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»Nicol ist eine Klasse für sich.« (Deutschlandradio Kultur) – Neues aus der Kapstadt-Serie
Angela Amalfi, die in Johannesburg eine große Firma für Straßenbau leitet, trauert um ihren Mann Rick. Er wurde am Strand von Kapstadt ermordet aufgefunden. Weil auf die Polizei ihrer Meinung nach kein Verlass ist, engagiert sie Fish Pescado – der schillernde Ermittler soll die Wahrheit herausfinden. Doch der Preis, den er dafür bezahlen muss, ist ziemlich hoch.
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Seitenzahl: 580
Zum Buch
Angela Amalfi, die in Johannesburg eine große Firma für Straßenbau leitet, trauert um ihren Mann Rick. Er wurde am Strand von Kapstadt ermordet aufgefunden. Weil auf die Polizei ihrer Meinung nach kein Verlass ist, engagiert sie Fish Pescado – der schillernde Ermittler soll die Wahrheit herausfinden. Doch der Preis, den er dafür bezahlen muss, ist ziemlich hoch.
Zum Autor
MIKE NICOLlebt als Autor, Journalist und Herausgeber in Kapstadt, wo er geboren wurde, und unterrichtet an der dortigen Universität. Er ist der preisgekrönte Autor international gefeierter Kriminalromane. Die Rechte an seiner erfolgreichen Rache-Trilogie wurde von einer deutschen Filmfirma gekauft.
MIKE NICOL BEI BTBDie Rache-TrilogiePayback. ThrillerKiller Country. ThrillerBlack Heart. Thriller
Die Kapstadt-SerieBad Cop. ThrillerKorrupt. ThrillerSleeper. ThrillerDas Schlupfloch. Thriller
MIKE NICOL
Das Schlupfloch
THRILLER
Aus dem südafrikanischen Englisch von Mechthild Barth
Die südafrikanische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »The Rabbit Hole« bei Umuzi, Penguin Random House South Africa (Pty) Ltd, Kapstadt.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Deutsche Erstveröffentlichung Dezember 2021
Copyright © Mike Nicol 2021
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by btb Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Published by Arrangement with Michael George Nicol
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Covergestaltung: semper smile, München
nach einem Entwurf von Georgia Demertzis © UMUZI, 2020
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
SL · Herstellung: sc
ISBN 978-3-641-26365-2V001
www.btb-verlag.de
www.facebook.com/btbverlag
In Erinnerung an Tamzon 1974–2019
Ob wir fallen durch schnöden Ehrgeiz, Wollust oder Blut: Wie Diamanten werden wir geschnitten Mit unserm eignen Staube.
Die Herzogin von Amalfi(John Webster, aus dem Englischen von Friedrich Bodenstedt)
»Man sollte reich sein, wenn man den öffentlichen Dienst verlässt.«
Mike Mlengana, ehemaliger Generaldirektor des Ministeriums für Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei
Fish Pescado (Privatdetektiv)
Vicki Kahn (Anwältin, früher für die State Security Agency tätig)
Die Familie Amalfi
Angela Amalfi (Geschäftsführerin von Amalfi Civils, Witwe von Richard »Rick« Khabone Thulo)
Rej Ben Ali (Vorstand für das operative Geschäft von Amalfi Civils, Bruder von Angela, früher bekannt als Reginald Amalfi)
Ferdinand Amalfi (Zwillingsbruder von Angela, bipolar, leidet unter Wahnvorstellungen)
Angestellte von Amalfi Civils
Tyrone Mansoor (Manager von Kestrel Security, einer Tochtergesellschaft)
Juzia Malik (Praktikantin, Geliebte von Rej Ben Ali)
Privatbank Capital Trust
Antony Brennan (leitender Angestellter, Liebhaber von Angela)
Ravi Pollard (Abteilung für Auslandsinvestitionen)
State Security Agency (»die Voliere«)
Oberst Kaiser Vula
Tyrone Mansoor (Agent, direkt Oberst Vula unterstellt)
Chereen Williams (Agentin)
Die Stimme (Leiterin einer verdeckten Operation)
Mart Velaze (Agent bei der verdeckten Operation der Stimme)
Die amerikanische Delegation
John Webster (Wirtschaftsberater für die amerikanische Handelsdelegation, CIA-Agent)
Pellie (örtlicher Agent, für die CIA arbeitend)
Weitere Personen
Sipho Dube (Generaldirektor des Amts für öffentliche Bauarbeiten)
Janet (eine Obdachlose)
Andreas Hansen (ehemaliger Waffenhändler)
Aletta van Niekerk (Psychologin)
Teil eins Wunderland
Eins
Der Eingang zum Kaninchenbau lief erst geradeaus, wie ein Tunnel, und ging dann plötzlich abwärts …
Alice’s Abenteuer im Wunderland(Lewis Carroll, aus dem Englischen von Antonie Zimmermann)
Samstag, 27. August 2016. Da ist dieser Typ in Kapstadt auf einem Craft-Beer-Festival. Gönnt sich ein verlängertes Wochenende. Ist von Joburg hierhergekommen, um sich einmal ganz und gar echtem Ale zu widmen. Hellem Ale, bernsteinfarbenem, mildem, bitterem, der Starkbier-Variante. Sagenhafte Richtungen, sagenhafte Geschmäcker. Eine Begegnung unter wahren Connaisseurs. In seinen Worten: Er amüsiert sich ganz köstlich. Eine komplette Auszeit von seinem sonst so hektisch durchgetakteten Leben.
Tag zwei. Der heutige Samstag. Ein herrlicher, strahlender Sonnenaufgang. Er ist früh auf den Beinen, um einen Spaziergang am Strand zu machen.
Nur eine milde Brise auf dem Meer lässt die Luft ein wenig salzig schmecken. In der Bucht ein paar Nebelbänke. Das Licht auf dem Muizenberg goldener Bernstein. Die Farbe eines India Pale Ale.
Er parkt sein Auto vor dem Tiger’s Milk und lässt seine Schuhe im Kofferraum. Geht barfuß durch den kühlen Sand. Das Lied in seinem Herzen ist durch und durch klischeehaft. Andererseits ist es so ein Cat-Stevens-Morgen.
Einige frühe Surfer weiter draußen. Die Wellen sind sanft, es herrscht Ebbe. Über ihm zanken sich Möwen. Wasserläufer rennen im Zickzack auf dem Sand dahin. Austernfischer stoßen schrille Schreie aus.
Er schlendert über den feuchten Sand, weg vom Berg. Vor ihm scheint der Strand endlos zu sein und in den Dunstschleiern zu verschwinden. Manchmal sieht er in der Ferne zwei weitere Spaziergänger.
Die Sorte Morgen, die einen begreifen lässt, dass Kapstadt ein Paradies ist. Und an dem man sich fragt, warum man immer noch in einem Vorort von Joburg wohnt. So angenehm Saxonwold sein mag. Man könnte hier leben und so etwas jedes Wochenende machen.
Er watet durch den Vlei-Ausläufer. Ein steter Fluss ins Meer. Elritzen tummeln sich im flachen Wasser. Der Nebel am Strand wird dichter, um sich dann wieder aufzulösen. Zwischen dem Weiß blinken Inseln aus Licht. Es fühlt sich an wie der erste Morgen. Je. In der Ferne scheint das Paar manchmal näher, manchmal weiter weg zu sein. Ihre Spuren im Sand.
O Mann, es ist unglaublich schön. Relativiert alles. Lässt die eigenen Probleme klar werden.
Er ruft seine Frau an. Weckt sie damit auf.
»Es ist halb sieben, Rick«, erklärt sie, hörbar gähnend.
Er stellt sie sich in ihrem verdunkelten Schlafzimmer vor. »Ganz kurz, Ange. Ich wollte nur sagen, du hättest mitkommen sollen. Dieser Ort ist wirklich magisch. Wir sollten hier was kaufen. Dich zu deinen Wurzeln zurückführen. Das würde uns guttun.«
»Schon so früh wach?«
»Ich laufe am Strand entlang. Da hat man Zeit zum Nachdenken.«
»Du wolltest mal abschalten.«
»Klar, klar. Tue ich ja auch.«
»Klingt aber nicht so. Wenn du das alles sagst, dann denkst du doch an Rej, oder?«
»Tue ich. Es funktioniert nicht, Ange. Das weißt du. Ich weiß es. Er weiß es. Er stört den Betrieb. Wir verlieren Kunden. Verlieren Projekte.«
»Wenn du wieder hier bist. Dann reden wir. Okay? Nicht jetzt. Ich schlafe noch halb. Und du bist irgendwo an einem Strand. Nicht jetzt. Das kann warten.«
»Ich meine es ernst. Der Typ stellt eine Bedrohung dar.«
»Der Typ ist mein Bruder.«
»Das ändert nichts. Wir sind am Bluten. Er könnte uns in den Abgrund reißen.« Auf einmal bemerkt er Gestalten, die aus den Dünen kommen. Etwa zweihundert Meter vor ihm.
»Ich höre, was du sagst, aber ich packe diese Unterhaltung gerade nicht. Wir sprechen ein andermal weiter. Am Sonntag, wenn du nach Hause kommst.«
Zwei Männer rennen. Es sind keine Läufer. Keine Jogger. Sie nähern sich dem Paar. Schleudern es zu Boden.
»He! Was zum Teufel!«
»Entschuldige, was hast du gesagt?«
»Muss aufhören.«
Er legt auf. Steckt sein Handy ein. Beginnt zu rennen. Zu rasen. Er ist fit. In seinem Büro gibt es ein voll ausgestattetes Fitnessstudio: mit Heimtrainern, Laufbändern, Rudergeräten, Hantelbänken. Er trainiert dort jeden Tag eine Stunde. Jeden Tag.
Aus dem Augenwinkel sieht er links einen weiteren Mann auftauchen, der langsam schärfer wird. Rick richtet den Blick auf den Überfall. Bemerkt gezückte Messer.
Die Männer brüllen: »Los, los, los. Djy, djy. Jou ma’s se poes. Djy naais.«
Die Frau weint.
Der Mann sagt: »Bitte. Bitte. Sie können alles nehmen, was wir haben.«
In seinem ausländischen, besonders englischen Englisch.
Rick ist fast dort. Dreißig Meter. Zwanzig Meter. Ruft: »Lasst sie in Ruhe, ihr Dreckskerle, verpisst euch!« Rast auf den kleineren Mann zu.
Aber er ist kein Straßenkämpfer. Im Grunde gar kein Kämpfer. Er weiß nichts von der Gewandtheit eines Messerstechers. Dem Schwung. Dem schnellen Satz, dem Zustoßen, dem Drehen, dem Herausziehen. Er spürt nicht mal, wie das Messer in ihn dringt. Der Kleine tänzelt auf den Zehenspitzen rückwärts.
»Und – du Volltrottel? Wer ist hier der Volltrottel?«
Rick hält inne. Das Messer ist einen Stich von seinem Bauch entfernt.
»Lasst sie. Lasst sie um Himmels willen in Ruhe.« Das Heranrennen lässt ihn keuchen, das Adrenalin in seinen Adern verlangsamt für ihn die ganze Szene. Dort ist die Frau, mit zerfetzten Kleidern. Ihr Mann liegt auf dem Bauch, das Gesicht seitlich im Sand. Der kleine Kerl vor ihm hat sich halb hingehockt, Messer gezückt. Der andere drückt mit seinem Fuß auf den Rücken des Liegenden. Er grinst ihn an. Zeigt auf ihn. Der dritte Mann erscheint rechts oben in seinem Augenwinkel. Verschwommen.
Dann spürt er den Schmerz in seinem Bauch. Schaut an sich hinab und sieht den Blutfleck, der sich auf seinem T-Shirt ausbreitet. In diesem Moment des Abgelenktseins stürzt sich der Messerstecher wieder auf ihn. Er schlägt um sich, will den erneuten Stich abwehren. Die Klinge schneidet in seine Hand, seinen Arm.
Jetzt steht er regungslos da. Blut auf seinem Bauch. Blut tropft von seinen Fingern.
Er hört, wie die Frau fleht, dass sie einfach die Handys und das Geld nehmen sollen. Er sieht, wie der Mann mit dem Messer vor ihm hin und her tänzelt. Der lachende Typ wirkt angespannt. Richtet den Blick auf jemanden, der sich nun nähert.
Der ruft etwas. Befiehlt den Räubern zu verschwinden.
Und das tun sie auch. Weichen zurück. Fliehen.
Er hört, wie die Frau sagt: »Sie sind verletzt. Sie bluten.«
Den Schuss hört er nicht.
Ruhe in Frieden, Richard Khabane Thulo, genannt Rick.
Achtzehn Monate später ist der Mord noch immer ungelöst.
Die Akte liegt auf dem Boden eines Büros des Polizeireviers am Caledon Square. Steckt in einem hüfthohen Stapel, der sich in einer Ecke befindet. Silberfischchen durchwandern die Papiere.
Angela, seine Frau, heuerte sofort einen Privatdetektiv an. Einen Kerl namens Fish Pescado. Der Mann lebt vor Ort, kennt die Gegend und den Strand. Erklärte ihr, dass dieser Abschnitt für Überfälle bekannt sei. Ziemlich einsam. Räuber würden gemütlich in den Dünen warten und sich ihre Opfer gezielt aussuchen. Er fragte zuerst seine Polizeikontakte, kam aber nicht weiter. Der Tatort war verwirrend. Chaotisch. Der Sand zu trocken für Spuren. Außerdem wurden keine Aufnahmen gemacht, ehe die Flut alles wegwusch. Es gab nur kryptische Notizen in einigen Büchlein der diensthabenden Polizeibeamten. Protokolliert wurde es als Überfall mit Todesfolge. Keine Aussagen von den Touristen. Keine Kontaktdaten. Fish Pescado hatte von den ermittelnden Polizisten nichts anderes erwartet.
Er forschte nach und fand die Touristen. Oder zumindest entdeckte er, wo sie untergebracht gewesen waren. Hatten in einer Ferienwohnung in Muizenberg gewohnt, ihre verbleibenden zwei Wochen nach dem Überfall sofort abgebrochen und waren noch am selben Abend heimgeflogen.
»Echt eine Superwerbung«, hatte Fish Pescado zu seiner Herzensdame Vicki Kahn gemeint. Vicki Kahn, Agentin der State Security Agency. »Macht Kapstadt zu einem wirklich begehrenswerten Reiseziel. Wir sollten dringend etwas dagegen unternehmen.«
»Ach ja, und was, Machomann?«, hatte sie belustigt und mit funkelnden Augen gefragt.
»Uns wehren. Warum auch nicht?«
Dabei hatten sie es zu dem Zeitpunkt belassen. Das Leben war, na ja, eben hektisch.
Fish bekam die Kontaktdaten der Touristen heraus. Er skypte ausführlich mit ihnen, was aber letztlich keine neuen Erkenntnisse brachte.
»Mein Gott, ich hätte vergewaltigt werden können«, sagte die Frau. »Wenn dieser Mann nicht gekommen wäre.«
»Wir verdanken ihm unser Leben«, meinte der Ehemann. »Er ist ein Held.«
Beide gaben ihm unterschiedliche Personenbeschreibungen. Das einzige Gemeinsame: die braune Haut des Killers.
»Also braun gebrannt?«
»Nein, coloured, wie Sie das, glaube ich, nennen.«
All das wurde Witwe Angela mitgeteilt, als Fish in Johannesburg seinen ersten Bericht ablieferte. Führte bei ihr zu einem Zusammenbruch. Nachdem Fish ihr ein Glas Wasser gebracht hatte, fuhr er fort: »Ich nehme an, dass es so abgelaufen ist: Der Mörder taucht plötzlich aus dem Nichts auf. Er scheint nicht Teil des Überfalls gewesen zu sein. Laut dem Ehepaar kam er erst später dazu. Hat den beiden Typen zugerufen, sie sollen verschwinden. Dann …« Fish hält inne. Fährt fort: »Dann erschießt er Ihren Mann und verschwindet. Total seltsam. Das Ganze klingt völlig unlogisch.«
Keine sehr hilfreiche Bemerkung. Räumt er selbst ein.
Etwa so hilfreich wie die Polizei. Die erklärte Angela: »Das ist eine gefährliche Gegend. An dem Strand gibt es ständig Überfälle.«
Das löste bei Angela wieder Wut und Trauer aus. »Und was tun Sie dagegen?«
Die Polizisten hatten ihre Blicke gesenkt und mit den Kugelschreibern geklickt.
»So sind sie, die Cops«, meinte Fish.
Die Autopsie stellte nicht-tödliche Messerstiche fest – einer in den Unterbauch ohne Organschäden, der andere in die Hand und den Arm, mit schweren Muskelverletzungen. Der tödliche Schuss: eine Kugel im Kopf. Eingedrungen durch die linke Schläfe. Kleines Kaliber, .22, keine besondere Munition. Die Forensiker nahmen an, dass aufgrund der abnehmenden Geschwindigkeit der Schuss aus etwa drei Metern Entfernung abgegeben wurde.
Fish dachte: Charakteristisch für einen Auftragsmörder. Sprach seine Theorie Vicki gegenüber an.
»Ich finde, es ist so professionell«, sagte er zu ihr an einem Freitagnachmittag bei einem Ale im Tiger’s Milk. Fish war gerade vom Surfen in der Muizenberg-Ecke gekommen, während sich Vicki ein Wochenende von der State Security freinahm. »Diese Professionalität weist eindeutig auf einen Killer hin, der extra anreist.«
»Könnte sein.«
»Ich würde darauf wetten, dass das niemand vor Ort war.«
»Und woher nimmst du diese Gewissheit?«
»Von dem einen Schuss. Von der Tatsache, dass er eine 22er benutzt hat. Das ist auf keinen Fall typisch für die Gegend hier. Bei einem heimischen Killer wäre das eine Neun-Millimeter-Automatik gewesen.« Wobei er zugeben musste, dass die Einheimischen besser wurden, vor allem im High-End-Segment. Der Polizei zufolge gab es nach den Morden an einem Taxiboss oder einem Politiker am Tatort für die Spurensicherung nichts zu finden. »Dir«, meinte Fish, »muss ich das natürlich nicht sagen.« Er lächelte Vicki Kahn an. Die ihn mit hochgezogener Augenbraue betrachtete.
»Was hat der Mann gemacht?«
»In puncto Beruf?«
»Geschäftsführer und technischer Berater einer großen Joburger Firma namens Amalfi Civils. In Großbritannien geboren und aufgewachsen. Die Eltern waren während der Apartheid im Exil. Er hat an vielen Projekten in Krisengebieten gearbeitet: Angola, Irak, Afghanistan. Und in Fantasiestaaten wie Dubai oder Katar. 1994 kam er zurück, um am Aufbau des neuen Staates mitzuwirken.«
»Er hätte sich also überall Feinde machen können.«
»Genau, das denke ich auch.«
»Hast du mit deiner Klientin darüber gesprochen?«
»Hab es versucht. Aber sie ist in Trauer und kann nicht. Meinte, ich soll mit ihrem Bruder in der Kapstädter Niederlassung reden.«
»Und?«
»Und nichts. Ich habe ihn gefragt, ob es irgendetwas mit dem Geschäft zu tun haben könnte. Vielleicht ein Konkurrent, ein Wettstreit um einen Auftrag. Antwort war bloß ein Kopfschütteln. Seltsamer Typ. Kühl. Knapp. Hat Bügelfalten in seinen Hemdsärmeln. Du kennst diese Sorte verächtlicher Herablassung. So nach der Art: Für wen hältst du dich, dass du bei uns herumschnüffelst. Absolut nicht hilfreich. Während unseres Gesprächs ließ er mich die ganze Zeit stehen und hat nicht mal die Tür zu seinem Büro geschlossen. Ganz einen auf lässig gemacht. Seiner Meinung nach war der Mord nur das Ergebnis eines willkürlichen Gewaltakts.«
»Hast du ihm gesagt, was du darüber denkst?«
»Hab ich. Seine Reaktion war Schulterzucken und Stirnrunzeln. Interessanterweise hat der Typ übrigens vor etwa zehn Jahren seinen Namen geändert, von Amalfi zu Rej Ben Ali.«
»Er ist Muslim geworden?«
»Offenbar.«
Alles in allem fand Fish, dass es keinen Grund für den Mord an dem Mann zu geben schien. Er flog zur Beerdigung nach Johannesburg, wo er hörte, der Tote sei liebenswert, mitfühlend und kollegial gewesen. Hatte Sinn für Humor. Zeichnete sich durch Großzügigkeit aus. Ein ehrenwerter Bürger. Ein wichtiger Player im Technikbereich. Ein angesehener Geschäftsmann. Zahlte seine Steuern. Spendete für Wohlfahrtsverbände. Hatte keine Affären. Liebte seine Frau. Und liebte das Bierbrauen, bevorzugt India Pale Ale. Mit einer tiefen Bernsteinfarbe, vollmundig, und einem Geschmack, der noch lange im Mund zurückblieb. Angela gab Fish eine Flasche mit. Fish fand, dass Rick problemlos auch ins Biergeschäft hätte einsteigen können. Er gab Ricks Indian Pale eine hohe Bewertung, acht Komma neun von zehn Punkten. Fish war selbst ein India-Pale-Ale-Mann. Da kannte er sich aus.
In den vergangenen achtzehn Monaten hat Angela emotional schwere Zeiten durchlebt. Ein Mord ist nichts, was man ohne Weiteres wegschiebt. Ganz im Gegenteil. Um Amalfis Kunden und Angestellten willen riss sie sich zusammen. Ließ sich, wenn nötig, nichts anmerken. Doch sie kann ihr letztes Gespräch nicht vergessen: »He! Was zum Teufel! Muss aufhören!« So typisch Rick. Immer schnell dabei gewesen, wenn es ums Helfen ging, vor allem jenen, die in Schwierigkeiten steckten.
Angela hat lange Sitzungen mit dem Firmenpsychologen. Das hilft ihr, die drei Stadien der Trauer zu verstehen: die Benommenheit mit dem automatischen Weiterfunktionieren, dann die totale Desorientierung.
»Ganz normal, Angela. Selbst wenn es Ihnen jetzt schlecht geht, ist das gesund.«
»Ich fühl mich nicht gesund, verdammt. Ich bin wütend, aufgebracht.«
Gefolgt von Scham. Sie ertappt sich sogar dabei, sich für ihre Schuldgefühle zu entschuldigen. Redet laut mit ihm. »Ich meine das nicht so, Rick. Es tut mir leid. Ich habe nur das Gefühl, als ob du hier wärst. Hier bei mir im Haus. Ich kann dich hören.« Dann lautes Wehklagen. »Bitte, komm zurück.«
Was nicht passieren wird. Das weiß sie.
Der Psychologe führt sie auf das Dach der Firma. An einem klaren Tag kann man hier über Sandton bis zu den Magaliesbergen blicken. Es ist ein klarer Tag.
»Das wird zwar nicht helfen, Angela, aber ich will es trotzdem sagen. Was Sie gerade durchleben, ist ganz normal. Und ich rate Ihnen, für eine Weile keine lebensverändernden Entscheidungen zu treffen.«
Angela sieht zu den fernen Bergen hinüber. Überlegt.
Das Gleiche sagt auch ihr Coach. »Sie haben gute Leute in Ihrem Management. Sie haben die Gesellschafter hinter sich. Bleiben Sie dran.«
Das einzige Problem: Der Umsatz hat nachgelassen. Und damit auch der Gewinn. Okay, gerade gibt es eine Rezession. Außerdem ist keiner bereit zu investieren. Weder aus dem Inland noch aus dem Ausland. Alle halten ihr Geld fest. Schieben es auf die toxische politische Lage. Rick hätte mehr internationale Aufträge an Land gezogen.
»Der globale Markt, Ange«, hatte er immer erklärt. »Dieses Land ist zu klein. Wir müssen mit den Großen spielen.«
Sie hört es ihn noch sagen. Was Tränen in ihr aufsteigen lässt. Manchmal gibt es Tage, an denen sie ständig weinen möchte. Sie hat keine Ahnung, wie sie sich zurechtfinden soll. Ihre Trauer ist so stark, dass sie ihr das Herz brechen könnte. Doch eines Tages merkt sie, dass weniger Tränen, weniger Gedanken an Rick kommen. Mehr Konzentration auf die Arbeit.
»Das dritte Stadium«, erklärt ihr der Psychologe. »Die Phase der Reorganisation. Sie fängt gewöhnlich so nach achtzehn, neunzehn Monaten an. Dort befinden Sie sich jetzt. Es wird gut werden.«
»Unser Mädchen ist zurück«, sagt ihr Coach. Hört sich ihre Businesspläne an. Aggressiveres Branding. Die Konkurrenz muss unterboten, andere Märkte erkundet werden. Er meint: »Wenn Sie irgendwelche wichtigen Entscheidungen treffen wollen, nur zu.«
Die ganze Zeit hindurch hat ihr Bruder Rej sie unterstützt. Wenn er in Kapstadt ist, skypen sie zweimal am Tag. Er verbringt mehr Zeit in Jozi. Vielleicht hatte Rick ihn doch falsch eingeschätzt. Rej, ihre rechte Hand, leitet die Firma, vertritt sie, wenn es sein muss. Was so weit geht, dass Angela denkt: Habe ich das entschieden? Es betrifft einen kleinen Kostenvoranschlag für die Regierung, um eine Landstraße zu verbessern. Nichts, was sie normalerweise machen. Es käme zwar Geld herein, aber kein echter Gewinn.
»Was soll eigentlich dieser Straßenauftrag?«, fragt sie Rej an einem Freitag kurz vor einer Managementsitzung.
»Ist im Grunde ein Gefallen«, erwidert er. »Ein Lockvogel. Etwas anderes liegt da im Busch. Was Großes. Dafür mussten wir uns ins Spiel bringen.«
»Kannst du mir davon erzählen? So was solltest du mir erzählen.«
Ein rätselhaftes Lächeln. »Freut mich, dass du das sagst. Es ist Zeit, dass wir reden.«
»O ja.« Angela merkt, wie sich ihr Magen verkrampft. Denkt an Ricks Warnung.
Worüber Rej sprechen will, ist ein Megaauftrag.
Wortwörtlich aus heiterem Himmel klingelt an einem herrlichen Kapstädter Morgen sein Handy. Rej hat sich in seinem Kippstuhl zurückgelehnt und bewundert die Aussicht: die Hafenanlagen, die Bucht, die fernen Berge. Alles glitzert im Sonnenlicht. Er kämpft dagegen an, die Füße auf den Tisch zu legen. Überlässt sich der Vision, Herr dieses Reichs zu sein. Er hat das Gefühl, Amalfi Civils gehöre ihm.
Sein Handy klingelt. Ein Mann mit einem amerikanischen Akzent meldet sich. Rej versteht seinen Namen nicht. Hört: »Ich arbeite für das amerikanische Ministerium für internationale Zusammenarbeit. Ich berate den Handelsattaché hier im Konsulat. Wir möchten Ihnen ein Angebot machen, das für beide Seiten attraktiv sein könnte. Ich will ganz offen zu Ihnen sein, Mr. Ben Ali: Wir haben uns über Amalfi Civils erkundigt, und was wir erfahren haben, gefällt uns. Ihre bisherigen Projekte. Nicht nur in Südafrika, sondern auch auf dem gesamten Kontinent. International. Vor allem sehen wir aber eine Gelegenheit, in diesem Land Ihrer Regierung dabei behilflich zu sein, das zu richten, was im Argen liegt. Wir sehen eine Chance, die den Bürgern Ihres Landes zugutekommen kann. Ich rede von erhöhter Produktivität und wachsendem Wohlstand. Mehr Arbeitsplätze. Bessere Gesundheit. Wir sollten uns treffen, Sie und ich.«
»Wie, sagten Sie, war Ihr Name?«, will Rej wissen.
»John Webster.«
»Und bei diesem für beide Seiten attraktiven Angebot handelt es sich um welches Gebiet, Mr. Webster?«
»Städtebaulich. Es geht um große bautechnische Projekte zur Trinkwasserführung und Stromversorgung. Vorrangig. Dort erkennen wir Bedürfnisse. Ich bin mir sicher, dass Sie das angesichts der Unruhen in letzter Zeit auch so sehen. Wie nennt man das noch mal? Dienstleistungsproteste?«
»Ich verstehe«, erwidert Rej. »Auf diesen technischen Gebieten haben wir große Erfahrung.«
»Das haben Sie in der Tat, Sir. Wie ich bereits sagte, Mr. Ben Ali, haben wir uns Ihre Firma sehr sorgfältig angeschaut. Einen Moment, man teilt mir gerade etwas mit … Sir, ich weiß, dass es etwas spät sein mag, aber wir möchten Ihnen dennoch unser aufrichtiges Beileid zum Tode von Rick Thulo aussprechen. So ein tragischer, unnötiger Todesfall. Er war ein großartiger Mann. Ein großer Ingenieur, ein großer Geschichtenerzähler. Ich habe ihn vor vielen Jahren in Angola kennengelernt. Ein Mann, den man sofort ins Herz schloss. Direkt. Ohne Bullshit. Sein Ethos zeichnet unseren Recherchen nach noch immer Ihre Firma aus. Darf ich ein Treffen vorschlagen, damit wir Weiteres genauer besprechen können?«
Rej ist zwiegespalten. Er ärgert sich über die Erwähnung von Rick Thulo. Seiner Meinung nach zeichnete sich Rick Thulo vor allem durch Selbstüberhöhung aus. Aber wie kann man ein Angebot der Amerikaner ablehnen. Das geht nicht. Amerikaner bedeuten Geld. Und für Geld vergisst er auch die Ansichten dieses Mannes über Rick Thulo.
Er tut es, auch wenn er sich professionell distanziert gibt. Sagt: »Das können wir gerne tun.«
Sie vereinbaren, sich um siebzehn Uhr am selben Tag in der Bar One&Only zu treffen. John Webster hat diesen Ort vorgeschlagen. Rej muss es dem Typen lassen: Er scheint sich auszukennen.
Um Viertel vor sitzt Rej an einem Tisch in der Lounge und bestellt ein Bier. Er ist absichtlich früher da, um sehen zu können, wie John Webster eintritt. Will im Vorteil sein. Im Vorteil, mit ansehen zu können, wie der andere auf ihn zukommt.
Aber so läuft es nicht. Ein paar Minuten nach fünf denkt Rej: respektlos. Der Mann will zeigen, wer der Boss ist. Seine amerikanischen Muskeln spielen lassen. Vielleicht sollte er gehen. Trinkt sogar sein Bier aus.
Da spürt er eine Hand auf seiner Schulter. Hört eine fröhliche Stimme: »Hey, Mr. Ben Ali! Sie haben schon ohne mich angefangen.« Ein fester Händedruck. Ein Lächeln mit makellosen Hollywood-Zähnen. Ruhige blaue Augen. Blickt auf Rej herab, der sich in einer seltsamen Position befindet: halb erhoben, sich mit den Oberschenkeln haltend. Als würde er über seinem Stuhl balancieren.
»Setzen Sie sich, setzen Sie sich.« John Webster lässt seine Hand los. »Was trinken Sie?« Schaut sich um. Hebt eine Hand. »Kellner. Noch zweimal das Gleiche.« Er zeigt dabei auf Rejs leeres Glas. Die beiden Männer sitzen nun fast Seite an Seite.
Rej denkt: Und das ist ein Wirtschaftsberater? Sieht eher wie ein Fitnesstrainer aus. Der Typ hat einen Teint, zwischen seine sandfarbenen Haare mischen sich stahlgraue Strähnen. Das Hemd unter einem Blazer steht am Kragen offen. Marineblaue, makellos gebügelte Hose. Loafers. Seinen Bewegungen nach gut trainiert. Wahrscheinlich in den Fünfzigern. Umgänglich. Beginnt die Unterhaltung mit einem ausführlichen Lob des Hotels, dem fantastischen Blick zum Berg hinüber. Dass er den jungen Angestellten des Konsulats gerne diesen Platz zeigt, weil sie sich hier mehr zu Hause fühlen als im Mount Nelson. »Es sei denn, man steht auf Koloniales.«
Das Bier wird gebracht. Sie stoßen an, prosten sich zu.
John Webster sagt: »Mr. Ben Ali …«
»Rej«, unterbricht ihn Rej.
»Rej«, wiederholt John Webster. »Wir sollten vermutlich Ihre Schwester mit dabeihaben …«
»Das geht schon in Ordnung«, meint Rej. »Sie arbeitet in unserem Johannesburger Büro. Außerdem kümmert sie sich mehr um die praktischen Details unserer augenblicklichen Aufträge. Mein Bereich ist es, mich um neue Projekte zu kümmern. Wir tauschen uns sowieso die ganze Zeit über aus.«
»Es muss schwer für sie gewesen sein, über den Tod ihres Mannes hinwegzukommen.«
»Das war es. Sie hat sehr gelitten.«
»Verständlicherweise. Ich habe noch nie jemanden Nahestehenden verloren. Außer meine Eltern. Aber das erwartet man. Ansonsten habe ich keine nennenswerte Familie. Vor Jahren geschieden, keine Kinder. Sind Sie verheiratet, Rej?«
»Ich bin in einer Beziehung«, antwortet Rej.
»Ja, von denen habe ich auch schon einige hinter mir. Auf die Frauen …« Hebt sein Glas. »… höllisch mit ihnen, höllisch ohne sie.« Sie stoßen miteinander an.
Dann beugt sich John Webster vor und erklärt: »Also, der Plan. Wir vereinen unsere Ressourcen mit Ihrer Ortsexpertise. Es geht konkret um die Investition in ein Projekt mit echter Dynamik.«
Was Angela nicht gerne hören wird, wie Rej aus Erfahrung weiß.
Zu Rej gibt es Folgendes zu erzählen: Er hieß ursprünglich Reginald Amalfi. Sollte in die Fußstapfen seines alten Herrn treten. Uniabschluss in Ingenieurswesen an der Universität von Witwatersrand, dann Arbeit für die Firma seines Vaters. War davon ausgegangen, die Geschäfte eines Tages zu übernehmen, wenn sein alter Mann das Rentenalter erreichte. Nur dass der auf einmal Rick Thulo den Vorzug gab. Der alte Mann konnte in dieser Hinsicht ein echtes Arschloch sein.
Zehn Jahre zuvor trat Rej zum muslimischen Glauben über. Sein voller Name lautet seitdem Rejab Ben Ali. Hatte mit seiner damaligen Freundin Nazeema zu tun. Außerdem mit dem Reisebüro ihres Vaters, Eastern Destinations, amtlich eingetragen in Dubai.
Rej begeisterte sich für diese neue Religion, als hätte er sein Leben lang darauf gewartet. Bis zu seiner Konvertierung war er katholisch gewesen. Vielleicht hatte er also tatsächlich so einen Wechsel herbeigesehnt. Er wurde rasch ausgesprochen fromm. Es wurde von Hochzeit gesprochen. Dann zahlte er Nazeemas Vater aus. Die Beziehung zu Nazeema zerbrach. Verließ Johannesburg, ging nach Kapstadt. Eastern Destinations fand einen Markt in dieser südafrikanischen Hauptstadt des Islam. Über dem Reisebüro eröffnete Rej eine Niederlassung von Amalfi Civils. Was ganz neue Aufträge einbrachte. Hatte eine Frau nach der nächsten, führte ein Aufreißerleben. Dabei wurde Rejab zu Rej verkürzt. Nur einen Buchstaben anders als sein ursprünglicher Name Reg. Er ist Angelas älterer Bruder.
Seit Ricks Tod hielt sich Rej mehr in Joburg auf als in Kapstadt.
»Ich bin für dich da, Angela.«
Angela ist sich dessen zwar nicht sicher, aber sie konnte wegen ihrer Trauer nicht klar denken. Damals.
Es gibt noch einen weiteren Bruder namens Ferdi, Angelas Zwilling. Bipolar. Er leidet zudem unter einer seltenen psychischen Störung namens Lykanthropie, er wechselt dabei zwischen Mensch und Wolf. Könnte durch seine Bipolarität ausgelöst worden sein. Wie auch immer. Angelas Einschätzung nach sind seine Anfälle durch die richtige Medikamentierung unter Kontrolle zu halten. Sie hängt an Ferdi. Sieht ihn allerdings nicht allzu häufig. Sie mochten einmal vielleicht den Mutterleib geteilt haben, seitdem aber nicht mehr viel anderes. Polare Gegensätze, scherzt Ferdi. Er entwirft Filmkulissen und versteht im Vergleich zu seiner Schwester nichts von Geld.
»Das brauchst du auch nicht«, meint Rej. »Ich habe das alles im Griff.« Ferdi wohnt in einem Gartenhaus auf seinem Kapstädter Grundstück.
Denn Ferdi hat Bedeutung. Laut Firmengründungsvertrag muss er den Jahresbericht von Amalfi Civils unterschreiben.
Nach dem Mord an Rick klingelte Ferdi an Angelas Haus in Saxonwold. Unangekündigt. Unerwartet. »Ich leide mit dir«, erklärte er seiner Zwillingsschwester.
Angela brach in Tränen aus. Ferdi konnte anstrengend sein. Wenn er einen Rückfall hätte, war sie sich nicht sicher, ob sie damit zurechtkommen würde.
Doch wie sich herausstellte, war Ferdi ein Geschenk der Götter. Er kümmerte sich um jegliche häusliche Probleme. Sprach sich mit dem Gärtner ab. Den Hausangestellten. Regelte nötige Reparaturen. Erledigte die Einkäufe. Kochte. Beschäftigte sich mit einem Kulissenentwurf.
Angela tat es gut, dass er zu Hause war, wenn sie heimkam. Sie lachten zusammen. Klagten zusammen. Vor allem klagten sie über Rej.
»Rej kann so intrigant sein. Er verheimlicht Sachen vor mir. ›Du hast schon genug zu tun, Angela.‹ Ist das zu fassen? Er lädt den Sekretär des Präsidenten in unseren Konferenzraum zum Mittagessen ein und gibt mir nicht Bescheid. Als ob ich ein Mittagessen nicht schaffen würde. Manchmal treibt er mich zur Weißglut.«
»Du solltest mal erleben, wie es ist, direkt neben ihm zu wohnen. Wenn ich abends ausgehe, will er wissen, wohin. Und wann ich zurückkomme. Sicher, er macht sich Sorgen. Aber das ist doch crazy. Würde ihm zutrauen, dass er auf meinem Handy einen Tracker installiert hat.«
»Glaubst du?« Angela runzelt die Stirn. Das schockiert sie. Andererseits hat Rick Rej nie über den Weg getraut. »Ich weiß, er ist dein Bruder, aber …«
Hat ihn »Ayatollah« genannt.
Achtzehn Monate später, wenige Minuten vor dem Meeting des Managements, meint Rej zu Angela: »Wir sollten umziehen und den Hauptsitz der Firma nach Kapstadt verlegen. Moms Familie stammt aus Kapstadt. Dort leben unsere Leute.«
Sie steht neben dem großen Tisch des Konferenzraums und blickt nicht einmal auf, während sie noch ein paar Dokumente prüft. »Bist du wahnsinnig? Kapstadt, verschlafener geht es nicht.«
Er wischt auf seinem Handy durch ein paar Fotos und zeigt ihr eines mit einer untergehenden Sonne. Sagt: »Das ist vom Wohnzimmer aus.«
Sie wirft kaum einen Blick darauf. »Schön.«
Rej bugsiert sie zum Fenster hinüber. Gegenüber stehen die Eindruck schindenden Riesenbauten der Rivonia Road. Glas, Stahl, Beton, nachempfundene dorische Säulen, gewaltige Eingänge. Die reichen Unternehmen. Zu denen sie gehören. In dieser Hinsicht kein Problem.
»Du trauerst«, fährt er fort. »Das wirkt sich auf unsere Firma aus. Schau dir nur an, was du trägst.«
Schwarz in Schwarz, wie das Angela immer tut. Der Look der erfolgreichen Businessfrau. Elegant, gepflegt, Respekt einflößend. Umwerfend – so nennen es die Männer (und Frauen), mit denen sie Geschäfte macht, auch gerne. Die rötlichen Hennahaare im italienischen Stil bilden zu dem Schwarz einen wunderbaren Kontrast.
Rej beugt sich zu ihr. »Wir sind nicht mehr am Ball.«
In gewisser Weise stimmt das. Das lässt sich in den Firmenberichten nachlesen. Angela legt die Papiere beiseite. »Und du meinst, ein Umzug würde daran etwas ändern?«
»Ja, das tue ich.«
»Wenn wir aus dem wirtschaftlichen Zentrum in ein Kaff ziehen, soll das gut fürs Geschäft sein? Wie soll das funktionieren?«
»Okay«, erwidert Rej. »Es liegt an dir. Du stehst in Ricks Schatten. Du musst hier raus. Du musst selbst die Zügel in die Hand nehmen.«
»Das tue ich bereits.«
»Ich meine, richtig die Zügel in die Hand nehmen. Komm nach Kapstadt und lerne dort ein paar Leute kennen. Vielleicht stellst du dann fest, dass doch nicht alle Geschäfte ausschließlich hier in Joburg abgewickelt werden können.« Der Raum beginnt sich mit den Vorstandsmitgliedern zu füllen. Rej nimmt sie am Arm und führt sie außer Hörweite. »Ich rede hier von großen Möglichkeiten. Von viel Asche.«
»Wie bitte? Und in Joburg soll es nicht mehr viel Geld geben?«
»Willst du die Bilanz wieder ändern?«
»Natürlich will ich das.«
»Dann tu mir den Gefallen. Das ist alles, worum ich dich bitte. Ein Besuch in Kapstadt. Ein paar Meetings, ein paar Abendessen.« Er hält die Aufnahme mit dem Sonnenuntergang hoch. »Die Immobilienmaklerin soll dich mal herumführen.«
Angela mustert das Gesicht ihres Bruders – die südländische Nase, der kurz geschnittene Bart, der sein Kinn markanter wirken lässt. Er umgibt seine Lippen und scheint beinahe makellos zu sein. In den braunen Augen ist Reg nicht mehr zu erkennen. Es ist Rejab, der sie durchdringend ansieht. Dieses Islamfieber. Etwas, das sie nicht zu begreifen vermag.
»Lass mich Termine für dich ausmachen.«
Er lässt nicht locker. Und er wird das nicht ad acta legen. »Für den Ayatollah«, meinte Ferdi eines Abends, »ist alles ein heiliger Krieg geworden.«
»Zwei Tage«, erwidert sie. »Höchstens.« Sie wendet sich ab und begrüßt die Anwesenden: »Guten Morgen zusammen. Wollen wir anfangen?«
Die Sache ist die, denkt Angela, als sie die vergangenen zweiundzwanzig Monate Revue passieren lässt: Es gibt nie nur einen Auslöser für ein Ereignis. Es gibt vielmehr stets verschiedene Impulsgeber. Nur ist es schwierig, diese im Nachhinein alle dingfest zu machen. Vielleicht scheint es nur so, als wäre der Mord an Rick ein wesentlicher Moment gewesen, obwohl er möglicherweise eine Folge war. Bloß die Wirkung einer ganz anderen Ursache.
Wie zum Beispiel das Bild des Sonnenuntergangs auf Rejs Handy. Ein kurzer Einblick und doch genug. Ein Impulsgeber.
Ein weiterer ist die Luxuswohnung an der Atlantikküste, vermutet sie. Okay, es sind fast zwei Jahre seit Ricks Tod vergangen, aber die Zeit spielt bei der Frage von Ursache und Wirkung immer eine Rolle. Wenn etwas Ausschlaggebendes geschieht, muss es nicht zwangsläufig zu einer sofortigen Folge kommen.
Zum Beispiel ihre Reaktion auf Atlantic Heights 6. In den Akten des exklusiven Immobilienmaklers mit 55 Millionen Rand verzeichnet. Von Angela vor einem Monat zu 41 Millionen Rand erworben. In US-Dollar sind das nach dem momentanen Wechselkurs 3,2 Millionen. Eine hübsche Summe selbst für den Villenstadtteil Clifton.
Nobeladresse.
In dem Wohnblock hat sie fünf Nachbarn: das Mitglied irgendeines europäischen Königshauses, einen Dotcom-Überlebenden, einen örtlichen Mittelsmann des Black Economic Empowerment, eine Treuhand-Tussi, die von einem Goldrauscherbe lebt, und den Vorstandsvorsitzenden einer Anlagenbank. Die ersten beiden sowie die Treuhand-Tussi sind Zugvögel. Steuermigranten. Die der Sonne hinterherziehen. Sie lassen ihre Autos – Infinitis, Ghiblis, S-Klasse – in einem bewachten Parkplatz am Flughafen. Irgendein schlauer Kerl führt dort ein Serviceunternehmen, das sich um diese wunderbaren Wagen kümmert, damit die Motoren nicht rosten oder die Reifen an Druck verlieren.
Es waren garantiert nicht die Nachbarn, die für Angela den Ausschlag gaben. Oder die Adresse. Nicht einmal der Ausblick mit seinem grenzenlosen Meer und seinem grenzenlosen Himmel. Atemberaubend. Vor allem die Sonnenuntergänge. Jeden Abend sinkt die rote Kugel in den Ozean. Ein rosafarbener Schimmer in jedem Raum. Was könnte man daran auszusetzen haben?
Nein, das war es nicht.
Es war eine Mischung verschiedener Dinge.
Rick hatte an jenem schicksalhaften Morgen zu ihr gesagt: »Wir sollten hier was kaufen. Dich zu deinen Wurzeln zurückführen. Das würde uns guttun.« Sie konnte ihn noch hören. Dann ein Widerhall dieser Worte bei Rej. Vielleicht war das wirklich ihr Ort.
Und es war auch Ferdis stille Aussage: »Ich könnte dich besuchen, wenn du dort wärst. Es wird nicht besser mit mir, Ange. Inzwischen bin ich öfter krank als früher. Es macht mir Angst.«
Das hatte sie ins Herz getroffen. Wie er ihr nach dem Mord an Rick geholfen hatte. Einfach, indem er da war. Da, ohne sich ihr aufzudrängen. Und er fuhr wieder, als es ihr besser ging. Ihr gestörter Zwillingsbruder. Ihr vernachlässigter Zwillingsbruder. Ihr kranker Zwillingsbruder. Jetzt hatte sie die Möglichkeit, Dinge nachzuholen.
Eine Woche nach dem Meeting des Aufsichtsrats ist sie in Kapstadt. Trifft diesen Mann namens Antony. Antony ohne H, wie er ihr bei einer Cocktailparty erklärt, die Rej mit einigen Bankern organisiert hat.
Sie verlängert ihre Reise. Bleibt übers Wochenende. Antony führt sie zu einer Weinverkostung aus. Sie lässt sich treiben. Seit Ricks Tod zum ersten Mal. Antony ist umgänglich. Attraktiv. Lockerer Haarschnitt, American Style. Häufiges Lächeln. Filmstarzähne. Fester Händedruck. Trägt auch zu formellen Anlässen keine Krawatte, aber teure Anzüge und Schuhe von Martegani. In der Freizeit dafür stets Baumwollhosen, nie Jeans. Hemden mit offenen Kragen, niemals T-Shirts.
Er ist bei ihr, als sie am Sonntagnachmittag die Wohnung besichtigt.
»Was denken Sie, Antony?« Angela fragt sonst nicht nach der Meinung anderer.
Sie sind im Schlafzimmer. Die gleichen Panoramafenster wie im Wohnzimmer. Dasselbe Licht, das sich im Ozean widerspiegelt.
»Es gefällt mir«, sagt er. »Man hat das Gefühl, auf dem Meer zu sein.« Antony ist allerdings auch ein Segler. Hat schon zweimal Kapstadt–Rio hinter sich gebracht. Und war viermal knapp davor, den Governor’s Cup für die Strecke Simon’s Town bis St. Helena zu gewinnen. Die meisten Wochenenden verbringt er auf dem Wasser, außerdem jeden Mittwochnachmittag. Wahrscheinlich spürt er, dass sie gute Lust hast, die Wohnung zu nehmen.
Das stimmt auch. Angela gefällt es. Sie kann sich vorstellen, hier zu leben. Sie gibt es nur ungern zu: Vielleicht hat Rej ja recht. Keine Umsiedlung des Hauptsitzes hierher, das wäre zu aufwändig, zu ermüdend, aber Pendeln ist nicht mehr ausgeschlossen. Das würde sie schaffen. Am Montagmorgen rauf nach Joburg, am Donnerstagabend zurück. Lange Wochenenden mit Spaziergängen am Strand. Weinverkostungen. Wanderungen in den Bergen. In den Bistros sitzen. Der Kapstädter Lifestyle. Es könnte funktionieren.
»Ich überlege es mir«, erklärt Angela der Immobilienmaklerin.
»Selbstverständlich«, erwidert diese. »Möchten Sie sich noch andere Objekte ansehen? Vielleicht höher gelegene?«
»Nein, das reicht mir.« Angela schenkt ihr ein Das-war-es-Lächeln und nimmt ihre Visitenkarte entgegen.
Auf dem oberen Parkdeck schüttelt ihr die Maklerin die Hand und meint zum Schluss: »Natürlich ist der Preis verhandelbar.«
»Da bin ich mir sicher«, entgegnet Angela. »Ich habe festgestellt, dass heutzutage alles verhandelbar ist.« Diesmal kein Lächeln.
»Dem Verkäufer ist es wichtig, so schnell wie möglich zu desinvestieren. Sie wissen schon, all diese …« Die Maklerin wedelt vage mit der Hand durch die Luft. »… Probleme. Die Kriminalität. Er ist kaum mehr hier vor Ort.«
Im Auto meint Antony: »Wenn Sie ein Angebot machen, dann zehn Millionen Rand weniger.«
»Ich dachte zuerst einmal an fünf.«
»Zehn. Das ist übrigens ein Insidertipp.«
Angela lacht. »Aha. Und wie sieht es aus mit den Vorgaben für Banker, mit der Diskretion, auf die ihr alle doch so stolz seid?«
»Oh, die ist wichtig. Absolut. Totale Diskretion. Nur nicht bei Arschlöchern.«
Angela lacht erneut.
»Kennen Sie den Verkäufer?«
»Ich habe von ihm gehört.«
Sie fahren inzwischen die Victoria Road entlang, an den zahlreichen Apartmentblocks vorbei, zum Flughafen.
»Und? Raus damit.«
»Unterliegt der Diskretion.« Antony grinst sie breit an.
Angela schlägt ihn auf den Unterarm. Spielerisch. Es ist das erste Mal, dass sie aus sich herausgeht. Sie ist selbst fast schockiert. Denkt: He, Mädchen, wohin soll das hier führen?
Es soll ihr Leben in eine ganze neue Richtung führen.
Am darauf folgenden Donnerstag fliegt sie erneut nach Kapstadt. Nimmt ein Zimmer in einem schicken Hotel in der Kloof Street. Verbringt das Wochenende damit, an den Stränden entlangzulaufen, in die Berge zu gehen, Wein zu trinken. Mit Antony. Einmal fahren sie auch an der Atlantic-Heights-Wohnung vorbei.
»Schon entschieden?«, will Antony wissen.
»Ich überlege noch«, meint Angela.
»Kommen Sie nächstes Wochenende wieder. Dann nehme ich Sie auf eine Segeltour mit.«
Das tut sie. Am Samstagnachmittag segelt er mit ihr auf einer X-79 aus dem Yachtclub Royal Cape. Ein steifer Vierundzwanzig-Knoten-Nordwester fegt über die Wasseroberfläche. Genügend Schaukeln und Gischt, um den Puls hoch und das Adrenalin durch die Adern zu jagen. Genug Kippwinkel beim Wendemanöver, um die Segel nass zu bekommen, sowie genügend Schwung des Baums beim Kurswechsel, dass die Segel knarzen. Sie sieht Atlantic Heights vom Wasser aus. Und ist beeindruckt.
Am Sonntagabend fliegt sie nach Johannesburg zurück.
Am Montag macht sie ein Angebot von 40 Millionen Rand in bar für die Atlantic-Heights-Wohnung. Lockt mit der Aussicht auf sofortiges Geld. Kein Warten auf Kredite, Bonds, Genehmigungen durch Aufsichtsräte, Investitionen. Angela ist durch eine Versicherungsauszahlung in der Lage. Eine große. Anscheinend war nach Ricks Meinung der Tod immer nur um die nächste Ecke entfernt gewesen. Weshalb er sich für eine hohe Summe versichert hatte. Angela sollte nicht auf irgendetwas verzichten müssen. Nicht, dass das jemals wirklich Realität werden würde.
Drei Tage später ruft die Maklerin mit einem Angebot des Verkäufers an: 48 Millionen Rand.
Angela befindet sich gerade in ihrem Büro in der Rivonia Road und blickt auf das Säulengebäude gegenüber.
Antwortet der Maklerin: »Wie wäre es mit einundvierzig Millionen? Können Sie ihm das vorschlagen?«
»Kann ich.« Ihre Stimme klingt zögerlich. Widerstrebend. Angela kennt die Methode: zweifelnd klingen, um den Käufer zu einem höheren Angebot zu bringen. Wenn man an die Provision denkt, würde sie das Gleiche tun. Wieder die Stimme der Frau: »Ich bin mir nicht sicher, ob er darauf eingehen wird.«
»Versuchen Sie es trotzdem.«
Sie tut es. Der Käufer schlägt ein.
»Hab ja gesagt, dass er Dreck am Stecken hat«, meint Antony.
Einen Monat später ist Angela eingezogen. Nicht mit allem Drum und Dran, aber doch mit so viel, dass es sich nach Zuhause anfühlt. Bilder, Möbel, Teppiche, Klamotten. Sie kauft neue Küchenutensilien, Bettdecken und Kissen, Handtücher, einen Fernseher, eine Stereoanlage. Die Immobilie in Saxonwold behält sie, ist noch nicht bereit, sie ganz aufzugeben.
Aus dem tiefen Schlaf im Widerhall der Wellen tauchen die Gesichter geliebter Menschen auf. Sie schlummert wieder ein, während die Wellen heranrollen. Morgens wacht sie zu dem Geräusch von Rauschen und Strudeln auf. Auch während des Tages hört sie es zu seltsamen Zeiten.
»Fast so, als wäre ich auf einem dieser alten Schoner«, beschreibt sie es Antony nach ihrer ersten Nacht in der neuen Wohnung. »Beim Segeln. Du kennst doch diesen Song von Rod Stewart: ›to be free‹.«
Hat auch eine romantische Seite, die gute Angela. Für jemanden, der bisher nie an der Küste wohnte, kann es kaum exotischer werden.
»Danke, dass du die Wohnung gekauft hast«, sagt Ferdi. Als ob sie ihm einen Gefallen getan hätte. Sie umarmt ihn.
»Du wirst es nicht bereuen«, meint Rej. »Von hier stammt unsere Mutter. Wir gehören hierher.«
Angela hört die Anspannung in seiner Stimme. Ihren Vater erwähnt Rej nicht, seine italienische Herkunft.
»Willkommen am wunderschönen Kap.«
Ja, am wunderschönen Kap.
Nun gut.
Erster Auftritt.
Nehmen wir den Strand von Muizenberg, wo Rick sein grausames Ende fand.
Seitdem gab es an diesem Abschnitt viele weitere Angriffe. Sieben Vergewaltigungen. Fünfzehn Überfälle. Überfälle, die mit einer großen Brutalität einhergingen, mit Messerattacken und Schlägen.
Keine Verhaftungen. Die Polizei ist morgens und abends auf Patrouille. Die Beamten haben dabei nichts Verdächtiges gesehen. Von einer Festnahme ganz zu schweigen.
Die Polizisten sind den Anwohnern zufolge völlig untauglich. Werden in den sozialen Medien beschimpft. In der Presse kritisiert. Es gibt den Vorschlag, Drohnen einzusetzen. Private Sicherheitsfirmen. Nachbarschaftswachen. Verdeckte Ermittler. Typen von der Bürgerwehr.
Es bleibt bei Gerede.
Inzwischen ist es ein Samstagnachmittag Anfang Juni.
Zwei Gestalten am Strand. Die einzigen Menschen an diesem Abschnitt. Weit hinten, an Surfer’s Corner, spielen Kinder, beobachtet von ihren Eltern. Ein paar Surfer versuchen ihr Glück auf den schwachen Wellen. Doch das Paar hier ist allein. Sie halten Händchen. Ohne zu reden. Einfach nur glücklich, zusammen zu sein.
Wie gesagt – der Strand ist gefährlich. Die Anwohner mögen hier nicht mehr spazieren. Aber Touristen wissen nichts davon.
Es ist Ebbe, das Wasser weit draußen. Das Paar hinterlässt Fußabdrücke im nassen Sand. Die Frau geht auf der Landseite, in der Nähe der Dünen. Sie hat einen kleinen Rucksack. Die Art, wie ihn Touristen gerne benutzen. Der Mann hat seine Jeans über die Waden hochgerollt.
Ein Liebespaar, das den späten Nachmittag genießt. Sorglos. So glücklich wie am ersten Tag.
Aus den Dünen hinter ihnen laufen drei Männer heran. Rasch holen sie das Paar ein. Junge Männer. Mit rasierten Köpfen. In T-Shirts und engen Hosen. Einen irren Tik-Ausdruck in den Augen. Grinsende, bleckende Münder.
Die Frau spürt ihr Näherkommen und wirft einen Blick über die Schulter. Zuckt entsetzt zusammen. Rennt los. Zerrt ihren Geliebten mit sich. Er schaut auch nach hinten. Jetzt laufen beide, während sie das wahnsinnige Lachen der Verfolger im Rücken hören.
»Wartet, ihr Hübschen, wartet! He, ihr Hübschen, wir werden euch nichts tun.«
Das Paar ist fit. Sie lassen die drei hinter sich. Haben einen sicheren Vorsprung.
Bis.
Bis die Frau stürzt und den Mann mit sich zu Boden reißt. Sie liegen auf dem feuchten Sand. Die Kerle werden langsamer und beginnen zu schlendern. Sie treten zu ihnen, zwei mit Messern in der Hand.
»Seht ihr«, meint einer, »vor dem Schicksal kann man nicht weglaufen. What will be, will be – was?« Er hält einen Schritt vor dem Paar an, das ängstlich im Sand kauert. »Ihr müsst uns nur was geben. Du zuerst, Lady. Hübsche Lady mit den schönen Beinen.«
Die grinsenden Männer stehen da, warten.
Die Frau nimmt ihren Rucksack ab.
»Wir wollen mehr als das«, sagt der Anführer. »Wir wollen …«
Er beendet den Satz nicht. Starrt auf die Pistole in der Hand der Frau. Der Mann grinst ihn an.
Fok.
Vicki und Fish.
Die am Strand spazieren waren.
Vicki hatte Fish ihr Leben erklärt.
Dass sie normal leben wolle.
Wie sehr sie die Ausreden satthabe.
Wie wenig Lust sie noch auf eine dieser verdeckten Ermittlungen für die Voliere habe, sprich den Geheimdienst.
Wie sehr sie der Mord an Henry Davidson – ihrem Betreuer bei der Voliere – schockiert habe. Es habe ihr echte Angst eingejagt. Das könne eines Tages auch sie sein, die tot auf dem Boden in ihrer Wohnung liegen würde. Und wofür? Für Geheimnisse, die fünfzig Jahre später keine Bedeutung mehr hätten.
Es reiche ihr mit ihren Aufträgen an der vordersten Front. Genug von den Beschädigungen und Verletzungen bei der Ausübung ihrer Pflichten. Nachdem ihr Fuß jetzt nach den heftigen Verbrennungen während ihrer letzten Mission gut genug verheilt sei, wolle sie diesen ganzen Mist nicht mehr länger mitmachen.
Sie würde zu ihrer Arbeit als Rechtsanwältin zurückkehren.
Und sie würde wegen ihrer Spielsucht in eine Therapie gehen.
»Ich meine das ganz ernst.«
Sie wolle außerdem eine Weile zu Fish ziehen und von dort in die Stadt pendeln.
Die beiden würden normale Dinge tun: einkaufen, kochen, chillen, Serien gucken.
Ihre Wohnung am Wembley Square wolle sie aber nicht aufgeben. Das sei eine gute Investition. Außerdem könnten sie die Wohnung ja manchmal am Wochenende benutzen. Dann müssten sie nicht den ganzen Weg zurück nach Muizies fahren. Würden sich zum Beispiel im Labia einen Film anschauen und bräuchten sich dann keine Gedanken zu machen, wie viel sie danach trinken dürfen.
Außerdem. Ein großes Plus. Für Fish würde es einfach sein, die guten Surfstellen am Atlantik zu erreichen.
Und? Was hielt er von dem Ganzen?
Fish meint, es klinge gut. Er sagt, dass sie erst mal abwarten sollten, wie es sich entwickle. Vicki war eben Vicki. Und er zeigt sich begeistert.
»Das solltest du tun, Vics, das solltest du wirklich tun. Ich verstehe die Adrenalingeschichte, diese verdeckten Ermittlungen, die Glücksspiele. Aber jetzt ist es auch mal gut. Das könnte sonst dein Leben erheblich verkürzen.«
In diesem Moment kommen die drei Typen auf sie zugerannt. Und sie laufen los. Ohne das Ganze wirklich ernst zu nehmen. Vielmehr müssen sie lachen, weil diese drei von Tik vernebelten Goffels – Fishs Ausdruck – ihr Glück gerade bei ihnen versuchen.
»Wartet, ihr Hübschen, wartet! He, ihr Hübschen, wir werden euch nichts tun.«
Da habt ihr recht, denkt Fish. Denn ihr werdet uns gar nicht erst einholen.
Genau da stolpert Vicki. Und klammert sich an ihn. Und beide stürzen kopfüber in den Sand.
Nicht so gut.
Aber Vicki hat eine Pistole dabei. Ist also nicht das Ende der Welt.
Schließlich sind die Tik-Männer nur mit Messern bewaffnet. Und selbst wenn sie high scheinen, sind sie doch nicht lebensmüde genug, es mit einer Schusswaffe aufzunehmen. Vor allem nachdem dieses Paar nicht wie die üblichen Opfer panisch reagiert. Diese zwei stehen gleich wieder auf. Stehen mit leicht gespreizten Beinen da. Die Frau hält ihre kleine Waffe mit beiden Händen fest. Die Arme sind entspannt. Sie ist bereit abzufeuern.
Einer der Kerle sagt: »Okay, das sieht kwaai aus, Schwester. Okay, Süße. Wir sehen uns dann später mal.« Die drei weichen zurück, ehe sie davonjoggend zwischen den Sanddünen verschwinden.
»Verdammt«, sagt Vicki und lässt die Arme sinken.
»Das war krass«, meint Fish. »Ich glaube, ich brauche jetzt erst mal ein Ale.«
Zwanzig Minuten später sitzen sie im Tiger’s Milk am Fenster, mit dem Blick auf False Bay. Das Meer vor ihnen schimmert ebenso wie der Berggipfel. Lichter gehen allmählich entlang der Halbinsel an, die sich bis zu der Kralle von Cape Point erstreckt. Im Restaurant ist es laut, während es sich die Surfer bequem machen und die Razzler auf ein schnelles Bier mit Spareribs vorbeischauen. Im Hintergrund, zwischen dem Stimmengewirr, hört man Chris Rea über Daytona singen.
Fish und Vicki sind high vom Adrenalin. Vor ihr steht ein Glas Wein, vor ihm eines mit Ale.
»Wieso hattest du die Waffe dabei?«, will Fish wissen und blickt dabei Vicki an. Sie schaut ihn ebenfalls an.
»Wieso hattest du keine dabei?«, entgegnet sie. »In dieser Zeit. An solchen Orten.«
Er lacht. Sie ist erleichtert.
»Mann, Vics, das war, was man Glück nennt.«
»Nicht Glück – Vorsicht.« Vicki nippt an ihrem Cabernet Merlot. »Man kann nie wissen.«
»Wohl wahr. Wie die gerannt sind. Als könnten sie ihre Beine nicht koordinieren. Arschlöcher.« Fish trinkt einen Schluck Bier. Schneidet eine Grimasse. »Woher haben sie das denn?« Er wendet sich an die nigerianische Kellnerin, die gerade in der Nähe ist. Hält sein Glas hoch. »Was ist das für ein Zeug?«
»Devil’s Peak. Schmeckt’s nicht?«
»Devil’s Pisse. Es sollte Butcher Block sein. Das hattet ihr doch gestern noch.«
»Eingestellt«, meint die Kellnerin. »Tut mir leid.«
»Mir auch«, erwidert Fish. »Jetzt müssen wir einstellen hierherzukommen. Schau dir das an. Schau dir den Schaum an. Man könnte glauben, das ist ein verdammtes Lagerbier.«
»Entscheidung des Managers.« Die Kellnerin schenkt ihm ein schmallippiges Lächeln.
»Schon in Ordnung«, sagt Vicki. »Kein Grund, sich zu entschuldigen. Zumindest der Wein ist gut.«
»Willst du ein anderes? Amstel? Windhoek?«
»Noch schlimmer. Schmeckt nach Blech.«
»Er wird’s überleben«, sagt Vicki.
Die Kellnerin geht.
»Wie auch immer. Prost«, meint Fish. »Ein Minuspunkt für die Bösen.« Sie stoßen an. Trinken. Wieder schneidet er eine Grimasse. »Seltsam, dass es gerade dort passiert ist. Erinnerst du dich an den Fall, den ich vor zwei Jahren übernommen habe? Mit dem Oke, der an demselben Strand ermordet wurde?«
»Was war das noch mal?« Vicki schaut Fish an. Manchmal würde sie diesen Mann am liebsten auffressen.
»Rick Thulo, Boss von Amalfi Civils. Eine Technologiefirma. Er war mit der Tochter verheiratet.«
»Und?«
»Rick wurde hier am Strand ermordet. Er wollte einem Touristenpärchen helfen, das überfallen wurde. Ich weiß noch, dass ich es dir damals erzählt habe.«
Vicki nickt, während sie auf das dunkler werdende Meer hinausstarrt und sich fragt, was ohne die Pistole passiert wäre. Nichts, was sie sich vorstellen mag. Sagt: »Ich erinnere mich vage. Die Witwe hat dich damals beauftragt. Du warst der Meinung, dass es ein Killer gewesen ist.« Leert ihren Wein in zwei Schlucken.
»Stimmt. Das denke ich immer noch. Jedenfalls tauchte Ricks Name vor kurzem wieder auf. Mein Bankerfreund möchte einen Bericht über diese Familie. Kleine Welt, was? Aber genug – das ist langweilige Arbeit. Wie geht es deinem Fuß nach dem Spaziergang?«
»War kein Problem.«
»Willst du noch ein Glas?«
Vicki schüttelt den Kopf. Sie streckt die Hand aus und streichelt ihm mit funkelnden Augen über den Arm. Dann schiebt sie den Stuhl zurück und flüstert ihm ins Ohr: »Nein. Lass uns gehen. Trink aus, Blondie, ich habe etwas, was du willst.«
Wovon sie Fish an diesem Nachmittag der besten Absichten nichts erzählt hat, ist ihr Verdacht, dass sie beschattet wird.
Zwei
Ihr wär’t derjenige, der ihn, Es und uns hindertet.
Alice’s Abenteuer im Wunderland
Samstag, 26. Mai 2018. Zurück am Strand von Muizenberg, wo Rick ermordet wurde. An diesem sonnigen Nachmittag fischt Rej Ben Alis Mann – seine rechte Hand – hier am Strand. Er atmet das berauschende Ozon ein, ganz und gar im Frieden mit der Welt. Sein Name: Tyrone Mansoor.
Tyrone ist ein typischer Schönredner aus den Cape Flats. Ende vierzig. Single. Junggeselle aus Überzeugung. Eltern beide tot. Eine verheiratete Schwester. Steht seinem Neffen nahe, dem elfjährigen Naasir.
Früher einmal war Tyrone Teil einer militanten Bürgerwehrgruppe namens Pagad (People Against Gangsters and Drugs) gewesen. Damals, zur Zeit der Autobomben, Briefbomben, der Detonation im Restaurant Planet Hollywood. Ein Toter. Vierundzwanzig Verletzte. Eine junge britische Schülerin verlor dabei einen Fuß.
Ein Jahr später eine Explosion in St. Elmo’s Pizzeria. Diesmal über vierzig Verletzte. Beide Unternehmen amerikanische Franchise-Firmen.
Pagad ließ verlauten, dass es antiamerikanische Aktionen gewesen seien. Erklärte die Attacke zu einem Vergeltungsschlag für Washingtons Angriffe im Sudan und in Afghanistan. Es geht hier um Historisches: die späten Neunziger. Diese Bombenanschläge waren nach den Terrorakten gegen US-amerikanische Botschaften in Ostafrika erfolgt. Opferzahlen dort mehr als zweihundert. Washington setzte Pagad auf seine Liste terroristischer Organisationen.
Es heißt, Tyrone Mansoor sei einer der Dschihadisten gewesen.
Erinnert sich noch jemand an diesen Kerl namens Rashaad Staggie? Großer Drogenboss. Wurde im August 1996 vor seinem Haus in Salt River angeschossen und dann bei lebendigem Leib verbrannt. Tyrone war damals mit dabei. So sagt man jedenfalls.
Als die Polizei den Pagad-Agenten das Leben schwer machte, ließ Tyrone das Ganze hinter sich. Mehr oder weniger. Er begann für eine Minibus-Taxi-Firma zu arbeiten. Wurde zu ihrem wichtigsten Mann. Ihrem Mittelsmann. Ihrem Mann für knifflige Probleme. Stieg so bis in die obere Etage auf. Human-Relations-Manager.
Sie nannten ihn den Hammermann.
In der Taxibranche leben Auftragskiller allerdings nicht ewig.
Und da tauchte Rejab Ben Ali auf. Besuchte dieselbe Moschee, damals noch. Die beiden gingen dem gleichen Hobby nach: Angeln. Nun, damals noch. Inzwischen interessiert sich Rej nicht mehr dafür, findet Angeln zu wenig standesgemäß. Zu jener Zeit jedoch mochte er beides, Strand und Felsen. Vorteil des Strandes: Man bekam küstennahe Fische an den Haken, zum Beispiel Galjoen oder Meerbrassen. Felsen: Dort konnte man die Leine auswerfen und erwischte manchmal sogar Gelbschwanzmakrelen.
Am heutigen Tag ist Tyrone am Strand in der Nähe vom Baden Powell Drive, etwas östlich von der Surfstelle namens Cemetery. Etwas östlich von dem Ort, wo Rick starb. Er hat Naasir dabei. Es ist ein langer Strand von Surfer’s Corner bis zu den Klippen bei Wolfgat, etwa dreißig Kilometer. Blickt Richtung False Bay. Ein südöstlicher Wind weht ihm kalte Luft ins Gesicht. Lässt kleine Wellen hereinrollen. Lockt Galjoen an, die nach Futter in den Steinfurchen, Löchern und Rinnen suchen. Galjoen sind die Nationalfische. Starke Kämpfer, die schäumendes Wasser mögen. Lateinischer Name: Dichistius capensis. Auch als Schwarzfisch bekannt. Wirklich schmackhaft.
Tyrone und Naasir sind barfuß. Tragen gefütterte Jacken. Jeans bis zu den Knien hochgerollt. Wateten hinaus, um die Angel auszuwerfen, und kehrten dann auf den trockenen Sand zurück. Stehen da und starren übers Meer. Ohne zu reden. Die Angeln an den Hüften befestigt. Die Nylonleine zwischen Zeigefinger und Daumen, um die geringste Bewegung zu spüren. Verwenden Angelschnüre mit hoher Reißfestigkeit, leichte Ruten und Center-Pin-Rollen.
Tyrones Handy klingelt.
»He, Naasir«, sagt er, »halt mal meine Angel.«
Naasir nimmt sie mit seiner Rechten. »Da ist ein Fisch am Haken, Onkel. Schnell, schnell.«
»Hol ihn rein. Schaffst du das nicht?«
»Nicht einhändig, Onkel Tyrone. Bitte, schnell.« Der Junge wackelt hin und her.
Tyrone lacht. »Du bist elf, Naasir. Sei kein Baby. Der Fisch ist noch nicht mal richtig am Haken.« Wischt seine Hand an der Jeans trocken und holt ein Samsung aus der hinteren Hosentasche: Rejab Ben Ali. Begrüßt ihn mit dem üblichen »Salām«.
Seit fünf Jahren arbeitet er nun für Rejab. Begleitet ihn wie ein Schatten. In dieser Zeit hat er mehr verdient als in den ganzen vorherigen Jahren zusammen. Außerdem mag er den Mann. Rejab ist niemals bevormundend. Lässt ihn nie sein höheres gesellschaftliches Ansehen spüren.
Fragt ihn um Rat. Nimmt ihn ernst. Auf Tyrones Visitenkarte steht: Sicherheitsmanager. Über der Berufsbezeichnung findet sich das Logo der Firma: Kestrel Logistics. Der Sicherheitszweig von Amalfi Civils. Seine Stelle geht mit einer Aktienoption einher.
Mit Komplizenschaft. Rejabs Mann zu sein, ist nicht unbedingt einfach.
Zum Beispiel gehört es zu Tyrones neuen Aufgaben, sich um Rejabs verrückten Bruder zu kümmern. In den letzten paar Monaten hat dieser Bruder begonnen, sich wie ein Wolf zu benehmen. Heult den Mond an. Dann schickt Rej jedes Mal Tyrone zu ihm, damit dieser ihm eine Spritze gibt, die den Oke runterbringt. Er soll dabei auch sicherstellen, dass er angekettet ist und nicht weglaufen kann. Der Typ müsste eigentlich in der Nervenheilanstalt Valkenberg sein wie all die anderen Irren. Aber was kann Tyrone machen? Er ist Rejabs Mann. Zum Glück hat Tyrone keine Angst vor Hunden und kommt mit einem Wolfsmann klar. Selbst wenn der versucht, ihn zu beißen.
Gerade sagt Rejab: »Bist du am Strand?«
»Ja, Sir, bin ich, Mr. Ali«, erwidert Tyrone. Er besteht darauf, dass ihre Beziehung formell bleibt. Vielleicht sind sie altersmäßig nicht allzu weit voneinander entfernt, aber ansonsten gibt es nur Unterschiede.
Zum einen ist da die Frage der Hautfarbe. Rej ist ein weißerer Coloured als Tyrone.
Dann der berufliche Titel des Mannes: Leiter des operativen Geschäfts.
Von seinem Geld, seiner Ausbildung, seinem Haus und seinem Auto ganz zu schweigen.
»Bist du am Angeln?«
»Ja. Ist gerade Flut. Galjoen-Wasser, Mr. Ali.«
»Cemetery?«
»Etwas mehr in Richtung Strandfontein.«
»Perfekter Nachmittag fürs Angeln. Ist Naasir bei dir?«
»Hält meine Angel, während wir reden. Er glaubt, dass er einen Riesenfisch am Haken hat.«
»Vielleicht hat er das auch. Solange er nicht so vom Pech verfolgt ist wie du.«
»Was meinen Sie damit? Ich habe beim Angeln immer Glück.«
»War nur ein Scherz, Tyrone. Nur ein Scherz.« Eine Pause. »Hör zu. Ich möchte, dass du etwas für mich erledigst.«
»Jetzt, Mr. Ali?«
»Nein, nein. Nächste Woche. Eigentlich geht es um zwei Dinge. Du kennst doch diese neue Wohnung meiner Schwester. Die in Clifton?«
»Ja, Sir. Eine sehr schöne Wohnung.«
»Sie braucht darin eine Sicherheitsanlage, Tyrone. Mit einer direkten Verbindung zu Kestrel.«
»Kein Problem, Mr. Ali.«
»Muss installiert werden, während sie in Joburg ist. So wird meine Schwester nicht damit belästigt.«
»Kein Problem, Mr. Ali.«
»Und dieser Auftrag läuft nur über dich. Über niemanden sonst. Verstehst du? Über niemanden sonst. Du baust da ein komplettes Audiosystem für mich ein. Kein Video, nur Audio. Alle Aufnahmen werden in der Cloud abgelegt. Schlafzimmer, Badezimmer, auch der Balkon.«
Das ist nichts, was Tyrone nicht schon einmal für Rejab gemacht hat. Der Unterschied liegt in der Zielperson. Zuvor ging es immer um geschäftliche Konkurrenten. Chefs. Finanzvorstände. Aufsichtsratsmitglieder. Sogar Sekretärinnen der Geschäftsleitungen. Gewerkschaftsführer. Einmal das Heim eines Handelsministers. Aber seine eigene Schwester? Das lässt Tyrone die Stirn runzeln. Lässt ihn zum Horizont hinüberschauen. Innerfamiliäre Themen sind etwas, womit er seine Schwierigkeiten hat. Die Schwester ist eine nette Frau. Diese Art von Behandlung verdient sie nicht.
»Wir haben ein Problem, Tyrone. Es dient ihrem eigenen Schutz.«
Als ob Rejab Ben Ali seine Gedanken lesen könnte. Daran wird Tyrone sich nie gewöhnen, diese Fähigkeit von Rejab, sich so einzuklinken. Es hat etwas Beunruhigendes. Schlimm genug, wenn er einen mit seinem durchdringenden Blick anstarrt. Aber echt gruselig wird es, wenn er das Ganze über das Telefon macht.
»Diskret, Tyrone. Verstehst du?«
Tyrone fragt sich, ob er einen Echtzeitauslöser vorschlagen soll. Nein. Das will er nicht. Sonst kommt es noch so weit, dass der Typ seine Schwester beim Vögeln belauscht.
Rejab meint: »Gibt es irgendeine Art von Signal, das du für die Überwachung einbauen könntest? Damit ich sicherstellen kann, dass es ihr gut geht, wenn sie nach Hause kommt.«
Tyrone kann das machen. Gibt sich aber unwissend. »Es wird mit einem Alarmsystem verknüpft sein.«
»Das weiß ich. Es geht mir diesmal um mehr, Tyrone. Ich brauche eine Stimmaktivierung. Mit Verbindung zu meinem Handy.«
»Ja, Sir.«
»Kannst du das machen?«
Tyrone starrt auf False Bay hinaus. Auf die schwachen Wellen, auf Naasir, der zwei Angeln festhält. Solch ein vollkommener Moment. Aber Tyrone weiß, wo er steht. Sagt: »Ja, Sir, Mr. Ali.«
»Das freut mich. Noch etwas. Der Banker Antony Brennan …«
Warum war ihm so sonnenklar, dass das als Nächstes kommen würde? Weil er bei Bürofeiern beobachtet hat, wie Mr. Ali diesen Antony Brennan musterte. Mit diesem Lass-meine-Schwester-in-Ruhe-Blick. Tyrone sah auch, wie Brennan fragend eine Augenbraue hochzog. Verwirrt. Ein irritiertes Lächeln auf seinen Lippen.
»Kannst du etwas in sein Auto einbauen?«
Ebenfalls eine Sache, die er schon öfter für Rejab Ben Ali gemacht hat. Mindestens ein halbes Dutzend Mal. Rejab lässt Leute abhören, als wäre er der Geheimdienst persönlich.
»Einen Peilsender?« Er wusste, dass er noch mehr wollte. Aber Mr. Ali soll es zumindest aussprechen.
»Und, und, und, Tyrone. Stell dich nicht dumm.«
»Kein Problem, Mr. Ali, Sir.«
»Natürlich ist das für dich kein Problem. Viel Spaß noch beim Angeln, Tyrone. Hat dein Neffe inzwischen einen Fisch gefangen?«