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Liebe und Geheimnisse im Outback ... Australien im 19. Jahrhundert: Die junge Grace Fairbanks liebt ihre Unabhängigkeit und das Outback, doch dann zwingt ihr Vater sie, gesellschaftliche Pflichten zu übernehmen. Als er sie sogar mit Arthur Bellamy verheiraten will – einem Mann, den sie hasst –, flieht Grace wutentbrannt ins Outback. Dort findet sie einen schwer verletzten Aborigine, der von Kopfgeldjägern verfolgt wird. Grace beschließt, ihn heimlich gesund zu pflegen, doch als es ihm schlechter geht, muss sie ihre Mutter einweihen. Während beide versuchen, sein Leben zu retten, erfahren sie, dass seine Vergangenheit eng verbunden ist mit ihrer eigenen Familiengeschichte. Nicht nur deshalb verliert Grace ihr Herz an den jungen Aborigine, obwohl die Hochzeit mit Arthur drohend wie eine Gewitterwolke immer näher rückt ... Ein gefühlvoller Roman voller Dramatik und Abenteuer! Der Spin-Off-Roman zur Bestseller-Dilogie mit den Bänden »Fliegen wie ein Vogel« und »Der Duft der Erinnerung« von Deana Zinßmeister kann unabhängig von dieser gelesen werden. »Wunderschöner Australienroman!« Amazon-LeserIn zu »Fliegen wie ein Vogel«
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Seitenzahl: 397
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über dieses Buch:
Australien im 19. Jahrhundert: Die junge Grace Fairbanks liebt ihre Unabhängigkeit und das Outback, doch dann zwingt ihr Vater sie, gesellschaftliche Pflichten zu übernehmen. Als er sie sogar mit Arthur Bellamy verheiraten will – einem Mann, den sie hasst – flieht Grace wutentbrannt ins Outback. Dort findet sie einen schwer verletzten Aborigine, der von Kopfgeldjägern verfolgt wird. Grace beschließt, ihn heimlich gesund zu pflegen, doch als es ihm schlechter geht, muss sie ihre Mutter einweihen. Während beide versuchen, sein Leben zu retten, erfahren sie, dass seine Vergangenheit eng verbunden ist mit ihrer eigenen Familiengeschichte. Nicht nur deshalb verliert Grace ihr Herz an den jungen Aborigine, obwohl die Hochzeit mit Arthur drohend wie eine Gewitterwolke immer näher rückt ...
Über die Autorin:
Deana Zinßmeister widmet sich seit einigen Jahren ganz dem Schreiben historischer Romane. Bei ihren Recherchen wird sie von führenden Fachleuten unterstützt, und für ihren Bestseller »Das Hexenmal« ist sie sogar den Fluchtweg ihrer Protagonisten selbst abgewandert. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern im Saarland.
Deana Zinßmeister veröffentlichte bei dotbooks bereits die Australienromane »Fliegen wie ein Vogel«, »Der Duft der Erinnerung« und den dazugehörigen Spin-Off-Roman »Sturm über dem roten Land«, die Pesttrilogie mit den Romanen »Das Pestzeichen«, »Der Pestreiter« und »Das Pestdorf« sowie die Hexentrilogie mit den Romanen »Das Hexenmal«, »Der Hexenturm« und »Der Hexenschwur«, die Hugenotten-Saga mit den Bänden »Das Lied der Hugenotten« und »Der Turm der Ketzerin« und die Wolfsbanner-Reihe mit den Titeln »Die Gabe der Jungfrau« und »Der Schwur der Sünderin«.
Die Website der Autorin: www.deana-zinssmeister.de
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Originalausgabe April 2025
Copyright © der Originalausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Redaktion: Monia Pscherer
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/mindfullness und AdobeStock/Rick, ana
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)
ISBN 978-3-98952-340-1
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Deana Zinßmeister
Sturm über dem roten Land
Die Australien-Saga – Spin-Off
dotbooks.
Für Ingeborg Rose und alle LeserInnen
von »Fliegen wie ein Vogel«
und »Der Duft der Erinnerung«
Sie sagten, die Erinnerungen würden verblassen.
Sie sagten, die Angst würde geringer werden.
Sie sagten, der Schmerz würde vergehen.
Sie sagten, der Hass würde der Liebe weichen.
Sie sagten, die Freude käme zurück.
Sie sagten, ich würde wieder stark werden.
Sie haben gelogen!
Nichts davon wurde wahr. Nichts wurde besser. Nichts wurde leichter.
Es wurde schlimmer.
Zwar waren meine Wunden verheilt, doch meine Seele wollte sich nicht erholen. Brach die Dämmerung herein, schnürte mir die Angst den Hals zu. Lag ich im Bett, wagte ich nicht, die Lider zu schließen. Wollte mich der Schlaf holen, riss ich die Augen auf und starrte voller Furcht in die Dunkelheit.
Meine Sinne waren geschärft, und doch hatte ich Angst, sie nicht kommen zu hören. Ich achtete auf jedes Geräusch; auch auf die tanzenden Schatten vor meinem Fenster.
Mühsam versuchte ich, wach zu bleiben, um meine Gedanken zu lenken, damit die schrecklichen Erinnerungen mich nicht überrollten. Ich wollte nicht an diesen furchtbaren Tag zurückdenken. Nicht daran erinnert werden, wie man mir das Leben vergällt hatte.
Doch dann konnte ich diese grenzenlose Müdigkeit, die meinen Körper und meinen Willen erfasste, nicht länger aufhalten. Ich versank in einen unruhigen Schlaf, in dem meine Gedanken hin und her sprangen. Die Bilder durchrasten meinen Kopf. Grelles Licht wechselte sich mit Dunkelheit ab. Sosehr ich mich auch wehrte, ich durchlebte alles noch mal.
Ich spürte seinen schweren Körper auf mir liegen.
Ich atmete seinen faulen Atem ein.
Ich roch seinen widerlichen Gestank.
Ich spürte, wie seine Zähne in meine Schulter bissen.
Ich hörte sein hässliches Lachen.
Ich sah seinen finsteren Blick.
Ich spürte seine Hände, die nach jeder Stelle meines Körpers grapschten.
Im selben Augenblick kam der Schmerz zurück, der mich innerlich zu zerreißen drohte.
Der Vollmond warf sein fahles Licht in mein Zimmer. Ich musste gegen den Schlaf ankämpfen, denn in solchen Nächten waren die Träume besonders grauenvoll.
Ich zog die Beine bis zur Brust und die Decke über mich. Mit den Zipfeln verschloss ich meinen Mund. Keiner sollte meine Angst hören. Als die erste Welle abgeebbt war, wischte ich mit beiden Händen über meine nassen Wangen.
Ich schielte unter der Bettdecke hervor zu meinem schwarzen Tagebuch, das auf dem Nachttisch lag. Seit der Überfahrt nach Australien hatte ich unzähligen Seiten meine Geheimnisse anvertraut. In diesen düsteren Stunden war das Büchlein mein Rettungsanker. Wenn ich darin las, erinnerte ich mich an Worms und an das Weingut; auch wie bunt und friedlich mein Leben dort früher war. Mittlerweile konnte ich die Sätze, die ich einst voller Freude niedergeschrieben hatte, auswendig rezitieren.
Heute jedoch war ich wie gelähmt. Ich konnte nicht einmal die Hand nach dem Büchlein ausstrecken, um es tröstend an mich zu pressen. Warum hatte ich an der Treppe neugierig gelauscht, anstatt zurück in mein Zimmer zu gehen? Dann würde ich weiter hoffen können und müsste nicht glauben, dass es keine Hoffnung mehr gab.
Selbst die Tatsache, dass sein letzter Gedanke mir gegolten hatte, konnte meine Hoffnungslosigkeit nicht schwächen.
Meine Kraft war aufgebraucht, mein Lebensmut gebrochen.
Nichts ergab mehr einen Sinn.
Australien 1817, auf der Farm »Second Chance«
»Wohin so eilig?«, rief die Mutter Grace hinterher, als sie, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe herunterlief.
»Ich will in die Stadt reiten«, antwortete Grace und schnappte sich die Jacke.
»Zieh dich bitte um und kleide dich wie eine junge Frau und nicht wie ein Stallbursche.«
»Wie soll ich in einem Kleid reiten?«, erwiderte die Siebzehnjährige belustigt und wollte gerade die Türklinke herunterdrücken, als die Mutter neben sie trat und sie festhielt.
»Heute wird nicht ausgeritten.«
»Aber ich brauche ein neues Heft. Ich soll es heute bei Miss Potter abholen.«
»Heute kommen die Bibelkreisvorsteherinnen zum Tee, und dabei wirst du ihnen Gesellschaft leisten.«
»Schon wieder?«, fragte Grace und machte dabei ein Gesicht, als ob sie in ein Stück Seife gebissen hätte. »Warum kann Madeleine das nicht übernehmen? Sie liebt solche Termine, und vor allem mag sie die Bibeltanten.«
»Deine Schwester hat keine Zeit. Du hingegen wirst dir die Zeit nehmen. Außerdem bist du jetzt in dem Alter –«, setzte ihre Mutter an, als Grace sie unterbrach: »Mama, solche Treffen liegen mir nicht.«
»Ich weiß, mein kleiner Wildfang. Aber das Leben besteht nicht nur aus Vergnügen. Manchmal muss man Termine wahrnehmen, die unangenehm sind. Jetzt beeile dich und zieh das hellblaue Kleid an.«
»Bumerang wartet auf mich. Er freut sich schon auf unseren Ausritt.«
»Grace, er ist ein Pferd und kennt keine Freude.«
»Er ist nicht einfach nur ein Pferd, Mama. Bumerang ist mein Freund«, entrüstete sich Grace.
»Du hast deiner Mutter zu gehorchen«, erklang die strenge Stimme des Vaters, der plötzlich neben ihnen stand.
Grace schob wie ein trotziges Kleinkind die Unterlippe vor. »Aber Papa, du magst diese Bibelfrauen auch nicht. Du hast selbst gesagt, dass sie langweilig sind. Außerdem, warum kommen sie schon wieder zum Tee? Sie waren erst letzte Woche hier«, versuchte sie, den Vater auf ihre Seite zu ziehen.
Doch anstatt wie sonst zu lächeln, wurde sein Blick finster. »Es reicht, Grace! Ich habe deine Widerworte satt. Egal, was man zu dir sagt, du argumentierst stets dagegen. Irgendwann sind die Kindertage vorbei. Es wird Zeit, dass du erwachsen wirst. Wenn du dich nicht fügst, werde ich dich persönlich zum Bibelkreis anmelden, und dann triffst du diese Frauen dort zweimal die Woche«, drohte er.
Grace blickte überrascht zu ihrer Mutter, die ihren Mann fragend ansah. »Warum reagierst du so schroff, Duncan? Dazu besteht nun wirklich kein Grund. Wir beide wissen, dass die Damen nur aus Eigennutz vorbeikommen, weil sie deinen medizinischen Rat wollen. Und da du diesen nicht in deiner Praxis gibst, sondern in unserem Haus, erwarten sie, dass du dafür nichts berechnest.« Dann wandte sie sich lächelnd Grace zu. »Du wirst die Kleidung wechseln und mit uns Tee trinken. Danach kannst du mit Bumerang ausreiten.«
»Musst du mir in den Rücken fallen!«, schimpfte der Vater.
»Aber Duncan, ich falle dir doch nicht in den Rücken. Ich versuche, einen Kompromiss zu finden. Miss Shelton und Mrs Foster sind nun wirklich keine amüsanten Gesprächspartnerinnen für eine Siebzehnjährige. Sie haben tatsächlich kein Interesse daran, unserer Tochter aus der Bibel vorzulesen. Glaube mir, sobald sie deinen Rat gehört haben, werden sie sich verabschieden.«
»Zwei widerspenstige Weiber in einer Familie. Das muss sich ändern«, murmelte Duncan, drehte sich um und verließ das Haus.
Grace sah mit großen Augen zu ihrer Mutter. »Was ist mit Vater los? Ich habe das Gefühl, er ist nur noch schlecht gelaunt.«
»Da haben wir beide wohl das gleiche Gefühl, mein Kind«, murmelte die Mutter. Doch dann drückte sie ihr Kreuz durch und sah Grace vorwurfsvoll an. »Es steht einer Tochter nicht zu, den Vater zu kritisieren. Geh endlich auf dein Zimmer und zieh dich um«, forderte sie und ging in Richtung Küche.
Grace stöhnte auf. Dieses Treffen wird ein unnützes Treffen in meinem Leben sein, dachte sie und stieg die Treppe nach oben.
Grace betrachtete ihr Spiegelbild. Ich sehe wie verkleidet aus, dachte sie mürrisch und überlegte, wann sie zuletzt ein Kleid getragen hatte. Es war so lange her, dass sie sich nicht einmal mehr an die Farbe erinnern konnte. Warum durfte sie nicht ihre Hosen anbehalten zum Teetrinken? Sie waren nicht nur bequem, sondern auch praktisch. In den tiefen Taschen konnte sie alles Mögliche verstauen. Erst gestern hatte sie ihr Taschenmesser daraus hervorgeholt, das sie seit Tagen vermisste.
Sie wusste, warum sie keine Kleider mochte. Der Stoff war zu unbeweglich, die Spitze kratzig und der Rock zu lang. Bei jedem Schritt musste sie aufpassen, dass sie nicht mit der Schuhspitze im Saum hängen blieb und ihn aufriss. Auch hatte sie das Gefühl, der enge Spitzenkragen würde ihr die Luft abdrücken. Vorsichtig schob sie zwei Finger zwischen Stoff und Haut und versuchte so, die Borte zu dehnen. Vergebens.
Hoffentlich verschwinden die beiden Frauen wieder zeitig, dachte Grace und streifte sich ihre hellen Schuhe über. »Auch viel zu eng«, schimpfte sie und humpelte zur Frisierkommode, um sich das Haar zu bürsten. Wenn ihr Vater nicht aufgetaucht wäre, hätte sie die Mutter sicherlich umstimmen können. Was war nur los mit ihm? Seit Tagen hatte er nicht mehr gelacht und stattdessen schlechte Laune versprüht. Anscheinend konnte man ihm nichts mehr recht machen. Auch seine Drohung mir gegenüber passt nicht zu ihm, überlegte Grace und zog die Stirn kraus. Doch dann glättete ein Lächeln die steile Falte zwischen ihren Augenbrauen. Wenn der Vater nur wüsste, dass sie fast alle seiner medizinischen Bücher gelesen hatte.
Sicherlich würde es ihn freuen, wenn er erfuhr, dass Grace Interesse an seinem Beruf als Mediziner zeigte. Zwar hatte er sich gewünscht, dass ihm sein Sohn nacheifern und Arzt werden würde. Doch vor einigen Jahren hatte ihr Bruder andere Pläne für seine Zukunft gemacht. Christopher wollte unbedingt Karriere in der Politik machen, und von diesem Ziel ließ er sich nicht abbringen.
Grace lächelte. Sie konnte es kaum erwarten, dem Vater ihr Geheimnis anzuvertrauen. Aber sie musste sich noch etwas gedulden. Erst wenn sie ihre medizinischen Kenntnisse an jemandem getestet hatte, würde sie ihre Eltern einweihen. In Gedanken stellte sie sich vor, wie freudig sie reagieren würden, weil sich ihre jüngste Tochter für die Medizin interessierte.
Plötzlich kam Grace eine Idee. Eigentlich kam der Besuch der Frauen genau richtig. Da die beiden anscheinend den Rat eines Arztes benötigten, konnte Grace ihr medizinisches Wissen an ihnen testen, ohne dass es jemand merkte. Dazu müsste sie nur erfahren, unter welchen Symptomen die beiden Frauen litten. Dann würde sie überlegen, welche Arznei sie verordnen könnte, und ihre Meinung mit der des Vaters abgleichen.
Aufgeregt legte Grace die Bürste zur Seite. »So ist dieses Treffen doch nicht umsonst«, jubelte sie, als die Türglocke erklang.
Nachdem Luise das Hausmädchen angewiesen hatte, den Gästen Tee und Gebäck zu reichen, sobald diese im Wohnzimmer Platz genommen hätten, ging sie in ihr privates Reich – ein großes Zimmer, das abseits der Familienwohnräume in einem schmalen Anbau auf der Südseite des Weinguts lag.
Jedes Mal, wenn Luise die Tür aufsperrte, war es, als ob sie eine andere Welt betreten würde. Sie schob die bodenlangen dunklen Vorhänge vor der Fensterscheibe, die eine ganze Wand einnahm, zur Seite. Sonnenlicht durchflutete den Raum, sodass man das Gefühl bekam, mitten im Weinberg zu stehen. Der Blick reichte über die zahlreichen Reihen der Rebstöcke hinweg bis zu der kleinen Anhöhe, hinter der die Weite des Outbacks lag. Während um diese Jahreszeit die Menschen in ihrer alten Heimat gerne dem kalten und nassen Wetter entfliehen würden, lockte am anderen Ende der Welt der Sommer die Menschen ins Freie.
Luise atmete tief durch. Immer wieder aufs Neue war sie ihrem Mann für diesen Ausblick dankbar; ebenso für dieses Zimmer, das allein Duncans Idee gewesen war. Zu Beginn ihrer Zeit in Australien hatte Luise oft das Heimweh gepackt. Tagelang hatte sie sich in ihr Bett verkrochen und niemanden sehen wollen. Luise litt darunter, so weit weg von ihrem Bruder, ihrer Familie und ihrem Zuhause in ihrem Geburtsort Worms zu sein. In diesen Augenblicken konnte nichts und niemand sie trösten. Auch nicht Duncan, obwohl er sich alle Mühe gab. Weil in diesen Situationen Luise an nichts mehr Freude hatte, schaffte ihr Duncan einen Ort, an dem sie die Sehnsucht nach ihren Lieben und nach ihrer Heimat Deutschland leichter ertragen konnte.
Obwohl ihr Mann weder Architekt noch Handwerker war, hatte er den Anbau geplant. Noch heute war es Luise schleierhaft, wie ein Arzt ohne fremde Hilfe das Fundament ausheben, Holz zuschneiden und Balken aufstellen konnte. Doch Duncan schaffte es. Als nach Wochen harter Arbeit der Anbau fertig war, hatte er sie in den Arm genommen und ihr ins Ohr geflüstert: »Das ist dein Reich, mein Schatz, zu dem nur du Zutritt haben sollst.« Dann hatte er ihr den einzigen Schlüssel zu der Tür überreicht.
Luise schmunzelte bei der Erinnerung, wie sie in dem leeren, riesigen Raum gestanden hatte und anfangs nicht wusste, wie sie ihn einrichten sollte.
Als sie einige Tage später die Nachricht erhielt, dass im Hafen für sie mehrere Kisten aus Europa angekommen waren, hatte Duncan ihr verraten, dass er heimlich einen Brief an ihren Bruder in Worms geschickt hatte. In dem Schreiben bat er Bobby, Luise besondere Erinnerungsstücke aus ihrem Elternhaus auszusuchen, mit denen sie sich ihren Raum gestalten konnte.
Sprachlos hatte Luise die Holzkisten betrachtet, als die auf mehreren Fuhrwerken ins Weingut gebracht wurden. Für sie schien jede Kiste wie eine Wundertüte, denn sie wusste nicht, was ihr Bruder ihr geschickt hatte. Als sie den ersten Deckel abnahm, entdeckte sie zu ihrer großen Freude ihr Puppenhaus aus Kindertagen. Sogar die vierköpfige Puppenfamilie, die ihr Vater für sie geschnitzt hatte, war in Papier eingewickelt und in einem separaten Karton verstaut gewesen. In der zweiten Kiste hatte ihr Bruder die Truhe aus ihrem Kinderzimmer mitgeschickt, in der er neben den Gemälden von ihren Eltern und des Weinguts auch Bücher und Hefte aus ihrer Internatszeit gelegt hatte. Bobby hatte ihr sogar einige umhäkelte Tischdecken und das Kaffeegeschirr ihrer Mutter überlassen. Das wichtigste Möbelstück jedoch war für Luise der Ohrensessel ihres Vaters. Luise konnte sich nicht erinnern, wie oft sie nach dem Abendessen auf dem Schemel zu Füßen des Vaters gesessen hatte, um seinen Erläuterungen über den Weinrebenanbau zu lauschen. Besonders mochte sie die Abende, an denen er ihr von ihrer Mutter erzählte, die starb, als Luise drei Jahre alt war. Gerne erinnerte sie sich auch, wie der Vater durch den Qualm der Zigarre zu ihr hinuntergeblickt hatte. Mit zärtlichem Blick hatte er ihr über den Scheitel gestrichen und geflüstert: »Du bist das Ebenbild deiner Mutter, mein liebes Kind.« Meist liefen ihm dabei die Tränen über die Wangen, was er auf den Zigarrenrauch schob, der ihm angeblich in den Augen brannte.
Damals stand der Sessel im Arbeitszimmer ihres Vaters neben dem Kamin. Heute hatte er seinen Platz vor der großen Fensterscheibe in Luises Zimmer. Sie mochte es, in ihm zu sitzen, die Natur zu betrachten oder in einem Buch zu lesen.
Gedankenverloren strich Luise über das Holz der Truhe. Seit dem Bau ihres Zimmers waren etliche Jahre vergangen. Nur noch selten plagte sie das Heimweh nach Deutschland, denn Australien war zu ihrer neuen Heimat geworden.
Vieles war in der Zwischenzeit passiert, einiges hatte sich geändert. So zeigten sich in ihren hellen Haaren graue Strähnen, und ihre Lachfalten um die Augen bildeten sich nicht mehr zurück. Auch Duncans dunkles Haar war von silbrigen Fäden durchzogen, und zwischen den Augenbrauen war eine steile Falte entstanden. Ihr Weingut »Second Chance«, das sie mit Rebstöcken von Luises elterlichem Weinberg gegründet hatten, produzierte jedes Jahr viele Hundert Flaschen Wein, die sie nicht nur innerhalb Australiens verkauften, sondern auch nach Worms schickten. Dort sorgte ihr Bruder dafür, dass deutsche Weinkenner in den Genuss ihres Rotweins kamen, dessen Trauben in der australischen Sonne gereift waren.
Da Duncan als Arzt eine eigene Praxis hatte, zudem alle paar Wochen unterwegs war, um die Insassen in mehreren Gefängnissen medizinisch zu versorgen, oblag es Luise, sich um den Weinhandel zu kümmern. Dass eine Frau eigenständig Geschäfte tätigte, war ungewöhnlich, da die meisten Frauen ihre Erfüllung im Haushalt und in der Familie fanden. Trotz ihres Erfolgs musste sich Luise von Männern und auch von Frauen so manchen bissigen Kommentar anhören, sobald sie von ihrer Tätigkeit erfuhren.
Aber nicht nur beruflich hatten Duncan und sie in Australien Fuß fassen können. Sie hatten drei Kinder, die mittlerweile erwachsen waren. Ihre älteste Tochter Madeleine war bereits verheiratet und Mutter von Zwillingen.
Luise genoss es, Großmutter zu sein, auch wenn die beiden Knaben momentan in einem anstrengenden Alter steckten. Mit ihren drei Jahren versuchten sie, die Welt zu erobern, was nicht immer ungefährlich war, da sie vor nichts Angst zu haben schienen. Kein Hindernis war vor ihnen sicher, keins zu hoch oder zu tief oder zu schwer.
Der einundzwanzigjährige Sohn Christopher war zu einem stattlichen Mannsbild herangewachsen, das auf den Gesellschaftsbällen von den jungen und heiratswilligen Damen umschwärmt wurde. Noch machte er keine Anstalten, sich zu binden, da er eine Karriere in der Politik anstrebte. Nesthäkchen Grace erinnerte Luise sehr an ihre Kindheit und frühe Jugend. Die Siebzehnjährige war genauso ein Wildfang, wie sie es in dem Alter gewesen war. Stundenlang ritt das Mädchen ins Outback, um die Landschaft zu erkunden. Gesellschaftliche Pflichten waren ihr ebenso ein Gräuel wie häusliche. Manchmal fragte sich Luise, wie ihre Tochter je einen Haushalt führen oder einen Mann finden wollte? Doch dann dachte sie daran, wie sehr sie selbst es geliebt hatte im Alter von Grace, in den Weinbergen unterwegs zu sein. Das Leben später war arbeitsreich genug, deshalb ließ Luise ihre jüngste Tochter gewähren, auch wenn Duncan recht hatte, dass es bald an der Zeit war, Grace in die Gesellschaft einzuführen.
Luise stellte sich vor die Glasfront, sodass die Sonne ihr Gesicht wärmen konnte. Wie sehr sie diesen Raum und seine Ruhe schätzte. Noch immer durfte nur sie ihn betreten. Zwar war es nicht leicht gewesen, die Kinder von hier fernzuhalten, aber irgendwann hatten sie aufgegeben, danach zu fragen. Auch das Personal hatte noch nie einen Fuß hineingesetzt. Luise wollte für alles, was dieses Zimmer betraf, allein verantwortlich sein.
Jeden Freitag folgte sie einem selbst auferlegten Ritual. Sobald Duncan auf dem Weg in die Stadt war, wo er sich mit den Männern im Gentlemen’s Club traf, ging sie in ihr Reich, um mit dem Federwedel den Staub von den alten Möbeln zu fegen. Anschließend rieb sie das Holz mit Leinöl ab, damit es glänzte. Sobald sie mit ihrer Arbeit fertig war, setzte sie sich mit einem Glas Wein in der Hand in den Sessel und las einen der zahlreichen Briefe, die sie im Laufe der Jahre von ihrem Bruder Bobby aus Deutschland oder ihrem Freund Jack Horan aus England erhalten hatte.
Gewiss, sie kannte die Inhalte der Briefe und jede der Zeilen, konnte sogar viele auswendig aufsagen. Doch wenn sie die alten Briefe erneut las, begab sich Luise jedes Mal auf eine Reise in die Vergangenheit. Dann dachte sie wieder an die Zeit, als sie erstmals erfuhr, dass sie einen Bruder – Bobby – hatte, oder wie sie Jack Horan, den Anwalt der Armen von London, kennengelernt hatte. Als ungeduldige, junge Frau hatte sie sich damals Gefahren ausgesetzt, über die sie heute den Kopf schütteln musste. Wenn sie darüber nachdachte, dass sich eines ihrer drei Kinder in solche Situationen begeben würde, brach ihr der Angstschweiß aus. Wie dumm und unerfahren sie damals gewesen war. Alles jedoch war gut gegangen. Zudem hatte sie erreicht, was sie sich vorgenommen hatte. Doch Luise musste sich eingestehen, dass es Duncan war, der sie vor größerem Schaden bewahrt und der sie in allem unterstützt hatte.
Luise verschränkte die Hände hinter ihrem Rücken, ihr Blick wurde starr. Weil sich in all den Jahren Duncan als liebevoller und einsichtiger Ehemann zeigte, verstand sie nicht, warum er seit einigen Wochen schroff und abweisend war. Anscheinend konnte sie ihm nichts mehr recht machen. Ständig bedachte er sie mit Vorhaltungen und Rügen, die ihrer Meinung nach ungerechtfertigt waren. Wenn sie ihn darauf hinwies, wischte er ihren Einwand mit einer unwirschen Handbewegung weg. Auch seine Drohung gegenüber Grace an diesem Tag, war unangepasst. Das Mädchen hatte nichts getan, dass er sie derart zurechtweisen musste. Vielleicht weiß Christopher, was mit seinem Vater los ist, überlegte Luise, als ein Schatten sie ablenkte. Sie legte die Hand gegen das Glas, um besser hinaussehen zu können. Die Kutsche mit den beiden Frauen war vorgefahren.
Luise stöhnte auf. Sie hatte keine Lust auf Mrs Foster und Miss Shelton. Aber was tat sie nicht alles, um den Schein zu wahren. Energisch zog sie die Vorhänge zurück vor die Fensterscheibe. Dann ging sie hinaus und schloss die Tür hinter sich ab.
»Wo ist Doktor Fairbanks?«, erklang Miss Sheltons schrille Stimme durch den Eingangsbereich. Grace stand am Treppengeländer im oberen Stockwerk und beobachtete die Ankunft des Besuchs. Sie registrierte sofort, dass die beiden Frauen das Hausmädchen, das sie hereingebeten hatte, ignorierten und wie selbstverständlich an ihr vorbei in den angrenzenden Salon marschierten. Keine gute Erziehung, urteilte Grace und kam lauter als nötig die Stufen heruntergelaufen. Sie lächelte dem Hausmädchen besonders freundlich zu und ging ebenfalls in den Salon, wohin Ellin ihr folgte.
»Ah, da ist ja endlich jemand«, wurde Grace von Miss Shelton begrüßt. »Wir hatten gehofft, den Doktor bei unserer Ankunft anzutreffen. Nicht wahr, Mrs Foster?«, meinte sie missmutig und streifte ihre hellen Handschuhe ab, die sie in ihre Handtasche steckte. Dann löste sie die Schleife ihrer leichten Kopfbedeckung und reichte ihren Hut kommentarlos dem Dienstmädchen. Unsicher blickte Ellin Grace an.
»Danke, Ellin, ich übernehme die beiden«, raunte Grace ihr augenzwinkernd zu und nahm beiden Damen die Hüte ab, die sie achtlos auf das Sofa legte.
»Miss Fairbanks bat um Tee und Gebäck, sobald der Besuch eingetroffen ist. Soll ich das Gewünschte jetzt bringen?«, fragte das Mädchen schüchtern.
Da seit vielen Jahren Ellins Mutter die Köchin der Fairbanks war, kannten sich die beiden Mädchen seit ihrer frühesten Kindheit. Selbst als Ellin in den Dienst der Familie eintrat, änderte sich nichts an dem freundschaftlichen Verhältnis zwischen den beiden.
»Wenn meine Mutter das angeordnet hat, soll es so sein.«
Ellin nickte und verließ den Raum.
»Warum wollen Sie meinen Vater sprechen?«, fragte Grace in der Hoffnung, etwas von den Beschwerden der Damen zu hören. Mrs Foster sah Miss Shelton fragend an, die wiederum Grace taxierte. »Das ist eine vertrauliche Angelegenheit.«
»Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte Grace mitfühlend und forschte in den Gesichtern nach Schweißperlen auf der Stirn oder trüben Augen.
»Das möchten wir mit dem Doktor selbst besprechen.«
»Haben Sie womöglich Kopfschmerzen, oder verspüren Sie Unwohlsein?«
»Das geht dich nichts an«, wurde sie von Miss Shelton gemaßregelt.
Enttäuscht presste Grace die Lippen zusammen. Sie hatte Mühe, sich zurückzuhalten. Nur zu gerne hätte sie damit angegeben, dass auch sie über genügend medizinisches Wissen verfügte, um behilflich sein zu können. Wenn Miss Shelton nur vage andeuten würde, um welches Leiden es geht, dachte Grace, als ihre Mutter hereinkam und die Frauen begrüßte: »Ich freue mich, dass Sie erneut den Weg nach ›Second Chance‹ auf sich genommen haben.«
»In der Hitze ist das wahrlich kein Vergnügen, nicht wahr, Mrs Foster?«, erklärte Miss Shelton und wedelte sich theatralisch Luft zu.
»Warum steht unser Besuch noch? Und warum sind noch kein Tee und Gebäck gereicht worden?«, wurde Grace von ihrer Mutter getadelt.
»Ellin kümmert sich bereits um die Erfrischung«, erklärte Grace.
»Dann ist es gut«, sagte Luise, während sie auf die gestreifte Chaiselongue wies. »Bitte, Ladys! Nehmen Sie Platz.«
Die beiden Damen kamen der Aufforderung nach und setzten sich auf die Kanten des Sofas, während Grace und ihre Mutter in den beiden Sesseln Platz nahmen.
»Was gibt es seit Ihrem letzten Besuch Neues aus der Stadt zu berichten?«, fragte Grace’ Mutter.
»Ihr Gatte –«, begann Miss Shelton, doch Grace’ Mutter unterbrach sie sofort.
»Mr Fairbanks hat Termine. Aber er versucht, rechtzeitig vorbeizukommen, um Ihre Fragen zu beantworten.«
»Das ist sehr höflich. Nicht wahr, Mrs Foster?«
Diese nickte. Nun stellte Ellin ein Tablett mit einer Kanne Tee, vier Tassen auf Untertellern und einer Schale mit Gebäck auf den Tisch.
»Danke, Ellin. Ich schenke unserem Besuch selbst ein«, erklärte Luise freundlich. Das Mädchen erwiderte das Lächeln und verließ den Raum genauso leise, wie sie ihn betreten hatte.
Nachdem alle von den Keksen probiert und an ihrem Tee genippt hatten, sah Grace, wie Miss Shelton Mrs Foster auffordernd ansah. Daraufhin zog diese ein schwarzes Büchlein aus ihrer Handtasche, das sie Grace hinhielt. »Hiermit überreichen wir dir die erste Bibel unserer neu gegründeten Bible Society New South Wales.«
Irritiert nahm Grace das Geschenk entgegen und murmelte: »Vielen Dank«, da sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte.
»Erst vor wenigen Tagen hat unser Gouverneur die Satzung der Gesellschaft unterschrieben, wodurch es amtlich wurde. Australien hat seine erste Bibelgesellschaft, die durch ein Gesetz des Parlaments von New South Wales gegründet wurde. Mrs Foster und ich haben die große Ehre, die Bible Society in unserer Gegend vertreten zu dürfen«, erklärte Miss Shelton feierlich. Mit hochroten Wangen blickten beide Frauen Grace und ihre Mutter erwartungsvoll an.
»Ist das nicht herrlich?«, rief Mrs Foster plötzlich und sehr enthusiastisch. Doch im selben Augenblick beherrschte sie ihre Gefühle wieder und senkte verlegen den Blick.
»Ich wusste nicht, dass diese Gründung bevorstand«, erklärte Luise nachdenklich. »Und wenn ich das sagen darf, ich wusste bis eben nicht, dass eine Bibelgesellschaft existiert. Welcher Sinn steckt dahinter? Reicht unser Bibelkreis nicht aus?«
»Nein, nein, Miss Fairbanks, diese Gesellschaft hat nichts mit unserem Bibelkreis zu tun. Wir haben bis jetzt niemandem davon erzählt, weil wir nicht wussten, ob Gouverneur Macquarie die Erlaubnis aus London erhält, tatsächlich eine Art Zweigstelle in Australien zu gründen. Wie ich hörte, soll bis 1884 jede Kolonie eine eigene Bible Society bekommen.«
»Das ist wirklich sehr löblich, und ich gratuliere dazu. Doch welche Aufgaben haben diese Bibelgesellschaften?«, fragte Luise abermals.
»Seit gestern sind wir dafür verantwortlich, dass in unserer Kolonie jede Christin gratis eine Bibel erhält. Somit eifern wir Mary Jones nach.«
Überrascht zog Luise eine Augenbraue in die Höhe.
»Anscheinend kennen Sie die Geschichte der jungen Christin Mary Jones nicht, auf der die Gründung der Bible Society beruht?«, mutmaßte Miss Shelton und sah naserümpfend zu ihrer Begleitung.
Grace schaute fragend zu ihrer Mutter, die mit den Schultern zuckte. »Nein, Mary Jones und ihre Geschichte sind uns fremd. Wahrscheinlich, weil es sich dabei um eine englische Geschichte handelt. Wie Sie wissen, stamme ich aus Deutschland«, erklärte Luise zwar freundlich, aber mit einem leichten Vorwurf in der Stimme.
Miss Shelton ging auf den Einwand nicht ein. »Dann werde ich Ihnen die Geschichte erzählen, damit Sie den Sinn hinter unserem Tun verstehen.«
Sie setzte sich kerzengerade hin und begann zu deklamieren: »Mary Jones erblickte im Jahr 1784 in Wales das Licht der Welt. Ihre Familie war so arm, dass sie sich keine eigene Bibel leisten konnte. Marys Eltern waren einfache Wollweber, die in der Nähe von Dolgellau lebten. Als das Mädchen lesen konnte, wollte es unbedingt eine eigene Bibel besitzen, denn sie war eine gläubige Christin. Doch das Geld reichte gerade zum Überleben. Also sparte das Kind viele Jahre lang jeden Penny. Als es mit sechzehn Jahren endlich die Summe zusammenhatte, war die nächstliegende Möglichkeit, eine Bibel zu erwerben, fast fünfundzwanzig Meilen entfernt von ihrem Zuhause. Weil sie ihr einziges Paar Schuhe schonen musste, marschierte Mary Jones barfuß in die Stadt Bala, wo sie den Pfarrer Thomas Charles aufsuchte, bei dem sie eine Bibel erwerben wollte. Jedoch waren die meisten Gebetsbücher verkauft, und die, die noch übrig waren, waren bereits vorbestellt. Charles hatte nicht eine Bibel mehr, die er dem Kind hätte geben können. Die Hoffnungslosigkeit stand Mary Jones ins Gesicht geschrieben, denn sie wusste, dass sie den beschwerlichen Weg nicht noch einmal auf sich nehmen konnte. Zum Glück war Thomas Charles ein weiser und gütiger Mann. Er sah nicht nur die Verzweiflung des Mädchens, sondern er erkannte eine gläubige Christin in ihr. Deshalb überließ er ihr ein Exemplar, das er bereits jemand anderem versprochen hatte. Weil Mary Jones’ Wunsch nach einer eigenen Bibel Thomas Charles derart beeindruckte, beantragte er im Rat der Religious Tract Society, für Wales eine Gesellschaft zur Versorgung mit Bibeln zu gründen. Er wollte, dass jeder Christ, der sich kein Gebetbuch leisten konnte, in den Besitz einer eigenen Bibel kommen sollte«, beendete Miss Shelton ihre Erzählung.
Grace’ Mutter räusperte sich. »Das ist sehr löblich, aber ich denke, wir können uns eine eigene Bibel leisten.«
»Das ist uns wohl bewusst. Aber darum geht es uns nicht. Wir wollen, dass Grace die Erste ist, die von uns eine Bibel erhält, in der Hoffnung, dass dieses Gebetbuch sie auf den rechten Weg führen wird.«
Grace sah ihre Mutter fragend an, da sie nicht verstand, was Miss Shelton meinte.
»Wie darf ich das verstehen?«, wollte auch ihre Mutter wissen, der man ansehen konnte, dass diese Äußerung sie verstimmt hatte.
»Nun, Miss Fairbanks, Grace ist die einzige junge Dame ihres Alters in unserer Gemeinde, die wenig oder so gar kein Interesse an wohltätigen Aktivitäten zeigt. Wir hoffen, wenn sie in ihrer Bibel liest, dass sie erkennt, wie wichtig es ist, ein guter Christ zu sein. Außerdem benötigen wir viele helfende Hände, um die Bibeln zu verteilen«, erklärte Miss Shelton und sah Grace auffordernd an.
Grace bemerkte, wie ihre Mutter die Hände ballte. Sie wusste, dass das nichts Gutes bedeutete. Schon schnappte ihre Mutter nach Luft. »Es mag sein, dass Grace noch nicht bereit ist, ihre Zeit mit gemeinnützlichen Tätigkeiten zu teilen. Dafür tut es ihre ältere Schwester umso mehr, und das, Ladys, ist wahrlich nicht einfach, wenn man bereits Mutter ist. Ich denke, dass unsere Familie ein Vorbild dafür ist, wie man sich für eine Gemeinde einsetzt, schließlich …« Luise lief Gefahr, sich in Rage zu reden, als Miss Shelton und Mrs Foster vom Sofa hochsprangen.
»Ich hoffe, Sie mussten nicht allzu lange warten«, hörte Grace hinter sich ihren Vater fragen.
»Die Zeit verging wie im Flug, nicht wahr, Mrs Foster? Wir haben uns vorzüglich mit Ihrer Frau und Ihrer Tochter unterhalten, Doktor Fairbanks.«
Duncan setzte sich in den Sessel neben seine Frau und goss sich Tee in deren Tasse ein. »Schon etwas kalt«, murmelte er zwischen zwei Schlucken.
»Soll ich dir frischen aufbrühen lassen?«, fragte Grace. Er schüttelte den Kopf. »Ich muss gleich wieder fort.«
»Miss Shelton hat Beschwerden«, erklärte sie hastig, da sie befürchtete, ihr Vater könnte vorzeitig gehen. Sofort überzog Röte die Gesichter der beiden Frauen.
»Welcher Art sind diese Beschwerden?«, fragte Duncan und musterte Miss Shelton. Diese blickte verunsichert zwischen Grace und ihrer Mutter hin und her. »Also es geht nicht um mein Wohlbefinden … nicht so direkt … aber …«
Duncan kniff die Augen leicht zusammen, dann erhob er sich. »Wenn Sie mir bitte folgen würden«, sagte er und zeigte zu seinem Arbeitszimmer, das auf der anderen Flurseite lag.
»Kann ich dir behilflich sein?«
Überrascht musterten seine grauen Augen Grace. »Bei was?«
»Bei …« Sie konnte sich gerade noch auf die Zunge beißen, um sich nicht zu verraten.
»Bei?«
Sie zuckte mit den Schultern.
Er schüttelte verständnislos den Kopf und verließ, gefolgt von den beiden Frauen, den Salon. Kaum hatte sich die Tür seines Arbeitszimmers hinter den drei geschlossen, stöhnte Luise auf. »Welch unangenehme Personen«, schimpfte sie. »Hoffentlich kann dein Vater ihnen helfen, damit sie nicht so schnell wieder vorbeikommen.«
Grace war enttäuscht, dass sie ihre Chance nicht hatte wahrnehmen können. Vielleicht kann ich von außen am Fenster lauschen, überlegte sie hoffnungsvoll.
»Wenn du in den Laden von Miss Potter willst, solltest du dich beeilen. Es ist schon spät«, meinte ihre Mutter und verließ das Zimmer.
Grace wog zwischen dem Lauschen und dem Reiten ab. Aber im Grunde musste sie nicht lange überlegen. Schon auf dem Weg zu ihrem Zimmer, öffnete sie die Knöpfe ihres Kleides.
Kaum hatte Grace den Weg erreicht, der über freies Feld nach Sydney führte, ließ sie die Zügel locker und presste ihre Fersen gegen den Pferdebauch. Sogleich machte Bumerang einen Satz nach vorn und galoppierte los. Nach den Stunden im Stall schien er den Ausritt ebenso zu genießen wie seine Reiterin, die froh war, dem Besuch entfliehen zu können.
Grace legte die Zügel um den Hals des Wallachs und riss die Arme in die Höhe. Gleichzeitig entglitt ihrer Kehle ein lang gezogener Freudenschrei. In solchen Augenblicken war ihre Welt vollkommen. Sie fühlte sich frei und ungebunden und dem Himmel ein Stückchen näher.
Schon als sie ein Kind war, hatte ihr der Vater gezeigt, wie man reitet. Aus den Erzählungen ihrer Mutter wusste Grace, dass sie noch nicht laufen konnte, als ihr Vater sie das erste Mal zu sich in den Sattel setzte. An ihrem dritten Geburtstag zeigte er ihr, wie sie das Pferd am langen Strick führen konnte. Er hatte ihr alles beigebracht, was sie im Umgang mit einem Pferd wissen musste. »Sei stets aufmerksam und kontrolliere deine und seine Tritte«, hatte er sie ermahnt, als sie beinahe von einem Pferd umgestoßen worden wäre, weil sie abgelenkt war. Auch heute noch klangen seine Worte in ihr nach: »Reiten erlernt man nicht von einem Tag auf den anderen. Es ist ein jahrelanger Prozess mit Höhen und Tiefen. Nicht jeder Tag gleicht dem anderen. Klappt es an einem Tag gut, kann am nächsten Tag alles misslingen. Deshalb nimm dir die Zeit, um die nötige Sicherheit zu erlangen. Sei niemals leichtsinnig oder ungeduldig; erst recht nicht, wenn du im Outback unterwegs bist. Falls du abgeworfen wirst, steig wieder in den Sattel. Nur so erlangst du Vertrauen zu dir und zu deinem Pferd. Wenn du ängstlich oder nervös bist, spürt es das durch den Sattel hindurch. Achte auf dein Pferd und strapaziere seine Kraft und seine Ausdauer nicht über alle Maßen. Behandle es mit Respekt – so wie du alles Leben auf Erden behandeln solltest. Aber vor allem, verschmelze beim Reiten mit deinem Pferd zu einer Einheit. Nur dann kannst du darauf vertrauen, dass es dich nicht im Stich lässt.«
Mit einem tiefen Seufzer legte sich Grace mit ihrem Oberkörper über Bumerangs Hals und presste ihre Wange gegen seine rötliche Mähne. Sie liebte diesen Wallach, den ihr der Vater vor drei Jahren geschenkt hatte. Damals nahm sie sich vor, dass sie beide die besten Freunde werden würden und nichts auf der Welt sie trennen könnte.
Tatsächlich vertraute sie ihrem Pferd mehr als manchem Menschen, denn Bumerang hatte einen gutmütigen Charakter – was kein Zufall war, da er von Quarter Horses abstammte. In dieser Rasse hatte man das Beste aus mehreren Pferderassen gezüchtet. Im Gegensatz zum englischen Vollblutpferd waren Quarters nervenstark und unkompliziert im Umgang mit Menschen. Sie waren gelehrig und konnten von einem Augenblick zum nächsten Höchstleistungen bringen. Ihr Vater erklärte ihr damals, dass diese Pferderasse aus Amerika stammte, wo sie zum Viehtrieb eingesetzt wurde, zumal sie die schnellsten Pferde auf einer Viertelmeile waren.
Grace hatte das sehr beeindruckt und diese Schnelligkeit bei Bumerang trainiert. Schon bald konnte kein anderes Pferd mit ihm mithalten. Allerdings schien nur sie von Quarter Horses begeistert zu sein. Die Reiter der feinen Gesellschaft verachteten diese Pferde, zumal sie mit schweren, wuchtigen Sätteln geritten wurden.
Auch die Geschwister verstanden ihre Vorliebe für diese Pferderasse nicht. Ihre Schwester Madeleine fand es unschicklich, dass Grace wie ein Mann angezogen und breitbeinig im Sattel saß. »Wir Frauen sollten chic gekleidet auf einem eleganten Damensattel ausreiten und nicht wie ein Viehhirte aussehen, der sich tagelang nicht gewaschen hat. In deiner Aufmachung wirst du niemals einen angemessenen Ehemann finden«, hatte sie Grace naserümpfend zurechtgewiesen, als diese in ihrer staubbedeckten Hose vor ihr gestanden hatte. Auch ihr Bruder Christopher fand Grace in ihrer Reitermontur nicht vorzeigbar. »Man sollte dich vor der Öffentlichkeit verstecken. Ebenso deinen Klepper, der einem Ackergaul gleicht. Da lobe ich mir meine Princess, die, wie ihr Name verrät, von edlem Geblüt abstammt. Mit ihren langen Beinen und ihrem schlanken Körper ist sie die schönste Stute in der Umgebung.«
Grace kümmerte der Spott ihrer Geschwister wenig.
In ihren Augen hatte ihre Schwester den Sinn fürs Vergnügen verloren, als sie Mutter geworden war. Seitdem schien ihre einzige Freude darin zu bestehen, sich für wohltätige Zwecke zu engagieren. Jedoch vermutete Grace, dass Madeleine dies als Vorwand benutzte, um ihre Zwillinge zur Nanny abschieben zu können. Was man ihr nicht verübeln konnte, da die beiden Kleinen Quälgeister waren, die nichts als Unsinn im Kopf hatten. Allerdings musste Grace zugeben, dass Madeleine ein erstaunliches Talent besaß, Gelder einzutreiben. Deshalb wurde sie direkt gerufen, sobald es eine Spendengala oder einen Basar zu organisieren gab. Madeleine erstellte dann mit Feuereifer Listen, in denen sie festhielt, wer wann wie viel beim letzten Mal und dieses Jahr gespendet hatte. Die Namen der Spender und Summen, die sie gegeben hatten, wurden bei jeder Gelegenheit erwähnt, sodass Madeleine offene Türen bei den wohlhabenden Bürgern Sydneys einrannte, kaum dass sie anklopfte.
Christopher hingegen unternahm alles, um seine Karriere als Politiker voranzutreiben. Grace fand es peinlich, wie ihr Bruder um die Gunst der Reichen wetteiferte. Er war sich nicht zu schade, die Ansichten seiner Gönner zu übernehmen, wenn ihm dies politisch weiterhalf. Grace unterstellte Christopher sogar, dass er seine Seele verkaufen würde, um seine Ziele zu erreichen.
Für ihre Geschwister war Grace nur das widerspenstige, wilde Mädchen, das von der Mutter liebevoll Wildfang genannt wurde, weil sie sich im Outback wohler fühlte als in der feinen Gesellschaft. Madeleine, Christopher und sicherlich die meisten anderen ihrer Gesellschaft zogen es vor, vornehm blass zu sein statt sonnengebräunt wie Grace, die es zudem liebte, unter freiem Himmel zu schlafen, weswegen sie sich manchmal nachts aus dem Haus schlich. Zum Glück hatte ihre Familie bislang noch nicht mitbekommen, dass sie manche Nacht nicht in ihrem Bett lag.
Wenn ihre Geschwister wüssten, dass sie fast alle Fachbücher des Vaters studiert hatte und sie sich ein erhebliches medizinisches Wissen angeeignet hatte, würden sie ihr mit Achtung entgegentreten, dachte Grace jedes Mal, wenn sie den abschätzigen Blick sah, mit dem ihr Bruder sie manchmal musterte.
Grace atmete tief durch. Für nichts und niemanden würde sie sich verbiegen und erst recht nicht auf ihren geliebten Bumerang verzichten. Sie hatte weder Ambitionen zu heiraten, noch strebte sie ein Ehrenamt an. Sie würde auf immer und ewig bei ihren Eltern auf dem Weingut leben und in Männerhosen auf ihrem Pferd ausreiten. So stellte sich Grace ihre Zukunft vor. Mehr wollte sie nicht vom Leben.
Als Grace in der Ferne das Meer glitzern sah, zog sie leicht an den Zügeln, sodass Bumerang zuerst in den Trab und dann in den Schritt fiel. Schon tauchten die ersten Häuser von Sydney vor ihr auf. Seit vielen Jahren glich die Stadt einer riesigen Baustelle. Straßen wurden angelegt, öffentliche Gebäude errichtet, Brücken und eine Hafenanlage gebaut. Überall herrschte geschäftiges Treiben, nur nicht in den Randbezirken. Dort lebten in einfachen Unterkünften Aborigines, die sich den Weißen verdingten.
Duncan Fairbanks war jedes Mal ungehalten, wenn er von dort zurückkam. »Anstatt prunkvolle Gebäude für die Administratoren zu bauen, sollte man die Hütten der Aborigines instand setzen«, schimpfte er, weil seinem Empfinden nach der Zustand der Wohnstätten menschenunwürdig war. Als Grace wissen wollte, warum die Eingeborenen nicht selbst ihre Wohnungen reparieren würden, hatte er erklärt, dass Aborigines jahrhundertelang mit ihren Sippen durchs Outback gewandert waren, bevor die Engländer sie zwangen, sesshaft zu werden. »Sie lebten von dem, was die Natur ihnen gab. Deshalb zogen sie umher und schliefen in Höhlen oder im Freien. Sie brauchten keine festen Unterkünfte und hatten somit keine Erfahrung, wie man Wohnstätten baut.«
Einmal hatte der Vater seinen Unmut über die Wohnstätten der Ureinwohner bei einem Dinner geäußert. Doch der Gastgeber spottete nur, die Aborigines sollten zufrieden sein, da sie früher in Steinlöchern am Hafen gehaust hatten. Die Wilden hätten keine Ahnung, wie man Häuser erbaut. Alle anderen Gäste hatten höhnisch und zustimmend gelacht. Nur ihr Vater nicht. Der hatte stattdessen in die Runde geblickt und mit ernster Miene erwidert, dass die Aborigines es nicht nötig hatten, Hütten zu bauen, weil ihnen die Höhlen als Quartier genügten. Diesen Menschen, die keinen Besitz haben und auch keine Vorräte anlegen, nutzen diese Höhlen nur, um vor Regen, Sonne und Kälte geschützt zu sein. Er schlug der Gesellschaft vor, die Sandsteinhöhlen zu inspizieren, damit sie wüssten, wovon er sprach. Überrascht hatten einige Herren, die später des Vaters Rat gefolgt waren, erkannt, dass es keine gemeinen Erdlöcher waren, in denen die Aborigines früher wohnten. Vielmehr waren es, wie die Herren erkannten, geräumige Höhlen, von denen manche so groß und hoch waren, dass mehrere Sippen gleichzeitig darin leben konnten.
Grace ritt langsam durch die engen Gassen des Arbeiterviertels. Ein Aborigine, der auf der Fensterbank auf dem Dach einer Bretterbude saß und seine Beine im Freien baumeln ließ, blickte ihr breit lächelnd entgegen. Dabei blitzten seine weißen Zähne auf. Als er nickte, erwiderte sie den Gruß und hob die Hand. Einige Häuser weiter spielten Kinder vor der Tür, die schief im Rahmen hing. Ein Mädchen schnipste geschnitzte Holzkugeln in eine kleine Mulde. Auch sie grüßten freundlich und machten Platz, damit Bumerang an ihnen vorbeitraben konnte.
Jeder hier kannte Grace, denn sie war die Tochter des Doktors, der Mann, der keinen Unterschied zwischen weißen Menschen und Eingeborenen machte und alle gleich behandelte, sogar die ärmeren Menschen medizinisch versorgte. Alle hier begegneten ihrem Vater und seiner Familie mit Respekt und Freundlichkeit. Grace wusste, dass ihr in dieser Gegend nichts passieren würde.
Als sie das Ende der Gasse erreicht hatte, legte sie den rechten Zügel gegen Bumerangs Hals, sodass er nach links in Richtung Hafen abbog. Dort in der Nähe führte das Ehepaar Potter ein Hotel und einen Gemischtwarenhandel. Frau Potter war eine grauhaarige, und wie Grace fand, sehr kleine Dame mit einem runden Gesicht. Auffallend an ihr war, dass ihre Augen nicht gleichzeitig in dieselbe Richtung schauten, was irritierend sein konnte, da man nie wusste, ob sie eine Person ansah oder an ihr vorbeischaute. Von ihrer Mutter wusste Grace, dass Mrs Potter ihren Mann erst in Australien kennengelernt hatte. Seit ihrer Hochzeit vor vielen Jahren führte sie den Laden, in dem man alles kaufen konnte, was man zum alltäglichen Leben benötigte. Der Warenbestand war ein Sammelsurium an Pfannen, Töpfen, Lampen, Stoffen, Nähgarnen, Eimern, Besen und sonstigen Dingen, die in einem geordneten Durcheinander irgendwo in Regalen standen oder an der Wand hingen. Dazwischen versteckt standen Gläser voller Süßigkeiten und andere Lebensmittel sowie Bücher und Schreibhefte. Weil in Grace’ Notizheft jede Seite mit medizinischen Ratschlägen vollgeschrieben war, hatte sie bei Mrs Potter vor einigen Wochen ein neues kaufen wollen. Doch alle Hefte waren verkauft, und die neue Ladung aus England war noch nicht eingetroffen. Seit drei Wochen wartete Grace darauf, dass das Schiff aus Europa endlich Nachschub brachte. Nach Mr Potters Berechnungen sollte der Segler gestern im Hafen eingelaufen sein.
Aufgeregt band Grace Bumerangs Zügel an den Querbalken vor dem Krämerladen fest, als sie hinter sich eine ihr bekannte Stimme hörte. Genervt schloss sie für einen Herzschlag die Lider. Warum musste ihr ausgerechnet Arthur Bellamy begegnen?
»Was treibt dich aus dem Outback in die Zivilisation zurück?«, fragte er spöttisch und stieg von seinem edlen Ross ab, das er am anderen Ende des Holzbalkens anband, was Grace zum Grinsen brachte. »Hast wohl Angst um deine Stute, Bellamy«, kommentierte sie sein Handeln.
»Eurem Aussehen nach seid ihr beide voller Ungeziefer«, sagte er angewidert. Als ob Bumerang Arthurs Beleidigung verstanden hätte, drehte er ihm sein Hinterteil zu. Sogleich peitschte Arthurs Gerte durch die Luft, sodass ein Zischlaut entstand. Beide Pferde wurden unruhig, tänzelten und wieherten verhalten.
»Bist du von Sinnen?«, schrie Grace erzürnt.
»Dein Ackergaul wollte nach mir treten«, verteidigte sich Bellamy und holte abermals mit der Gerte aus, doch dieses Mal zielte er auf Bumerangs Körper.
Ohne nachzudenken, riss ihm Grace den Stock aus den Händen und richtete ihn gegen Bellamy. »Versuch noch einmal, mein Pferd zu schlagen, und ich ziehe dir die Peitsche quer durch dein hässliches Gesicht.« Um das zu bekräftigen, wedelte sie mit der Gerte vor seiner Nase herum.
»Grace, jetzt ist es genug«, schimpfte plötzlich ihr Bruder, der aus dem Laden getreten war und die Szene mitbekommen hatte.
»Dieser Mistkerl wollte Bumerang schlagen«, schäumte sie.
»Das wollte ich nicht.«
»Du feiger Lügner.«
»Deiner Schwester sollte man ihr freches Mundwerk mit Seife auswaschen«, zischte Arthur in Christophers Richtung, dann wandte er sich an Grace. »Wärst du mein Weib, würde ich dir Benehmen beibringen.«
»Träum weiter, du Trottel! Das wird niemals geschehen. Also spar dir deine Drohungen für eine andere auf«, antwortete Grace lächelnd, obwohl es in ihr brodelte. Sie warf die Gerte vor seine Füße. Um Bellamy keine Chance zu geben, erneut zu drohen, drehte sie sich um und ging in den Laden.
Miss Potter stand an der Kasse nahe der Eingangstür und hatte die Szene mitbekommen. »Ein unsympathischer junger Mann«, murmelte sie mit Blick auf Arthur Bellamy.
Bevor Grace antworten konnte, trat ihr Bruder auf sie zu und zog sie unsanft in die hinterste Ecke des Geschäfts. »Wie kannst du es wagen, so mit Arthur zu sprechen?«
»Au, du tust mir weh«, wandte sich Grace aus seinem Griff. »Er ist ein mieser Kerl. Ich habe keinen Grund, nett zu ihm zu sein.«
»Er ist mit dem Gouverneur verwandt. Seine Familie ist vermögend und hat großen Einfluss.«
»Und auch wenn sein Vater zum König von Sydney gekrönt würde, gäbe es ihm nicht das Recht, mein Pferd zu schlagen.«
»Das hat er nicht getan.«
»Das wollte er aber.«
»Er sagt, du bildest dir das ein.«
»Und du glaubst diesem Bastard mehr als deiner Schwester? Wahrscheinlich tust du alles, damit er dich leiden kann. Du solltest dich schämen, Bruderherz!« Christopher sog hörbar die Luft ein. »Wir dürfen die Bellamys nicht gegen uns aufbringen. Deshalb sei endlich still und geh nach Hause. Vor allem wasch dir den Dreck aus dem Gesicht. Man muss sich nicht nur für dein Benehmen schämen«, sagte Christopher kopfschüttelnd und drehte sich um.