, sagte Barbli, die ihrem Mann schüchtern zuwinkte.
Als Jaggi im langsamen Schritt an seiner Familie vorbeiritt, verriet sein Blick die Freude über die Ehre, die ihm der Regent hatte zuteilwerden lassen. Erst vor kurzem hatte Jaggi seiner Frau und den Kindern anvertraut, dass er und seine Männer in einer geheimen Mission den Heiligen Rock von Coelln nach Trier gebracht hatten. Barbli hätte vor Stolz hüpfen mögen. Ihr Mann war dafür verantwortlich, dass die Menschen aus nah und fern nach Trier strömten, um die Reliquie zu bestaunen. Mit glänzenden Augen blickte sie ihm hinterher.
Plötzlich rief ein Junge in der Nähe laut: »Vater!«
Barbli wandte ihren Blick dem Knaben zu, der nicht älter als drei Jahre alt zu sein schien. Er hatte flachshelles Haar, mit dem er sofort auffiel.
Ein Soldat, der zwei Pferde hinter ihrem Mann auf einem prächtigen schwarzen Ross ritt, sah in die Menge. Dabei streifte sein Blick erst Barbli und blieb dann an Susannas Gesicht hängen. Es schien, als ob er kurz stutzte, bevor er dem Knaben zulächelte und die Hand zum Gruß hob.
»Er ist sicher der Vater des Knaben«, flüsterte Barbli ihrer Schwiegertochter zu und blickte sie schmunzelnd an. Doch sogleich erstarb ihr freudiger Gesichtsausdruck, denn aus Susannas Gesicht schien jede Farbe gewichen zu sein.
»Was ist mit dir? Geht es dir nicht gut?«, fragte Barbli besorgt.
Susanna war unfähig zu sprechen. Kreidebleich stand sie da und blickte dem Reiter auf dem schwarzen Pferd mit entsetztem Blick nach.
Im Pfälzer Wald, 1671
Der Mann trat aus dem Schutz der Bäume hervor auf die Lichtung, die von verharschtem Schnee bedeckt war. Kaum setzte er einen Fuß auf die Eisschicht, knirschte sie unter seinen Sohlen, sodass sein Körper durch das kratzende Geräusch von einer Gänsehaut überzogen wurde. Auf seinem Weg zuvor hatte der weiche Waldboden seine Schritte verschluckt, und er konnte sich lautlos fortbewegen. Doch das Knacken des verhärteten Schnees schien in der Stille der Nacht verräterisch nachzuhallen. Hastig ging er in die Knie, hob den Blick und schaute sich mit angehaltenem Atem um.
Als er niemanden entdeckte, ließ er die Luft ruhig aus den Lungen entweichen. Er blieb jedoch wachsam.
Sogar die Tiere scheinen diese Gegend zu meiden, dachte er, als er vor sich auf der freien Fläche keine Wildspuren erkennen konnte. Obwohl das fahle Mondlicht den festgefrorenen Schnee wie einen geschliffenen Edelstein funkeln ließ, wirkte die Gegend unheimlich und düster.
Der Fremde zog seine löchrigen Wollhandschuhe aus und blies den Atem in die ineinandergefalteten Handflächen. Seine Hände waren eiskalt. Auch die gestrickte Mütze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte, schützte ihn kaum vor der klirrenden Kälte. Mit den Fingerspitzen fuhr er langsam über die Stelle, wo einst sein rechtes Ohr gewesen war. Das hatte man ihm bereits als Knabe abgeschlagen, doch noch immer schmerzte die Narbe – besonders während der eisigen Wintermonate.
Die kalte Luft kroch durch seine Kleidung bis in die Knochen, sodass sie schmerzten. Bibbernd zog er den verschlissenen Umhang fest um die Schultern und legte die durchgerissenen Stoffenden auf den angewinkelten Oberschenkeln ab. Die starre und gebeugte Haltung ließ seine Beine taub und steif werden. Er zitterte, und die Zähne schlugen aufeinander. Er versuchte so flach wie möglich Luft zu holen, damit der helle Dunst seines Atems ihn nicht verraten konnte. Blinzelnd suchte er die Umgebung ein weiteres Mal ab. Erst als er sich sicher war, dass außer ihm niemand sonst auf der Lichtung war, kam er ächzend aus der Hocke hoch. Kaum stand er gerade, nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Ruckartig wandte er den Kopf in die Richtung, und ebenso schnell fand seine Hand die Stelle, wo er am Körper ein Messer versteckt hielt. Als er erkannte, dass es nur ein Ast war, der sich im Wind sanft hin und her bewegte, spürte er Erleichterung. Er zog die Handschuhe über seine kalten Finger und sah zur anderen Seite der Lichtung, wo sich die Silhouette des Waldes dunkel und bedrohlich vom Nachthimmel abhob. Jedem anderen hätte bei diesem Anblick das Herz vor Angst schneller geschlagen, aber der Fremde kannte keine Furcht. Dieses Gefühl hatte er schon als Knabe aus seinem Kopf verbannt und als Erwachsener vergessen. Ohne sich ein weiteres Mal umzusehen, rannte er los.
Der Mann lief die Waldschneise hinaus. Unter seinen Sohlen wurde der Schnee bei jedem Schritt weicher, bis er plötzlich bis zu den Waden einsackte. Es kostete ihn Kraft weiterzugehen.
»Als junger Mensch wäre ich über die Lichtung gerannt, ohne anzuhalten«, schimpfte er und blieb keuchend stehen. Schweiß durchnässte sein Hemd. Er wischte sich erschöpft über die grauen Bartstoppeln, an denen Eis klebte. »Hoffentlich finde ich die Alte bald«, murmelte er und schaute suchend zu den Baumwipfeln empor, doch er konnte keinen Qualm erkennen, der auf eine Hütte hätte schließen lassen. »Ich muss tiefer in den Wald gehen«, knurrte er und stapfte mit schweren Schritten vorwärts.
Er entdeckte die windschiefe Kate, zwischen Bäumen versteckt und von dichtem Strauchwerk verdeckt. Zuerst glaubte er an eine Sinnestäuschung, da er in der Dunkelheit nur unscharf sehen konnte. Doch beim Näherkommen roch er Rauch und entdeckte die Tür, die man ihm in dem Dorf beschrieben hatte. Sie war aus armdicken Ästen zusammengezimmert worden, in denen ein sonderbares Symbol eingebrannt war. Er trat näher und schaute sich das geschwärzte Zeichen an, erkannte aber nicht, was es darstellen sollte. Mit fester Hand schlug er gegen das Holz, und als sich nichts rührte, wiederholte er den Schlag.
Da rief eine krächzende Stimme: »Komm herein! Ich habe dich erwartet.«
Erstaunt zog er seine buschigen Augenbrauen zusammen, wodurch sich sein Blick verfinsterte. Er schob den Holzstift zur Seite, und die Tür ging auf. Ein unangenehmer Geruch, gemischt aus Kräutern, feuchtem Holz und gekochtem Fleisch, umhüllte ihn, und er drehte angewidert den Kopf zur Seite. Dumpfes Lachen war zu hören.
»Schließ die Tür. Die Kälte kommt herein«, rief ein Weib schnatternd.
Der Mann tat, wie ihm geheißen, zog die Handschuhe aus und nahm die Mütze vom Kopf. Auf einer offenen Feuerstelle inmitten der Hütte köchelten Fleischbrocken in einem eisernen Topf. Die feuchte Luft legte sich auf Haut und Haar, und seine Kleidung wurde klamm, da der Dampf durch das Loch im Dach nur schwer abziehen konnte. Er blickte umher auf der Suche nach der Alten und fand sie in einer Ecke auf dem Boden sitzend.
Der Schein des Feuers warf Schatten auf ihr mit Falten überzogenes Gesicht. Kleine Augen lagen tief in den Höhlen, sodass man die Farbe der Iris nicht erkennen konnte. Sie hatte ihre grauen Haare zu einem dicken Zopf geflochten, den sie über die Schulter trug und der ihr bis zur Hüfte reichte. Er wusste, dass sie seinen abschätzenden Blick spürte, doch es schien sie nicht zu stören.
»Bist du Adele Geizkopfler?«, fragte er, um sich zu versichern, dass er die richtige Frau gefunden hatte.
»Was willst du von mir?«, fragte sie und reckte ihr Kinn.
»Wenn du wusstest, dass ich komme, musst du auch wissen, warum ich dich aufsuche«, antwortete er spöttisch.
»Bist du gekommen, weil du denkst, ich wäre eine Seherin?«, fragte sie und zog ihre Stirn kraus, während sie ihn musterte. »Du machst nicht den Eindruck eines einfältigen Narren, der solch einen Unsinn glauben würde«, stellte sie fest. »Ich kann dich beruhigen. Ein Vöglein hat mir gezwitschert, dass du mich suchst.«
Er rieb sich über die Narbe neben der Wange, die durch die Hitze und den Wasserdampf juckte.
Der Blick der Frau folgte seinen Bewegungen. »Du scheinst ein langfingriges Kind gewesen zu sein.«
»Wie kommst du darauf, dass man mir das Ohr schon im Kindesalter abgeschlagen hat?«, fragte er argwöhnisch.
»Jeder weiß, dass dies die Bestrafung für Kinder ist, die stehlen. Erwachsene werden gehängt.«
»Das ist eine Vermutung, die nicht immer zutrifft«, wies er sie rüde zurecht.
Die Alte ließ sich durch sein ungehaltenes Wesen nicht einschüchtern und sagte: »Setz dich, und verrate mir deinen Namen.«
Er ignorierte ihre Aufforderung und zischte: »Meinen Namen musst du nicht wissen.«
»Du bist ein ungehobelter Kerl«, rügte Adele ihn und füllte einen Becher mit einem dampfenden Getränk, den sie ihm reichte. »Das Gebräu wird dich von innen wärmen. Trink und erzähl mir deine Geschichte.«
»Meine Geschichte geht dich genauso wie mein Name nichts an, und dein Gebräu kannst du behalten«, antwortete er barsch.
»Warum so unfreundlich?«, fragte Adele und musterte ihn von der Seite. »Du hast Hunger«, erkannte sie, da er zum Kochtopf schielte und sich die Lippen leckte. »Es dauert, bis das Fleisch weich ist. Setz dich endlich!«, befahl sie ihm ungeduldig und zeigte zu einem Katzenfell, das ihr gegenüber auf dem Boden lag. »Hier, trink von dem Sud. Deine Lippen sind ganz blau verfärbt«, ermahnte sie ihn nun freundlich.
Er gab nach und setzte sich auf das Fell, das vor der Kälte des festgetretenen Waldbodens in der Hütte schützen sollte. Zögerlich nahm er den Becher entgegen und nippte von dem heißen Gebräu.
Schon nach wenigen Schlucken spürte er, wie ihm warm wurde. Er entspannte sich und zog den Umhang aus, den er ebenso wie die Mütze und die Handschuhe neben sich legte. Als er die Ärmel seines wollenden Kittels hochschob, kamen auf seinen Unterarmen rote und wulstige Narben zum Vorschein.
»Auch aus der Kindheit?«, fragte die Alte neugierig.
»Mein Leben geht dich nichts an. Also erspar mir weitere Fragen«, sagte er leise und funkelte sie an.
Sie zuckte unbekümmert mit den Schultern und rührte in dem Eintopf. »Was willst du von mir? Es muss dringend sein, da du in eisiger Kälte den weiten Weg auf dich genommen hast.«
»Es heißt, du weißt, wie man an ein Geldmännchen kommt.«
Die Alte verdrehte die Augen. »Alles scheint sich um Macht und Reichtum zu drehen«, murmelte sie und schüttelte verständnislos den Kopf. »Solch ein Geldmännchen kannst du bei jedem fahrenden Händler kaufen. Dafür hättest du nicht hierherkommen müssen«, wies sie ihn mürrisch zurecht.
»Ich weiß, dass sie von diesen Scharlatanen angeboten werden. Aber die sind allesamt Betrüger«, antwortete er wütend.
»Ah! Du bist auch auf solch einen hereingefallen«, kicherte sie.
»Halt dein Maul«, blaffte er.
»Benimm dich! Du bist Gast in meiner Hütte«, erwiderte Adele.
Überrascht sah er sie an. Dann lachte er schallend auf. »Du bist eine furchtlose Frau«, stellte er fest.
»Ich lebe allein in der Einöde, da kann ich mir Angst nicht leisten. Das eingebrannte Zeichen auf der Tür schützt mich vor allem Bösen.«
Er streckte seine Beine aus und stützte sich mit dem rechten Ellenbogen ab. »Aberglaube!«, murmelte er abfällig und trank in einem Zug den restlichen Sud. Den leeren Becher stellte er neben sich auf den Boden. Das warme Gebräu schien durch seine Knochen zu dringen. Der Schmerz ließ nach, und er seufzte zufrieden. Dann verriet er ihr: »Dieser Halunke hat mir erzählt, dass ich das Geldmännchen in einer Kiste mit Münzen aufbewahren solle, dann würde es das Geld auf magische Weise vermehren. Ich habe es gemacht und gewartet. Aber nichts geschah. Da bin ich ihm hinterhergereist und habe ihn an seinem langen dünnen Hals aufgehängt.«
»Wie dumm von dir!«, sagte die Alte gackernd. »Das wäre die Gelegenheit gewesen, an ein wahres Geldmännchen zu gelangen.«
Sein Oberkörper schnellte hoch. »Wie meinst du das?«, fragte er und setzte sich auf.
Adele sah ihn mit lachenden Augen an und schwieg.
»Erzähl, was du meinst«, presste er mühsam beherrscht zwischen den Zähnen hervor.
»Ich schlage dir ein Geschäft vor. Du erzählst mir, warum man dir als Kind das Ohr abgeschlagen hat, und dann beantworte ich dir deine Frage.«
»Warum willst du meine Geschichte wissen?«
Die Frau stand schwerfällig auf und ging zu einem Kräuterbüschel, das an einem Regalbrett hing. Sie besah sich einzelne Blätter und zupfte sie ab. Dann zerrieb sie sie zwischen ihren Handflächen und ließ sie in den Fleischeintopf bröseln.
»Ich möchte wissen, mit wem ich es zu tun habe. Bis der Eintopf fertig ist, haben wir Zeit, uns gegenseitig Fragen zu beantworten«, sagte sie und setzte sich wieder. »Also: Wie lautet dein Name?«
Er schnaufte laut aus. »Ich habe wohl keine andere Wahl.«
»Wenn du Antworten willst ...«
Mit beiden Händen strich er sich über die Stirn, als ob er die aufkommenden Erinnerungen verjagen wollte. Dann ließ er die Arme sinken, und sein Blick wurde starr. »Mein Name lautet Urban Griesser, und ich stamme aus einem kleinen Ort bei Coblenz. Mein Vater ...« Er stockte und fuhr dann mit verächtlicher Stimme fort: »... war wie viele Männer seines Schlags versoffen, brutal und doch ein Feigling. In Gegenwart von anderen traute er sich kaum, das Maul aufzumachen, und er war unterwürfig wie ein geschlagener Hund.« Der Klang seiner Worte spiegelte den Hass auf den Erzeuger wider. »Ich war neun Jahre alt, als ich beobachtete, wie er mit anderen Saufbolden aus dem Ort in den nahen Wald ging. Meine kindliche Neugierde trieb mich, ihnen zu folgen. Die Kerle verschwanden in einer abgelegenen Hütte, und ich lauschte an der Tür. Kaum hatte ich mein Ohr gegen das Holz gepresst, sprang die Pforte auf, und ich stolperte in die Kate. Ich kann heute noch ihr hämisches Lachen hören, als ich vor ihre Füße auf den staubigen Boden fiel.«
Griesser verstummte und wischte sich erneut über die Stirn. Seine Augen schienen eine Spur dunkler zu werden und glänzten wie Kohle, als er fortfuhr: »Einer der Männer war der Metzger des Ortes. Sein Nacken war in drei Speckringe gelegt, und seine Unterarme so dick wie meine Oberschenkel. Er zog ein Messer aus seinem Gürtel, das er zum Abstechen des Schlachtviehs benutzte, und packte mich am rechten Ohr. Ich habe geschrien und voller Furcht meinen Vater angeblickt, aber der sah mich nur feige an. ›Der Lauscher an der Wand hört seine eigene Schand‹, verkündete der Metzger. Ich hörte mich ›Vater!‹ schreien, als etwas Brennendes meinen Kopf zu durchschneiden schien. Ich wusste nicht, woher der Schmerz kam, und blickte zu dem Mann, der mir lachend mein abgetrenntes Ohr vor die Nase hielt.«
Urban Griesser verstummte und stierte in die Glut unter dem Kessel.
»Es muss fürchterlich gewesen sein«, flüsterte die Alte.
Sein Blick wandte sich ihr zu. »Der brennende Schmerz, den das Messer hinterlassen hat, war unbeschreiblich, aber auszuhalten. Der Schmerz, als meine Mutter die Wunde ausbrannte, war ebenfalls unbeschreiblich, aber auszuhalten. Doch der Schmerz, weil mein Vater es wortlos geschehen ließ und mir nicht half, der war fürchterlich und nicht auszuhalten«, erinnerte er sich. Dann wurde sein Kreuz gerade, und seine Stimme bekam einen abgestumpften Klang. »Mittlerweile bin ich ein alter Mann und erinnere mich kaum noch daran.«
Adele Geizkopfler betrachtete den Mann, den sie nicht kannte und doch durchschaute. Die dunklen, mit Silberfäden durchzogenen Haare reichten ihm bis zum Kinn und verdeckten die hässliche Narbe. Da seine Haut wettergegerbt schien, schlussfolgerte sie, dass er viel unterwegs war. Tiefe Falten um Mund und Nase wiesen auf Härte gegenüber sich selbst und anderen hin. Auch der Ausdruck seiner fast schwarzen Augen war erbarmungslos, und doch konnte sie ein unsicheres Flackern darin erkennen. Sie schätze ihn auf vierzig Jahre oder sogar älter.
»Ich glaube dir nicht, dass du das Furchtbare vergessen hast«, sagte sie leise. »Du hast nur gelernt, den Schmerz zu verbergen, aber ich erkenne ihn in deinen Augen. Nicht nur dein Ohr ist vernarbt, auch deine Seele!«, erklärte die Frau weise.
»Halt dein Maul, Alte! Ich brauche dein Mitleid nicht. Lös dein Versprechen ein, damit ich wieder gehen kann.«
Adele verzog keine Miene und nickte. Sie faltete die Hände in ihrem Schoß und sah ihm geradewegs in die Augen. »Höre, was ich dir zu berichten habe. Weißt du, dass ein Geldmännchen auch Galgenmännchen genannt wird?«
Griesser schüttelte den Kopf. »Das habe ich noch nie gehört. Warum Galgenmännchen?«
»Weil es unter einem Galgen wächst«, erklärte sie leise.
Er sah sie ungläubig an und drohte: »Wage nicht, dich über mich lustig zu machen. Du denkst, ich bin dumm und glaube dir diesen Unsinn.«
»Du bist zu mir gekommen. Ich habe keinen Vorteil davon, dich anzulügen.«
Man konnte sehen, wie Griessers Gedanken hinter seiner Stirn hin und her sprangen. »Erzähl mir, was du darüber weißt«, befahl er knurrend.
Die Frau wollte ob des Tons aufbegehren, doch als sie seinen Blick sah, schluckte sie ihre Widerworte und erklärte: »Es heißt, wenn der Samen eines Gehenkten auf die Erde fällt und sich am Boden mit dem Wasser des Todgeweihten vermengt, erwächst daraus der Alraun, den du Geldmännchen nennst.«
Griessers Augen weiteten sich ungläubig. »Ein Geldmännchen wächst aus dem Samen eines Mannes? Wie das Kind im Bauch einer Frau? Das kann ich mir nicht vorstellen. Du lügst!«, unterstellte er ihr.
»Warum sollte ich dich anlügen? Du wolltest eine Antwort, und das ist sie.«
Griesser wusste nicht, was er davon halten sollte. Das hatte er nie zuvor gehört. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Geldmännchen so erschaffen wird«, murmelte er stirnrunzelnd. Aber, dachte er, es war so unbegreiflich, dass es wahr sein konnte. Er forschte im Gesicht der Alten und versuchte herauszufinden, ob ihre Augen etwas anderes sagten als ihr Mund. Doch sie schaute ihn offen an. Er atmete tief ein. Wochenlang war er umhergeirrt auf der Suche nach jemandem, der ihm Auskunft über ein Geldmännchen geben könnte. Schließlich hatte man ihm hinter vorgehaltener Hand den Namen der Alten zugeflüstert.
»Du hast ein solches Männchen wachsen gesehen?«, fragte er.
Sie schüttelte ihr graues Haupt, und er war überrascht.
»Ich denke, du weißt, wie ich an ein Geldmännchen komme. Schließlich hat man mir deinen Namen genannt.«
»Ich habe es schreien gehört«, flüsterte sie geheimnisvoll.
»Schreien?«, wiederholte er ungläubig.
»Wenn es aus dem Boden herausgerissen wird, schreit es, dass es dir eiskalt über den Rücken läuft.«
»Wer sagt das?«
»Du bist nicht der Erste, der solch ein Geldmännchen haben will. Warum, glaubst du, gibt es kaum jemanden, der dir Auskunft geben kann?«
Griesser zuckte mit den Schultern.
»Es schreit und heult so fürchterlich, dass der Mensch, der es aus dem Boden zieht, durch das Geschrei alsbald sterben muss«, verriet sie leise. »Schrill und entsetzlich, und niemand kann sich dem entziehen.«
Urban Griesser riss entsetzt die Augen auf. »Woher willst du das wissen?«
»Eines Nachts vor vielen Jahren habe ich den Alraun unter dem Galgen unseres Ortes gehört, und am nächsten Morgen hat man eine Leiche gefunden.«
»Meine letzte Hoffnung ist zerstört«, keuchte er und wusste nicht, was tun mit seiner aufsteigenden Wut, die ihm die Luft abdrückte.
»Du hast Glück, dass du zu mir gekommen bist«, kicherte Adele.
Griesser schaute erstaunt.
»Aber erst will ich wissen, wofür du das Geldmännchen benötigst.«
»Du bist ein neugieriges, aufdringliches altes Weib«, schimpfte er, doch dann überzog ein Schmunzeln sein Gesicht. »Aber deine furchtlose Art gefällt mir«, sagte er. Sein Blick wurde wieder ernst, als er verriet: »Ich habe es satt, umherzureisen und nicht zu wissen, wohin ich gehöre. Meine Knochen schmerzen von den zahlreichen Brüchen und Verletzungen, die ich mir im Kampf als Söldner zugezogen habe. Ich möchte sesshaft werden, aber dabei nicht, wie so viele, von der Hand in den Mund leben. Man soll mich achten und nicht verachten, weil ich arm bin. Und deshalb benötige ich Geld – viel Geld.«
Die Alte sah ihn forschend an.
»Außerdem bedeutet Geld Macht, und die will ich haben. Nur wer Geld besitzt, kann in dieser Welt etwas erreichen«, zischte Griesser.
»Warum stiehlst du es nicht?«
»Ich bin ein guter Schwertführer, aber ich tauge nicht zum Dieb.«
»Um das zu wissen, musst du es bereits ausprobiert haben«, schlussfolgerte sie.
Er nickte. »Schon mehrmals. Und jedes Mal bin ich nur knapp dem Henker entkommen.«
Adele Geizkopfler schien zu überlegen. »Dein Leid aus Kindestagen rührt mich, Urban Griesser, und nur aus diesem Grund werde ich dir helfen und dir verraten, wie du an den Alraun gelangst, ohne dabei tot umzufallen. Ich nehme an, dass du noch nie einen gesehen hast?«
Griesser schüttelte den Kopf.
»Das dachte ich mir, denn sonst hätte man dich nicht übers Ohr hauen können.« Als er bei dieser Bemerkung die Luft scharf zwischen die Zähne sog, fuhr sie hastig fort: »Der Alraun ist weiß und dick, und eine Hälfte ist gespalten, sodass es aussieht wie zwei übereinander verschränkte Menschenbeine. Die andere Hälfte ist am oberen Ende mit dünnen Wurzeln bedeckt, die wie dünne Haare wirken. Zieht man ihm Kleider an, gleicht er einem Menschlein. Bedenke, wenn man einen Alraun besitzt, muss man Sorge tragen, dass es ihm gut geht. Man muss ihn sauber halten und ihn in ein Bettchen legen.«
Griessers Stirn zerfurchte sich. »Das hört sich an wie Altweibergeschwätz. Du nimmst mich auf den Arm«, unterstellte er der Greisin.
Die lachte breit. »Ob du das glaubst oder nicht, musst du entscheiden. Aber bevor du dich festlegst, höre das Wichtigste: Willst du den Alraun aus dem Boden reißen, benötigst du einen Hund. Einen, dessen Fell so schwarz wie die Nacht ist. Nicht ein einziges andersfarbiges Härchen darf an seinem Körper wachsen. Nachdem du dir die Ohren mit Wachs oder Pech verstopft hast, damit du das Geschrei nicht hören musst, schlägst du über den Alraun drei Kreuze. Erst dann darfst du die Erde um ihn herum aufgraben. Grabe nur so weit, bis du das eine Ende einer dünnen Schnur um des Alrauns Körper festmachen kannst. Das andere bindest du dem Hund an den Schwanz. Nimm ein Stück Brot, und halt es dem Hund vor die Nase, damit er es schnuppern kann. Dann läufst du geschwind davon. Der Köter wird dir folgen und dabei den Alraun aus der Erde reißen. Durch das fürchterliche Geschrei wird der Hund baldig tot umfallen. Doch dir wird nichts geschehen. Sobald du den Alraun in Händen hältst, wird er dir Glück und Reichtum bringen. Aber sei vorsichtig! Bist du nicht gut zu ihm, wird er sich in ein Galgenmännchen verwandeln und dich ins Verderben stürzen.«
Adele Geizkopfler schaute Griesser an, der über das Gehörte nachzudenken schien. Als er nichts sagte, meinte sie: »Jetzt musst du nur noch einen Mann finden, den man zum Tode durch den Strang verurteilt hat und hängen wird.«
Urban Griesser antwortete mit fester Stimme: »Glaube mir, damit werde ich kein Problem haben!«
In Trier im selben Monat
Margarete drückte mit der einen Hand vorsichtig die Türklinke herunter, während sie versuchte, nicht mit der anderen den heißen Sud im Becher zu verschütten. Die Tür öffnete sich geräuschlos zur Schlafkammer der Eltern. Abgestandene, warme Luft strömte ihr entgegen. Die Fünfzehnjährige wartete einige Augenblicke, bis sich ihre Augen an das schummrige Licht gewöhnt hatten. Dann trat sie leise ein.
»Gritli, bist du es?«, krächzte Susanna und räusperte sich. Schlaftrunken sah sie zu ihrer Tochter, die den Becher neben dem Bett auf das Tischchen stellte.
»Ich bringe dir heißen Kräutertrank«, erklärte das Mädchen, das Gritli genannt wurde. »Geht es dir besser, Mutter? Lässt die Erkältung nach?«
»Ich fühle mich ausgeruht. Auch scheint das Fieber zurückgegangen zu sein. Wie spät ist es?«
»Kurz vor Mittag.«
»Um Himmels willen, ich habe den Morgen verschlafen!«, rief Susanna aufgeschreckt und schlug die Bettdecke zurück.
»Bleib liegen. Nur dann wirst du gesund«, mahnte die Tochter.
»Aber ich muss ...«, begehrte Susanna auf, doch sie wurde von Gritli unterbrochen.
»Bevor Vater das Haus verließ, hat er nach dir gesehen. Als er sah, dass du tief und fest schläfst, sagte er zu mir: ›Sorge dafür, dass deine Mutter im Bett bleibt, und lüfte ihre Kammer, damit sie frische Luft atmet‹«, wiederholte Gritli die väterliche Anweisung und zog den Vorhang vom Fenster zurück. »Und jetzt deck dich zu, Mutter, damit ich lüften kann.«
Susanna schmunzelte. »Du bist ein folgsames Kind!«, lobte sie ihre Tochter, als ein Hustenanfall sie nach Luft japsen ließ.
Sofort reichte das Mädchen ihr den Becher. »Trink, Mutter. Die Kräuter darin werden dir guttun.«
Susanna trank von dem Gebräu und legte sich erschöpft zurück. Mürrisch blickte sie zum Fenster hinaus. »Es schneit schon wieder. Dieser Winter ist besonders lang und kalt«, schimpfte sie und zog sich die Decke bis zum Kinn. »Ich bin ein Sonnenkind und brauche die Wärme. Schließ das Fenster, und zieh den Vorhang vor. Ich will das Wetter nicht sehen, Gritli.«
»Es ist aber trotzdem da«, kicherte das Mädchen und schüttelte das Kissen und die Decke auf. Dann setzte sie sich auf die Bettkante. »Hast du es warm genug, Mutter, oder soll ich dir eine zusätzliche Decke bringen?«
Susanna schüttelte den Kopf. »Nein, es ist alles bestens. Stell dir vor, Kind, mein Elternhaus hatte nicht einmal Fensterscheiben, sodass wir im Winter die Öffnungen mit Stroh und Lumpen verschließen mussten.«
»Gab es damals keine Glasscheiben?«, fragte die Tochter erstaunt.
Susanna musste über die Frage lächeln. »Natürlich gab es die auch in meiner Jugend, nur konnten sich meine Eltern kein Glas leisten. Das war den reichen Menschen vorbehalten. Außerdem herrschte damals Krieg, und Glasereien waren selten.«
»Aber wir sind doch wohlhabend«, entgegnete das Mädchen.
»Ja, uns geht es gut. Doch meine Eltern waren arme Bauern, die zudem in einer sehr harten Zeit leben mussten.«
»Ich weiß nichts über meine Großeltern. Nur, dass sie im Land an der Saar gelebt haben und früh gestorben sind.«
Susannas Miene verhärtete sich, und sie schaute auf einen Punkt an der Wand. Ihre Gedanken entführten sie in eine andere Zeit.
Margarete betrachtete Susanna. Ihr wurde zum ersten Mal bewusst, dass sie von der Kindheit und Jugend ihrer Mutter kaum etwas wusste. Wenn sie ehrlich war, interessierte sie beides nie, und sie hatte die andere Familie nicht vermisst. Ihre Großeltern Barbli und Jaggi, die Eltern ihres Vaters Urs, hatten ihre Enkelkinder von klein auf liebevoll umsorgt. Außerdem gab es noch Tante Vreni mit ihrer Familie, ihren Oheim Leonard, dessen Frau Anni und deren Kinder. Auch mit ihrem Bruder Michael hatte sie ein inniges Verhältnis – obwohl er wegen seiner Arbeit nur selten zuhause war. Ihre Mutter hatte außerdem einen Vetter namens Arthur, an den sich Margarete allerdings kaum erinnerte, da er nicht bei ihnen lebte. Er hatte den Tod seiner Frau, die mit dem Neugeborenen im Kindbett verstorben war, nicht überwunden und deshalb Trier und seine Base verlassen. Niemand wusste, wo er war oder wie es ihm ging.
Womöglich habe ich über Mutters Angehörige nicht nachgedacht, weil die Verwandtschaft meines Vaters so zahlreich ist, ging es dem Mädchen durch den Kopf. Wenn sie genau überlegte, wurde auch nie über sie gesprochen. Jedenfalls nicht in ihrem Beisein.
»Mutter, was hast du?«, fragte Margarete bestürzt, da sie glaubte, in Susannas Augen Tränen glitzern zu sehen.
Susanna schaute erschrocken hoch und wischte sich über das Gesicht. »Verzeih, mein Kind, wenn ich dich erschreckt habe«, entschuldigte sie sich. »Zu meiner Schande habe ich schon lange Zeit nicht mehr an meine Familie gedacht, obwohl ich immer Angst hatte, sie zu vergessen und mich nicht mehr an ihre Gesichter zu erinnern. Ich weiß, dass ich lange Zeit sogar zum lieben Gott gebetet habe, damit er mir hilft, mich immer an sie zu erinnern. Doch wenn man nicht an sie denkt ...«, weinte sie und griff unter ihr Kopfkissen, wo sie ein Taschentuch hervorzog, um sich zu schnäuzen.
»Hast du sie vergessen?«, fragte ihre Tochter vorsichtig.
Susanna schüttelte den Kopf. »Nein«, lachte sie unter Tränen. »Ich kann sie deutlich vor mir sehen und mich sogar an ihre Stimmen erinnern.«
»Wie waren sie? Wann sind sie gestorben? Warst du bei ihnen, oder hast du da schon in Trier gelebt? Erzähl mir von ihnen«, wurde sie von Margarete mit Fragen bestürmt.
»Musst du nicht in der Küche helfen?«, erinnerte Susanna das Mädchen an seine Pflichten.
»Nein! Marie ist wieder gesund, und Großmutter Barbli hilft ihr. Wir haben alle Zeit der Welt«, erklärte Gritli und blickte die Mutter neugierig an.
Susanna wollte Luft holen, doch der Atem schien ihre Lungen nicht zu erreichen. Es war, als ob die Neugier der Tochter ihr die Brust zudrückte. Aber im Grunde wusste sie, dass sie sich nur fürchtete, über ihre Angehörigen zu sprechen. Die Erinnerungen schmerzten nach so vielen Jahren noch immer. Auch wollte sich Susanna das Schreckliche von damals nicht mehr ins Gedächtnis zurückrufen. Doch sie erkannte den erwartungsvollen Blick Gritlis, die von der Arnoldschen Familie so gut wie nichts wusste. Hatten ihre Kinder nicht das Recht zu wissen, was damals geschehen war und wer ihre Familie war?, fragte sich Susanna. Sie dachte an Oheim Bendicht, der sich im Alter nicht mehr erinnert hatte, wie seine Frau hieß. Könnte ihr das mit ihrer Familie ebenso passieren? Heißt es nicht, dass man Tote am Leben hält, indem man Geschichten über sie erzählt? Susanna setzte sich auf und bat: »Stopf mir das Kissen in den Rücken, damit ich angenehm sitze, wenn ich dir von deinen Großeltern erzähle.«
Hastig erfüllte Margarete den Wunsch der Mutter und setzte sich ihr gegenüber aufs Bett. »Erzähl mir als Erstes von deinen Geschwistern«, bat Gritli und flüsterte: »Wie aufregend!«
Susannas ernste Gesichtszüge wurden weich. »Ich hatte einen zwei Jahre älteren Bruder namens Johann. Er war mein Beschützer, mein Ritter, mein Held.«
»So wie Michael für mich«, rief Gritli freudig, und Susanna nickte.
»Und so wie dein Bruder manchmal ein liebevolles Scheusal sein kann, so war Johann ebenfalls ab und zu unausstehlich«, lachte Susanna. »Wenn ich recht überlege, gleichen sich die beiden, obwohl Michael feinfühlig und auch feingliedrig ist. Johann war ein echter Naturbursche. Groß und breitschultrig, und er strotzte vor Kraft. Er mochte es, die Arbeiten auf dem Hof zu verrichten und mit unserem Vater die Äcker zu bestellen. Auch war er ein treffsicherer Jäger, der versuchte, unseren Speiseplan mit Wild aufzubessern. Leider waren die Wälder während des langen Kriegs fast leergejagt. Aber wenn er einen Hasen oder einen Fasan vor die Flinte bekam, dann war dessen Tod gewiss.«
»Wie hat dein Bruder dich geärgert?«, wollte Gritli wissen.
»Mit so vielen Dingen, die heute lustig erscheinen. Doch damals hätte ich ihm am liebsten den Hals umgedreht. Die Zeiten in meiner Kindheit waren sehr hart und karg, da schon viele Jahre dieser unsägliche Krieg geherrscht hat. Wir mussten täglich ums Überleben kämpfen. Es gab wenig zu essen, und nur sehr selten Milch mit Honig zu trinken. Einmal hatte Johann mir Salz in die Milch gerührt, sodass sie ungenießbar wurde. Er dachte sich nichts dabei und wollte mich nur ärgern. Aber mein Vater war darüber so erzürnt, dass er ihn mit dem Gürtel schlug, obwohl er uns sonst nie züchtigte.«
Gritlis Augen weiteten sich vor Entsetzen.
»Da kannst du erkennen, wie gut es euch geht, mein Kind, und das nicht nur, weil ihr keinen Hunger kennt«, erklärte Susanna augenzwinkernd.
»Wie war deine Schwester?«, wollte das Mädchen von ihr wissen.
Ein feines Lächeln überzog Susannas Gesicht. »Bärbel war neun Jahre jünger als ich und ein Sonnenschein. Aber sie hatte auch ihren Dickkopf und war ungestüm. Das Kind konnte kaum ruhig stehen, was meinen Bruder zur Weißglut brachte. ›Kannst du nicht einmal stillstehen?‹, hat Johann sie dann angeschnauzt. Doch Bärbel kümmerte sein Ärger nicht. Mit ihren strahlenden Äugelein hat sie ihn angelächelt und einfach nur ›Nein!‹ geantwortet, wobei sie vor ihm auf und ab gesprungen ist, sodass ihre langen braunen Zöpfe hin und her hüpften. Das hat Johann natürlich noch wütender gemacht«, lachte Susanna. »Meine kleine Schwester war wissbegierig und konnte jeden mit Fragen löchern. Sie kletterte auf Bäume und kannte keine Furcht. Mutter meinte stets, dass Bärbel wohl besser ein Junge geworden wäre«, lächelte sie und verstummte. Erst nachdem sie mehrmals Luft geholt hatte, flüsterte sie: »Ich würde unser ganzes Geld dafür hergeben, wenn ich hätte sehen dürfen, wie sie heranwächst.« Ihre Stimme versagte, da Tränen sie am Weitersprechen hinderten.
Die Tochter nahm ihre Hand und streichelte darüber. »Es tut mir leid, dass meine Neugier dich traurig macht, Mutter«, sagte das Mädchen leise.
Susanna strich ihr zärtlich über die Wange. »Du musst dich nicht schuldig fühlen, mein Kind. Ich bin froh, dass du nach meiner Familie gefragt hast, denn nur so lebt sie weiter.«
»Erzählst du mir mehr von ihnen?«, fragte Gritli zaghaft. Kaum nickte Susanna, wollte das Mädchen wissen: »Wenn mein Bruder Michael deinem Bruder Johann gleicht, sehe ich dann aus wie deine Schwester Bärbel?«
Susanna betrachtete ihre Tochter und schüttelte den Kopf. »Je älter du wirst, desto mehr gleichst du deinem Vater, zumal du die rostroten Haare und die bernsteinfarbenen Augen von ihm geerbt hast.« Als das Mädchen enttäuscht schaute, fügte sie hinzu: »Aber als du geboren wurdest und wir beide uns zum ersten Mal anblickten, glaubte ich, dass meine Mutter mich anschaut. Ich hatte das Gefühl, als ob sie wiedergeboren wäre.«
»Wirklich?«, fragte ihre Tochter freudig.
»Ja, das ist die Wahrheit, Gritli. Und wenn ich genau nachdenke, dann hast du sehr viel von ihr geerbt.«
»Was noch?«
»Nichts Äußerliches, aber Wesenszüge. Wie du war auch meine Mutter eher zurückhaltend und überlegte zuerst, bevor sie etwas Unbedachtes sagte oder tat. Sie wagte es nicht, jemanden zu beurteilen, ohne ihn näher zu kennen, und sie suchte immer das Gute im Menschen. Mutter war eine gerechte Frau – ebenso wie du, mein Kind. Auch war sie über alle Maßen hilfsbereit und hätte ihr letztes Hemd gegeben, wenn sie jemandem damit geholfen hätte. Zudem war sie gütig und fromm. Das sind Eigenschaften, die du ebenfalls in dir trägst, Gritli«, erklärte Susanna ernst. Als sie den zweifelnden Gesichtsausdruck ihrer Tochter sah, zog sie sie in ihre Arme und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Glaube mir, du bist die perfekte Mischung aus all den guten Seiten der Blatters und der Arnolds.«
Gritli lächelte zufrieden. »Wie sah dein Vater aus?«
»Dein Großvater war kein groß gewachsener Mann und im Laufe der Jahre durch die schwere Arbeit auf dem Hof krumm geworden. Als ich Kind war, hatte er einen schweren Unfall mit einem Fuhrwerk, wobei sein Bein mehrmals brach. Danach hinkte er, denn sein Fuß war schief zusammengewachsen. Aber das tat seiner Schaffenskraft keinen Abbruch. Kaum krähte der Hahn, war er schon auf den Beinen. Ich erinnere mich, dass meine Eltern eine liebevolle Ehe geführt haben. Wenn Vater mal mürrisch war, musste Mutter ihn nur anlächeln, und du konntest sehen, wie seine Laune sich hob. Dann sagte er zu ihr: ›Maria, du wickelst mich wieder um deinen kleinen Finger.‹« Susanna stockte, denn in diesem Augenblick erinnerte sie sich wieder daran, wie sie ihren Vater blutüberströmt auf dem Boden im Stall des elterlichen Hofs gefunden hatte.
»Mutter, erzähl mir mehr von Großvater«, bat Gritli.
Doch Susanna schüttelte den Kopf. »Für heute sind es genug Erinnerungen.«
Gritli spürte, dass es falsch wäre, die Mutter, in deren Blick tiefe Trauer zu erkennen war, allein zu lassen. »Verrate mir, wie du meinen Vater getroffen hast«, versuchte sie Susanna von den trüben Gedanken abzulenken.
»Du hast noch eine andere Eigenschaft mit meiner Mutter gemein. Du bist ebenso feinfühlig wie sie.« Mit diesen Worten strich Susanna dem Mädchen eine lockige Haarsträhne hinter das Ohr. Dann erklärte sie: »Leider lernte ich deinen Vater nur kennen, weil etwas Fürchterliches geschehen war.« Als sie Gritlis bettelnden Blick sah, seufzte sie. »Ich hatte mir geschworen, nicht mehr darüber zu sprechen. Doch ich werde dir gern erzählen, wie ich deinem Vater begegnet bin.
Ich war siebzehn Jahre alt, als ich zu meiner Tante reiste, die gerade entbunden hatte. Da sie nach der Geburt geschwächt war, sollte ich ihr im Haushalt helfen. Als ich nach einer Woche ins Köllertal zurückkehrte, war unser Hof niedergebrannt, und alle meine Familienangehörigen ermordet.«
»Wie furchtbar!«, rief Gritli entsetzt und schlug sich die Hand vor den Mund. »Wer hat das gemacht und warum?«, fragte sie mit weit aufgerissenen Augen.
»Wenn du mich unterbrichst, kaum dass ich einen Satz gesprochen habe, erzähle ich nicht weiter. Also schweig, und lass mich ausreden«, ermahnte Susanna das Mädchen sanft, das daraufhin nickte. »Schon bald kehrten die Mörder zurück, denn mein Vater hatte ihnen nicht das gegeben, warum sie gekommen waren.«
Gritli öffnete bereits den Mund, um der Mutter wieder eine Frage zu stellen. Doch mit einer strengen Geste verhinderte Susanna, dass sie erneut unterbrochen wurde, und sprach weiter: »Die Mörder wussten, dass mein Vater im Besitz einer Karte war, die sie zu einem Schatz führen würde.«
»Eine Karte, die den Weg zu einem Schatz weist?«, rief Gritli ungeachtet der Ermahnung dazwischen. Susanna nickte, doch das Mädchen zweifelte. »So etwas gibt es wirklich?«
»Ja, solch eine Karte gibt es, und dank ihr können wir ohne Geldsorgen leben.«
»Du hast damit einen Schatz gefunden, der uns reich gemacht hat?«
Susanna bejahte die Frage, und ihre Tochter riss erstaunt die Augen auf. »Allerdings weiß ich nicht, ob der Fund wirklich mit der Schatzkarte zu tun hatte, oder ob wir nur Glück hatten«, erklärte Susanna nachdenklich.
»Wo ist diese Karte? Zeigst du sie mir?«, fragte Gritli.
Susanna schüttelte den Kopf. »Wir haben sie lange vor deiner Geburt verbrannt. Allerdings reichte diese Karte allein nicht aus, um einen Schatz zu finden. Deshalb hör weiter zu, was geschehen ist, denn sie brachte nicht nur Gold und Geld, sondern auch Tod und Verderben über uns.«
Das Mädchen sah seine Mutter erschrocken an.
»Du musst wissen, Gritli, dass ein Schatz von Geistern bewacht wird, die dafür Sorge tragen, dass niemand das Versteck findet. Deshalb benötigt man nicht nur eine Schatzkarte, sondern auch Werkzeuge und viel Mut, denn es heißt, dass diese Hüter des Schatzes Diener des Satans sind. Es sind gefallene Engel mit unbegrenztem und unbeschreiblichem Zerstörungswillen ... Ich denke, das war der Grund, warum mein Vater die Karte nicht selbst genutzt hat. Er hatte Angst und auch nicht die Beherztheit oder die Kraft, sich mit solchen Geistern anzulegen. Doch die Mörder meiner Eltern waren furchtlos.« Susanna schluckte hart und fuhr mit leiser Stimme fort: »Als ich damals meinen Vater im Stall fand, lebte er noch, obwohl man ihn brutal gefoltert hatte. Vielleicht hätte er überlebt, wenn nach dem Tod meiner Mutter nicht sein Lebenswille gebrochen wäre und er nicht den Tod herbeigesehnt hätte. Bevor er starb, vertraute er mir das Versteck der Schatzschriften an und ermahnte mich zu fliehen, denn er war sich sicher, dass die Mörder zurückkommen würden. Kaum hatte ich meine Familie beerdigt und die Schatzkarte gefunden, standen die Verbrecher auf dem Hof. Nur durch eine List konnte ich ihnen entkommen und suchte Schutz bei meiner Tante. Doch da war ich nicht willkommen, sodass ich wieder fortmusste. Ich irrte umher, bis ich mich bei einer Bauersfamilie in einem fremden Ort in Sicherheit wähnte. Doch die Mörder spürten mich auf und bedrohten sogar diese Familie. Als ich vor ihnen weglief, schossen sie auf mich und verletzten mich. Ich erreichte mit letzter Kraft ein Waldgebiet. Dort fand mich dein Vater, der damals mit seinen Eltern und seinen Geschwistern aus ihrer Heimat, der Schweiz, nach Trier reiste. Obwohl dein Vater noch kein erfahrener Heiler war, konnte er mir helfen. Er rettete mich vor dem sicheren Tod ...«
»... und seitdem seid ihr euch in tiefer Zuneigung zugetan«, schlussfolgerte Gritli mit leuchtenden Augen.
»Nein, so war es nicht«, schmunzelte Susanna. »Ich muss gestehen, als ich deinen Vater kennenlernte, war ich nicht immer ehrlich und freundlich zu ihm. Eigentlich war ich ein richtiges Biest«, lachte sie. »Zwar merkte ich recht bald, dass er mir gefiel. Trotzdem habe ich seine Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft ausgenutzt. Erst als ich glaubte, ihn verloren zu haben, merkte ich, wie sehr ich ihn mochte. Zum Glück ließ er sich von meiner Garstigkeit nicht abschrecken und hat um meine Hand angehalten. Dank seiner Hartnäckigkeit bin ich seit fast zwanzig Jahren seine Frau und die Mutter seiner Kinder«, beendete Susanna ihre Geschichte. Als sie den verträumten Blick ihrer Tochter erkannte, sagte sie zärtlich: »Ich wünsche dir von Herzen, mein Kind, dass auch du einen so guten Mann finden wirst.«
»Bei meinen Freundinnen sucht der Vater den Bräutigam aus«, erklärte das Mädchen und verzog den Mund.
»Das muss nicht das Schlechteste sein. Vor allem, wenn es geschäftliche Vorteile gibt, so wie bei den Voss’, die durch das Arrangement mit den Schulzes ihr Geschäft vergrößern konnten – was sie allein nicht geschafft hätten, da ihnen das Geld fehlte.«
»Das heißt aber nicht, dass einem der ausgewählte Ehemann gefällt. Zum Glück haben wir kein Geschäft und genügend Geld«, murmelte Gritli.
Susanna lachte leise. Sie nahm das Gesicht ihrer Tochter in beide Hände und sagte: »Ich verspreche dir, dass du deinen Ehemann selbst aussuchen darfst.«
»Denkst du, dass Vater damit einverstanden wäre?«, fragte das Mädchen zweifelnd.
»Glaub mir, er will nur das Beste für dich und deinen Bruder. Und wenn er denkt, dass deine Wahl nicht die beste ist, dann musst du ihn vom Gegenteil überzeugen. Und dabei, mein Kind, kannst du mit meiner Hilfe rechnen.« Susanna betrachtete ihre Tochter, deren Gesicht zu leuchten schien. Irgendetwas verriet ihr, dass Gritli bereits jemanden kennengelernt hatte.
Unvermittelt schlugen die Turmuhren in Trier die erste Mittagsstunde und lenkten sie von ihren Gedanken ab. »Wo ist dein Vater, Gritli? Normalerweise kommt er um diese Zeit zu einem kleinen Zwischenmahl nach Hause«, wunderte sich Susanna. »Hoffentlich hat es im Hospital keinen Notfall gegeben.«
»Vater sagte mir, dass er zusammen mit Elisabeth zu Ur-Oheim Bendicht gehen will«, verriet das Mädchen.
Susanna runzelte die Stirn. »Bei diesem furchtbaren Wetter?«, staunte sie. »Heute ist ihr Hochzeitstag«, fiel es ihr ein.
»Hochzeitstag? Erzählst du mir, wie Elisabeth und Bendicht sich kennengelernt haben?«, bettelte Gritli aufgeregt.
»Nein, mein Kind! Das ist deren Geschichte, und die soll dir Elisabeth erzählen.«
***
Urs zog an der Klingelschnur und hoffte, dass man ihm die Tür rasch öffnete. Seine kalten Finger brannten, als ob sie Feuer gefangen hätten. Um sie zu wärmen, vergrub er sie in den Achselhöhlen unter seinem Umhang. Selbst die kurze Entfernung vom Hospital bis zum Wohnhaus seines Oheims reichte aus, um von Kopf bis Fuß durchgefroren zu sein. Er stapfte mit den Füßen auf, damit die Gefühllosigkeit aus seinen Beinen verschwand. Endlich hörte er jemanden am Türschloss hantieren.
»Komm schnell ins Warme, mein Junge!«, rief Elisabeth, und er trat ein. Sie ging in die Küche vor, wo die Glut in der Herdstelle für wohlige Wärme sorgte. »Dieser Winter ist grausam und unerbittlich«, schimpfte sie und zog den Schal fest um ihre Schultern. »Ich will nur schnell meinen Umhang umlegen, dann können wir gehen.«
»Willst du wirklich bei diesem Wetter vor die Tür?«, fragte Urs sanft.
»Warum nicht? Ich bin schließlich nicht aus Zuckerguss«, erklärte sie schnippisch und wollte an ihm vorbeigehen, doch er hielt sie am Arm fest. »Das weiß ich, Elisabeth. Aber viele Wege sind vereist, und überall gibt es Schneeverwehungen. Wenn du hinfällst und dir ein Bein brichst ... Er würde es verstehen«, versuchte er sie umzustimmen.
»Unsinn! Mir wird nichts geschehen«, erklärte sie energisch.
»Lass es uns verschieben, Elisabeth! Sobald der eisige Wind nachgelassen hat, werde ich wiederkommen, und dann werden wir ...«
»Verstehst du nicht, Urs? Ich muss gehen! Heute ist unser Hochzeitstag«, unterbrach ihn Elisabeth.
Urs seufzte und ließ sie los. »Ja, ich weiß. Auch, dass dieser Tag dir sehr wichtig ist. Aber ich meine es nur gut mit dir. Morgen kann das Wetter schon anders sein«, versuchte er abermals sein Glück, sie von ihrem Vorhaben abzubringen.
Doch sie schüttelte den Kopf. »Ich werde gehen! Mit dir oder ohne dich!«
»Ich bin zu alt, um in der Kälte zu stehen, und ich sollte stattdessen am warmen Kaminfeuer sitzen«, klagte Jaggi Blatter und schlug seine Arme um den Pelzmantel. Ärgerlich schaute er zum Himmel empor, wo graue Wolken voller Schnee hingen. Wir sollten es auf morgen verschieben, überlegte er grimmig, doch dann wurden seine Gesichtszüge weich. »Ich weiß, dass du für mich dasselbe tun würdest, mein lieber Bruder«, flüsterte er, während ihm eiskalter Wind Tränen über die Wangen trieb.
Jaggi blickte sich in der Hoffnung um, seinen Sohn Urs mit der Schwägerin kommen zu sehen. Doch außer herabfallendem Schnee war nichts zu erkennen. Es wird das Beste sein, wenn ich vorgehe, sonst friere ich womöglich noch fest, scherzte er bitter.
Sehr zu seinem Leidwesen hatte sich Jaggi eingestehen müssen, dass er im Laufe seines Alters unsicher auf den Füßen geworden war. Zumal ihm besonders bei nasskaltem Wetter beide Knie schmerzten und er deshalb nicht mehr fest auftreten konnte. »Warum kann man nicht ewig jung bleiben?«, schimpfte er und setzte vorsichtig einen Schritt vor den anderen, da er wusste, dass sich unter den Schneeverwehungen spiegelglatte Eisflächen verbargen, die ihn zu Fall bringen konnten. Nicht auszudenken, wenn ich ausrutschen und in dieser Kälte liegen bleiben würde, dachte er.
Da hörte er, wie hinter ihm jemand seinen Namen rief. Er blieb stehen und sah sich um. Sein Sohn Urs führte die Frau seines Bruders am Arm zu ihm. Als sie vor ihm stehen blieben, umarmte er seine Schwägerin.
»Ich danke dir, Schwager, dass du mich trotz des Wetters begleitest«, sagte Elisabeth ergriffen.
»Das bin ich Bendicht schuldig«, antwortete Jaggi ernst und versuchte seine wahren Gefühle nicht zu zeigen.
Als er ihr seinen Arm reichte, bat Urs: »Vater, lass mich zwischen euch gehen, denn so ist es für euch sicherer.«
»Wer von uns hätte früher gedacht, dass wir beide einmal alt und gebrechlich werden, Elisabeth?«, brummte Jaggi und hakte sich nur widerwillig bei seinem Sohn unter, was auch seine Schwägerin, die verhalten lächelte, tat. »Ja, Jaggi, das ist wohl wahr. Wir glaubten früher, ewig jung und voller Tatendrang zu bleiben.«
»Ihr könnt euch glücklich schätzen, dass ihr so gut so alt geworden seid«, erklärte Urs und führte die beiden durch die Gräberreihen.
»Ich kann nichts erkennen. Alles ist unter einer dicken Schneeschicht bedeckt«, schimpfte sein Vater, dessen Blick suchend umherschweifte. »Wer weiß, ob wir hier überhaupt auf dem richtigen Weg sind?«, meckerte er und schaute seinen Sohn mürrisch an.
»Hier ist es«, flüsterte Elisabeth und blieb stehen. »Ich grüße dich, mein Lieber«, sagte sie und hielt sich die Hand vor den Mund, da sie von Gefühlen überflutet wurde.
Urs kniete sich nieder und wischte den Schnee vom Grabstein seines Onkels. »Guten Tag, Oheim Bendicht«, flüsterte auch er. Als er aufstand und seinen Vater anblickte, hob dieser die Hand und blieb stumm. Urs ahnte, dass er befürchtete, seine Stimme könnte ihn verraten.
Elisabeth blickte unter Tränen zu dem kalten Stein, auf dem Bendichts Name und sein Geburts- und Sterbedatum eingemeißelt worden waren. Auch nach fünf Jahren kam es ihr unwirklich vor, dass ihr Mann nicht mehr bei ihr war. Obwohl der Tod sicherlich eine Erlösung für ihn gewesen war, hatte sie ihn nicht gehen lassen wollen.
Bendichts Wesensveränderung war schleichend gekommen. Zuerst vergaß er ab und an Kleinigkeiten, was er mit Humor nahm. Doch als die Abstände kürzer wurden und er selbst spürte, dass etwa mit ihm nicht stimmte, wurde er ungehalten und wütend. Manchmal war er, wenn er etwas nicht fand oder nicht wusste, so erzürnt, dass er sie beschuldigte, ihn absichtlich zu ärgern und deshalb die Dinge vor ihm zu verstecken. Auch unterstellte er ihr, ihm falsche Auskunft zu geben, um ihn an der Nase herumzuführen. So ging das einige Jahre lang, und das Zusammenleben wurde schwierig.
Das Einzige, was offenbar unverändert blieb, war die Freude an seinen Büchern. Doch dann erkannte Elisabeth, dass Bendicht nicht mehr darin las, sondern nur die Buchstaben anstarrte. Das war der Anfang vom Ende. Zum Schluss saß er teilnahmslos vor dem Fenster und wusste nicht einmal mehr ihren oder seinen Namen. All das hätte Elisabeth klaglos ertragen, wenn ihr Ehemann bei ihr geblieben wäre. Doch der Tod fragte nicht nach ihrem Befinden. Eines Tages war Bendichts Herz im Schlaf stehen geblieben, und er war erlöst.
»Heute wären wir siebzehn Jahre verheiratet, mein Schatz«, flüsterte sie, als ob Bendicht sie hören könnte. Mit tränenverschleiertem Blick schaute sie auf sein Grab und klagte: »Von denen waren uns zwölf gemeinsame Jahre vergönnt. Doch diese waren die glücklichsten meines Lebens. Nicht einen Tag möchte ich davon missen. Was würde ich dafür geben, wenn ich noch einmal dein brummiges Wesen oder dein Schnarchen neben mir hören könnte. Jeder Tag ohne dich ist eine Qual für mich. Ach, wären wir doch wieder vereint, Bendicht. Aber anscheinend hat der Herrgott noch kein Einsehen, denn er lässt mich noch nicht zu dir.«