Das Rätsel von Ravensbrok - Hans Hyan - E-Book

Das Rätsel von Ravensbrok E-Book

Hans Hyan

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  • Herausgeber: e-artnow
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

"Amtsgerichtsrat Doktor Walfeld steckte eben den letzten Happen von seinem Frühstücksbrot in den Mund. Es war elf Uhr, und er hatte heute schon zwei Fälle erledigt. Aber all das war doch wie vorüberhuschende Irrlichter, an diesem seltsamen Fall gewesen, der jetzt in Doktor Walfelds Amtsleben trat. Kopfschüttelnd ging der Untersuchungsrichter ein paarmal in dem großen, hellen Gemach auf und ab. Er war Jurist mit Leib und Seele." (Aus dem Buch) Hans Hyan war ein deutscher Gerichtsreporter und Schriftsteller.

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Seitenzahl: 188

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Hans Hyan

Das Rätsel von Ravensbrok

e-artnow, 2017 Kontakt: [email protected]
ISBN 978-80-268-7772-1

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Erstes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Der Invalide Meiners war ein Mann, der trotz seines lahmen Beines Tag und Nacht auf den Füßen war. Er hatte ein scharfes Auge auf die Kohl- und Rübendiebe. Und die Ströpper, die mit Schlingen und Schießeisen dem Wild nachstellten, hatten an ihm einen bösen Feind.

So war er am 16. Januar schon im Morgengrauen unterwegs. Die »Kurze« zwischen den Zähnen, hustete und krächzte der Alte wie ein Rabe. Asthma und Zipperlein plagten ihn wechselweise. Doch das hinderte ihn nicht, früh und spät draußen zu sein. Manch einen von den Wandsbeker Taugenichtsen hatte er schon ins »Kaschott« gebracht, mochten die ihm auch zehnmal mit Rache und Tod drohen!

»Den Düwel ook, wat hüt all wedder de Kraien grölen,« brummte er und wunderte sich, daß die schwarzen Vögel so früh schon zu Gange waren. Da sah er im trüben Licht, daß an einer brüchigen Stelle der Trift die Krähen auf etwas niederstießen und immer neue lärmend zuflogen.

Meiners, der seine Langschäfter anhatte, zauderte nicht, er stieg über den Graben in die Wiese, über der noch der dicke Nebel lag. Fast immer allein, hatte er sich daran gewöhnt, seine Beobachtungen laut zu machen. »Wat'n Schitwetter! Keen' Hund möchte man rutjagen. Aber wat is dat bloßig? Dat seiht ja ut as 'n Mensch!«

Immer näher an das Ungewisse herankommend, erkannte er schon Arm und Bein des im Sumpfwasser liegenden Mannes. Doch der Nebel, der in der Nacht das Vorland wie in weiße Tücher gehüllt hatte, kam jetzt in Schwaden wieder hoch und deckte den Körper zu.

»Dä hat sick all' verbiestert (verlaufen),« brummelte der Alte, »un dorbi is hoi versupen!«

Er faßte nach dem Arm des Toten und hob ihn hoch, »Is all ut mit jem,« nickte Meiners, für den der Tod nicht, wie für die meisten Menschen, etwas Grausiges war. Ruhig, als wäre es eine Verrichtung wie jede andere, packte er das linke Bein der Leiche und zog den Körper aufs Trockne.

Es war heller geworden. Ein weißes, trauriges Licht füllte die bruchige Heide. »Oha,« machte der Flurhüter, der den Leichnam umdrehte, »dem hebben se 'n lüttjes Ding vapaßt!«

Und er beugte sich über den in Sand und Segge liegenden Mann, der in seinem feuchten und beschmutzten Mantel, die Hände in nassen Lederhandschuhen, da so still ruhte. Er lag auf dem Bauch; weil er seinen Hut verloren hatte, schimmerte sein hellblondes Haar klatschnaß und verwirrt. Worauf aber der alte Meiners hinstarrte, das war das kleine Loch am Haaransatz des Hinterkopfes. Meiners drehte den Toten nochmals um. Jetzt starrte der mit den gebrochenen Augen trüb und glasig in den bleigrauen Himmel.

Da heulte von irgendwoher eine Sirene – das ließ den Alten zusammenschrecken. Er wurde wütend, und die Faust schüttelnd, murrte er: »Dat sind die gottverfluchtigen Ströppers west! Nich blot, dat sei Reih' und Hoasen dotschlahn, nu murksen sei ook all' Minschen af! ... Ick möt doch mol seihn, ob sä jem ook utplünnert hebben!«

Damit machte sich Meiners daran, dem Toten regelrecht die Taschen zu untersuchen. Aber er fand nichts als ein paar Schlüssel im Ledersäckchen, eine Brieftasche mit etlichen Geschäftskarten, ein buntes Taschentuch und ein altes Portemonnaie mit dreizehn Groschen.

»Dat is 'ne Ohnglückszahl,« brummte Meiners, »na, un dat is ja nu ook indrapen (eingetroffen)! Un so 'n jungen Kierl! Dä is wull noch keene dörtig Johr!«

Der Alte ging den Bruchweg hinauf, denn er wollte gleich nach Ravensbrok hinein, zum Gendarm, und dem den Fund melden – da sah er im Schnee, der hier, wo es frei war, reichlicher lag, ein Fahrrad.

Er faßte es gar nicht an. Nichts am Tatort verändern, das war, wie sein Freund, der Gendarm Meinshausen, sagte, bei solchen Gelegenheiten die Hauptregel. Und als habe sein Gedanke die Kraft, den, den er meinte, herbeizuzitieren, hörte er von fern dumpfen Hufschlag, und zwischen den lückigen Föhren ward, noch weit, der hohe Schimmel des Gendarmen sichtbar.

Der kam im kurzen Trab heran. Aber jetzt riß der Reiter den Zügel an und ritt schneller, da er den alten Meiners bei der Leiche stehen sah.

Meiners wies mit einem stummen Grinsen auf den Toten hin. Der Gendarm, ein Hüne, stieg von seinem Schimmel. Dann spuckte er eine Ladung Tabaksaft im Bogen und schüttelte den behelmten Schädel.

»Dat is ja 'n dollen Swinkram! Dor hebb' ick all wedder dran zu schriwen, bis dat wir den unner de Erd' kregen! Hast do n' schon nachseihn, Meiners?«

Der Flurhüter meldete das Ergebnis seiner Bemühung. Währenddessen betrachtete der Gendarm den Toten genauer, nahm auch die Papiere aus der Brieftasche und sagte schließlich: »Ick glöw', Meiners, den kenn' ick all! Dat is der Reisende, Berwin heet hei, der bi die Witte Winkel in 'n Butenweg wohnen deit! Ick kenn' em an dat witte Hoar ... as son Grasoop (Grasaffe) hat hei immer utseihn; un besupen wär' er all mehr as nüchtern. Na, denn wör ick mal runnerreiden nach't Amt und wör dat melden!«

Damit stieg der Riese wieder auf seinen Schimmel, nickte seinem alten Freund zu und zuckelte in mäßigem Trab davon. Meiners sah noch mal den Toten an; den konnte er hier ruhig liegenlassen, keine Seele würde sich an dem vergreifen! Aber die paar Habseligkeiten steckte er zu sich, und nach einigem Bedenken faßte er das Fahrrad bei der Lenkstange und führte es nicht ohne Mühe auf dem holprigen Weg. Das Rad hätte gar zu leicht einen unberechtigten Liebhaber finden können.

Gendarm Meinshausen ritt vor das Häuschen der Witwe Winkel, stieg vom Gaul und klopfte. Maria öffnete. Der Behelmte mußte sich bücken. Für seine zwei Meter fünf, durch den Helm noch beträchtlich verlängert, war die Tür nicht hoch genug.

»Is Ihre Mutter zu Hause, Mamsellchen?« fragte der außerhalb des Dienstes immer freundliche Mann.

»Jawohl, Herr Wachtmeister.«

»Kann ich di all' mal sprechen?«

»Bitte, Herr Wachtmeister!«

Und Maria öffnete dem Beamten die vom Flur nach rechts führende Tür in die Stube, wo Frau Renate Winkel in dem Korblehnstuhl bei der Arbeit saß. Sie stickte rote Monogramme in bunte Handtücher. Als Meinshausen eintrat, ließ sie das Tuch in den Schoß sinken und blickte dem Gendarm kopfnickend entgegen.

»Wohnt nich bei Ihnen ein Herr Berwin, der Reisender ist, Frau Winkel?«

Die Frau nickte wieder. Sie war nicht ängstlich, nur sehr vorsichtig. Aber der erfahrene Polizeimann sah doch gleich: hier stimmte etwas nicht!

»Is er denn hier, der Herr Berwin?«

Die Frau schüttelte den Kopf mit den grauen Flechten, die ein gehäkeltes Häubchen deckte. »Nä, Herr Wachtmeister, hier is er nich. Er is gar nich nach Hause 'kommen die letzte Nacht.« Meinshausen sah sich nach Maria um.

Das blonde Mädchen, das in einer schrecklichen Spannung an der Tür lehnte, war in ihrer Erregung schön. Jetzt öffnete sie den Mund. Sie wollte etwas sagen, aber Schreck und Angst lähmten ihr die Zunge.

Da fragte die Mutter, die nicht eine Sekunde ihre Ruhe verlor:

»Wissen Sie denn, wo er geblieben ist, der Berwin, Herr Wachtmeister?«

Der nickte. »Ja, Frau Winkel. Im Wald, oben bei Nasseeck, da haben wir 'n gefunden – un hat 'ne Kugel im Kopf – un is mausetot.«

Der Frau zitterten die Hände, sonst blieb sie ganz ruhig. Die Tochter sagte, in Tränen ausbrechend, nur leise: »Ach nein! Ach nein!«

»Na, und Ihr anderer Mieter, der Herr Stark, ist der denn zu Hause?«

Frau Winkel nickte: »Der schläft oben in seiner Stube.«

Meinshausen dachte einen Augenblick nach. »Je, denn wör ick jem wull mal stören müssen –«

Auf Marias hellem Gesicht kam und ging die Farbe. Der Gendarm sah sie scharf an. »Wollen Sie mich mal zu ihm hinbringen, Fräulein?«

Maria ging schweigend voraus.

Als sie die halbe Treppe hinauf war, blieb sie stehen und drehte, sich am Geländer festhaltend, den Oberleib nach dem Beamten um. In ihren großen blauen Augen brannte die Flamme eines starken Entschlusses, und sie sagte:

»Mein Bräutigam ist erst heute morgen nach Hause gekommen, Herr Wachtmeister. Er hat den Berwin im Nebel verloren – in der Heide –«

Meinshausen sagte nur:

»Die waren wohl beide mit dem Rad unterwegs? Dem Berwin seins haben wir draußen gefunden. Wann ist er denn gekommen, der Herr Stark?«

»Heute früh um fünf – er hat seinen Freund stundenlang draußen gesucht.«

»Und nun schläft er – Ihr Bräutigam?«

»Ja – ich glaube – er war todmüde.«

»Tja – denn wer' ick n' woll mal wecken müssen!«

Maria ging weiter. Sie öffnete die Tür der Mansarde und ließ den Gendarm zuerst eintreten. Der blieb auf der Schwelle stehen und sah in den Raum, den fahles Schneelicht füllte, stumm hinein.

Da stand mitten in der Stube ein großer Tisch aus weißem Holz. Zeichnungen und Papiere darauf und eine Menge Pinsel in einer großen Blechdose. Daneben Farbkasten und Palette. Aber an den hell gestrichenen Wänden hingen Aquarelle und Ölskizzen in bunter Menge. Sonst gab es ein paar Rohrstühle, einen Waschtisch und ein Feldbett im Zimmer. Und auf dem Bett lag, nur mit Hemd und Hose bekleidet, den Rock und die Weste hatte er ausgezogen, Hannes Stark.

Er lag da wie ein Mensch, der nach einer ungeheuren Anstrengung völlig erschöpft zusammengesunken ist und nicht das bißchen Kraft mehr hatte, sich auszuziehen.

Der Gendarm beugte sich über den Liegenden und schnupperte; er wollte riechen, ob der Maler sich mit Alkohol so müde gemacht hatte. Aber so war es nicht. Und es tat dem Mann in der Uniform fast leid, daß er den anderen aus dem Schlaf reißen mußte. Er faßte ihn an der Schulter und rüttelte ihn. Unwillig bewegte sich Stark und wollte weiterschlafen. Da hob ihn Meinshausen mit seiner gewaltigen Faust auf und sagte: »Heda! Holla! Ich muß Sie sprechen! Wachen Sie auf!«

Stark war mit einem Ruck in die Höhe.

»Was denn? Was ist denn, Herr Wachtmeister?«

»Ich wollt' Sie nach Ihrem Freund fragen, nach Herrn Berwin.«

Stark sah Maria an, sah die Tränen in ihren Augen und blickte dann zu dem Gendarm auf. »Wieso? Haben Sie ihn gefunden?«

Der nickte. »Ja, tot – erschossen – in der Ravensbroker Heide – da liegt er.«

Stark saß auf dem Bett. In dumpfer Ratlosigkeit schüttelte er den Kopf. »Und ich habe ihn doch stundenlang gesucht –«

Dann sah er dem Gendarm voll ins Auge. »Wir sind von Hamburg gekommen, Herr Wachtmeister, bis um elf waren wir zusammen – Bruno Berwin und ich –«

»Wo?« fragte Meinshausen.

»Ach, überall! Erst waren wir bei Bestmann auf dem alten Steinweg. Da war unser Freund Müller noch dabei. Und dann sind wir nach der Reeperbahn zu Carstensen in die ›Kajüte‹. Und von da zum ›Paradiesvogel‹ in der Lange Reihen – und dann sind wir vom Rathausmarkt nach Wandsbek gefahren. Da waren unsere Räder auf dem Bahnhof. Damit sind wir dann durch die Heide nach Hause.«

»Sie alle drei?«

»Nein. Arnold Müller ist ja schon in Hamburg abgeblieben. Der hat in Carstensens ›Kajüte‹ zwei alte Freunde getroffen. Und da haben die drei noch gesessen, aber Berwin wollte nicht mehr, der hatte Angst.«

»Wieso? Wovor denn? Haben Sie Streit miteinander gehabt, Sie und Berwin?«

»Wir beide? – Ja, auch! Aber das war's nicht. Berwin hatte Angst vor einem Mann, mit dem er in Bestmanns Keller gekneipt hatte. Wie hieß er doch gleich? Ja, Wolfank. Hans Wolfank. Der hatte was gemerkt, daß Berwin großes Geld bei sich hatte.«

»Hatte er denn so viel bei sich, der Berwin?«

»Ja, Herr Wachtmeister, achtundfünfzigtausend Mark in Scheinen.«

»Na, kiek eens! Hat er die gewonnen in der Lotterie?«

»Ja, das heißt: wir beide – wir haben zusammen ein Los gespielt. Darum kam ja auch der Streit! Ich hatte meinen Anteil noch nicht bezahlt an Berwin –« Stark lachte gequält: »Eine Mark achtzig, Herr Wachtmeister, das ist doch lächerlich! Aber ich wollte es ihm ja geben, am Sonnabend – und – und er – war einverstanden –«

Hannes sah, als er das sagte, an dem Gendarm vorbei. Und sein Blick traf das blonde Mädchen, das mit nassen Augen zuhörte. Sie sagte nichts. Aber Stark las von ihren Lippen die stummen Worte: »Du lügst, Hannes! Berwin war nicht einverstanden!«

»Und da haben Sie sich gezankt,« nickte Meinshausen nachdenklich und sah Hannes Stark bedeutungsvoll an. Erst nach einer Pause sagte er: »Und wie war das mit dem Menschen in Bestmanns Keller – wie hieß der Kerl doch gleich?«

»Wolfank, Herr Wachtmeister, Hans Wolfank. Aber sie nannten ihn da unten den ›Großkarierten‹ oder den ›Engländer‹. Und nachher kam Kommissar Reimers von der Kriminalpolizei und wollte ihn verhaften, den Wolfank – aber der war schon weg. Und Berwin war froh, denn der Wolfank hatte was mit ihm vor – ja, und denken Sie, Herr Wachtmeister, wie wir nachher in Carstensens ›Kajüte‹ sitzen, da kommt er plötzlich auch 'rein, der Wolfank! Und da kriegte Berwin solch furchtbare Angst um sein Geld und bat mich, ich sollte ihn bloß nicht allein lassen. Und das hab' ich auch nicht. Bis zuletzt war ich mit ihm zusammen. Ich mußte ja schon deswegen aufpassen, weil doch das halbe Geld mir gehörte.«

»Hat Ihnen denn der Berwin was davon gegeben?«

Hannes Stark nickte. »Ja, dreitausend Mark!« Aber indem der Maler das sagte, fühlte er, wie er verlegen und rot wurde. Und unter dem zweifelvollen Blick des Beamten wurde er immer verwirrter. Der Blutandrang, der ihn bei jeder Erregung peinigte, ließ seinen Kopf krebsrot werden.

Meinshausen beobachtete ihn scharf. Er sagte:

»Bei der Leiche haben wir im ganzen dreizehn Groschen gefunden. Es liegt also Raubmord vor.«

Ein leiser, zitternder Schrei ward hörbar. Voll Entsetzen blickte der Maler seine Braut an.

Der Gendarm sah sie beide an.

»Ja, da muß ich Sie bitten, mit mir aufs Amt zu kommen, Herr Stark!«

»Wollen Sie mich etwa verhaften?«

»Nein, aber der Herr Amtmann muß Sie persönlich vernehmen. Das ist 'ne Mordsache, da ist jeder Schritt und jedes Wort wichtig! Also ziehen Sie sich man an, und dann kommen Sie ruhig mit!«

Der Beamte wandte sich nach der Tür, an deren Pfosten noch immer Maria lehnte. Ihr war, als ginge alles um sie her zugrunde; in einen kochenden Wirbel von Empfindungen hineingestoßen, fand ihr Herz keinen Ausweg.

In diesem Augenblick drehte sich der Gendarm kurz um und fragte Stark:

»Besitzen Sie eine Schußwaffe?«

Der zögerte mit der Antwort. Dann sagte er, und seine Stimme schien ihren Klang verloren zu haben:

»Ja, einen Revolver.«

»Kann ich den mal sehen?«

Tief Atem holend, nickte Stark, dann stand er mühsam auf, als wäre er noch immer von der Nacht erschöpft, ging an die braun gestrichene Kommode und nahm, den Kasten aufziehend, einen Revolver mit braunem Holzgriff, eine nicht neue und schon hier und da rostfleckige Waffe, heraus. Die gab er dem Gendarm.

Maria, die sich nicht von der Stelle rührte, beobachtete ihren Liebsten. Mit blutendem Herzen sah sie den verstörten Blick, mit dem er den Gendarm umfaßte. Sie sah, denn sie kannte jede seiner Regungen, wie Hannes Stark innerlich bebte, als Meinshausen jetzt den Revolver sachkundig auseinandernahm und, ein Zündholz ansteckend, durch den kurzen Lauf blickte.

Dann setzte der große Mann die Waffe wieder zusammen und steckte sie in die hintere Tasche seines Uniformrockes.

»Der Revolver ist heute erst gereinigt – man sieht noch die frischen Ölspuren. Wann haben Sie den Lauf durchgezogen?«

Hannes Stark schluckte, als stecke ihm etwas in der Kehle. Dann rang er sich mühsam das Wort ab:

»Heute früh, Herr Wachtmeister!«

»Heute morgen? Sie sagen doch – oder vielmehr Ihre Braut hat mir gesagt, Sie wären so todmüde nach Hause gekommen – und Sie sind ja auch eingeschlafen, ohne sich auszuziehen. Und da haben Sie trotzdem erst noch Ihren Revolver geputzt? Hören Sie mal, Stark« – der Beamte ließ plötzlich das »Herr« fort, und Hannes wie Maria empfanden beide: es war wie eine Hand, die sich auf des Verdächtigen Schulter legt –, »das muß doch einen Grund haben! Wie ist denn das – haben Sie vielleicht in der Nacht mit dem Revolver geschossen?«

Hannes Stark zauderte wieder mit der Antwort. Aber dann raffte er sich auf; er stand, und seine hohe Gestalt straffte sich. Das Gefühl, ihm drohe Gefahr, rief seinen nicht alltäglichen Mut auf. Er sah ein, daß er an einer Wende seines Geschickes stand.

»Ich habe den Revolver heute nacht dreimal abgeschossen, Herr Wachtmeister. Ich mußte annehmen, daß Berwin sich verlaufen hätte, und da wollte ich ihn durch das Knallen zurückrufen.«

Ein Lächeln zog über das breite Gesicht des Gendarmen. Er nickte mehrmals, als wolle er sagen: Die Ausrede läßt sich hören! »Aber,« meinte er dann, »darum brauchten Sie die Waffe doch heute früh trotz all Ihrer Müdigkeit nicht noch zu putzen?«

Stark wurde wieder unsicher. Seine Erschöpfung und eine Art tiefer Gleichgültigkeit gegen diese ganze blödsinnige Angelegenheit lähmten den Rest von Energie, den ihm der gestrige Tag mit seinen Ängsten und Kümmernissen und die in verzweifeltem Jammer vergangene Nacht noch gelassen.

Er hätte den Revolver, so müde er auch war, als er nach Hause kam, doch noch geputzt, weil er sich sorgte, der Verdacht, Berwin beseitigt zu haben, möchte auf ihn fallen.

»Na, hören Sie mal,« der Wachtmeister lächelte böse, »wo Sie noch gar nicht wußten, daß der Berwin tot war, da konnten Sie doch nicht denken, daß der Verdacht auf Sie fallen würde! Das sind doch faule Fische! Da stimmt doch was nicht! Also warum haben Sie den Revolver heute morgen geputzt?«

Jede mildere Regung war aus dem Antlitz des Gendarmen verschwunden.

Und Stark zuckte die Achseln:

»Weil – weil ich nicht wollte, daß er Rostflecke kriegen sollte.«

Meinshausen lachte laut. Er langte in die Rocktasche und holte die Waffe wieder hervor, die er Stark unter die Nase hielt.

»Sehen Sie mal, wieviel Flecke und Rostnarben das alte Ding schon hat! Und da wollen Sie mir Märchen erzählen von wegen gleich putzen und so? – Nä, Herr Stark, ziehen Sie sich man an und kommen Sie mit!«

»Herr Wachtmeister!« schluchzte Maria. Aber der Gendarm machte eine fackelnde Bewegung mit seiner Riesentatze und ging die Treppe hinab. Von unten rief er hinauf:

»Man 'n beten dalli, Sie Herr da oben! Ich hab' keine Zeit, zu warten!«

Stark konnte nur oben noch seiner Maria Lebewohl sagen. Und es war ihm, als hätten ihre lieben Augen ihn in bangem Zweifel angesehen.

Auf der Straße sagte der Gendarm, der schon einen Fuß im Steigbügel hatte:

»Sie gehen, als mein Arrestant, genau neben dem Pferd her. Bei dem geringsten Fluchtversuch mach' ich von der Waffe Gebrauch!«

So mußte Stark in dem kleinen Ort, wo jeder den anderen kannte, neben dem Gaul des Gendarmen hergehen. Meinshausen hätte ihn ja auch an die Leine nehmen können.

Es waren nicht viel Menschen auf dem Weg; aber die draußen waren oder die an den Fenstern der kleinen Häuser standen, die reckten die Hälse und machten den Maler verrückt mit ihren gaffenden Blicken und halblauten Bemerkungen.

Der Amtsvorsteher Kleinert war der Besitzer eines etwas größeren Hauses. Das Amtslokal lag im Erdgeschoß. Margret Kleinert, eine hübsche Rotblonde, stand am offenen Fenster, als der Gendarm vor das Haus ritt und nach dem Amtsvorsteher fragte.

Hannes Stark stand gesenkten Kopfes neben dem Pferd. Vor vierzehn Tagen hatte er noch mit Margret getanzt. Jetzt blickte sie, Schreck in den großen Augen, auf den Maler, den sie, wie die Frauen meist, gut leiden mochte. Was konnte er denn nur verbrochen haben? Er war doch ein guter und anständiger Mensch!

Da kam ihr Vater und trat ans Fenster.

»Was ist, Meinshausen? Wen bringen Sie denn da?«

Der Gendarm schüttelte den Kopf.

»Ich komme gleich 'nein, Herr Amtsvorsteher.« Mit einer befehlenden Bewegung zu Stark: »Kommen Sie mit!« Damit band er das Pferd an und ging ins Haus. Aber er ließ Stark vorausgehen.

»Geh' in die Küche zur Mutter, Margret!« Der Amtsvorsteher schob das Mädel zur Tür hinaus, durch die eben der Beamte mit Stark in die Stube trat.

»Nanu,« sagte der Amtsvorsteher, ein sehr ruhiger, etwas schwerfälliger Mann, »wen bringen Sie denn da, Wachtmeister?«

»Befehl, Herr Amtsvorsteher: der Maler Hannes Stark – wird eingeliefert unter Mordverdacht.«

Und Meinshausen berichtete knapp und sachlich die Geschehnisse des Morgens, den Verdacht auf Stark als Täter und seine Verhaftung.

»Und was haben Sie dazu zu sagen?«

Kleinert wandte sich zu dem Maler. Ging aber, ehe der sprach, an den Schreibtisch, der vor dem zweiten Fenster stand, und legte Papier und Feder zurecht. Dann ließ er seinen schweren Körper – er wog wohl mehr als zwei Zentner – in den Korblehnstuhl sinken, stützte die Arme auf die Lehnen und sah Stark voll Interesse an.

Hannes Stark schwieg. Er wußte ja nicht, was er zuerst sagen sollte. Das polterte ja wie Felssteine auf seinen wirren Kopf! Wo sollte er denn bloß anfangen? Wie gehetzt irrten seine Augen von einem zum anderen. Schließlich sagte er wütend:

»Ich bin unschuldig! Ich habe ihn nicht ermordet!«

Kleinert schüttelte den Kopf. Aber er sagte nichts. Er horchte, während er Stark anblickte, auf die Meldung des Gendarmen:

»Der Verhaftete hat seinen Revolver dreimal abgeschossen, heute nacht. Angeblich, um Alarmschüsse abzugeben. Er hat ihn aber trotz großer Müdigkeit heute morgen gleich geputzt, und,« der Beamte hob die Stimme, »das Kugelloch im Hinterkopf des Erschossenen paßt zu dem Neunmillimeterkaliber des Revolvers!«

Bei diesen Worten zog Meinshausen den Mehrlader mit dem braunen Holzgriff aus der Rocktasche und legte ihn auf die gelbe Tischplatte.

Der Amtsvorsteher nahm den Revolver und besah ihn. »Ja, neun Millimeter,« murmelte er. Dann blickte er zu Stark hinüber, der mit stieren Augen vor sich hinsah.

»Das sind in der Tat Verdachtsgründe – daraufhin müssen wir Sie festhalten. Aber,« mit einem Anflug von Laune, »angeklagt ist ja noch nicht verurteilt – es kann sich noch alles aufklären!«

Und zu dem Gendarm sagte er: »Der Arrestant kann oben in die Leerstube kommen, ins Spritzenhaus möcht' ich ihn nicht stecken. Übrigens werde ich gleich telephonieren – er wird ja dann doch am Nachmittag abgeholt. Führen Sie ihn 'nauf, Wachtmeister – oder nein, ich werde ihn selbst 'nauf bringen! Kommen Sie!«

Und der schwere Mann ging vor dem Maler her die kurze Treppe hinauf. Droben auf dem schmalen Gang, der düster war, schloß er eine Tür auf, durch die Stark in eine leere Stube trat. Auf einem Regal standen Einmachgläser, und in der einen Ecke lagen auf Stroh Winteräpfel. Ein alter Strohstuhl stand am offenen Fenster, durch das die neblige Luft hereinstrich.

Herr Kleinert sah hinaus. »Sie werden keinen Fluchtversuch machen, nicht wahr? Es nützt ja nichts. Man fängt Sie doch wieder, und Sie verschlimmern bloß dadurch Ihre Lage. Zu Mittag wird Ihnen das Mädchen was zum Essen 'raufbringen – denn vor Abend wird man Sie wohl nicht abholen.«