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Ein Sensationsprozess aus dem Jahre 1931: der Berliner Rechtsanwalt Paulus van Geldern ist des Mordes an seiner Gattin angeklagt. Der erfolgreiche Anwalt kämpft nun selbst um seine Existenz, sein Leben. Schon an den ersten Verhandlungstagen wird offenbar, dass ihre Ehe zerrüttet war und die Tote ein Doppelleben führte. Sie war früher Inhaberin eines Modesalons. Ihr wertvoller Schmuck ist verschwunden, und darum wird Raubmord vermutet. Aber Frau Martha van Geldern stand mit fragwürdigen Kreisen, ja mit Hehlern und Hehlerinnen in Verbindung. Langsam, von Prozesstag zu Prozesstag, lichtet sich das tiefe Dunkel … AUTORENPORTRÄT Hans Hyan (1868–1944) war ein deutscher Kabarettist, Gerichtsreporter und Schriftsteller. Er verfasste vor allem Kriminalromane, aber auch Drehbücher. Hyan besuchte das Gymnasium in Prenzlau, Brandenburg. 1901 hob er in Berlin das Kabarett "Zur Silbernen Punschterrine" aus der Taufe, das bis 1904 bestand. Hyan war liberal und sozialkritisch eingestellt. Diese Haltung schlug sich auch in seinen zahlreichen Kriminalromanen nieder.
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Seitenzahl: 211
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Kriminalroman
Saga
Am blauen, durchsichtigen Himmel zogen weisse Wölkchen friedlich von Osten nach Westen. Ein paar Schwalben schossen durch den Äther. Das und der Wipfel einer dunkelgrünen Kiefer waren das einzige, was Paulus van Geldern seit sechs Monaten, seit dem Beginn dieses Jahres 1931, von der Welt sah. Er stand in seiner hellgetünchten Zelle unter dem hohen Gitterfenster mit erhobenen Augen und blickte da hinaus durch das besonnte Rechteck, dessen Eisenstäbe in der Morgensonne glitzerten. Er dachte nichts. Seine Seele war hinausgeflogen in die leuchtende Weite, war eins und tief verbunden mit einer anderen, der er in Liebe ergeben war.
Hinter seinem Rücken rasselten die Schlüssel. Die wuchtige Eisentür ging auf, und der Aufseher, ein hoher, schlanker, blonder Mensch, stand in dem schmalen Türrahmen:
„Es ist Zeit, Herr van Geldern. Sie müssen zur Verhandlung!“
Van Geldern drehte sich langsam um. Er blickte durch den jungen Aufseher hindurch, als sei der Mann aus Glas. Er sah in diesem Augenblick schon den Schwurgerichtssaal vor sich, angefüllt mit Menschen, die gekommen waren, um seine Erniedrigung mitanzusehen, das Urteil über seine Schuld oder Unschuld zu hören.
Da richtete er sich mit einem Ruck in die Höhe, warf den Kopf mit dem kurzgeschnittenen dunklen Haar in den Nacken und trat an dem zurückweichenden Aufseher vorbei hinaus aus der Zelle auf die Galerie. Er ging schnell zur nächsten Eisentreppe, die er vor dem Aufseher hinunterlief, als wollte er entfliehen oder aber als könnte er nicht schnell genug diese letzte Station seines Golgatha erreichen.
Im Zentral stand der Oberaufseher Matthes, ein Mann in den Fünfzigern, der fast niemals sprach. Und dieser Schweigsame wandte sich zu Paulus van Geldern um mit den Worten:
„Schwere Stunde ... hm ... ja ... schwere Stunde ... Aber geht auch vorbei ... hm ...“
Van Geldern war stehengeblieben in der dienstlichen Haltung, die die Gefängnisnorm vorschreibt. Er sah in das starre graue Gesicht mit dem weissen Backenbart und nickte:
„Ich danke, Herr Oberaufseher!“
Dann schritt er hinüber zu dem grossen Tor, das das eigentliche Gefängnis abschloss. In dem dämmrigen Korridor traf er den Geistlichen. Der drückte ihm stumm die Hand.
Und wie er eben das Gefängnis verlassen wollte, kam von draussen von dem sonnenhellen Gefängnishof herein der Direktor Doktor Stupp, ein jovialer Mann, immer bemüht, es seinen unfreiwilligen Pflegekindern so leicht wie möglich zu machen, wenn sie ihn nicht durch Widersetzlichkeit reizten.
Er hielt van Geldern an, der wieder stramm stand, und klopfte ihm lächelnd auf die Schulter.
„Wer ein gutes Gewissen hat, der braucht sich vor keinem Gericht zu fürchten! ... Na und Sie ... Sie haben’s doch ... nicht wahr?“
„Jawohl, Herr Direktor!“
Die Stimme van Gelderns kam wie aus einem leeren Raum. Dann ging er weiter, der Aufseher immer hinter ihm, und trat auf den Gefängnishof hinaus. Er sah die Gärtnergehilfen in ihrem blauleinenen Gefangenenkittel, die da Gemüse pflanzten und Kartoffeln hackten, und ging, ohne dass er wusste, wohin, über den gelben Kiesweg dem roten Hause zu, das durch einen Gang mit dem Untersuchungsgefängnis verbunden war.
In dem grossen Schwurgerichtssaal fiel durch die hohen, buntverglasten Fenster in hellem Farbenspiel das Sonnenlicht. Es sprühte über das Halbrund des grün bezogenen Tisches hin, an dem die neun Männer des Schwurgerichts schon Platz genommen hatten. Der Vorsitzende in der Mitte war ein kraftvoller Mann mit blondem Bart. Er hatte eine dröhnende Stimme, die er doch so dämpfen konnte, dass nur der Angeklagte, der aber mit um so grösserer Wirkung, sie spürte.
Der Zuschauerraum war überfüllt. Mehrere Schupos flankierten die Tür und hielten das Publikum in Schach, das immer wieder hereindrängen wollte.
Eben öffneten die beiden Justizwachtmeister den hohen Saaleingang, und wie eine Welle flutete die Menge der Zeugen in den Saal, diesen plötzlich anfüllend und mit dem Summen ihrer leisen Unterhaltung belebend.
Landgerichtsdirektor Hallmann hob den blondbärtigen Kopf, der ohne ein Haupthaar in der Sonne glänzte, und klopfte mit dem grossen Bleistift auf die Tischplatte:
„Herrschaften!“ — ein Ausdruck, den er gern brauchte — „ich habe keine Zeit zu verlieren, und wir haben mindestens acht Tage mit der Sache angestrengt zu tun. Darum muss alles Überflüssige fortfallen! Zum Beispiel langatmige Auseinandersetzungen mit den Zeugen, Ermahnungen an die Zuhörer oder was weiss ich. Hier hat niemand ungefragt zu reden; aber wenn er gefragt wird, dann soll er gefälligst den Mund aufmachen und Rede und Antwort stehen! Ich meine ’s gut mit jedem, der ’s mit mir gut meint!“
Der Protokollführer, Referendar Lebermann, der zwischen dem Richtertisch und der Anklagebank seinen Platz hatte, ein kleiner, elegant aufgemachter Herr, nickte bedächtig und legte den gespitzten Bleistift ernst neben sich. Dann begrüsste er höflich den Ersten Staatsanwalt Doktor Malkenthin, der nicht aus dem Richterzimmer, sondern vom Korridor her durch die grosse Saaltür eintrat.
Der sehr magere, schwarzhaarige Herr mit dem Einglas im linken Auge trat sofort zu dem Vorsitzenden hin, wohl um ihm etwas Wichtiges zu sagen, als plötzlich alles, wie von einer elektrischen Schwingung erfasst, zur grossen Tür hinstarrte, durch die in diesem Augenblick, von zwei Justizwachtmeistern geleitet, der Angeklagte hereintrat.
Für einen Augenblick war nur das Summen einer grossen Fliege, die oben an dem sonnenbunten Fenster hin und her surrte, im Raum.
Paulus van Geldern wollte in die Anklagebank kreten, deren Gittertür der Justizwachtmeister vor ihm öffnete, als ihm der Vorsitzende gestattete: „Sie können da auf dem Stuhl“, er deutete mit breiter Geste hinüber, „vorläufig Platz nehmen!“
Dicht neben van Geldern, der sich wie automatisch niederliess, war die Rechtsanwaltsbank, neben der sein Verteidiger Doktor Joachim Vierklee sich mit Hans Lerse, dem Reportagechef von den „Berliner Allgemeinen Nachrichten“, unterhielt. Lerse brachte seinen dreieckigen Kopf mit der grossen spitzen Nase dicht an das Gesicht des Rechtsanwalts heran: „Wie legen Sie den Fall, Doktor?“
„Absolut: Sieg!“
Lerse schüttelte den Kopf mit den grossen abstehenden Ohren: „Platz! ... Höchstens! Ich wette keine zehn Mark, dass Sie den Mann frei kriegen!“
Vierklee hob das scharfgeschnittene Profil mit dem blitzenden Monokel und sah den Zeitungsmann ohne Antwort an. Sein schmaler Mund, die nur ganz wenig gebogene Nase und das in seinem Weiss leicht getüpfelte Auge veriet nichts von dem, was in seinem Innern vorging. Dieser Mann in der schwarzen Robe, zu dem jeder kam, der seine letzte Karte ausspielen musste, verschoss sein Pulver nicht vor der Schlacht.
Paulus van Geldern suchte auf den Zeugenbänken nach dem einzigen, das ihn in dieser Welt festhielt. Seine grossen dunklen Augen gingen im Saal hin und her und fanden endlich auf der zweiten Zeugenbank ganz in der Ecke die Gesuchte. Sie sass, von ihrer Mutter gedeckt, und hielt ihr Tuch an die Augen. Plötzlich, als spüre sie seinen Anruf, liess sie die Hand sinken und erhob ihr junges, achtzehnjähriges Gesicht zu ihm.
Sie gab ihm in diesem Augenblick alles, was sie ihm geben konnte, ihre ganze Seele, ihren Leib und ihr Leben. Sie behielt nichts für sich. Sie allein in diesem grossen, von Menschheit brausenden Saal war bis zum Rande ihrer Seele erfüllt von dem Glauben an seine Unschuld.
Und es war Paulus, als strömten ihm neue Kraftquellen zu für den schweren Kampf, den eine Welt von rachgierigen Feinden ihm entgegentrug.
In diesem Augenblick erhob sie sich und verliess mit ihrer Mutter und den anderen Zeugen auf das Gebot des Vorsitzenden den Saal.
Die beiden Sachverständigen, Professor Grolly von der Universität Greifswald und Doktor Rawenfleet von der Berliner Städtischen Irrenanstalt, machten sich mit dem Vorsitzenden bekannt.
Die Verlesung des Eröffnungsbeschlusses dauerte nicht lange. Es handelte sich darum, dass der Rechtsanwalt Paulus van Geldern aus Berlin und in Berlin wohnhaft hinreichend verdächtig erschien, am 5. Januar 1931 seine Ehefrau Martha, geborene Streckaus, in der gemeinsamen Wohnung in Westend bei Berlin, Quintenallee 17, ermordet zu haben.
„Bekennen Sie sich schuldig, Angeklagter?“
Van Geldern war, als seine Personaldaten von ihm verlangt wurden, aufgestanden und vom Vorsitzenden belehrt worden, dass er sitzen bleiben könne. Trotzdem erhob er auf diese Frage seinen wohl einen Meter neunzig hohen Körper mit einem Ruck. Seine breite und hohe Brust trat hervor, als hätte er sie tief mit Atem gefüllt. Er hielt die Arme gesenkt, aber sie fielen nicht schlaff zu beiden Seiten herunter, sondern es war in ihrer leichten Krümmung die ungeheure Spannung, der stärkste Wille zur Abwehr. So sah er den Vorsitzenden an. Seine Stimme kam wie aus mächtigem Druck:
„Nein!“
Dann setzte er sich wieder, und das Duell zwischen ihm, dessen Beruf es war, Menschen in ihrem oft verzweiflungsvollen Kampf zu helfen, und zwischen dem, der die menschliche Gerechtigkeit verkörperte, nahm seinen Anfang.
„Wollen Sie uns jetzt einmal ruhig und mit allen Einzelheiten erzählen, was sich am 5. Januar 1931 in Ihrer Villa zwischen Ihnen und Ihrer Frau zugetragen hat?“
Der Angeklagte atmete tief: „Ich kam um drei Uhr aus dem Büro. Im Speisezimmer, in das ich eintrat, nachdem ich meine Frau vergeblich im ganzen Haus gesucht hatte, war der Frühstückstisch noch nicht abgeräumt. Ich bin ein von Hause aus ordentlich erzogener Mensch, und eine derartige Liederlichkeit ist mir tief zuwider. Ich will hierbei gleich sagen, dass die Boheme-Natur meiner Frau der erste Anlass zu unserer Entfremdung war ...“
Der Vorsitzende hob leicht die Hand: „Darüber werden wir später Zeugen hören, die etwas ganz anderes bekunden ...“
Das Monokel von Joachim Vierklee funkelte wie ein Brennglas nach dem Gesicht des Vorsitzenden. Der parierte sofort: „Sie sind anderer Meinung, Herr Rechtsanwalt, und das entspricht Ihrer Funktion. Sie sollen auch nicht in der Bekundung Ihrer Ansichten von mir gehindert werden — ebensowenig wie Ihr Klient ... Also bitte weiter, Angeklagter!“
„Ich klingelte nach dem Mädchen, das ebenfalls nicht da war. Schliesslich kam die Köchin. Es ist das die Minna Müller, die auch als Zeugin gegen mich auftreten wird und die meine Frau aus ihrer früheren Wirtschaft schon mit in die Ehe gebracht hat. Ich weiss aus den Protokollen, dass ich nun sofort in einer ganz zügellosen Weise auf meine Frau geschimpft und gedroht haben soll: ich würde ihr den Standpunkt bei ihrem Heimkommen einmal deutlich klarmachen! ... Und das wäre von Handbewegungen begleitet gewesen, die keinen Zweifel an meinen bösen Absichten liessen!“
Der Angeschuldigte pausierte einen Augenblick, und der Vorsitzende nickte.
Ohne zu diesen Behauptungen Stellung zu nehmen, fuhr van Geldern in seinem Bericht fort: „Ich bekam also schliesslich ein paar Setzeier mit Bratkartoffeln. Das war mein Mittagsmahl, nachdem ich frühmorgens um halb acht das Haus verlassen und, beruflich stark in Anspruch genommen, wie ich bin, seit dem Frühstücksbrötchen keinen Happen zu mir genommen hatte. Ich bin ein wenig magenleidend, eben wohl durch das sehr häufig verzögerte und vergessene Essen, und gerate dann in eine gewisse Aufregung, die ich mich aber immer bemühe meine Umgebung nicht entgelten zu lassen. Die Stutzuhr auf dem Kamin schlug grade halb, als meine Frau ins Zimmer trat. Sie war in grosser Toilette und kam von irgendeiner mondänen Veranstaltung. Wenn ich nicht irre, war es ein Basar, den die Fürstin Hassfeld veranstaltet hatte.“
Die Hand des Vorsitzenden unterbrach: „Können Sie sich entsinnen, welche Toilette Ihre Gattin damals trug?“
Paulus van Geldern schien nachzusinnen. Ein unmerklich fragender Blick glitt zu Joachim Vierklee hin. Das scharfe, jetzt von einer gelblichen Röte überhauchte Gesicht des eben anfgestandenen Rechtsanwalts begegnete dem Auge des Klienten und gab Antwort: sprich, es ist ungefährlich!
„Müssen Sie sich das erst so lange überlegen?“ fragte der nicht ganz ahnungslose Vorsitzende.
Paulus van Geldern hatte seine Sicherheit wiedergewonnen. Er war nicht mehr der Angeklagte, er war der Anwalt des Beschuldigten und Angeklagter zugleich.
„Ich habe von jeher auf dem Standpunkt gestanden, Herr Vorsitzender, dass es unendlich falsch und gefährlich ist, einen Angeklagten auf gewisse Daten, Orts- und Zeitbestimmungen oder auf Äusserlichkeiten in seinen Bekundungen festzunageln. Wir Menschen haben alle ein so kurzes und leicht auszuschaltendes Gedächtnis, dass wir uns nur an wenige Ereignisse ganz deutlich zurückerinnern können.“
Der Vorsitzende hatte sich in seinem hohen Armstuhl nach hinten gelehnt, den Kopf auf dem Kragen blies er aus gespitzten Lippen die Luft von sich. Plötzlich aber senkte er den Kopf und sagte fast mit einem Anflug von Humor:
„Sie verkennen Ihre Rolle, Angeklagter! Sie sind hier nicht Verteidiger, wie Sie anzunehmen scheinen. Das ist Doktor Vierklee. Sie selbst sind der Angeschuldigte ... also verteidigen Sie sich, aber halten Sie keine metaphysischen Brandreden!“
Doktor Vierklee sprang ein: „Sie gestatten, Herr Landgerichtsdirektor: es kann nach der Strafprozessordnung Abschnitt V § 243 dem Angeklagten nicht verwehrt werden, sich in der seinem Bildungsgrad und seinem geistigen Niveau entsprechenden Art zu verteidigen. Wenn mein Klient glaubt, darauf hinweisen zu müssen, dass es unendlich schwer ist, selbst nach wenigen Tagen, sich an affektive Tatsachen zu erinnern, so liegt das durchaus im erlaubten Rahmen seiner Verteidigung. In dieser Anklage wegen Gattenmordes gibt es keine tatsächlichen Beweise. Nur Indizien gibt es hier ... reine Indizien! Wir alle aber wissen, welch eine unendliche Gefahr für die Gerechtigkeit hinter dem Indizienbeweis lauert! Der Angeklagte kämpft um seinen Kopf! Auch nicht eine Spur seines Verteidigungsrechts darf ihm verkümmert werden!“
„Ist ja gar nicht meine Absicht!“ lächelte Hallmann, „also weiter, wenn ich bitten darf, Angeschuldigter ... Wie war Ihre Frau an dem Tage angezogen?“
Die Journalistenbank gegenüber dem Platz des Angeklagten war doppelt gefüllt. Die Bleistifte spritzten stenographische Haken aufs Papier. Hin und wieder fragte einer der Reporter flüsternd den anderen. Aber der lehnte unwirsch ab: die Leser seiner Zeitung wollten nicht ein Wort dieses Verhörs verlieren!
Hans Lerse, der kraft seines wirklichen Könnens, aber auch durch sein unerhört scharfes Mundwerk stets der Spitzenreiter bei solchen Journalisten-Matches war, sah seinen Nachbar an und meinte leise: „Mit dem Vorsitzenden wird er’s bald verdorben haben, der van Geldern — ich verstehe Vierklee nicht, soll ihm doch ’s Maul verbinden!“
Dabei richtete er den Blick seiner kalten grauen Augen wie hypnotisierend auf den angeklagten Rechtsanwalt, der wirklich in diesem Moment hersah und mit jener Überempfindlichkeit aufs höchste gespannter Menschenseelen die Mahnung des Journalisten und ihre Richtigkeit zu begreifen schien.
„Meine Frau trug ein Chiffonkleid von Lindenblütenfarbe, in der damals schon langen Rockmode, mit vielen Falten und Zipfeln an Mieder und Rock. Dazu lange, goldgestickte, schwarzgrüne Lederhandschuhe und eine lichte Crêpe-Kappe auf ihrem dunklen Haar ...“
Der Vorsitzende nickte.
Aber Staatsanwalt Malkenthin erhob sich:
„Gestatten Sie, Herr Landgerichtsdirektor? ... Diese ausserordentlich konkrete Angabe ist der Beweis, dass der Angeklagte an jenem Tage und selbst in der fraglichen Stunde in seiner Beobachtungskraft durch nichts getrübt oder erschüttert war. Ich selbst wäre nicht imstande, mit solcher Genauigkeit und nach so langer Zeit — die Tat ist doch jetzt über ein halbes Jahr her! — nein, ich könnte durchaus nicht so detaillierte Angaben machen über das, was meine Frau damals anhatte!“
Hallmann sah nach rechts und links zu seinen beiden Beisitzern und den je drei Geschworenen hin, und auf allen diesen Gesichtern bemerkte er die absolute Zustimmung zu den Worten des Staatsanwalts.
Im Publikum war leises Raunen.
„Na, und, Angeklagter, was geschah dann weiter?“
Paulus van Geldern atmete wieder schwer:
„Ich kam mit meiner Frau in Streit.“
„Aus welchen Gründen?“
„Es handelte sich um Geld!“
„So ... na, ich glaube, bei dem Punkt müssen wir etwas verweilen ... Wie war denn Ihre Situation, als Sie sich verheirateten? — Ja, übrigens, wie lange waren Sie verheiratet?“
„Ein Jahr, Herr Vorsitzender!“
Hallmann sah den jungen Anwalt fest an, als wollte er gerade in diesem Moment keine Unwahrheit aufkommen lassen:
„Wie war Ihre pekuniäre Lage bei Ihrer Heirat?“
Aber Paulus dachte nicht daran, zu lügen:
„Ich habe damals viel gespielt ... und habe gesellschaftlich alles mitgemacht, wozu ich durch meine Klientel verleitet wurde. Es ist ja nicht unbekannt, dass es im wesentlichen Halbwelt war, die zu mir kam. Dadurch, ich meine, durch mein wildes, zügelloses Leben, bin ich in Schulden geraten und hatte recht unangenehme Wechselschulden.“
„Die Ihre Frau bezahlt hat, als Sie sie heirateten — — und jetzt frage ich Sie etwas, Angeschuldigter, was Sie mir auch dann beantworten sollen, wenn es Ihren Charakter in ein ungünstiges Licht setzt ... die Zeugen werden ohnehin ... ich meine besonders die Leumundszeugen — werden Sie gerade darin belasten!“
Van Gelderns Gesicht blieb unbewegt:
„Ich weiss das, Herr Vorsitzender! Ich täusche mich nicht darüber, dass ich zu der Zeit ein Leben geführt habe, wie ich es nicht hätte führen dürfen. Aber wenn mir die Anklage vorwirft, dass ich meine Frau nur geheiratet habe, weil sie meine Schulden bezahlt hat, so ist das —“
Van Geldern hatte sich erhoben und reckte, wie er es stets in Augenblicken des Affekts tat, die gewölbte Brust vor:
„—so ist das eine Lüge, Herr Vorsitzender!“
Er hatte das Wort laut in den Saal gerufen und fuhr ruhiger fort:
„Ich habe meine Frau sehr gern gehabt, ehe ich sie näher kennenlernte. Sie war eine charmante Person — solange sie nicht ihre Anfälle bekam. Was eine Hysterikerin bedeutet, das kann nur der ermessen, der Tag für Tag, Monat für Monat mit einer solchen Frau zusammengelebt hat. Streit ohne jeden Anlass, zu jeder Tages- und Nachtzeit und kein Nachgeben. Ein ewiges, zermürbendes Sich-aneinander-Reiben. Um nichts! Um Dinge von solcher Geringfügigkeit, dass man’s nicht glauben sollte! Die tieferen Ursachen allerdings ...“
Der Vorsitzende hob wieder die Hand.:
„Ich will Sie ja nicht in Ihren Ausführungen beschränken, Angeklagter, aber für die Charakter- und Seelenanalyse der Prozessbeteiligten oder Betroffenen stehen uns zwei Sachverständige von hoher Qualität in der Person dieser beiden Herren da zu Verfügung. Machen Sie mir die Freude und halten Sie sich streng an die Darstellung der Tatsachen!“
Paulus nickte sein Einverständnis:
„Ich habe auch meiner Frau das für mich verauslagte Geld — es waren etwas mehr als fünfzigtausend Mark — zu zwei Dritteln zurückerstattet ...“
„Das stimmt! Aus den sehr ordentlich geführten Büchern Ihrer Frau geht hervor, dass sie über dreissigtausend Mark zurückerhalten hat ... Im übrigen eine einwandfreie Buchführung — wie stimmt die mit der angeblichen Liederlichkeit Ihrer Gattin überein?“
„Herr Landgerichtsdirektor, es gibt Frauen, die wahre Musterbilder in ihrem geschäftlichen Leben und zu Hause in der Wirtschaft einfach unbrauchbar sind. Schon der Umstand, dass sie die nötige Zeit ...“
Hallmann winkte ab:
„Ich verstehe! Also Sie führten eine unglückliche Ehe, — es ist sogar zum Schlagen zwischen Ihnen beiden gekommen?“
„Ja, leider ... meine Frau geriet bei solchen Anlässen in eine derartige Erregung, dass sie jeden Gegenstand nach mir warf, gleichviel, ob es nun ein Buch oder ein Glas oder sonst irgend etwas war. Sie stiess mich mit den Füssen, kratzte und schlug auf mich ein, wenn ich sie nicht ganz energisch abwehrte.“
„Ich verstehe nur nicht, dass Sie das so lange mitgemacht haben! Ein Mensch, der Achtung vor sich selbst besitzt, trennt sich dann doch von der Frau! Um so mehr, als hier die Existenzfrage gar nicht ins Gewicht fiel. Ihre Frau hat, wie wir wissen, in ihrem Modeatelier recht erhebliche Einnahmen gehabt, und auch Sie waren ja trotz Ihrer Jugend schon ein grosser Geldverdiener!“
Doktor Vierklee sah auf:
„Darf ich einmal unterbrechen, Herr Landgerichtsdirektor? ... Ich habe bei der Verhandlung gegen einen Mörder, die Sie, Herr Landgerichtsdirektor, so mustergültig geleitet haben, aus Ihrem eigenen Munde den prachtvollen Satz gehört: ‚Der Vorsitzende ist nicht der Staatsanwalt! Wenn jener anklagt, soll der Verhandlungsleiter zugunsten des Angeklagten abwägen und schlichten‘!“
Der massige Mann in der Mitte des Richtertisches war einen Augenblick ganz still. Es schien, als denke er nach. Dann sagte er so offen und freimütig, dass jeder im Saal für ihn war:
„Sie haben ganz recht, Herr Doktor. Aber Sie müssen mir auch zugestehen, dass es für einen Menschen nichts Schwereres gibt, als gegen seine Überzeugung dem zu helfen, der für sein Verbrechen keinerlei Hilfe erwarten darf.“
Doktor Vierklee nahm das Monokel aus dem Auge und putzte mit einem gelbseidenen Tuch daran:
„Sie nehmen mit der Linken, Herr Vorsitzender, was Sie eben mit der Rechten gegeben haben! Aber man darf von niemand verlangen, dass er über seinen eigenen Schatten springt!“
Hallmann sah den Anwalt nachdenklich an. Dann zuckte er die Achseln und wandte sich wieder seiner Aufgabe zu.
Sie behaupten also, Angeklagter, dass Sie nach diesem Zank das Haus verlassen, dann ein Auto genommen hätten und ... na, erzählen Sie uns mal selber, was Sie nun gemacht haben!“
„Ich habe, wie Sie, Herr Vorsitzender, eben sagten, eine Autodroschke genommen und bin ziellos umhergefahren.“
„Was heisst ziellos?“
„Ich habe erst eine Adresse angegeben, und als der Wagen dort hielt, eine andere und so weiter. Ich weiss nicht, wie oft, auch nicht, wohin ich gefahren bin ... das weiss ich in der Tat nicht!“
„So! — Also Sie wissen nichts davon? ... Ja, das ist schlimm für Sie ... und das schlimmste ist, dass ausser Ihnen auch niemand etwas davon weiss! Das Gericht ebensowenig wie Ihr eigener Anwalt. Wir haben uns alle Mühe gegeben, den Schofför herauszufinden, mit dem Sie damals gefahren sind.“
„Der Mann kann Berlin inzwischen verlassen haben ... er kann krank sein ... am Ende lebt er nicht mehr!“
„Und was kam nachher? Was taten Sie dann? ... Wo sind Sie damals ausgestiegen aus dem Auto, das Sie benutzten?“
Van Geldern hob die Schultern: „Ich kann mich nicht mehr entsinnen. Es ist, als ob über diese Stunde sich ein dichter Schleier gelagert hätte ... Ich weiss nur, dass ich vorher schon einmal ausgestiegen bin und, wie es leider meine Gewohnheit ist, wenn derartige Aufregungen über mich kommen, in einem Café am Bayrischen Platz eine Anzahl grosser Kognaks getrunken habe.“
„Sie trinken im allgemeinen nicht?“
„Nein, sehr selten.“
„Aber an diesem Tage? Warum tranken Sie denn ... so unmässig?“
Wieder die hebende Bewegung der Achseln und jener Blick aus den Augen van Gelderns, der über Menschen und Raum hinweg oder durch sie hindurch sehen zu wollen schien: „Ich kann es nicht sagen ... nein, und ich glaube, das weiss niemand, warum in solchen Momenten ein wahnsinniger Durst nach Alkohol den Menschen überfällt ... Richtig besinnen kann ich mich erst wieder auf alles von dem Augenblick an, wo ich in Westend war und in die Villa getreten bin.“
„Sie waren doch mit dem Auto nach Berlin und in Berlin hin und her gefahren?“
Der Angeschuldigte nickte: „Ganz recht, Herr Vorsitzender ...“
„Na, wie sind Sie denn wieder nach Westend gekommen? ... Daran müssen Sie sich doch wenigstens erinnern!“
„Ich weiss es aber nicht, Herr Landgerichtsdirektor! ... Und ich kann nur das sagen, was ich weiss!“
„Sicherlich! ... Sie wissen aber leider recht wenig! ... Also Sie kamen in die Villa. Wir werden ja später einen Termin am Tatort abhalten müssen. Aber ich habe mir inzwischen die Umgebung schon einmal persönlich angesehen und kann Ihnen daher gut folgen, wenn Sie mir nun erzählen wollen, was alles und wie es sich von da an, ich meine, als Sie wieder zu Hause waren, was sich da nun abgespielt hat?“
Der Angeklagte richtete sich mit einem tiefen Atemholen auf: „Ich öffnete das unverschlossene Gitter und ging durch den Vorgarten die Verandatreppe hinauf, um durch das Esszimmer, dessen Türen zum Balkon weit offen standen, in mein Studio zu kommen ...“
„Sie meinen Ihr Arbeitszimmer?“
Paulus sah den Vorsitzenden gross und mit leerem Blick an: „Ja ... ich meine mein Arbeitszimmer ... Dabei musste ich durch den kleinen Salon, den meine Frau bewohnt. Und da — —“
Paulus liess den Kopf sinken, ein Zittern lief über seinen Körper. Er musste wiederholt zum Sprechen ansetzen, bis es ihm gelang:
„Meine Frau ... hatte eine so merkwürdige Vorliebe für Kissen und Polster ... alles lag voll davon in ihren Zimmern ...“ Er stockte. „Aber das ist ja ... nur ... wie ich eintrat, da lag sie auf einem Berg von Kissen ...“
Der Angeklagte atmete zwischen jedem Wort tief und schwer: „... mit dem Gesicht auf dem linken Arm, die rechte Hand seitwärts fortgestreckt, so lag sie da ... Die Knie waren unter dem Leib angezogen ...“
Totenstille.
„Ja“, sagte der Vorsitzende, die Luft gewaltsam aus dem offenen Munde stossend, „ja, das stimmt alles, nur — war, die da so merkwürdig am Boden lag, erstochen! Warum sagen Sie denn davon nichts, Angeklagter?“
„Ich kann nicht alles auf einmal sagen, Herr Landgerichtsdirektor. Zu dem, was Sie meinen, komme ich noch ... übrigens würden Sie es mir am meisten verargen, wenn ich jetzt hier ganz unbewegt meine damaligen Eindrücke schildern würde.“
„Ach so, Sie meinen: wird der Angeklagte rot, ist er schuldig, weil er ein schlechtes Gewissen hat — bleibt er blass, ist er erst recht schuldig, weil alles von ihm abprallt! ... Nein, Angeklagter, so ist das nun nicht! Wenigstens da nicht, wo ich verhandle! Das Gericht und die Geschworenen empfangen — das dürfen Sie mir gern glauben — die richtigen Eindrücke schon und werden sie auch entsprechend verwerten!“
Bei diesen Worten bekam van Gelderns Gesicht etwas unglaublich Starres. „Ich habe den Eindruck, Herr Vorsitzender“, entgegnete er, „dass Sie selbst mein Urteil schon gesprochen haben. Wenn diese Verhandlung so weiter geführt wird, werde ich auf keine Frage mehr antworten!“
Doktor Vierklee erhob sich, trat an den Angeklagten heran und legte ihm, leise zuredend, die Hand auf die Schulter. Dann wandte er sich zu dem Vorsitzenden und sah ihn ohne ein Wort ruhig und ernst an.
Aber Hallmann sprach, als sei gar nichts vorgefallen, leise zu dem Landgerichtsrat Schnellpfeffer, um dann mit einer kurzen Wendung zu van Geldern in der Verhandlung forzufahren:
„Ich möchte jetzt die vom Tatort und von der Leiche der Ermordeten aufgenommenen Fotografien bei den Geschworenen zirkulieren lassen.“