Das Prinzip des Vorrangs der Wettbewerbsermöglichung - Udo Bahntje - E-Book

Das Prinzip des Vorrangs der Wettbewerbsermöglichung E-Book

Udo Bahntje

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Beschreibung

Einige Besonderheiten des Wettbewerbsrechts, zu denen etwa die Rule of Reason, die Immanenztheorie, das Fehlen eines allgemeinen Diskriminierungsverbots und (nach Ansicht des Verf.) auch die von Galbraith entwickelte Theorie der "Countervailing Power" gehören, verdeutl ichen in unterschiedlicher Weise das Phänomen, dass sich gewisse Wettbewerbsbeschränkungen für einen optimalen Wettbewerb zuweilen auch als nützlich oder gar notwendig erweisen und daher im Ergebnis zu akzeptieren sind. Dieses bislang (z.B. durch die Immanenztheorie) eher beobachtete als erklärte Phänomen wird durch das hier vorgestellte "Prinzip des Vorrangs der Wettbewerbsermöglichung" konstitutiv begründet. Das Prinzip wird auf induktivem Weg aus verschiedenen Konstellationen des Kartellrechts entwickelt, in deduktiver Ableitung sowie aus verfassungsrechtlicher Sicht bestätigt und durch Tatbestandsmerkmale konkretisiert.

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Udo Bahntje

Das Prinzip des Vorrangs der Wettbewerbsermöglichung

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort zur 1. Auflage

Inhaltsverzeichnis

A.) Einleitung

B.) Systematische Berechtigung und systematischer Standort des Prinzips

C.) Rechtliche Anknüpfungspunkte als Induktionsgrundlage

D.) Auswirkungen und Folgerungen

Literaturverzeichnis

Impressum neobooks

Vorwort zur 1. Auflage

Udo Bahntje

Das Prinzip des Vorrangs

der Wettbewerbsermöglichung

2. überarbeitete Auflage 2017

D-21335 Lüneburg

In der 1. Auflage 1992 beim ehemaligen Verlag an der Lottbek erschienen unter ISBN 3-926987-86-3 wie folgt:

Wissenschaftliche Beiträge

aus

EUROPÄISCHEN HOCHSCHULEN

REIHE 02

Rechtswissenschaften

BAND: 23

Udo Bahntje

Das Prinzip des Vorrangs der Wettbewerbsermöglichung

2. überarbeitete Auflage 2017

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbiografie.Bibliografische Daten sind im Internetunter http://dnb.dnb.de einzusehen.

© 2017 Dr. Udo Bahntje D-21335 Lüneburg, Munstermannskamp 5

ISBN 978-3-00-055692-0

Vorwort zur 2. Auflage 2017

Aufgrund verschiedentlich geäußerter Nachfragen habe ich mich entschlossen, das vorliegende Buch in virtueller Form nochmals zum einfachen (und gewünschten) „Herunterladen“ herauszugeben. Der Text der 1. Auflage ist im Wesentlichen unverändert geblieben, d.h. abgesehen von kleinen Korrekturen, Ergänzungen und inzwischen (ab 1. August 2006) veränderter Rechtschreibung. Ein solcher Nachdruck erscheint trotz des inzwischen mehrfach novellierten GWB gerechtfertigt, weil es hier nicht um eine Kommentierung inzwischen veränderter oder weggefallener Rechtsnormen geht, sondern um die Entwicklung eines neuen Rechtsprinzips, das nach wie vor in aktuellen Regelungen erkennbar wird (z.B. § 36 Abs.1 S.2 Nr.1 GWB). Das Prinzip wird insbesondere begründet mit den in den zitierten Gesetzesmaterialien genannten Motiven und Argumenten des Gesetzgebers, den Diskussionen z.B. bezüglich eines allgemeinen Diskriminierungsverbots, der Immanenztheorie, der von John K. Galbraith entwickelten „Countervailing Power“, der Verlegenheitslösung einer Rule of Reason und nicht zuletzt mit der verfassungsrechtlichen Grundlage. Das Prinzip des Vorrangs der Wettbewerbsermöglichung ist nicht auf den Geltungsbereich des GWB beschränkt, sondern erstreckt sich gemeinsam verbindend auf alle freie Wirtschafts- und Wettbewerbsordnungen. Die aufgezeigten Argumente und systemtheoretischen Grundlagen sind nach wie vor gültig und rechtfertigen aus meiner Sicht einen Nachdruck der 1. Auflage, zumal diese längst vergriffen ist und einige Restexemplare offenbar schon zu „Liebhaberpreisen“ gehandelt werden.

Lüneburg, im Januar 2017

Udo Bahntje

Kann es heute noch bislang unbekannte Prinzipien oder Grundsätze geben? Larenz meint: Ja, es können „auch schon morgen neue Prinzipien ,entdeckt‘ werden“1. Und für den hier untersuchten Bereich der Beziehungen zwischen Wettbewerb und Wettbewerbsbeschränkung hat Mestmäcker ausgeführt: „Wettbewerbsbeschränkungen indizieren mögliche Funktionen des Wettbewerbs. Bisher unbekannte Wettbewerbsbeziehungen werden deshalb häufig erst in wettbewerbsbeschränkenden Verträgen sichtbar. Daran bestätigt sich der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren.“2 Diese Aussagen ermutigen, und so soll der Versuch gewagt und das seit v. Hayek so oft beschworene Entdeckungsverfahren auch hier ernst genommen werden. Für weiterführende Anregungen und Kritik wäre ich jederzeit dankbar. Dieses Buch ist meiner Mutter, Frau Dr. med. Charlotte Bahntje, gewidmet, die es mit ihrem ständigen und im besten Sinne katalytisch wirkenden Interesse an allem Wissenschaftlichen begleitet und gefördert hat. Zeit und Interesse — das sind nicht nur die Voraussetzungen, sondern bereits die wichtigsten Ausdrucksformen gedanklicher Teilnahme und Unterstützung. Für die sorgfältige Reinschrift und die vorbildliche Zusammenarbeit bei der Umsetzung des Manuskripts in die fertige Druckvorlage möchte ich mich bei Frau Bärbel Schulz und ihrem Büro bedanken.

Hamburg/Kiel, im Januar 1992

Udo Bahntje

Inhaltsverzeichnis

Seite

A. Einleitung………………………………………………………………………………………………………………………………….9

I. Die Hypothese …………………………………………..……………………………………………………………….9

II. Die Vorgehensweise………………………………………………………….…………………………………….11

B. Systematische Berechtigung und systematischer Standort des Prinzips………….……………15

I. System und Prinzip………………………………………………………………………..…………….……………15

II. Zwei Beispiele für Prinzipien aus dem Wettbewerbsrecht .…………….….…………… 16

1.) Erstes Beispiel: Das Prinzip Wettbewerb …….………………………………..………………16

2.) Zweites Beispiel: Das Prinzip einer vollständigen Erfassung aller

Wettbewerbsbeschränkungen………………………………………………………………………….20

III. Prinzipiengeltung und Evidenz………………. ………………………………………………………………22

C. Rechtliche Anknüpfungspunkte als Induktionsgrundlage …………….……………………………..…27

I.Die Abwägungsklausel gem. § 24 Abs. 1 Halbsatz 2 GWB …………………………..27

II. Die Ministererlaubnis gem. § 24 Abs. 3 GWB…………………………………………………..31

III. Einzelausnahmen vom Kartellverbot gem. §§ 2 ff. GWB ……………………………….33

1.) Konditionenkartelle gem. § 2 GWB .…………….………………………………………………..34

2.) Rabattkartelle gem. § 3 GWB………….……….………………………………………………………37

3.) Strukturkrisenkartelle gem. § 4 GWB.…………………………………………………………….38

4.) Rationalisierungskartelle gem. § 5 Abs. 2 und 3 GWB..………………………………40

a) Einfache Rationalisierungskartelle gem. § 5 Abs. 2 GWB ...………………….40

b) Höherstufige Rationalisierungskartelle gem. § 5 Abs. 3 GWB….………….44

5.) Spezialisierungskartelle gem. § 5 a GWB.……….…………………………………………….44

6.) Mittelstandskartelle gem. § 5 b GWB …….…….…...………………………………………...45

7.) Einkaufskooperationen gem. § 5 c GWB.………….…………………………………………..47

8.) Exportkartelle gem. § 6 GWB..…………….. .……………………………………………………...50

a) Ratio legis und Auswirkungen auf den Wettbewerb …………………………...50

b) Die Versagung der Kartellerlaubnis nach § 6 Abs. 3 Nr. 2 GWB……..53

9.) Importkartelle gem. § 7 GWB.. ……………………………………………………………………...54

a) § 7 Abs. 1 GWB ………………………………………………………………………………………..54

b) § 7 Abs. 2 i.V.m. § 6 Abs. 3 Nr. 2 GWB ……..………………………………………56

10.) Ausnahme- und Notstandskartelle gem. § 8 Abs. 1 und 2 GWB...…………..58

a) Ausnahmekartelle gem. § 8 Abs. 1 GWB …….…………………………………...…58

b) Notstandskartelle gem. § 8 Abs. 2 GWB…........……………………………………60

IV. Die Bereichsausnahmen gem. §§ 99 — 103a GWB ………………………………………...60

1.) Grundsätzliches …..……………………..……………………………………………………………………60

2.) Einzeltatbestände….. …………………..…………………………………………………………………..62

3.) Zwischenergebnis………………………… ………………………………………………………………….64

V. Bieter- und Arbeitsgemeinschaften ……………..……………………………………………………..65

VI. Die Diskussion um ein allgemeines Diskriminierungsverbot………………………….76

D. Auswirkungen und Folgerungen ………………..…………………………………………………………...82

I.Verhältnis zur Immanenztheorie ………………………………………………………………………...82

II. Verhältnis zum Gegengewichtsprinzip (Countervailing Power) .………………….92

III. Zusammenfassung und Ausblick ………………..……………………………………………………101

1.) Zusammenfassung ……………………….………………………………………………………………...101

2.) Folgerungen …………………………….……………………………………………………………………….104

a) Ansatz zu einer deduktiven Ableitung ……………………………………………………104

b) Weitere Folgerungen und Ausblick…………………………………………………………106

Literaturverzeichnis …..…………………………………………………………………………………………………113

A.) Einleitung

I. Die Hypothese

Mit den folgenden Ausführungen soll ein Prinzip des Wettbewerbsrechts behauptet und begründet werden, das ich „das Prinzip des Vorrangs der Wettbewerbsermöglichung“ nennen möchte. Dazu muss zunächst der Begriffsinhalt und insbesondere die Frage: Vorrang wovor? klargestellt werden.

Der Ausdruck „Vorrang der Wettbewerbsermöglichung“ erscheint zunächst insofern selbstverständlich, als die Untersagung (z.B. § 24 Abs. 2 S. 1 GWB) oder jede sonstige Sanktionierung einer tatbestandsmäßigen Wettbewerbsbeschränkung e contrario zugleich auch einen Vorrang der (dadurch bedingten) Wettbewerbsermöglichung bedeutet. Diese Selbstverständlichkeit, die sich allenfalls zu einer gewissen übergeordneten Bestätigung des Prinzips anführen lässt, bedarf keiner näheren Erklärung und wird im Folgenden nicht weiter erörtert. Ebenfalls nicht angesprochen werden mit dem Ausdruck „Vorrang“ die Ziele eines möglichst intensiven und (wie auch immer zu interpretierenden) optimalen Wettbewerbs, die einer freien und sozialen Marktwirtschaft zugrunde liegen. Für solche Ziele wäre der Ausdruck „Vorrang“ schon vom Wortsinn her zumindest unpräzise. Und schließlich soll auch das weite Feld einer allgemeinen tatbestandsausschließenden oder rechtfertigenden Güter- und Interessenabwägung in Wettbewerbsachen weder mit dem Ausdruck „Vorrang“, noch sonst mit dem hier behaupteten Prinzip betreten (sondern allenfalls abgrenzungshalber gestreift) werden. Es soll weder einer etwa im neuen Gewande vorgestellten Rule of Reason3 das Wort geredet werden, noch sollen ökonomische (gesamtwirtschaftliche) oder außerökonomische (gemeinwohlorientierte) Aspekte4 etwa im Rahmen einer neuen Abwägungsformel zur Diskussion gestellt werden. Eine solche Formel wäre auch kaum vorstellbar, denn eine Abwägung muss sich in jenen Bereichen, in denen diese Aspekte entscheidungserheblich werden (etwa bei den §§ 4, 8, 24 Abs. 3 GWB) stets streng individuell auf den einzelnen (Ausnahme-) Fall beziehen und steht daher jeder formelmäßigen und schablonenhaften Beurteilung fern.

Das Prinzip des Vorrangs der Wettbewerbsermöglichung (im Folgenden auch abgekürzt „das Prinzip“ genannt) ist im Vergleich zu einer solchen allgemeinen und umfangreichen, auf verschiedenen Ebenen stattfindenden Vorteilsabwägung sehr viel enger und funktional präziser. Es soll besagen, dass in den Fällen, in denen die Nachteile von irgendwelchen (an sich verbotenen) Wettbewerbsbeschränkungen ausnahmsweise mit — durch eben diese Wettbewerbsbeschränkungen im jeweiligen Fall hervorgerufenen — unmittelbaren Wettbewerbsvorteilen konkurrieren, dieser Konflikt infolge des Prinzips des Vorrangs der Wettbewerbsermöglichung im Zweifel zugunsten der Wettbewerbsermöglichung gelöst werden muss, auch wenn dabei unter Umständen ganz erhebliche Wettbewerbsbeschränkungen konkret hingenommen oder zumindest in Kauf genommen werden müssen. „Vorrang“ bedeutet also: vor der (ausnahmsweise hinzunehmenden) Wettbewerbsbeschränkung.

Dabei soll die soeben genannte Zweifelsregelung besagen, dass sich die Vor- und Nachteile (Wettbewerbsermöglichung und Wettbewerbsbeschränkung) in quantitativer, qualitativer oder kombiniert quantitativ-qualitativer Hinsicht etwa gleich groß gegenüberstehen müssen, denn bei kleineren Wettbewerbsvorteilen kann es hinsichtlich ihrer Irrelevanz gegenüber der überwiegenden Wettbewerbsbeschränkung insoweit keinen Zweifel geben. Es kommt bekanntlich häufig vor, dass die angegriffene Partei eines Kartellverfahrens versucht, sich durch Hinweis auf kleinere (und zudem oft noch zweifelhafte) wettbewerbsrelevante Vorteile des verbotswidrigen Verhaltens aus der Affäre zu ziehen. Derartige marginale Vorteile sind, selbst wenn sie zweifelsfrei wären, vom Prinzip zumindest nicht regelungserheblich erfasst.

Die Anwendung des Prinzips bedeutet zum einen, wie in entsprechenden Kollisionsfällen im Zweifel grundsätzlich zu verfahren ist (Vorrang der Wettbewerbsermöglichung durch Hinnahme der Wettbewerbsbeschränkung), und sie bedeutet zum anderen — und hier liegt der Bedeutungsschwerpunkt — warum in diesen Fällen so verfahren werden muss (Begründungsqualität des Prinzips per se). Ersteres ist bekanntlich nicht selbstverständlich, denn eine verbotene Wettbewerbsbeschränkung ist grundsätzlich nach der einschlägigen Gesetzesnorm zu verfolgen und von einer „Aufrechnung“ des Nachteils der Wettbewerbsbeschränkung mit eventuellen Vorteilen derselben sagt das Gesetz nichts. Wenn also das erstere (Vorrang der Wettbewerbsermöglichung) mit dem letzteren begründet wird, hängt die Erklärung insgesamt von der Existenz des Prinzips ab, das im Folgenden nachgewiesen werden soll5.

II. Die Vorgehensweise

1.) Der Weg, der zur Begründung des als Hypothese vorangestellten Prinzips eingeschlagen werden soll, ist wohl mit am überzeugendsten und konsequentesten von Canaris bei der Präzisierung des Vertrauensprinzips und einer sich daraus ableitenden Vertrauenshaftung abstrakt dargelegt6 und mit Erfolg konkret beschritten worden. Es sei dahingestellt, inwieweit eine solche, von ihm so vorbildlich durchgeführte induktive Vorgehensweise aus systematisch-logischen Gründen vielleicht sogar zwingend geboten ist7; jedenfalls soll dieser zumindest am praktikabelsten erscheinende Weg auch hier eingeschlagen werden. Das bedeutet im wesentlichen eine zielorientierte Analyse bestimmter Normen oder Fallkonstellationen, in denen das behauptete Prinzip immanent enthalten sein, und daher auf induktivem Wege aus ihnen extrahiert werden könnte8. Letzteres beinhaltet weiter die Möglichkeit, dass sich bei einer Fallgruppe herausstellt, dass das Prinzip aus bestimmten Gründen jener Konstellation im Ergebnis nicht zugrunde liegt, wodurch sich Abgrenzungskriterien ergeben. Schließlich muss bei dieser Untersuchung hier, im Bereich einer wertungsabhängigen Geisteswissenschaft, zuweilen die Evidenz eines Ergebnisses eine gewisse Argumentationsrolle übernehmen, wobei auch die Tatsache, dass dies eine legitime und notwendige Rolle ist, im folgenden per se noch näher begründet werden soll (B.II.).

2.) Klarzustellen ist weiter, dass es in dieser Untersuchung ausschließlich um die Darstellung und den Nachweis eines konkreten, neuen Prinzips geht und — so verlockend dies auch erscheint — nicht um eine allgemeine Diskussion neuer system- und prinzipientheoretischer Erkenntnisse oder gar um eine entsprechende Analyse. Ein solcher Exkurs würde das hier vorliegende Thema zum einen sprengen und zum anderen den Schwerpunkt zu sehr in einen allgemein-theoretischen Bereich verlagern, womit dem hier verfolgten Anliegen wohl eher geschadet würde. Daher soll insbesondere auf die Erkenntnisse einer neueren Prinzipientheorie von Alexy9, die dieser in der Auseinandersetzung mit Dworkin10 und später unter Weiterentwicklung dieser Ergebnisse am Bezugspunkt einer Grundrechtstheorie11 erarbeitet hat, nur (nachdrücklich) hingewiesen werden. Doch soll das nicht daran hindern, auf Punkte, bei denen eine offensichtliche Übereinstimmung oder Abweichung zu den Ergebnissen Alexys erkennbar wird, auch hier (soweit relevant) aufmerksam zu machen. Wo ein solcher Hinweis fehlt, kann grundsätzlich von einer Übereinstimmung der theoretischen Implikationen auch mit den Thesen Alexys ausgegangen werden12.

3.) Das weitere Vorgehen gliedert sich demnach in folgende Abschnitte:

Zunächst soll mit Hilfe der systematischen Methode, die (ebenso wie bei der Darstellung des Vertrauensprinzips bei Canaris13) zur Ergänzung der induktiven Methode hinzugezogen wird, eine abstrakte Berechtigung des behaupteten Prinzips im Sinne einer systematischen Standortbestimmung dargelegt werden (B.). Sodann soll eine (nicht abschließende) Reihe positivrechtlicher Anknüpfungspunkte beschrieben und untersucht werden, aus denen auf induktivem Wege die „innere Notwendigkeit“ des Prinzips und seiner Abgrenzungskriterien extrahiert werden soll (C.). Abschließend sollen dann aus den gewonnenen Ergebnissen Folgerungen gezogen werden und das Prinzip an offenen oder (m.E.) nur unbefriedigend gelösten Problemen gemessen werden, wobei letztendlich im Ansatz auch eine deduktive Argumentation (gewissermaßen zur Probe aufs Exempel) zur Anwendung kommt (D.II.2.a).

Zweierlei ist dazu allgemein noch zu bemerken. Zum einen ist darauf hinzuweisen, dass die hier zum Zweck eines induktiven Nachweises angeführten Normen und Konstellationen, die die Existenz des Prinzips evident vor Augen führen und dieses zu beweisen imstande sind, stellvertretend auch für entsprechende Regelungen und Konstellationen in ausländischen Gesetzen stehen. Denn das Prinzip gilt naturgemäß nicht nur für den Geltungsbereich des GWB, sondern für jede freie Markt- bzw. Wettbewerbswirtschaft. Zum anderen ist aber auch zu sagen, dass hier ein neuer Gedanke zur Diskussion gestellt wird, dessen Umrisse und Konsequenzen noch nicht bis ins letzte ausgefeilt sind. Daher bitte ich darum, verbleibenden Unstimmigkeiten oder Unvollständigkeiten (im Blick auf das Wesentliche) mit Nachsicht zu begegnen. Insbesondere können sowohl die Fallgruppen oder Normbeispiele als „induktives Material“ (C.) als auch die Folgerungen und Konsequenzen (C. und D.) noch nicht abschließend oder erschöpfend dargestellt werden, was aber wohl nicht nur den subjektiven, sondern auch den (fehlenden) objektiven Möglichkeiten entspricht14.

B.) Systematische Berechtigung und systematischer Standort des Prinzips

I. System und Prinzip

Canaris, an dessen methodisches Konzept im Folgenden angeknüpft werden soll, definiert ein System als eine „axiologische oder teleologische Ordnung allgemeiner Rechtsprinzipien“15. Letztere stellen sich also als Bausteine eines Systems dar, und zwar als Bausteine von unterschiedlicher Größe und Bedeutung. Denn ebenso, wie es etwa in der Molekularanordnung eines Kristalls (zumeist) größere und kleinere, in unterschiedlichen Frequenzen schwingende Bausteine gibt, müssen auch in der allgemeinen Rechtssystematik zunächst einmal Prinzipien unterschiedlicher Wesensart (insbesondere Rechtsprinzipien und rechtsethische Prinzipien16), sodann (relativ) weitreichende und weniger weitreichende Prinzipien17, Ober- und Unterprinzipien und andererseits ebenso Systeme und Untersysteme18 unterschieden werden, die in ihrem variablen, sich gegenseitig ergänzenden oder beschränkenden Zusammenspiel19 die „wertungsmäßige Folgerichtigkeit und innere Einheit des Rechts deutlich machen“20.

Dabei folgt bereits aus der Möglichkeit eines sich auch gegenseitig beschränkenden Funktionszusammenhanges die weitere Möglichkeit, dass sich Prinzipien — im Gegensatz zu Axiomen21 — auch untereinander widersprechen können und nicht ohne Ausnahme in ihrem Systembereich gelten22. Zwei Beispiele sollen das Gesagte verdeutlichen.

II. Zwei Beispiele für Prinzipien aus dem Wettbewerbsrecht

1. ) Erstes Beispiel: Das Prinzip Wettbewerb

Das „Prinzip Wettbewerb“ ist seit Bestehen des GWB immer wieder als das grundlegende Prinzip des Gesetzes und darüber hinaus der gesamten (sozialen) Marktwirtschaft hervorgehoben worden23. So heißt es etwa in dem Bericht des Bundestagsausschusses vom 29. Juni 1957: „Das Prinzip der Konkurrenzwirtschaft wird zum obersten Ordnungsgedanken des Gesetzes gemacht, wobei die Erkenntnis zugrunde liegt, dass die Wettbewerbswirtschaft allen anderen Ordnungen überlegen ist.“24

a) Dieses, dem Wettbewerbsrecht zugrundeliegende „Prinzip Wettbewerb“ lässt sich aber auch auf übergeordneter, wissenschaftsvergleichender Ebene nachweisen. So hat Michael Lehmann vom Standpunkt einer interdisziplinär höheren Warte, die einen vergleichenden Überblick über die Natur- und Geisteswissenschaften erlaubt, aus entsprechend umfassenderer Perspektive das „Prinzip Wettbewerb“ in einer vergleichenden Analyse der Wissenschaftsbereiche Evolutions-biologie, Ökonomik und Wirtschaftsrecht bestätigt gefunden25. Diesen Bereichen soll neben dem „Prinzip Wettbewerb“ auch ein „Prinzip Eigennutz“ zugrunde liegen26.

An dieser (den wissenschaftlichen Fachhorizont verdienstvoll erweiternden) Vorgehensweise wird deutlich, dass es insbesondere auf Standort und Perspektive ankommt, um entweder ein Prinzip oder ein (evtl. Unter-) System zu definieren. Denn es erscheint (ohne dass auf diese Frage hier näher eingegangen werden kann) ohne weiteres naheliegend, dass das „Prinzip Wettbewerb“ als ein „Grundelement der Evolution“27 aus anderer Perspektive, gewissermaßen im Sinne einer systemtheoretischen Relativitätstheorie, auch als ein „System Wettbewerb“ begriffen werden könnte. Das gilt gerade dann, wenn man, was hier dahingestellt werden soll, das „Prinzip Eigennutz“ als eigenes Prinzip und nicht nur als Wettbewerbskomponente begreifen wollte28. Diese Relativität zwischen Prinzip und System deckt sich jedenfalls gut mit den Ergebnissen von Canaris, der in seinen Prinzipien- und Systembeispielen z.B. den Gedanken der ungerechtfertigten Bereicherung oder den des Vertrauensschutzes zum einen als Beispiel für ein Prinzip, zum anderen (i.V.m. der dazugehörigen Haftung) als Beispiel für ein Untersystem anführt29.

Dass ferner das Prinzip Wettbewerb nicht ohne Ausnahme gilt und sich mit anderen Prinzipien widersprechen kann, erscheint ebenfalls ohne weiteres einsichtig. Zwar ist nun gerade für das Beispiel der Evolutionsbiologie einzuräumen, dass es dort infolge der begriffsimmanenten Dynamik grundsätzlich eine „Wettbewerbsbeschränkung durch Zustand“ eigentlich per definitionem nicht geben kann, so dass dieser Aspekt von Lehmann insofern zu Recht nicht erwähnt wird, doch gilt dies schon nicht mehr für den Bereich der gewöhnlichen „statischen“ Biologie. Man denke nur an den „Glücksfall“ einer besonders vorteilhaften genetischen Erbmasse, die ein Individuum gegenüber seinen Konkurrenten zu einem (übrigens wohl auch als Prinzip vertretbaren) „beatus possidens“ erheben30 und es dadurch einem aufreibenden Wettbewerb in vielen Bereichen entziehen kann31. Man denke aber auch an die Möglichkeiten der heutigen Gentechnologie (z.B. Herstellung eines interferonerzeugenden Bakteriums), durch die es vorstellbar erscheint, eine evolutionsbiologische Zwischenbilanz zu beeinflussen und letztere — potentiell auch willkürlich und vorteilsunabhängig (u.U. auch zurück in die Vergangenheit gerichtet) — zu verändern. Sofern man eine solche gewillkürte Künstlichkeit nicht etwa (da durch menschliche Intelligenz mittelbar bedingt) auch als per se evolutions-biologischen Prozess einstufen wollte — was m.E. unzutreffend wäre — müssen also selbst hier, im Grenzbereich der Evolutionsbiologie, letztlich doch Ausnahmen vom „Prinzip Wettbewerb“ zugestanden werden.

b) Demgegenüber fällt im wirtschafts- und wettbewerbsrechtlichen Bereich die Suche nach Ausnahmen vom „Prinzip Wettbewerb“ bedeutend leichter. Dies insbesondere aus zwei Gründen. Zum einen handelt es sich hier (zumindest in maßgeblichem Umfang) um eine Wertungswissenschaft32, für die (auch vom Grundsatz) abweichende Wertungen wesensimmanent und daher selbstverständlich sind. Zum anderen laufen hier besonders ausgeprägt wettbewerbskonträre Prinzipien entgegen, die das „Prinzip Wettbewerb“ oft als relativ zweitrangig33 zu verdrängen in der Lage sind.

Dabei soll hier von jenen zahlreichen, im Gesetz vorgesehenen „gewillkürten“ Ausnahmefällen, wie sie etwa die Bereichsausnahmen gem. § 99 ff GWB darstellen, abgesehen werden, weil (wie sich sogleich anschließend unter II. ergeben wird) die Berechtigung solcher Beispiele als Prinzipienausnahmen infolge fehlender (oder allenfalls nur sehr mittelbarer) Prinzipienimmanenz zumindest fraglich erscheinen kann. Doch auch abgesehen von diesen zahlreichen gesetzlichen Ausnahmefällen, in denen das „Prinzip Wettbewerb“ nicht, oder nicht konsequent verwirklicht worden ist, ergeben sich immer noch genügend Beispiele für Ausnahmen, die unmittelbar aus entgegen laufenden Prinzipien entspringen, z.B. aus dem Sozialstaatsprinzip (in Verknüpfung etwa mit dem Aspekt des Gemeinwohls), dem Marktgegenmachtprinzip (z.B. für den Arbeitsmarkt34), dem Territorialprinzip35 oder dem Grundsatz der Privatautonomie36.

c) Lehmann selbst nennt für das allgemeine Wettbewerbsprinzip die Grenze, jenseits derer durch „trial and error für den Menschen und seine Gesellschaft eine Überlebensgefahr“ entstehen könnte37, spricht also damit (ohne es ausdrücklich zu nennen) auch das übergeordnete und hier konträr laufende Selbsterhaltungsprinzip an, das aber aus anderer Perspektive (Darwinismus) bekanntlich gerade auch Ausdruck des „Prinzips Wettbewerb“ („unlauteren“ Wettbewerb wird man hier einschließen müssen) sein kann. Auch in diesem Bereich wird also ein variables System von Prinzipien erkennbar.

2. ) Zweites Beispiel: Das Prinzip einer vollständigen Erfassung aller Wettbewerbsbeschränkungen

Als zweites Prinzipienbeispiel im wettbewerbsrechtlichen Zusammenhang soll ein von Steindorff postuliertes Prinzip dienen, das er als ein (im GWB herrschendes) „Prinzip vollständiger Erfassung aller Wettbewerbsbeschränkungen“ bezeichnet hat38. Auch dieses Prinzip kann an den systemtheoretischen Erkenntnissen von Canaris gemessen werden, wobei zwei Merkmale besonders deutlich hervortreten.

a) Zum einen zeigt sich das von Canaris so genannte (bereits zitierte) erste Charakteristikum eines Prinzips mit besonderer Deutlichkeit, das besagt, dass Prinzipien sich nicht nur untereinander widersprechen können, sondern, und darauf liegt hier das Schwergewicht, nicht ohne Ausnahme in ihrem Systembereich gelten39. Das scheint sich hier in Anbetracht der zahlreichen Ausnahmen, bei denen Wettbewerbsbeschränkungen vom GWB bewusst nicht erfasst werden, auf den ersten Blick in geradezu krasser Weise zu bestätigen. Man denke z.B. nur an die bloße Verbietbarkeit in § 18 GWB, an die Missbrauchsaufsicht gem. § 22 Abs. 4 und 5 GWB, die nur gegenüber den zuvor definierten marktbeherrschenden Unternehmen gilt, an die Toleranzklausel gem. § 24 Abs. 8 GWB als negative Untersagungsvoraussetzung des Zusammenschlussverbots gem. § 24 Abs. 1 und 2 GWB oder an die (im einzelnen oft umstrittenen) Ausnahmen vom Kartellverbot gem. §§ 2 ff. und 99 ff. GWB. Sofern es sich bei diesen zahlreichen Ausnahmen um jene, von Canaris definierten prinzipienimmanenten Ausnahmen handeln sollte, wäre das von Steindorff postulierte Prinzip durch diese regelbestätigenden Ausnahmen insofern bestätigt.

Auf den zweiten Blick stellt sich jedoch die Frage, ob die von Canaris dargelegten prinzipienimmanenten Ausnahmemöglichkeiten nicht nur solche sind, die deshalb — notwendigerweise — vorhanden sind und hingenommen werden müssen, weil sie sich entweder als unmittelbarer Ausdruck entgegenlaufender oder vorrangiger anderer Prinzipien darstellen, oder weil sie aufgrund einer Unmöglichkeit der Erfassung infolge faktischer, z.B. wirtschaftswissenschaftlich bedingter Zwänge40 gar nicht erfasst werden können und daher eine „naturgegebene“, sachlogische Grenzwertbetrachtung bedingen. Dann aber wäre das Prinzip einer vollständigen Erfassung aller Wettbewerbsbeschränkungen gerade nicht bestätigt, weil dann die erstgenannte Gruppe jener, vom Gesetzgeber eingefügten Ausnahmen in Wahrheit keine immanenten (und als solche dem Prinzip nicht widersprechenden) Ausnahmen wären, sondern im Gegenteil als „gewillkürte“, vom Gesetzgeber (zumeist aufgrund wirtschaftspolitischer Erwägungen) so gewollte Ausnahmen dem Prinzip einer vollständigen Erfassung aller Wettbewerbsbeschränkungen gerade klar entgegenstehen würden.

In der Tat kann es sich bei jener ersten Gruppe von Ausnahmen, die ohne wissenschaftlich exakt definierbare Sachzwänge lediglich vom Gesetzgeber aus unterschiedlichen politischen und Interessenerwägungen heraus als nützlich empfunden und so gewollt sind („gewillkürte“ Ausnahmen) nicht um wesensimmanente Prinzipienausnahmen handeln. Sie sind zuweilen gar von sachfremden Zufälligkeiten abhängig41 und erscheinen grundsätzlich jederzeit durch die berühmten drei berichtigenden Worte des Gesetzgebers korrigierbar und reversibel42. Aus der Existenz und der Art (z.B. speziell die Höhe des Umsatzes als Aufgreifkriterium, § 23 Abs. 1 S. 1 GWB) dieser zahlreichen „gewillkürten“ Ausnahmen folgt daher, dass der Gesetzgeber aus unterschiedlichen Gründen keineswegs sämtliche vorstellbaren Wettbewerbsbeschränkungen unterbinden wollte43 und will (z.B. arg e § 24 Abs. 8 GWB) und daher von dem Grundsatz einer vollständigen Erfassung aller Wettbewerbsbeschränkungen — auch im Rahmen seiner Möglichkeiten — selbst nicht ausgeht. Das Prinzip einer vollständigen Erfassung aller Wettbewerbsbeschränkungen erscheint daher zu weit gefasst. Doch soll damit ein hier möglicherweise zugrundeliegendes Prinzip nicht generell bestritten werden. Es müsste wohl nur einschränkender formuliert werden und könnte etwa, um dem nicht nur immanent, sondern auch willensabhängig begründeten Regel-Ausnahmeverhältnis Rechnung zu tragen, als „Prinzip einer möglichst weitgehenden Erfassung von Wettbewerbsbeschränkungen“ bezeichnet werden. Denn es kann sich hier aus mehreren Gründen allenfalls um eine Grenzwertbetrachtung handeln.

b) Zum zweiten wird an dem von Steindorff formulierten Prinzip das prinzipienimmanente Merkmal der Evidenz44, d.h. die Evidenz der Existenz und inneren Richtigkeit des behaupteten Prinzips, sehr deutlich. Denn dass ein „Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen“ schon vom Namen und seiner unmittelbaren Zielsetzung her von dem Prinzip einer (möglichst) weitgehenden Erfassung aller Wettbewerbsbeschränkungen ausgehen wird, erscheint schon auf den ersten Blick evident zutreffend. Eine solche, hier besonders ausgeprägte Evidenz bedeutet jedoch keine triviale Selbstverständlichkeit, sondern ergibt sich, wie anschließend wegen der allgemeinen Bedeutung für den hier zu führenden Nachweis gesondert ausgeführt werden soll, als notwendiges Wesensmerkmal eines Prinzips aus dessen „Natur der Sache“45

III.Prinzipiengeltung und Evidenz

Larenz hat die Berufung auf die „Evidenz“ einer Behauptung als „stets suspekt“ bezeichnet46. Dieser Ansatzpunkt drängt in die Defensive, und so könnte man vielleicht meinen, dass auch hier, im Bereich der Prinzipien, die Bezeichnung der Existenz oder der Geltung eines behaupteten Prinzips als „evident“ im Grunde eine Verlegenheitslösung darstellen könnte, mit der ein bisher unbekanntes Prinzip gewissermaßen nur glaubhaft gemacht, nicht aber mit letzter Sicherheit nachgewiesen wird, so dass also die genaue Beweisführung trotz „evidenter Richtigkeit“ des Prinzips im Einzelfall noch geschuldet sein würde. Das ist aus den folgenden Gründen nicht der Fall.

Die Existenz eines Prinzips einschließlich seiner Geltung im bestimmten Rahmen beruht u.a. auf einem wesensimmanenten Unschärfenbereich, der sich aus mindestens den folgenden drei Gründen ergibt:

1.) Zum ersten ist nochmals auf die von Canaris47 abgeleitete prinzipienimmanente (mögliche) Widersprüchlichkeit der Prinzipien untereinander und (zusätzlich) ihrer nicht abschließend zu erfassenden Ausnahmebereiche, die sich jederzeit neu verändern können, hinzuweisen. Bereits daraus folgt, dass eine exakte Geltungsformel für ein Prinzip der Rechtswissenschaft (wie auch aller anderen Geisteswissenschaften48), nicht möglich ist49. Denn die (stets neu und nur möglicherweise entstehenden) Ausnahmen und Widersprüche der Prinzipien untereinander können lediglich beobachtet und wesensmäßig erfasst, nicht aber formelhaft definiert oder vorhergesagt werden. Dieser Umstand bedingt die erste wesensimmanente Unschärfe im Geltungsbereich eines Prinzips.

2.) Zum zweiten folgt dieser Unschärfebereich aus einer Wertungskomponente, die man entweder direkt aus dem Wesen eines Prinzips oder auch aus dem des zugrundeliegenden Systems verdeutlichen und begründen kann. Der zweite Weg soll hier eingeschlagen werden.

Fikentscher trifft über den Begriff eines Systems u.a. folgende Aussagen: „Ein System ist eine Anordnung von Begriffen in mehr als einer logischen Beziehung. In den Wertungswissenschaften ist mindestens eine dieser logischen Beziehungen eine wertende.“50 Da, wie bereits ausgeführt, die Geltung eines Prinzips nicht abstrakt und isoliert im Raume steht, sondern, wie insbesondere Wilburg deutlich gemacht hat, in Wechselwirkung zu anderen Prinzipien des Systems steht51 und daher die von Fikentscher genannten Beziehungen auch eine unmittelbar konstitutive Geltungskomponente für die damit jeweils beeinflussten Prinzipien beinhalten, wirkt sich dieser Wertungsbestandteil (mindestens) einer Beziehung auch für die Gültigkeit der jeweils betroffenen anderen Prinzipien konstitutiv aus. Der begriffsimmanente Unschärfenbereich der „wertenden Beziehung“ im System erfasst also das damit beeinflusste Prinzip selbst auch.

3.) Diese, über das notwendige Merkmal einer Wertung einfließende, gewissermaßen per se-Unschärfe des Prinzipienbegriffs wird drittens verstärkt durch eine weitere, von Fikentscher zu Recht laufend hervorgehobene, nicht formelmäßig erfassbare variable Dimension: die Abhängigkeit von der Zeit, oder genauer: „die Beobachtung, dass sich Wertungen mit dem Ablauf der Zeit ändern können.“52

Durch diese weitere Abhängigkeit, die Fikentscher zu Recht nicht als definierte Funktion, sondern lediglich als bloße empirische Beobachtung53 mitteilt, steigert sich die bereits per se wertungsbedingt vorliegende (d.h. die im Augenblick als „Momentaufnahme“ vorliegende) Unschärfe des Geltungsinhalts der Prinzipien und ihrer Systembeziehungen erneut. Aus diesem Umstand ergibt sich, dass selbst dann, wenn ein rechtswissenschaftliches Prinzip bis zu diesem Punkt noch mit naturwissenschaftlicher Präzision definiert werden könnte, diese Definition nur für eine „logische Sekunde“ ihre Gültigkeit behalten könnte. Danach würde sie diese Gültigkeit durch den — nicht kontinuierlichen und in Ausmaß und Art und Weise unvorhersehbaren — Einfluss der Zeit wieder verlieren.

4.) Dies ist die Begründung, aus der sich m.E. zwingend ergibt, dass die Beschreibung und Aussage eines konkret behaupteten Prinzips ohne das Merkmal einer „evidenten“ Geltung nicht möglich ist54. Denn auch das Merkmal der Evidenz enthält ja eine Wertung, die Wertung nämlich, dass sich ein „Ermessensspielraum“ zugunsten einer bestimmten Aussage, d.h. hier also die Existenz- oder Geltungsaussage über ein behauptetes Prinzip, auf nahezu Null reduziert. Und diese, in der Evidenzaussage enthaltene Wertungskomponente ist in ihrer noch verbleibenden und insoweit eben nicht restlos zu beseitigenden Unschärfe das Korrelat zu dem wie vorstehend dreifach begründeten Unschärfebereich des Prinzipienbegriffs selbst.

Zur Verdeutlichung und zum Vergleich mit dieser Situation sei auf die Rechtsprechung des BVerfG zum Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) hingewiesen55. Dort heißt es (jeweils im Zusammenhang mit einer entsprechend angegriffenen gesetzlichen Regelung) etwa: „... eine gesetzliche Regelung kann nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur als willkürlich verworfen werden, wenn ihre Unsachlichkeit evident ist.“56, oder: „... die Unsachlichkeit einer getroffenen Regelung muss evident sein, wenn Art. 3 Abs. 1 GG verletzt sein soll ...“57. Auch dort, wo es immerhin um die Gültigkeit einer konkreten Norm geht, kann also auf das Merkmal der Evidenz nicht verzichtet werden, und auch in dieser Rechtsprechung wird jene oben angeführte Ermessensreduzierung aufgrund einer bestimmten Wertung deutlich, die so eindeutig und allen rechtsstaatlichen Anforderungen genügend ausfällt, dass sie jeden vernünftigen Spielraum ausschließt und damit evident wird.

Eine Parallele findet sich bei den (gerade im Wirtschaftsrecht) zahlreichen unbestimmten Rechtsbegriffen58 und Generalklauseln. Auch sie können als Kulminationspunkte konkurrierender, widerstreitender oder parallellaufender Prinzipien angesehen werden, deren überragende immanente Wertungsabhängigkeit eine eindeutig definierte Grundlagenaussage (wie z.B. bei § 90 BGB) oder Geltungsanordnung (wie z.B. bei § 185 BGB) nicht zulässt und ohne ungerechtfertigte Bevorzugung bestimmter Prinzipien gegenüber anderen nicht zulassen kann.

Es ist demnach zusammenfassend festzuhalten, dass eine induktiv an Hand von Beispielen als evident vor Augen geführte Geltung eines Prinzips nicht etwa eine u.U. noch unzureichende oder nur überschlagsweise geführte „Glaubhaftmachung“ bedeutet, sondern i.V.m. konkretisierten Abgrenzungs- und Inhaltsmerkmalen der bestmöglichen Beweisführung entspricht, die die Natur der Sache hier zulässt.