Der Massenmörder - Hans Hyan - E-Book

Der Massenmörder E-Book

Hans Hyan

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  • Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Dieses Buch sammelt die besten Geschichten Hans Hyans in einem Werk. Da ist der Massenmörder, der keine seiner Taten zu bereuen scheint, der Staatsanwalt, der eine Diebin liebt, die Akrobatin, die einen jungen Mann überwältigt und vieles mehr. Viele Verbrecher und viele verschiedene Verbrechen und jede Geschichte mit einem unerwarteten Ende.AUTORENPORTRÄTHans Hyan (1868–1944) war ein deutscher Kabarettist, Gerichtsreporter und Schriftsteller. Er verfasste vor allem Kriminalromane, aber auch Drehbücher. Hyan besuchte das Gymnasium in Prenzlau, Brandenburg. 1901 hob er in Berlin das Kabarett "Zur Silbernen Punschterrine" aus der Taufe, das bis 1904 bestand. Hyan war liberal und sozialkritisch eingestellt. Diese Haltung schlug sich auch in seinen zahlreichen Kriminalromanen nieder.-

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Seitenzahl: 222

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Hans Hyan

Der Massenmörder

Saga

Homo sum.

Mit den Schatten der Dämmerung, unter denen das Licht in dem grossen Arbeitsgemach immer grauer wurde und endlich ganz versiegte, war Luise selber wie ein schöner, flüchtiger Schatten verschwunden.

In der Rauchecke, verschmolzen ganz mit der Dunkelheit, in die nur die massigen Schultern des Mannes, sein gebogener Rücken eine vage Linie zeichneten, sass der königliche Staatsanwalt Emil Pallaske, noch betört und selig hingenommen von den Liebkosungen dieser Frau, die vor etlichen Monaten auf eine Annonce zu ihm gekommen war, als seine Haushälterin ... So süssermattend, all seine Sinne streichelnd, umschwebte ihn noch ihres Leibes Duft, dass er das Licht nicht andrehn, seinen Platz nicht verlassen, dass er sich nicht einmal aus seiner Lage rühren mochte ... Es girrte und gurrte noch um ihn die Stimme der Rothaarigen, ihr weiches, helldunkles Lachen; und seine Augen fühlten in der Finsternis den singenden Schwung, die strahlende Form ihrer Linien.

Wie war ihm nur? Er hatte doch schon früher Frauen gehabt ... die schönsten ... nie lange ... Sein Überdruss erwachte vorm Sattsein. So hatte er, ein klarer Rechner auch seiner Sinne, sich nie verheiratet. Nie hatte er einer mehr versprochen, als er gut halten konnte. Sein Leben war ganz korrekt. Nicht einmal der unbewusste Fehler unterlief ihm. Wie ein Spieler, der jeden Zug berechnet und jeden Tag sein nennt.

Bis sie kam ... Ja, jetzt ... jetzt war seine Kühle entflammt. Seine Triebe stürmten entfesselt! Seine eiserne Strenge war dahin und lag vor sich selber auf den Knien.

Einmal, vor zehn Jahren, war ihm so etwas passiert .. die Geschichte mit der Else Löwenthal ... in dem Wucherprozess Löwenthal und Genossen. Sie hatte ihn aufgesucht, ihres Mannes wegen. Hatte ihn bestürmt, und er — er war nachher ein ebenso kalter, eiserner Ankläger des Mannes geblieben wie vordem. Dass die Frau vor Schrecken erstarrte ... Sie stand vor den Schranken des Gerichts und wogte von wilder Anklage gegen den Ankläger. Doch ihre brennenden Augen erloschen in dem fahlen Licht ihrer Schönheit, als er sprach ... sprach, wie — ja, er hatte sich damals selber bewundert wegen seiner Disziplin!

Aber die Abende, die er vor dieser Verhandlung an dem grossen Schreibtisch da drüben am Fenster zubrachte; die Nächte ... diese tolle, nervenreibende Angst, in die er reinhieb mit seiner herzlosen Stärke, bis sie dann doch verschwand — des allen erinnerte er sich wohl ... auch noch jener Sucht, dem ganzen Irrsal mit einem Fingerdruck zu entgehen.

Der Mann im dunkeln Zimmer drehte sich ein wenig im Sessel und griff sachte an die Waffe, die immer in der hinteren Beinkleidtasche steckte. Man kann doch fort! Bleiben, wo er nichts mehr zu suchen hatte, das war Emil Adolf Pallaskes Sache nicht!

„Die Menschen sind Dreck, aber man kann ihre Achtung nicht entbehren!“

Seine Stammtischfreunde sahen ihn bei solchem Wort an, wie einen, der nicht im Fleisch gewachsen ist.

Ja, er hatte die Kraft, zu gehen, ohne Gruss und Geste ..

Der Staatsanwalt sah auf einmal in der noch eben von Luisens Reizen hold belebten Finsternis einen Mann, der seine Figur, seine Züge trug, der Emil Adolf Pallaske selber war, inmitten einer lärmenden, lachenden, jubelnden Gesellschaft, die er still verliess.

War vielleicht da oben unter der breiten Glatze der Mechanismus nicht mehr intakt? ... Sein Grossvater väterlicherseits war im Greisenwahn gestorben, immerhin mit fünfundsiebzig. Und mit siebzig hatte der auch noch ’ne Haushälterin! ... Grossvater mütterlicherseits total gesund.

Aber die beiden Grossmütter ... Paralyse und Paranoia ... und seine Mutter ... verflucht. Da lag eine Grube bei der andern ... bloss nicht zu alt werden ... und aufpassen, auf sich selber!

Machte ihm sein Beruf denn Freude? Freude? ... Gott, das ist doch Pflicht. Er war ein Mensch, der das Staatsinteresse im Auge hatte! .. Immer? Ja, zum Donner! ... Selbstverständlich hat der, der dem Staat zum Wohle lebt und tut, sein Wohl in sicherer Wiege! Streber? — Quand même! Jeder Begriff ist ein Wort! Man fasst’s aus, wie man’s gelernt hat.

Er würde vielleicht bald „Ober“ werden ... Oder sollte er ... Der armselige Jude damals, der Löwenthal, der liess sich gleich nach der Verurteilung noch einmal vorführen und:

„Herr Staatsanwalt! Nich leben will ich: Sie enden mal ebenso wie ich!“

Am andern Morgen hing er tot in seiner Zelle.

Ach nee, aufhängen ... das nun nich!

Ja, zum Dieb und zum Deubel, was machte ihn denn heute so nervös? ... Ihm war doch eben noch so wohl! Diese Erschütterung in seinem Gefühl ... die hat wohl jeder nach solchen Küssen ... Man soll sich mit dreiundfünfzig nicht mehr verlieben? — vielleicht. Und doch ist der Strom der Leidenschaft auch auf dem Triebrad der Kraft!

Ach, er hatte ein hypertrophiertes Gewissen, das war alles! ... Luise war gerade die, die sein schweres Blut leichter machen, seiner Logik trägen Fluss sprudeln lassen konnte! ... Vielleicht heiratete er sie auch ... gebildet, aus anständiger Familie ... ja ... hm ... was denn?

Emil Adolf Pallaske lachte plötzlich, und das klang sonderbar, eigentlich beinahe schaurig in der nun ganz dunkeln Stube.

Sie war jünger als er ... hatte vorher schon andere Männer geliebt ... deswegen ... na ja! ... was denn? ... Jeder Mensch hat seine Fehler ... jeder ... bloss .. sie fallen nicht immer gerade unter einen Strafgesetzbuchparagraphen!

Und Luise ... Luise stahl ... ja, sie stahl, wie’n Rabe! Sie bestahl ihn, ihren Herrn und Liebhaber! ... Ging am Tage mit Nachschlüsseln an seinen Sekretär ... plünderte in der Nacht sein Portemonnaie ... raubte seine Beinkleider aus ... alles.

Gemerkt hatte er’s bald ... Aber doch zu spät ... da war er schon nicht mehr imstande, sie fortzujagen ... Dann die Szene, wo er ihr’s sagte ... Sie weinte gar nicht, keine Idee ... Nur ganz zuerst war sie ein bisschen betreten, dann lachte sie ihn aus, log aus allen Schleusen und stahl noch am selben Tage wieder.

Einem Freunde, der, ebenfalls Junggeselle, solchen Besuch gern empfing, hatte sie, während sie alle drei lustig lachten, drei Hundertmarkscheine weggenommen — peinlich! Und nebenbei auf die Dauer auch sehr teuer.

Stahl sie etwa auch in Läden? Sie besass ja mehr Schmuck als eine Frau aus der Gesellschaft! ... Ja, gewiss, sie stahl, wo sie nur konnte!

Und er, als Staatsanwalt, er hatte doch gewissermassen die Pflicht, jedes Verbrechen, das ihm bekannt wurde, zur Anzeige zu bringen ... er hätte allerdings amtliche Kenntnis davon haben müssen.

War sie Kleptomanin? — Wahrscheinlich ... Wie die meisten dieser Maniakalischen, die ihre Anomalie doch zu recht brauchbaren Objekten hintreibt ... Freud will darin einen erotischen Symbolismus sehen ... vielleicht ... Ja, wahrhaftig! das war schlimmer, als damals die Geschichte mit Grete Löwenthal, die nachher in eine Bar gegangen war und heute dekollettierte Triumphe feierte.

Verdammt, warum warf er denn das Mensch nicht raus? ... heute noch!

Er konnte sie doch jeden Tag ... er konnte ...

Und Emil Adolf Pallaske lachte wieder ... Das klang wie aus dem finsteren Grabe.

Dann stand er auf, ging zum Fenster, wo kleine matte Blitze vom Laternenlicht hereinzuckten. Die Dunkelheit war ihm plötzlich greulich.

Er schaltete das Licht unter der grünen Schirmlampe am Arbeitstisch ein.

Da stand ihr Bild!

Wie schön ... gross ... üppig! ... Seine Blicke enthüllten sie ... Er atmete ...

Dann sah er sich scheu um in dem grossen Schattenraum ... Else Löwenthal huschte vorbei ... und der kleine kranke Jude, ihr Mann ...

Was hatte er denn? — toll! ... einfach toll ... Liebeshörigkeit nennt man sowas ... hm ... Und er hatte mehr als einen, der sich von solchem geliebten Satan den Mordstahl in die Hand drücken liess, hinrichten lassen ... fiat justitia ...

Es klingelte.

Draussen?

Nein, am Telephon!

Der Staatsanwalt ging an den Apparat: „Halloh!“

„Hier Kriminalpolizei.“

„Ja, was denn?“

„Ach, Herr Staatsanwalt, da ist in dem grossen Juweliergeschäft von Grilling & Sohn in der Friedrichstrasse eine Ladendiebin abgefasst worden ... hinter der wir übrigens schon eine ganze Zeit her sind ... Die Person behauptet, sie kennt Herrn Staatsanwalt und müsste Herrn Staatsanwalt sofort sprechen!“

Emil Adolf Pallaske sah aus, wie wenn er lächelte ... Er wusste nicht mehr, dass er am Telephon sprach, und zwang seine Züge, als stände er dem andern gegenüber.

„So ... wie heisst sie denn?“

„Den richtigen Namen wissen wir auch noch nicht. Sie nennt sich Luise Schulz.“

„Und wie sieht sie aus?“

„Pardon, Herr Staatsanwalt, ich kann nicht vorstehen?“

Herr Pallaske wollte lauter reden, es wurde ihm schwer.

„Wie sie aussieht?!“

„Gross, volle Figur, rothaarig und sehr elegant ... sie spricht holsteinischen Dialekt.“

„Dann ...“ der Staatsanwalt lächelte noch immer, er dachte nach .. „dann sagen Sie der Person, ich kenne sie nicht und muss daher bedauern.“

„Danke bestens, Herr Staatsanwalt.“

„Bitte. Schluss.“

„Ja,“ sagte der Staatsanwalt, sowie der Hörer hing, noch einmal ganz laut zu sich selber: „Schluss!“

Er ging zur Wand, suchte mit fahrigen Fingern nach dem Lichtknopf und drehte ihn einmal ... die leuchtenden Kugeln verglühten in der grünen Seide ... Doch ein zweites „Knicks“ liess sie noch einmal aufflammen.

Herr Pallaske wandte sich und sah lange auf das Bild ... Er sann nach ... Irgendeine Rettung? — Nein, für ihn nicht.

„Sauve qui peut!“ Er sprach die Worte, leise, „wie lieb sie doch war! ... ja, dahinten ist’s dunkel ... keiner sieht den andern ... Adieu, Luise!“

Und es ward abermals finster im Gemach.

Schritte gingen leise auf dem Teppich ... Die schwere Form eines Mannes in der Finsternis versinkend .... Geräusche von an Stoff tastenden Händen ...

Ein scharfer Knall!

Und stöhnendes Schlagen gegen Möbel ... rutschen ... fallen ... röcheln ...

Die Akrobatin.

Am letzten Sonnabend hatte er „geschmissen“ und seinem Chef, einem Eierhändler, gesagt, er sollte sich seine faulen Eier gefälligst alleine aussuchen. Dann hatte er Geld und Bücher genommen und war spät in der Nacht sternhagelvoll zu seiner Wirtin gekommen, die noch an ihrer Nähmaschine sass und sofort die Miete verlangte. Aber Friedrich Unkelbach hatte alles verwichst. So musste er am nächsten Montag auf die Sparkasse, wo er die mühselig gesparten siebzig Mark abhob. Zuerst fluchte er, dann aber, sowie er den Betrag in der Tasche hatte, wurde er sich auf einmal bewusst, wie herrlich das sei, Geld zu haben und nicht gleich wieder arbeiten zu müssen. Er frühstückte in einer bekannten Kneipe, gab ein paar Lagen aus für ebensolche Nichtstuer und kam schon wieder angetrunken am späten Nachmittag zu seiner Wirtin, die ihn tüchtig ausschalt.

„Schäm’n sollten Se sich was,“ sagte die brave Frau, die von früh bis spät arbeitete, um sich und ihre beiden vaterlosen Kinder zu ernähren, „da ham Se nu Wochen und Wochen zu jebraucht, um die paa Meta uff de Kasse zu bring! ... un nu jeh’n Se hin un schlagen allens in’n paa Dage uff’n Kopp!“

Friedrich Unkelbach lachte. Er zahlte für zwei Wochen im voraus seine Schlafstelle, dann legte er sich hin und schlief sofort ein.

„Morjen früh,“ hatte er gesagt, „morjen früh mach ick ’ne Landpartie!“

Und da er an diesem Tage gar nicht mehr aufstand und es sowieso gewohnt war, früh aus dem Bett zu müssen, zog er sich am nächsten Morgen, wie es kaum Tag geworden war, schon an und ging ohne Kaffee fort ... Natürlich zuerst in die Kneipe, wo er schon zum Frühstück ein paar Schnäpse trank. Dann ging es mit dampfender Zigarre hinaus in den frischen Herbstmorgen.

Wie griente er und verspottete innerlich die Fleissigen, die schon nach ihren Arbeitsstellen zu eilen anfingen. Ein paarmal rief er, sie sollten sich doch Zeit lassen, die Arbeit liefe ihnen ja nicht weg. Und er högte sich, wenn die Leute über seine faulen Witze ärgerlich wurden.

Mit der Potsdamer Vorortbahn fuhr er hinaus bis nach Grosslichterfelde. Dort kehrte er wieder ein und trank gehörig. Er hatte eine förmliche Sucht nach Alkohol, der, das empfand er unklar, eine vollkommene Änderung in seinem ganzen Wesen bewerkstelligte. Die Ehrfurcht, die ihm sonst jeder besser gekleidete und höhergestellte Mensch abnötigte, verschwand unter dem Einfluss dieser starken Getränke. Der junge Mensch, der sonst wirklich kein Bösewicht war, empfand nach ihrem Genuss, er sei genau soviel wie jeder andere, ja, es sei eigentlich unverschämt, wenn irgendwer mehr scheinen wollte! ... Und während er sonst schüchtern war in Gesellschaft von Frauen, war er sich jetzt, in der Betrunkenheit, seiner Mannhaftigkeit vollbewusst. Ein unschönes Feuer erglühte in ihm, und mit frechem, zudringlichem Blick mass er jede Frauensperson, die ihm begegnete.

Inzwischen wanderte er rüstig fürbass. Aus dem in der Frühe noch mit einer grauen Dunstschicht verkleideten Himmel war die Sonne hervorgetreten, die milde Herbstsonne, die in der weichen Bläue des Morgenhimmels stand und alles vergoldete ... Hie und da erhoben sich auch hier schon die weissen, hässlichen Mietskasernen, aber noch dominierte das Feld, wo eben umgepflügte und frisch gesäte Landstriche von schwarzbrauner Farbe mit dem Grün bepflanzter Erde wechselten ... Lauben standen da, noch umweht und übersponnen von den bunten Wimpeln und Papierguirlanden des Erntefestes, alles aber, alles lag in dem weichen Glanz dieses herrlichen Morgens, der wie ein Abschiedsblick des scheidenden Sommers über die Erde leuchtete.

Friedrich Unkelbach schob den verbeulten Filzhut aus der niedrigen Stirn und steckte seine breite Nase witternd in die köstliche Luft. Er war auf dem Lande gross geworden; der Reiz der Natur ging an ihm verloren.

Aber da! Da drüben! ... Das war was!

Ein Mädel ging da durch die Felder, den Rock aufgeschürzt, so dass man ein Stück ihrer festen Wade sehen konnte, mit kräftigem, hurtigen Schritt und in strammer Haltung.

Der Hausdiener musste seine kurzen Beine tüchtig gebrauchen, um ihr näher zu kommen. Einmal sah sie sich um, aber sie beachtete den ihr Folgenden offenbar gar nicht.

Friedrich Unkelbach glühte förmlich. Vom schnellen Laufen, aber auch von jenem anderen Feuer, das der Alkohol in ihm entzündet hatte.

Die Gegend wurde hier, hinter Zehlendorf, immer freier, und bald, bei dem Wege, den das Mädchen einschlug, musste es in die Busch- und Baumgruppe hineinkommen, die völlig abgeschlossen lag und wo um diese Zeit sicher noch kein Mensch hinkam. Friedrich Unkelbach kannte die Gegend genau.

Er folgte dem Mädchen, das sich noch einmal umgesehen hatte, jetzt in einer Entfernung von knapp zehn Schritt, und seine Phantasie, von allen Hemmungen der Schamhaftigkeit befreit, malte sich den strammen, vollbusigen Körper der rasch vor ihm Herschreitenden.

Friedrich Unkelbach war neunzehn Jahre alt, er hatte aber bisher nichts anderes wie käufliche Liebe genossen. Vielleicht war seine Schüchternheit sonst zu gross oder er gefiel den Mädchen nicht. In dem gesteigerten Selbstbewusstsein seiner augenblicklichen Stimmung empfand er das als eine Beleidigung, für die er sich rächen müsse. Er war Mann und hatte so gut wie jeder andere das Recht, ein Mädchen sein zu nennen, das keine Dirne war!

Und, die da eben den Saum des Laubwäldchens erreichte, das war bestimmt keine! ... Die musste er haben! Bis zu diesem Augenblick hatte seine Begierde sich noch niederhalten lassen von dem Verantwortlichkeitsgefühl. Jetzt aber schnellte sie empor und bezwang die moralischen Regungen.

Im Nu war der Bursche hinter seinem Opfer, hatte es gepackt und rücklings ins Gras gerissen. Aber über sie herzustürzen, ihr gar Gewalt anzutun, dazu kam er nicht! Die Arme der Liegenden, deren frisches, fröhliches Gesicht einen starren Ausdruck angenommen hatte, waren plötzlich wie eiserne Pfähle steif emporgerichtet und hielten den Übeltäter an den Armmuskeln gepackt von sich ab. Dann warf sie mit gewaltigem Schwung ihren Unterkörper in die Luft und flog in vollem Überschlag von rückwärts auf ihn hinauf.

Friedrich Unkelbach stöhnte: es hagelte jetzt förmlich Schläge und Püffe auf seinen Kopf und Rücken von diesen stählernen Mädchenfäusten. Zuerst hatte er sich gewehrt, hatte mit den Beinen gestossen und sie von sich abwälzen wollen. Aber seine Kräfte reichten nicht aus, je mehr er sich zur Wehr setzte, desto mehr Prügel bekam er. Endlich liess sie von ihm ab und stand mit einem trotzigen Lachen auf.

„Wollen Sie nun noch etwas von mir?“

Er wagte garnichts zu erwidern. Sah sie nur bewundernd an und war voller Angst, was sie nun mit ihm machen würde.

Sie schien sich schnell zu beruhigen, und an ihrer aufgerissenen Bluse nestelnd, sagte sie:

„Haben Sie vielleicht ’ne Stecknadel?“

Die hatte er zufällig. Sie steckte den Riss in dem roten Stoff zu, klopfte ihren Rock ab und meinte:

„Machen Sie sich man auch ’n bisschen sauber! Wir werden nu beide auf de Polizei gehn!“

Da fing er an, laut zu weinen:

„Ach nein, bitte nich! bitte nich! Ich tu’s ja nie nich mehr wieder! Wahrhaftig nich! ...“

Sie verbiss sich das Lachen über sein mehr als komisches Gesicht und sagte:

„Das is janz egal! Wenn das nu ’ner anderen passiert, die zufällig nich soviel Kräfte hat wie ich! .. Dann machen Se so’n armes Jeschöpf unglücklich für Zeit ihres Lebens! ... Nee, nee! Hier nachher rumweimern, das kann jeder! Man schmeisst doch ’ne Frau nich so einfach mir nichts, dir nichts hin! Das ist doch keine Sache!“

Sie ging. Er rannte mit gerungenen Händen schluchzend neben ihr her und bat unaufhörlich, sie möchte ihn laufen lassen!

Sie sagte lange Zeit garnichts. Endlich blieb sie stehen. Und so recht nachdenklich kam’s aus ihr heraus:

„Komisch, alle Männer sind so! .. Ist denn das Liebe?“

Er nickte voller Überzeugung.

Sie lachte leise.

„Also, Sie lieben mich? .. Gefall’ ich Ihnen denn?“

Er wusste gar nicht, was er sagen sollte vor innerer Bewegung.

„Ja ... ja ... ja ...“

„Na, denn kommen Sie doch heute mal in Müllers Variété in der Tiekstrasse, da bin ich Akrobatin.“

Er nickte voller Begeisterung, und da sie sich’s gefallen liess, nahm er ihre Hand und küsste sie unaufhörlich.

Hernach gingen sie zurück nach dem Bahnhof Zehlendorf und fuhren zusammen hinein in die Stadt.

Der Koffer.

Zwischen den Eheleuten Haber war heute wieder einmal der Zank ganz besonders laut und hässlich. Die Nachbarfrauen standen aus der Treppe und lauschten, um keine der pikanten Aufklärungen zu verpassen, welche derartige Auseinandersetzungen in jeder Ehe ergeben. In dieser besonders, denn Frau Haber gehörte zu den sogenannten „unsterblichen Alten“; sie war annähernd fünfundsechzig Jahr, mager wie ein Zaunstecken, hatte den Kopf voll weisser Haare und im Gesicht über der rotspitzigen Nase und dem zahnlosen Maul ein paar Augen voll rastloser Geilheit.

Er war erst siebenundzwanzig, schwarzhaarig, ein verschlagener Kopf, mit lüsternen, aber unkräftigen Zügen. Seine lange, schlanke Gestalt ging immer etwas geduckt, wie wenn sie zum Sprunge ansetzen wollte.

Oh, wie die Alte zeterte! ... Sein schwächeres Organ blieb verhalten, düster drohend und doch feige; sie aber trompetete wie ein Pfau! Bei ihr brauchte man gar nicht aufpassen. Bloss das, was er sagte, war interessanter: er warf ihr vor, wie sie ihn zwang ... und wie er sich vor ihr ekelte!

„Hören Se, Webern, hören Se!!“

„Pfui, wie kann er sowas sagen!“

„Na, warum denn nich! ... Wenn sie so eene is! .. so’naltes Reff! ... Die müsste man ja bei de Sittenpolizei anzeijen!“

„Nee, warum denn? ... Er hat ihr doch jeheirat!“

„Na ja, aber doch bloss wejent Jeld!“

„Denn kann er ihr ooch jetzt den Jefallen dhun un se abknutschen!“

Indem stürzte die Alte drin den Gang entlang, nach der Korridortür zu.

„Huh! ... huh! ... er schlägt mir dod ... Hilfeh! Hilfeh!“

Die Frauen prallten zurück.

Dann wie man drin klatschende Schläge, unterdrücktes Weinen und ab und zu einen Aufschrei vernahm, machte sich die aus der Solidarität der Frauen keimende Entrüstung geltend: jetzt schimpften sie alle auf den Mann, und eine vorwitzige Hand pochte gegen die Korridortür ... Aber die Kecke sprang gleich wieder zurück, als geöffnet und Frau Haber sichtbar wurde.

„Wat? ... wat is denn los?“ keifte sie, „wat stehn Se denn hier alle un halten Maulaffen feil? ... wat sagen Se, Frau Webern, mein Mann? ... Ick sage Ihn’, lassen Se ja mein’ Mann zufrieden! ... Mechten woll mit ihn poussieren, wat? Sie? ... Machen Se ja, det Se Ihre Weje kommen, Sie! vastehn Se?“

Die Frauen, die sich schimpfend entfernten, waren alle darüber einig, dass die Alte absolut kein Mitleid verdiente und dass keine von ihnen sich je wieder um den Lärm da oben kümmern wollte.

Frau Ottilie Haber war inzwischen in die Küche gegangen und hatte Mittag gekocht. Rouladen mit Speck, Gurken, Senf und Zwiebel, wie sie ihr Emilchen so gerne ass.

Sie schluchzte noch ein paarmal, dann rief sie ins Zimmer, so recht schmachtend:

„Mileken! mein Mileken! ... Ick bin jleich so weit! ... Hungert dir ooch schon?“

Für gewöhnlich schmollte er nach solchen Szenen stunden-, ja tagelang, ganz im Gegensatz zu ihr, deren hysterische Launenhaftigkeit ewig zwischen Regen und Sonnenschein wechselte.

So war sie doppelt glücklich, dass er jetzt gleich herauskam. Er stand an der Küchentür.... Blass, nur an der Stirn voll roter Flecken und mit schwarzflackernden Augen, strich er den dünnen, lang ausgezogenen Schnurrbart.

Sie war wieder ganz Güte:

„Det macht ja nischt mit den dummen Koffer, Mileken! ... Wenn d’n ooch so gross jenomm’ hast ... lass doch man, Mile! Meinswejen kannste noch zwee sone Koffer koofen! Bloss wat soll’n da allens rin? ... ick weess ja nich! ... aba det is ja ooch janz ejal ... nich wahr, nu essen wa jleich un denn lejen wa uns hin un schlafen, un morjen, da reisen wa, schon janz früh! ... nich wahr, Mileken! ... ja?“

Sie schwatzte unaufhörlich, sah sich dabei gar nicht um, sondern rührte in ihren Töpfen und Pfannen.

Er stand immer noch an der Tür, hielt beide Hände auf dem Rücken. Nun trat er ihr behutsam näher, seine Füsse schoben sich langsam vorwärts, seine schwarzen Augen tasteten nach ihrem Gesicht — die Hände hielt er krampfhaft auf dem Rücken.

Darin hatte er etwas: eine Schlinge aus starker Hanfschnur. Langsam, ganz unglaublich vorsichtig brachte er die Schnur hervor, hob sie, die rechte Hand höher haltend, in die Höhe und —

Die Alte drehte sich um —

„Mile ... hach!“

Sie versuchte mit ihren mageren Händen in die Schnur zu greifen, die sich — ritz!! — um ihren Hals zog. Er riss sie mit dem Aufgebot aller seiner Kräfte zusammen. Dann trat er ihr mit dem Stiefel mitten ins Gesicht, auf die Nase, und zerrte so mit beiden Fäusten und — erwürgte sie.

Sie röchelte schwer ... ihre Augen, die alle Zärtlichkeit verloren hatten, kamen aus den Höhlen und flehten voll Entsetzen um Schonung ... und die Zunge — blaurot, grässlich! — trat aus dem Halse.

Zuletzt zuckten und zitterten die alten, gichtigen Hände nur noch, wie wenn sich das letzte Leben in diese hässlichen und doch so erbarmungswürdigen Finger verkrochen hätte.

Er holte nun ganz schnell den Koffer, um dessen Ankauf sie heute morgen so gestritten hatten und der von vornherein nur zu ihrem Sarge bestimmt gewesen war, hob sie mit Anstrengung hinein und brach und bog rücksichtslos die Glieder der Alten, wo sie nicht in den grossen, leinwandüberzogenen Kasten passten.

Nun ass er, benutzte aber alles Geschirr doppelt, damit niemand Verdacht schöpfen könnte.

Und dann erwartete er den Spediteur, den er zu 4 Uhr bestellt hatte ... So genau, mit solch kaltblütiger Ruhe war der Mord geplant.... Der Spediteur kam und wunderte sich über den schweren Inhalt des Koffers. Haber selbst half beim Hinabtragen und scherzte mit dem Rollkutscher, den er zum Schluss noch einlud, einen Schnaps mit ihm zu trinken.

Dann ging er wieder hinauf, fragte die ihm auf der Treppe begegnende Frau Weber, ob sie denn seine Frau nicht gesehen hätte?

Die Frau verneinte natürlich. Er entschuldigte sich und legte sich oben in der Wohnung, in der die Alte den letzten Seufzer ausgehaucht hatte, ruhig, als wäre nichts geschehen, schlafen ...

Er schlief sofort ein und schlummerte tief und fest mehrere Stunden lang. Als er aufwachte, erinnerte er sich eines angenehmen Traumes: er hatte ein Dienstmädchen aus dem Hause, das ihm schon seit langem gefiel, zu sich in die Wohnung gelockt. Und als sie erst einmal bei ihm war, tat sie ihm auch den Willen ... er dehnte sich jetzt noch vor Behagen ... Gott sei Dank, dass die Alte —

Die Alte!!!!!!!!!!

Er sprang mit beiden Beinen vom Sofa. Und schickte seine todesängstlichen Augen überall im Zimmer umher.... Da! Da! Da! Da! ... war sie nicht da?! ... Aber nein, sie war weg! ... er hatte sie ... stöhnend knickte er zusammen und kniete und stierte immerfort in dem schon vom Dämmerlicht verschatteten Gemach umher, als müsste sie jeden Moment dort hinter der Gardine, aus dem Nebenzimmer, aus dem grossen, alten Kleiderspinde, ja, aus der Wand selbst heraustreten.

Ein namenloses Grauen hatte ihn erfasst! Nicht Mitleid mit der Toten, die hasste er! Keine Reue, denn in seiner fürchterlichen Angst war er doch glücklich, ihr weinerliches Lachen nicht mehr hören zu brauchen, ihr ewig verlangendes Gesicht nicht zu sehen und dieses scheussliche Gekeif nicht zu hören, das ihn um den Verstand gebracht hatte.

Aber er fürchtete sich! ... Noch im Tode fürchtete er sie! ... Und war fest überzeugt, dass sie ihre alte, dreckige Knochenpfote emporrecken und ihn hineinreissen würde ins Unglück.

Wie hatte er vorher, vorm Schlafen, bloss so ruhig sein, noch essen ... ja und sogar schlafen hatte er können!!

Es trieb ihn durch die drei Zimmer der Wohnung, wieder in die Küche ... überall machte er die Vorhänge zu, liess die Rouleaux runter.... Sie wohnten ja drei Treppen hoch, aber vielleicht ... vielleicht konnte doch einer reinsehn ... wer weiss ...

Oder sie sah hinaus und rief um Hilfe! ... sie!! ...

Er lachte, absichtlich laut und schallend. In den Räumen, die wenig Möbel hatten, klang das Echo ... herrjeh, das war ja fast schrecklicher jetzt, als wie die Alte noch lebte! ... Aber es würde besser werden! Ja, sicher! ... Das war nur die erste Angst ... Er bebte und traute sich plötzlich nicht mehr vor- noch rückwärts ... überall war das, was ihn ängstigte!

Dann aber stürzte er vor! ... In verzweifelter Anstrengung durchbrach er den Kreis der Angstgespenster, die ihn umringt hielten und ihm hohnlachend entgegengrinsten.

Er suchte nach dem Geld!

Überall hielt’s die Alte versteckt, nur damit er nicht rankam. Aber, warte, du altes Aas, ich find’s doch! ... Und in dem wütenden Eifer des Suchens, in dem er Kasten und Spinde aufriss, den Inhalt umherstreute, sie von ihrem Platz schob und die ganze Wohnung auf den Kopf stellte, gewann er seine Selbstbeherrschung wieder.

Endlich hatte er das Scheckbuch!

Nun raus, weg! ... nach Amerika!

Aber soviel Besinnung hatte er doch noch, dass er sich vorm Spiegel sorgfältig anzog.

Auf der Treppe traf er das Dienstmädchen das er vorhin im Traum geküsst hatte. Er lachte und schäkerte mit der kleinen Rundlichen. Und ganz erregt ging er aus dem Hause.

Budenfrass.

Bloss dreissig Flaschen Bier, Paul?“

„Ja, draussen ist ja noch ’ne alkoholfreie Wasserleitung!“

„Und wie ist es mit der Erotik?“

„Ausser Lene kommt die verdrehte Agnes und noch son paar kleine Atelierhasen.“

„Wo ist denn Lene?“