Das Recht als Struktur der Gesellschaft - Harun Pacic - E-Book

Das Recht als Struktur der Gesellschaft E-Book

Harun Pacic

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Beschreibung

"Das Recht als Struktur der Gesellschaft" ist ein mit Erläuterungen versehener Impulsvortrag über die Rechtssoziologie von Niklas Luhmann; gehalten im Wintersemester 2023 an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.

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Inhaltsverzeichnis

Vorblick

Grundlegung

Sozialer Wandel I

Rechtspositivität

Sozialer Wandel II

Rückblick

Vorblick

RECHTSSOZIOLOGIE gibt es, wie NIKLAS LUHMANN im Jahr 1972 festhielt, erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts;1 erst, seit sich die aufkommende Soziologie von der „alteuropäischen Tradition“ einer „natürlichen“ oder „vernünftigen“ Rechtslehre distanziert hat.2 Ihm fiel auf, dass die Positivität des Rechts , das ist „jenes Phänomen, das mehr als alles andere das Recht der neuzeitlichen Industriegesellschaft auszeichnet“, dabei „so gut wie unbeachtet“ geblieben war.3

Um „Rechtspositivität“ soziologisch zu ergründen, setzte er system- und gesellschaftstheoretisch an, indem er fragte, „wie Recht als Struktur eines sozialen Systems möglich ist.“4

Ich werde mich im Nachvollzug der Antwort darauf nicht auf seine „Rechtssoziologie“ beschränken, sondern diese im Lichte der Ausführungen über „Das Recht der Gesellschaft“ aus dem Jahr 1993 aktualisieren .5

1 N. Luhmann, Rechtssoziologie 1, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1972, S. 10. Nachdem er bereits einführend bemerkt hatte, dass ein Mindestmaß an Orientierung am Recht für menschliches Zusammenleben unerlässlich und jeder Lebensbereich durch Recht geprägt sei (a. a. O., S. 1), hätte Luhmann seinen Rückblick auf die klassischen Ansätze zur Rechtssoziologie mit dem Hinweis darauf beginnen können, dass die Soziologie sich von ihrem Anfang an für Recht interessiert hat. Stattdessen fokussierte er auf den Unterschied in der „modernen“ Sichtweise auf das Recht gegenüber der alten Lehrtradition (arg. „erst, seitdem“). Jedenfalls war die obige „äußerliche Feststellung“, seit wann es Rechtssoziologie gibt, nicht nur als „gleichsam terminologische Selbstverständlichkeit“ gemeint (a. a. O., S. 10).

2 Zum Naturrecht in der letzten Phase als Vernunftrecht: K. v. Martini, Lehrbegriff des Naturrechts , Blumauer, Wien 1797; J. Ch. Hoffbauer, Naturrecht , Hemmerde und Schetschke, Halle 1798; I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre , 2. Aufl., Friedrich Nicolovius, Königsberg 1798; F. v. Zeiller, Das natürliche Privat-Recht, Ch. F. Wappler und Beck, Wien 1802; G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts , in der Nicolaischen Buchhandlung, Berlin 1821; H. R. Stöckhardt, Die Wissenschaft des Rechtes oder das Naturrecht , Reclam, Leipzig 1825; G. N. Schnabel, Die Wissenschaft des Rechts (Naturrecht) , C. Gerold, Wien 1842; H. Ahrens, Das Naturrecht , Westermann, Braunschweig 1846. Die damals herausgearbeiteten Grundsätze sind im geltenden Privatrecht noch z. T. relevant. Vgl. H. Pačić, Das strikte Recht: Zivilrecht , Manz, Wien 2019.

3 Luhmann, Rechtssoziologie 1 , S. 10-12, bemerkte, dass das sog. Vernunftrecht eine Rechtssoziologie insofern vorbereitet habe, als mit dem Gedanken an einen Sozialkontrakt vorstellbar geworden sei, dass die Zwangsläufigkeit von Recht für die Gesellschaft keinesfalls zur Annahme vorgegebener „wahrer“ Normen zwinge. Die Bedingtheit der „Auswahl“ des Rechtsinhalt s aus „sinnhaften Möglichkeiten“ habe hernach das Interesse einer neuen Wissenschaft auf sich gezogen, nämlich der Soziologie. Klassische Ansätze zeichneten sich ihm zufolge dadurch aus, dass sie das Recht, obzwar immer noch, so doch nur „aus dem Bezug zur Gesellschaft“ für bestimmt hielten (arg. „gesetzmäßiger Fortschritt der Zivilisation“). Neueren Ansätzen hielt Luhmann vor, nicht mit Recht , sondern nur mit juristischen Rollen, Berufen und Karrieren, Kleingruppen oder Meinungen über Recht befasst zu sein.

4 Luhmann, Rechtssoziologie 1 , S. 8. Verschiedene Forschungsrichtungen hätten „in übersteigerter Isolierung“ einzelne Aspekte der Gesellschafts- und Rechtsentwicklung „als charakterisierende Merkmale herausgestellt“ (a. a. O., S. 12-26). Karl Marx habe den Antrieb für die „naturgesetzlich-dialektische gesellschaftliche Entwicklung“ in den sozialen „Widersprüchen“, „die sich im Laufe der Entwicklung von Produktion und Bedürfnisbefriedigung ergeben“, erblickt. Diese Entwicklung gehe dahin, dass eine Vergesellschaftung des Eigentums möglich werde, die die Bedürfnisbefriedigung (Verteilung) von der Produktionsentscheidung („Planung“) trenne, objektiviere und interessen-/klassengebundenes Recht durch Rationalität ersetze.

Ihm sei es um ein „höheres Maß an strukturell zugelassener Variabilität“ gegangen, wobei er ein Problem vor Augen gehabt hätte, welches Henry Sumner Maine unter einem anderen Blickwinkel als „Bewegung von Status zu Kontrakt“ gekennzeichnet habe. Mit diesen Begriffen seien divergierende „Grundprinzipien des Aufbaus einer Rechtsordnung“ gemeint: Die „familienmäßige“ und später die „ständische“ Struktur habe „ziemlich konkret zugleich die Verteilung von Rechten und Pflichten“ geregelt. Nach und nach hätte die Wirtschaft „zur Auflösung allzu kompakter, traditional überlieferter, nur lokal gültiger Kombinationen“ sowie zur Entlastung von unnötig gewordenen gesellschaftsstrukturellen Voraussetzungen für die „laufende Verteilung“ von Rechtspositionen gezwungen.

„Eine Generation später“ habe Émile Durkheim auf die „nichtvertraglichen“, also gesellschaftlichen, „Grundlagen des Vertrags“ hingewiesen. Das Recht sei Ausdruck der „Solidarität“ einer Gesellschaft.

Max Weber habe herausgearbeitet, dass das Recht von primär materialen („ethisch inhaltlich festgelegten“) auf primär formale, d. h. „begrifflich abstrakt präzisierte, verfahrensmäßig optimal praktizierbare Qualitäten umgebaut werden“ habe müssen, um der neuzeitlichen Gesellschaftsentwicklung gerecht zu werden.

Talcott Parsons , bei dem Luhmann „gelernt“ hatte, habe, so vermerkte er, die sozialen Systeme „von der Unerlässlichkeit ihrer normativen Struktur her“ zu bestimmen versucht: Wenn Handelnde in Bezug aufeinander handeln wollen, dann müssen wechselseitige Verhaltenserwartungen integriert sein, was mit Hilfe der Stabilität dauerhafter, lernbarer, verinnerlichungsfähiger Normen geschehe.

Auf die „Grundlegung der Soziologie des Rechts“ (1913) von Eugen Ehrlich, der als der eigentliche Begründer der Rechtssoziologie gilt, ging Luhmann kaum ein. Im Gegensatz zu Rudolf von Jhering, Philipp Heck oder Roscoe Pound, „die sich mit einer soziologisierenden Rechtswissenschaft,“ die bei der Gesetzesauslegung auf Interessen abstellt, begnügt hätten, habe dieser die Jurisprudenz selbst auf Rechtssoziologie zu begründen versucht. Soziologisch verstehe sich jedoch von selbst, dass das Recht „Recht der Gesellschaft“ sei und sich mit ihr verändere; seine Forschung über die „Rechtstatsachen“ des vorjuristischen sozialen Lebens bleibe „theoretisch unzulänglich begründet und relativ unergiebig“, überdies sei „sein Rechtsbegriff unklar.“

5 N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft , Suhrkamp, Frankfurt am Main 1993.

Grundlegung

Die Struktur eines Systems hat die Funktion, Komplexität zu regulieren.6 Die Strukturen sozialer Systeme, die gesellschaftlichen Strukturen,7 sind „Erwartungsstrukturen“.8

Im Horizont einer Fülle sinnhafter Möglichkeiten, derer es stets mehr gibt als aktualisierbar sind, und in Anbetracht einer Wirklichkeit, die sich als erwartungswidrig erweisen kann, wird „der Mensch“ der Komplexität und zugleich der Kontingenz der Umwelt gewahr.9

Komplexität zwingt ihn zur Selektion, Kontingenz setzt ihn der Gefahr von Enttäuschungen aus, nötigt ihn zum Eingehen von Risiken.10

In der Mitwelt „verdoppelt“ sich Kontingenz, wenn und weil Menschen wechselseitig die Perspektive ihrer Mitmenschen einnehmen können, um ihr Verhalten zu variieren.11 Nicht nur kooperatives Verhalten, sondern auch Konfliktverhalten ist auf „Erwartungserwartungen“ angewiesen.12

Erwartungsstrukturen beziehen Selektion auf Selektion , sie blenden Alternativen ab und festigen einen engeren Ausschnitt des Möglichen als erwartbar, wodurch Komplexität reduziert und stete Überforderung in das Problem der nur gelegentlichen Enttäuschung überführt wird.13

Strukturierung erfolgt wohl über Regelbildung,14 wobei „die Regel“ eine kognitive oder eine normative Erwartungshaltung spiegelt, je nach inbegriffener Entschiedenheit, für den Enttäuschungsfall, die „geregelte“ Erwartung zu ändern oder trotzdem daran festzuhalten.15

Normen sind, so gesehen, kontrafaktisch etablierte Verhaltenserwartungen; ihr Sollen, das Gesolltsein von Verhalten, symbolisiert die Gleichgültigkeit dagegen, ob sie erfüllt werden oder nicht.16 Ich fasse die Norm als deontisches Urteil auf,17dessen Geltung darauf beruht, dass es als ein deduktiv stabilisiertes und induktiv bewährtes abduktiv bezeugt ist.18 Rechtsgeltung, rechtliche Verbindlichkeit, ist, so besehen, die Voraussetzung der Gesetztheit einer Norm als Rechtsnorm aufgrund ihrer Justiziabilität.19

Systemtheoretisch ließe sich das vielleicht so ausdrücken: Der Geltungsgrund von Normen als Rechtsnormen , die „Grundnorm“ der Rechtsordnung,20 ist das Rechtssystem als Teilsystem der Gesellschaft, die ihre eigenen Strukturen höchstselbst bekräftigt oder entkräftet.21

Die Rechtsnorm hält als Norm zur Missbilligung von Fehlverhalten an, um das Festhalten an der Erwartung anzuzeigen, doch inhäriert ihr kein Erfordernis der Sanktion bei Zuwiderhandeln.22 Es muss „lediglich“ absehbar sein, dass und wie sie, wenn nicht durchgesetzt, so doch durchgehalten, zeitlich aufrechterhalten werden kann.23

Konfligierende Erwartungen zweier Menschen können dabei insoweit „auf unterstellbare Erwartungserwartungen Dritter gestützt werden“, als sie sozial institutionalisiert sind.24