killer country - Mike Nicol - E-Book

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Mike Nicol

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Beschreibung

Cool, böse, abgebrüht – Die Rache-Trilogie geht weiter ...

Die Reichen und Schönen auf Südafrikas gefährlichen Straßen zu schützen – das ist der Job von Mace Bishop und Pylon Buso. Zwei frühere Waffenschmuggler, die aus der Angst anderer Profit schlagen. Und die vor allem hoffen, dass ihre düstere Vergangenheit sie nicht einholt. Doch dann steigen sie in einen dubiosen Grundstückshandel ein, um Geld zu waschen. Und plötzlich sind ihnen zwei Männer auf den Fersen: ein korrupter Politiker und ein Auftragskiller. Und Mace muss einen zwielichtigen Geschäftsmann in Berlin treffen. Ihr Leben und das ihrer Familien gerät aus den Fugen. Und hinter allem scheint eine alte Bekannte zu stecken: Die Anwältin Sheemina February hat eine Rechnung mit den beiden offen ...

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Mike Nicol

killer country

Thriller

Aus dem südafrikanischen Englischvon Mechthild Barth

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die südafrikanische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »killer country« bei Umuzi/Random House Struik, Kapstadt und Old Street Publishing, London.

Ein Glossar zu fremdsprachigen Begriffen findet sich im Anhang.

Copyright © 2010 by Mike NicolPublished by Arrangement with Mike NicolDieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.ISBN 978-3-641-08809-5V002

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Jo Ractliffe gewidmet – für Musik und Titel

TREFFER

Freitag

1

Pollsmoor Prison, sechs Uhr morgens. Der Gefängnisaufseher runzelte die Stirn. Kein Vogelgesang. Keine Kakophonie. Da lauerte was. Man musste kein Prophet sein, um das zu wissen. Dummerweise hatte er gerade ein anständiges Frühstück verdrückt – ein paar dicke Scheiben Speck, zwei Eier, eine gebratene Tomate, eine gebratene Banane, in Fett herausgebackenen Toast. Der einzige Vorteil der Frühschicht: so ein Frühstück. Wenn der alte Kochkünstler Dienst hatte. Der alte Kochkünstler, der lebenslang saß, nur noch ein Auge hatte und dem Strick bloß entkommen war, weil damals das Erhängen gerade abgeschafft wurde. Alles dieser neuen Verfassung wegen. Der alte Kochkünstler, der besser hätte baumeln sollen für das viele Leid, das er anderen bereitet hatte. Andererseits brachte er ein verdammt gutes Frühstück zustande, der Sack.

»Hörst du das?«, fragte der Aufseher den Neuling, der ihm zugeteilt worden war. Ein junger Mann, hatte gerade mal seit einem halben Jahr die Ausbildung hinter sich. »Da stimmt etwas nicht.«

Der Neuling sah ihn an, ohne dass es in seinen Augen auch nur andeutungsweise geflackert hätte. Tote braune Augen. Schien überhaupt nicht zu kapieren, wovon der andere sprach.

»Fühlst du es?«

Der junge Mann schüttelte den Kopf.

Noch ehe der Aufseher die Sichtluke der dicken Stahltür öffnete, war ihm klar, dass es große Schwierigkeiten geben würde. Er warf einen Blick in den Korridor. Der war so leer, wie er sein sollte. Der alte Koch musste Bescheid gewusst haben. Und der Mistkerl hatte kein Wort gesagt, hatte ihn nicht gewarnt.

Er sperrte die Tür auf und ließ sie den jungen Aufseher langsam aufziehen. Vor ihnen zwei Gitter, dahinter der Korridor.

»Hörst du das?«

»Nein.«

»Die Stille. Wenn man nichts hört, ist die Kacke am Dampfen.«

Die Frage war nur, in welcher Zelle. Fünf Zellen auf dem Korridor. Konnte in jeder sein. Oder in allen fünf. Man musste zuerst einen Blick durch die Gucklöcher werfen. Ließ ihn noch immer in Schweiß ausbrechen, diese Art von Situation. Es konnte schließlich sein, dass sie einen Massenausbruch planten und schreiend mit Messern, Pistolen oder Schraubenziehern auf ihn losgingen. Ganz gleich, was man auch unternahm – solche Dinge wurden hereingeschmuggelt. Zwei Wochen zuvor hatten sie eine geladene Neun-Millimeter entdeckt. Tief im Gefängnis, im Hochsicherheitstrakt. Wie war sie dorthin gekommen? Vermutlich durch verdammte Zauberkunst.

»Sperr die Gittertüren ab«, befahl er dem jungen Kerl.

Eigentlich sollte er Verstärkung holen. Aber darauf gab er nichts. Sonst glaubte der Junge am Ende noch, dass er Angst hatte. Er hörte die Türen ins Schloss fallen. Zog seinen Revolver. Wenn sich diese Wilden auf ihn stürzten, würde er fünf auf einmal niederstrecken.

»Was hast du vor?«, fragte der Junge.

Er warf ihm einen Blick zu. Wie alt er wohl sein mochte? Achtzehn? Neunzehn? Vermutlich kam er aus einem Dorf. Keiner dieser Problemfälle aus dem Township. Dafür war er zu höflich. Willkommen im Drecksloch, China. Er sah, wie der Junge nervös an seinem Waffenhalfter herumfummelte. »Bleib hinter mir. Okay? Wenn ich schieße, schießt du auch.«

»Warum sind die so still?«

»Das werden wir gleich wissen.«

Er trat vor die erste Tür und hob die Luke des Spions zunächst einmal nur an, um festzustellen, ob das Glas zerbrochen war. Das Letzte, was man in einer solchen Situation gebrauchen konnte, war es, sein Auge an das Loch zu pressen, und irgendein verdammter Scheißkerl rammte einem eine Speiche hinein. So etwas war einmal passiert, und dabei wurde auch gleich das Gehirn des Aufsehers durchbohrt. Der arme Mann. Er hatte bereits mit den Engeln gesungen, als er auf dem Boden aufgeschlagen war.

Vorsichtig lugte er in die erste Zelle. Die Männer standen nicht aufrecht da, sondern lagen auf ihren Pritschen, als wären sie Sommerurlauber. Er schlug mit dem Kolben der Waffe gegen die Metalltür. Brüllte in Afrikaans. »Aufstehen! Aufstehen!« Beobachtete, wie sie sich erhoben, alle achtundzwanzig in einem Raum, der für zehn gedacht war. Hässliche, tätowierte, dürre Bandenmitglieder. Konnten einem einen Nagel zwischen die Rippen rammen, während man sie bloß um eine Zigarette anhaute.

Das Guckloch hatte eine Fischaugenlinse. Soweit er das den zusammengerollten Schlafsäcken auf dem Boden nach beurteilen konnte, versuchten sie ihn nicht hineinzulocken, um achtundzwanzig geschärfte Metallstücke in seinen Körper zu bohren.

»Bleibt so!«, rief er und ging zur nächsten Tür. Dieselbe Prozedur mit dem Guckloch. Diesmal dreißig Idioten, die ihn angrinsten. Er trat zur Seite, um dem jungen Aufseher Platz zu machen. »Willst du mal einen Blick reinwerfen? Schau sie dir genau an. Wenn du irgendwas Komisches bemerkst, gibst du mir Bescheid.«

»Wie was?«

»Wenn du’s siehst, wirst du’s wissen.«

Unter seinen Achseln war es feucht. Der Geschmack von Speck in seinem Rachen. Trocken. Rau. Diese Art von Situation brachte das Frühstück des alten Kochs wieder nach oben.

Sein Kollege sagte: »Ich seh nichts.«

»Gut«, erwiderte er. »Nummer drei.« Er schlug mit der Pistole an die Metalltür. »Ihr bleibt, wo ihr seid. Kapiert?«

Keine Antwort. Alle hielten die Klappe. Warteten.

Der Aufseher schaute sich in Zelle drei um und danach in den letzten zwei. Dort standen die Männer aufrecht da und blickten zur Tür. Einige gelangweilt, einige grinsend, einige wackelten mit ihren Zungen in seine Richtung, als sie sahen, wie sein Auge das Loch verdunkelte. Langsam wanderte er zu Zelle drei zurück. Fragte sich, wie er das handhaben sollte. Verstärkung rufen? Oder einfach hineingehen?

»Was ist?«, fragte der andere.

»Schau es dir an«, sagte er. Wies auf das Guckloch. »Mach schon, Junge. Schau es dir selber an.«

Er tat es. Wich zurück, etwas in seiner Sprache murmelnd. Auf einmal aschfahl.

Der Aufseher packte den jungen Mann an der Schulter. »War ’ne harte Nacht da drin, was?« Er hielt wieder das Auge ans Loch. Die Gefangenen in zwei Reihen. Dreizehn auf einer Seite, zwölf auf der anderen. Auf dem Boden zwischen ihnen eine Wolldecke. Unter der Wolldecke ein Körper. Ein dunkler Fleck in Höhe der Brust.

Er sagte: »Ich werde jetzt die Tür öffnen. Okay? Dann gehe ich da rein. Verstanden? Du bleibst hier draußen und behältst sie im Auge. Wenn sie etwas machen – irgendetwas –, dann schießt du. Okay?«

Der Neuling nickte.

»Sag ja.«

Der junge Aufseher schluckte. »Ja, Sir.«

»Okay, Boykie. Also los.«

Er sperrte die Tür auf. Die Gefangenen starrten ihn an. Er befahl ihnen, sich zur Wand umzudrehen, mit den Händen über dem Kopf. Sie gehorchten. Ließen sich Zeit, wackelten mit den Hintern, zeigten, was sie von ihm hielten. Aber sie gehorchten. Wie er es angenommen hatte. Hier ging es nicht um einen Ausbruch. Hier ging es um einen Auftrag. Oder eine Mutprobe für ein neues Bandenmitglied.

Er sammelte Speichel in seinem Mund, um die Trockenheit seines Rachens loszuwerden. »Wenn sich einer bewegt, ist er tot. Kapiert?«

Langsam ging er zu der Wolldecke, die über den Toten ausgebreitet war. Hob eine Ecke hoch. Für einen Moment begriff er nicht, was er genau sah. Dann verstand er. Einen blutigen Halsstumpf. Die Brust geöffnet wie eine Schachtel, das Herz herausgerissen. Er fragte sich, ob der Kerl zu diesem Zeitpunkt noch am Leben gewesen war. Fragte sich, wie viele es gegessen hatten. Den Kopf fand er in der Kloschüssel. Genau so platziert, dass ihn das Gesicht anstarrte. Die blauen Augen weit aufgerissen.

2

Sheemina February klopfte mit einem Leuchtstift auf die gelb markierten Kontoauszüge. Ihr Esstisch war von Auszügen übersät. Sie blickte zum Horizont hinüber. Da draußen gab es nichts, was die Linie zwischen Meer und Himmel unterbrach. Sie lächelte. Sah das Spiegelbild ihres Lächelns im Fenster. Blieb verhalten. Dachte: Ja, ja. Es gibt also verschiedene Möglichkeiten.

Was sie zum Lächeln brachte und was ihr an Obed Chochos Bankauszügen gefiel, waren die hohen Einzahlungen. Immer wieder hunderttausend auf einmal. An beliebigen Tagen. Meistens elektronisch. Zwei Barbeträge, was auf einen Insider hindeutete. Wäre typisch für Obed Chocho, einen Insider an der Hand zu haben. Einen Mann oder eine Frau. Wahrscheinlich eine Frau. Frauen waren sein Stil.

Zweifellos war Obed Chocho ein sehr reicher Mann. Gab auch viel aus. Lebte auf großem Fuß. Aber das wusste sie. Man musste sich nur seine Autos ansehen und die Klunker an der hinreißenden Lindiwe Chocho, um das zu wissen.

Das einzige Hindernis für Obed Chocho, seinen Lifestyle voll und ganz herzuzeigen, war das Gefängnis. Weshalb er sie engagiert hatte. »Ich habe gehört, Sie sollen eine erstklassige Anwältin sein«, hatte er gesagt. »Wirklich top. Beweisen Sie es mir. Vertreten Sie mich.« Sie ließ sich anheuern. Organisierte ihrerseits einen Insider in der Bank – einen Mann, denn Männer waren ihr Stil –, der ihr Obed Chochos Kontoauszüge besorgte. Nur so wusste sie, womit sie es zu tun hatte. Bis auf den letzten Cent.

Sheemina February hatte es mit der Art von Geld zu tun, die ihr gefiel. Genauer gesagt, hatte sie es mit der Art von Aufträgen zu tun, die ihr gefielen.

Sie nahm ihr Handy und ging auf den Balkon hinaus, um ein paar Anrufe zu tätigen. Der Balkon lag im Schatten. Hier war es kühl. Im März verging der halbe Vormittag, ehe die Sonne die vordere Seite des Apartmentblocks erreichte. Sie strich mit ihrer steifen linken Hand, vernarbt und gefoltert, über das feuchte Chromgeländer. Die Feuchtigkeit auf ihrer Haut hatte etwas Beruhigendes. Sie starrte die verstümmelten Finger an, die Verfärbung der Haut, das Glitzern der Wassertropfen in ihrer Handfläche. Ganz gleich, wie sehr sie sich auch anstrengte, ihre Finger wollten sich nicht schließen. Ebenso wenig strecken. Nur leicht zucken konnten sie. Aber sonst nichts. Sie blieben wie Klauen.

Sie suchte eine Nummer heraus, die sich nun auf dem Display zeigte. Drückte die grüne Taste. Lauschte dem Klingeln am anderen Ende der Leitung. Vor ihr der stille Ozean, durchsetzt von weißen Möwen. Zuvor hatte sie beobachtet, wie sich die Vögel auf einen Schwarm kleiner Fische gestürzt hatten. Ein wahnsinniges Töten. Jetzt war nichts mehr davon zu erahnen. Friedlich und ruhig.

»Spitz«, sagte sie, als abgehoben wurde. »Stehen Sie zur Verfügung?«

»Wer spricht da?«, antwortete der Mann mit einem seltsamen deutschen Akzent. Brachte Sheemina February zum Lächeln. Sie blickte auf die Felsen hinunter. Es herrschte Ebbe. Seetang und Dinge, die das Meer angeschwemmt hatte, trockneten auf den Muschelbänken. Alles war ruhig.

»Nicht wichtig«, erwiderte sie. »Sie bekommen Ihr übliches Honorar plus Provision. Auf Anweisung eines Mannes namens Obed Chocho. Klingelt es da bei Ihnen?«

Spitz bejahte.

»Gut. Er hat von Ihnen gehört. Er kennt Ihre Arbeit. Deshalb die Provision.«

»Wie viele Aufträge wird es geben?«

»Zwei.«

»Das geht in Ordnung.«

Wieder lächelte sie. »Sie stehen also zur Verfügung.«

Statt auf Englisch zu antworten, sagte er auf Deutsch: »Ja, ja.«

»Wollen Sie die Details wissen?«

»Noch nicht.«

»Das sehen wir auch so«, erwiderte sie.

Sheemina February erklärte, er solle um sechzehn Uhr vor der Polizeiinspektion in Meadowlands sein. »Sie sind in Johannesburg?«, fragte sie. »In Melrose Arch, wenn ich richtig informiert bin? Sie nehmen also ein Taxi nach Soweto. Tut mir leid, falls das für Sie Unannehmlichkeiten bedeutet.«

»Geht in Ordnung«, sagte er.

»Nehmen Sie eine Tasche mit den nötigen Utensilien für eine Nacht mit. Sie werden einen Mann namens Manga treffen. Schwarz wie Sie. Er wird sich um den Transport und die Waffe kümmern.«

»Sie muss das richtige Kaliber haben.«

»Ich bin informiert«, erklärte sie.

Als Nächstes rief sie Manga an und vereinbarte alles Weitere mit ihm. Sagte: »Keine dummen Sachen, okay, Manga? Bring ihn einfach nur zu der Farm nach Colesberg. Dort soll er seinen Job erledigen. Und misch dich nicht ein.«

»Was glauben Sie, was ich bin?«, fragte Manga. »Ich kann so einen Job auch erledigen. Das hab ich schon gemacht. Den anderen brauchen Sie nicht.«

»Na klar«, erwiderte Sheemina February und bemühte sich nicht einmal, ihr Lachen zu unterdrücken.

Manga sagte: »Lachen Sie mich nicht aus.«

»Du bist ein witziger Typ«, sagte sie. Überlegte. »Okay, Manga. Da gibt es etwas, was du tun kannst. Während du in Colesberg bist.« Sie erklärte ihm, worum es sich handelte, und nannte ihm eine Adresse. »Interessiert?«

»Kein Problem«, sagte Manga.

Sie legte auf. Ließ das Handy in die Tasche ihres Kimono gleiten und dachte nicht mehr daran, welche Anweisungen sie gerade gegeben hatte. Schließlich war das der Wunsch ihres Klienten. Sie drehte sich zu ihrer Wohnung um und betrachtete erneut ihr Spiegelbild im Fenster. So manche Models würden sie um ihr Aussehen, ihre Figur beneiden. Sie lächelte. Blickte durch sich hindurch in ihr Apartment. Weiße Sofas, weiße Flokatiteppiche, weiße Wände. Sie lehnte sich an das Balkongeländer und bewunderte den makellosen Komfort des Zimmers. Hier war sie allein. Hier war noch nie ein anderer gewesen. Hier schmiedete sie ihre Pläne.

Sie musste sich duschen, anziehen, eine Tasche packen. Heute Abend würde sie diese Einsamkeit gegen ihr Townhouse eintauschen. Das Meer gegen die Rauheit der Stadt – die Sirenen, die Hafenlichter, den dunkel präsenten Berg, dessen Ausläufer die belebten Straßen umgaben, als würden sie eines Tages die menschlichen Insekten zerquetschen, die es sich dort gemütlich gemacht hatten. Morgen würde sie mit der hinreißenden Lindiwe Chocho frühstücken und erfahren, wann die Dame schlief. Jetzt, da der Ball ins Rollen gekommen war, gab es kein Zurück. Es fehlte nur noch eine einzige weitere Figur auf dem Spielbrett: Mace Bishop. Der Mann, der ihre Hand zertrümmert hatte. Der Mann, der sie zur Strafe in die Lager Angolas geschickt hatte. Der sie ihren Vergewaltigern ausgeliefert hatte. Der Mann, dem sie Rosen schickte. Dessen Bild sie in einer Plastikhülle in ihrer Handtasche aufbewahrte.

Mace Bishop in einer schwarzen Speedo am Rand eines Schwimmbeckens kurz vor dem Hineinspringen. Ein Foto, das sie vom anderen Ende des Beckens aus aufgenommen hatte. Wenige Tage, nachdem er den Mann umgebracht hatte, dem sie den Auftrag erteilt hatte, ihn zu töten. Sie holte das Bild aus der Tasche. Zog es aus seiner Hülle und strich mit dem Finger über die Oberfläche. Der Glanz leicht verschmiert.

Sie stellte sich vor, wie sie ihn rasierte. Mit einem der mörderischen Rasiermesser aus ihrer Sammlung. Jener Sammlung, die an der Wand hing und aus Messern bestand, die berühmte Männer rasiert hatten. Sie malte sich aus, wie Mace in einem Badedas-Schaumbad lag. Wie sie zu ihm trat, sich hinkniete, um sein Gesicht einzuseifen, wie sie das Gel in Schaum verwandelte, den Schaum über seinen Stoppeln verteilte, unter seinem Kinn, auf seiner Oberlippe. Ihre Caffè-latte-Hand auf seiner weißen Haut. Wie sie das Messer aus Sheffield-Stahl mit dem Elfenbeingriff abzog. Mit der Klinge auf der linken Wange in einem schrägen Winkel vom Ohr bis zum Kinn strich. Den Schaum wegschnippte. Dasselbe mit der rechten Wange tat. Kein Kratzer, kein Reißen an den Härchen. Eine perfekte Rasur. Sie stellte sich vor, wie sie vorsichtig die Stoppeln auf der Oberlippe entfernte. Dann sanft seinen Kopf zurückzog und vom Adamsapfel aus zur weichen Kehle unter seinem Kinn hoch rasierte. Wie Mace Bishop dalag, die Augen geschlossen, die Gesichtszüge entspannt. Die Hand ausstreckte, um ihre Brüste zu liebkosen.

Die Verblüffung auf seiner Miene, wenn sie ihm den Hals durchtrennte.

Mit dem Saum ihres Kimonos säuberte Sheemina February die Fotografie. Steckte sie in die Plastikhülle. Schob diese in ihre Tasche zurück. Irgendwann würde die Zeit kommen, solche Fantasien zu verwirklichen.

Eine Stunde später verließ sie das Apartment – eine elegante Frau in einem grauen Leinenkostüm, Sonnenbrille in den Haaren, Aktenkoffer in ihrer rechten Hand, die linke in einem schwarzen Lederhandschuh.

3

Spitz stellte vor der Polizeiinspektion Meadowlands seine Reisetasche ab und zündete sich eine Zigarette an. Starrte auf den Polizeitransporter, aus dem einige Polizisten drei blutende Männer herauszerrten. Die Männer waren zu betrunken und fertig, um sich zu beschweren. Ein paar Fahrer vom Taxistand in der Nähe machten sich über die Polizisten lustig, aber ihre Spötteleien blieben unbeantwortet.

Spitz blies den Rauch aus dem Mundwinkel und klopfte die Asche von der Zigarette. Er sah sich nach einem Platz im Schatten um. Der Bürgersteig war leer, eine breite Fläche vor der Polizeiinspektion ohne irgendetwas. Keine Pflanzen außer dem Unkraut, das sich in den Sicherheitszaun hinter ihm gewunden hatte. Unter seinen Achseln sammelte sich Schweiß. Es war ziemlich unwahrscheinlich, dass ein Gewitter den Nachmittag abkühlen lassen würde.

Er könnte ein großes Stella vertragen. Am liebsten bei JB’s in Melrose Arch. Ein sanfter Kal-Cahoone-Song im Hintergrund. Eine Kellnerin würde zwischen den Tischen umherlaufen und ihren Gästen das Gefühl geben, dass die Welt in Ordnung war.

Spitz warf einen Blick auf die Uhr. Der Kerl hatte sich bereits fünf Minuten verspätet. Er mochte es nicht, wenn jemand unpünktlich war.

Seiner Erfahrung nach bedeutete Unpünktlichkeit, dass man erwischt worden war, gefoltert wurde, jeden Moment tot sein konnte. Er trat die Zigarette aus. Jemand, der nicht pünktlich war, achtete zudem nicht auf Kleinigkeiten. Bei dieser Art von Unternehmung, die sie hier planten, war das jedoch äußerst wichtig.

Er wusste, dass der Mann, auf den er wartete, in einen Raubüberfall auf der Autobahn verwickelt gewesen war. Einen Raubüberfall, dem die Leute sogar einen Namen gegeben hatten: der Überfall an der Atholl-Ausfahrt. Für eine solche Sache brauchte man ein gutes Auge. Fünf Autos, zwanzig Mann. Zwei weitere Autos, um die Fahrbahn zu blockieren. Dafür war genaues Timing nötig. Den Geldtransporter öffnen, die Kisten packen, zehn insgesamt, zwei pro Wagen. Alles in allem neun Millionen. Auch die Anzahl der Toten hatte Spitz beeindruckt: drei Sicherheitsleute, ein Kamerad. Zwei weitere Kameraden nicht mehr einsatzfähig. Nie mehr.

Das war einer der Gründe, warum er nie in diese Art Geschäft eingestiegen war. Die Statistik sprach gegen dich. Vielleicht gab es mehr Geld – das schon. Aber du wurdest auch getötet, angeschossen oder verhaftet.

Spitz kannte niemanden, der durch Überfälle auf Geldtransporter reich geworden wäre. Jedenfalls keine aktiven Räuber. Er kannte zahlreiche große Akteure, die mit Geld aus Banküberfällen, Autorauben, faulen Regierungsverträgen, zwielichtigen Geschäften und betrügerischen Erschließungen von Bauland handelten. Solche Leute wurden stetig reicher, indem sie ihr Vermögen aufteilten. Ein oder zwei waren in zwölf Jahren sogar reicher geworden als die Oppenheimers in einem Jahrhundert.

Er zündete eine weitere Zigarette an und sog daran. Die meisten von ihnen waren Arschlöcher. Arschlöcher wie Obed Chocho. Nur dass der Deal mit Chocho diese Provision beinhaltete. Das war neu. Ein Ansporn. Einer, der Spitz zusagte. »Er hat von Ihnen gehört«, hatte die Frau gesagt. »Er kennt Ihre Arbeit. Deshalb die Provision.« Spitz warf erneut einen Blick auf seine Armbanduhr. Der Mann hätte seit zehn Minuten da sein sollen.

Eine Stimme hinter ihm fragte auf Englisch: »Yo, Captain, warte ich auf Sie?«

Spitz drehte sich um. Er mochte keine Überraschungen. Sah einen Zulu-Burschen, der ihn angrinste.

Manga bemerkte Spitz sofort – in seinen gebügelten Chinos und Budapestern vor der Polizeiinspektion. Schick, gediegen. Neue Tasche neben ihm. Er beobachtete, wie Spitz den Fahrgästen zuschaute, die aus einem Taxi stiegen, einen Blick auf seine Armbanduhr warf, seine Zigarette austrat. Der Kerl nahm ihn überhaupt nicht wahr. Manga im Township-Look. Kein Unterschied zwischen ihm und irgendeinem Brother von der Straße. Spitz achtete nicht auf ihn. Der große Spitz-the-Trigger.

Was Manga wissen wollte: warum Spitz? Als ihn die Frau anrief, von dem Job und von Spitz als Partner erzählte, hatte er protestiert: »Nein! Kommt nicht in Frage. Wer braucht schon diesen Spitz?«

»Du«, war ihm erklärt worden. Weil es sich um keinen Knall-Peng-Auftrag handle, bei dem er die AK auf Automatik stellen und einfach losfeuern könne. Es gehe um Genauigkeit. Rein, jeweils ein Schuss, raus.

»Ich kann so einen Job auch erledigen«, hatte Manga erwidert. »Das hab ich schon gemacht.«

Die Frau am anderen Ende der Leitung hatte gelacht.

Einmal hatte er so etwas tatsächlich schon gemacht. Nur einmal. Ein Attentat, für das er vorher drei Ladungen Hongkong-Rocks und eine gute Ladung Brandy benötigt hatte. Acht Kugeln für die Hinrichtung. Das Ganze sah dann eher nach einem Massaker aus, weniger nach einem Mord an einer Person. Mehr Blut an den Wänden und der Decke als in einem Schlachthaus. Blutspritzer im Schlafzimmer, im Gang, im Wohnzimmer und in der Küche. Weil alles offen war, hatte er gemeint. Nein, hatte man ihm erklärt, weil du es im Schlafzimmer falsch angegangen bist. Der Mann liegt mit seiner Frau im Bett, du beugst dich über sie, und trotzdem brauchst du allein für den Mann fünf Kugeln. Drei für die Frau. Und die Frau stirbt erst draußen. Deshalb brauchen wir Spitz. Keine zertrümmerten Möbel, keine zerbrochenen Vasen. Niemand, der auch nur auf die Idee käme zu entwischen. Bleib lieber bei deinen Raubüberfällen auf der Autobahn, hatte sie Manga geraten.

Manga hatte das eigentlich auch für das Beste gehalten. Man erledigte den Job, bekam das Geld und ließ es in einer Shebeen so richtig krachen. Bis ihm erklärt worden war, wie dieser Auftragsmord entlohnt wurde: mit einem Honorar plus Provision. Allein für ihn als Fahrer. Für nichts weiter. Bring ihn dorthin, lass ihn seinen Auftrag erledigen. Wir vertrauen dir, Manga.

Was bedeutete, dass sie Spitz nicht vertrauten. Sie hatten noch nie mit Spitz zusammengearbeitet. Zwar kannten sie seinen Ruf, aber ihn persönlich kannten sie nicht. Vielleicht würde Mr Spitz bald gar nicht mehr auf ihrer Gehaltsliste stehen. So sahen jedenfalls Mangas Schlussfolgerungen aus, wenn er auf sein Bauchgefühl hörte und sich das vor Augen hielt, was er von Obed Chochos Leuten wusste.

Er persönlich hatte kein Problem mit Spitz-the-Trigger. Er persönlich verstand sich mit jedem. Nichts dabei. Man zischte ein paar Bier, erzählte ein paar Geschichten aus dem Krieg, und schon war man Brüder. Allerdings hätte er persönlich diesen Auftrag lieber mit jemandem erledigt, den er kannte, und er legte auch keinen gesteigerten Wert darauf, Spitz-the-Trigger kennenzulernen.

Ein Mann mit einem Schuhfetischismus! He, wena, worüber sollte man mit einem Schuhmann reden?

Manga betrachtete seine Adidas-Schuhe. Er stand im Innenhof der Polizei vor dem Sicherheitszaun direkt hinter Spitz. Der wartete in seinen polierten Budapestern, auf deren glänzender Oberfläche sich roter Staub gesammelt hatte. Was wollte er mit so schicken Schuhen in Soweto? In einem Taxi wurden sie verkratzt und auf der Straße ruiniert. So etwas eignete sich für ein Einkaufszentrum in Sandton, aber dort, wo sie hinfuhren, waren Budapester nicht das Richtige. Wo sie hinfuhren, brauchte man leichte, schmale Schuhe. Streetstyle.

Manga bemerkte die breiten Schultern, das Hemd, das unten von der Taxifahrt zerknittert war. Die ordentlichen kurzen Dreadlocks. Die Haltung, die so wirkte, als könnte er zerbrechen, wenn er sich bewegte. Das war der Mann, von dem es hieß, er habe für hohe Tiere gemordet. Manga fuhr mit der Zunge über seine Zähne. Er schob die Finger seiner linken Hand in das Drahtgeflecht des Zauns und sagte: »Yo, Captain, warte ich auf Sie?«

Spitz drehte sich um, wobei er Mangas Grinsen nicht erwiderte. Stattdessen klopfte er mit dem Finger auf seine Armbanduhr. »Ich warte. Seit zehn Minuten.«

»Ich war hier«, erwiderte Manga. Er ließ den Zaun los und wies mit dem Daumen auf die Eingangstür zur Inspektion. »Der Mann, den wir treffen, ist drinnen.«

Der Sergeant brachte sie auf ein Gelände hinter der Polizeiinspektion. Dort standen etwa fünfzig Autos, etliche mit Totalschaden. An einer Seite zwei Reihen intakter Fahrzeuge, meistens neue 3er-BMWs, ein paar Audis, Subarus, einige sportliche VW Golfs – die Art von Autos, die in null Komma nichts auf hundert beschleunigten. Es hätte auch der Vorplatz eines Autohändlers in einem nördlichen Vorort sein können.

»Ich habe euch Zeit gespart«, erklärte der Sergeant. »Ich habe bereits einen ausgewählt.« Er zeigte auf einen marineblauen BMW in der Reihe, die dem Gatter am nächsten stand. Ein 3er, neuestes Modell. »Der da. Er ist schnell, er ist sauber. Bin ihn schon gefahren. Wollt ihr ihn testen? Kilometerstand fünfundfünfzig. Scheckheftgepflegt.«

»Wie sieht’s mit Blutspritzern aus?« Spitz stellte seine Reisetasche ab und holte ein Päckchen mit Mentholzigaretten aus der Brusttasche.

»Total gereinigt«, erklärte der Sergeant, ohne Spitz anzusehen. »War sowieso ein sauberer Überfall. Da gab’s kein Blut. Garantiert nicht.«

»Nummernschilder sind noch die alten?«, wollte Manga wissen.

Spitz zündete eine Zigarette an, ohne den beiden eine anzubieten.

»Klar.« Der Sergeant grinste. Ihm fehlte ein Backenzahn. Rechts oben. »Bei unserem Verwaltungsrückstand braucht es eine Woche, ehe wir den Wagen aufgenommen haben. Euer Urlaub dauert doch genau eine Woche, né? Bis dahin wird die Karre nicht vermisst. Ist nie hier gewesen. Aber in einer Woche, da ist sie heißes Eisen.«

Spitz blies Rauch aus, der einen Moment lang in der Luft hing.

Manga sagte: »Lassen Sie mich mal hören.«

»Der Schlüssel steckt.« Der Sergeant öffnete die Tür, und Manga glitt hinein. Meinte zu Spitz: »Ist das in Ordnung?«

Spitz zuckte mit den Achseln. »Ich komme gern mit.«

Die Erwiderung des Sergeant ging im Aufheulen des Motors unter. Als Manga in den Leerlauf schaltete, meinte der Sergeant: »Das Auto ist perfekt.« Er schlug mit der flachen Hand auf das Dach. »Echt scharf. Garantiert.«

Manga schaltete den Motor aus und schwang die Beine aus dem BMW. »Und wie sieht’s mit dem Subaru aus, Captain? Wenn ich die Wahl zwischen einem BMW und einem Subaru habe, nehme ich immer den Subaru.«

»Kein Problem«, erwiderte der Sergeant. »In diesen zwei Reihen könnt ihr jeden haben. Ihr Freund will einen ohne Blut. Die kann ich euch zeigen. Dann trefft ihr eine Entscheidung. Das sind alles gute Autos. Alle. Aber wenn ihr mich fragt: Mit dem BMW fahrt ihr am besten.« Wieder schlug er auf das Dach. »Darum wurde ich gebeten. Ich sollte einen guten Wagen für euch raussuchen. Also hab ich einen rausgesucht. Außerdem ist das einer für uns. Zwei Gentlemen in so einem Schlitten, das fällt nicht auf. In einem Subaru sieht das komisch aus. Weiße und Coloureds fahren Subarus.«

»Subarus sind besser«, entgegnete Manga. Er wählte ein Fahrzeug aus, das zwei Wagen entfernt von ihnen stand.

»Das hatte viel Blut«, gab der Sergeant zu bedenken.

Manga schaute sich das Innere des Autos an. »Sieht aber nicht danach aus.«

»Jetzt kann man das nicht mehr erkennen. Aber so war es. Das Loch im Beifahrersitz, das ist vom Einschlag einer Kugel. Fünfundvierziger-Kaliber, Hohlspitzgeschoss. Mehr muss ich wohl kaum sagen.«

»Bei dem da …«, sagte Spitz und stieß leicht gegen das Hinterrad des BMW. Dann hob er seine Tasche hoch. »Könnten Sie da den Kofferraum öffnen?«

Der Sergeant eilte grinsend um das Auto. »Da habe ich ein Geschenk verstaut.«

Manga stand noch immer neben dem Subaru und machte Anstalten, etwas zu sagen, hielt dann aber inne. Keine Diskussionen, hatte man ihm eingeschärft. Halt dich an ihn. Tu, was er will. Manga schlug die Wagentür zu. Spitz blickte auf. Der Sergeant hingegen war zu sehr damit beschäftigt, den Inhalt des Kofferraums zu bewundern, als dass er Mangas Reaktion bemerkt hätte.

Auf einem Handtuch lag eine kleinkalibrige Ruger mit Schalldämpfer. Glänzend. Wie neu. Daneben befand sich eine Schachtel mit .22-lfB-Patronen.

»Das ist doch, was Sie wollten?«

Spitz nickte.

»Ich habe sie bereits geölt.«

Spitz nickte wieder.

Manga trat zu ihnen. »Captain, das ist ein Spielzeug.«

»Das ist eine sehr leichte Waffe«, entgegnete der Sergeant.

»Genau«, sagte Spitz. »Solche benutze ich.« Er fasste in den Kofferraum und wickelte die Pistole in das Handtuch, ehe er die Schachtel mit Munition in seine Tasche schob. »Und sie taucht nirgendwo auf?«

»Sie wurde gestohlen«, erwiderte der Sergeant. »Aber nie als gestohlen gemeldet. Ist auch nicht registriert. Was sollen wir also damit anfangen? Eines Tages werfen wir sie in den Schmelzofen, was die Anti-Waffen-Typen glücklich machen wird. Wir haben Berge von Waffen, die auf diesen Tag warten. Diese Pistole vermisst niemand.«

Spitz stellte seine Reisetasche in den Kofferraum und holte einen iPod mit Kopfhörern heraus. »Haben Sie auch eine Tasche?«, fragte er Manga.

»Wir holen sie auf dem Weg ab.« Manga zeigte auf das Tor. »In Meadowlands. Nur die Straße hinunter.«

Spitz schlug den Deckel des Kofferraums zu. »Sie waren hilfreich«, bedankt er sich bei dem Sergeant.

Dieser grinste und offenbarte erneut die Zahnlücke. »Scharf, echt scharf. Sie haben eine Woche Zeit. Fahren Sie vorsichtig.«

4

Tami kam mit zwei Flaschen Bier herein. Sagte: »Ich bin für den Empfang zuständig, né? Nicht für die Bedienung.« Knallte die Flaschen auf den Couchtisch in Pylons Büro. Direkt neben Maces Füße. Mace hatte es sich in einem Sessel bequem gemacht, während Pylon auf dem Fensterbrett saß und auf Dunkley Square hinunterblickte. Die Cafés füllten sich langsam mit den üblichen Freitagabendtrinkern.

»Wäre vielleicht an der Zeit, mit dem Rauchen aufzuhören«, schlug Pylon vor.

Tami schnappte: »Wieso? Gibt’s ein Problem?«

»Deine Klamotten«, erwiderte Pylon. »Der Rauch hängt in deinen Klamotten.«

Mace schnitt eine Grimasse. »Er macht nur Spaß, Tami. Er will dich ärgern.«

»Hat mir gerade noch gefehlt.« Zu Pylon sagte sie: »Ihre Frau hat angerufen. Sie sollen sie zurückrufen.«

Pylon stöhnte. »Wenn man vom Ärgern spricht …« Er nahm sein Handy.

Mace meinte: »Mach für heute einfach Feierabend, Tami.« Er beobachtete, wie sie mit einem kurzen Winken ihrer Finger auf die Treppe nach unten zusteuerte. Hatte einen guten Hintern, die Kleine, der noch nicht in die Breite ging.

Mace griff nach einem Bier und nahm einen Schluck. Pylon blickte zum Tafelberg hinauf. Sagte: »Ja, Treasure. Ich hole sie ab. In einer halben Stunde. Entspann dich.«

Nachdem er aufgelegt hatte, drehte er sich zu Mace. »Sie sollte eigentlich wissen, dass wir eine Firma haben. Und ich kein Chauffeur bin.«

»Meistens sind wir aber Chauffeure«, gab Mace zu bedenken. »Wenn man sich’s genau überlegt.«

»Was?« Pylon nahm seine Flasche vom Couchtisch. »Pumla kann noch eine halbe Stunde warten. Sie ist sowieso bei euch. Mit Christa. Oumou passt auf beide auf. Aber nein, schon ist Treasure wieder auf hundertachtzig.« Er trank einen Schluck. »Was meinst du mit Chauffeuren?«

»Mir kommt’s manchmal so vor«, erklärte Mace, »als würden sich die Aufgaben im Sicherheitsdienst inzwischen darauf beschränken. Verängstigte Leute durch die Gegend zu kutschieren.«

Pylon lachte. »Wenigstens für gutes Geld.«

»Es ist an der Zeit, dass wir was anderes machen.«

»Ernsthaft?«

»Glaub schon.« Mace trank einen Schluck. Und noch einen, ehe er die Flasche wieder so auf den Untersetzer stellte, dass sie genau auf dem feuchten Ring stand. »Security ist für Kinder. Echte Kerle kriegen einen Kick, wenn sie sich morgens ihre Neun-Millimeter umschnallen.«

»Das ist mir neu.«

»Ich hab mir das durch den Kopf gehen lassen.« Mace sah ihn an. »Überleg doch mal, was hier passiert. Wohin soll das alles führen? Unser ganzes Leben lang haben wir mit Waffen gehandelt, wurden beschossen, haben zurückgeschossen. Dann ist der Krieg zu Ende. Und was machen wir? Wir suchen uns eine Nische, wo wir wieder schießen können. Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Das hat es aber bisher.«

»Jetzt nicht mehr. Außerdem habe ich diesen Prozess am Hals.«

»Ich dachte, Captain Gonz hat das geregelt. Im Keim erstickt.«

Mace schüttelte den Kopf. »Das war eine Aussetzung des Verfahrens. Terminverschiebung aus formalen Gründen. Er hat mir erklärt, dass es jetzt keine weiteren Aussetzungen mehr geben wird. Der amerikanische Konsul macht Druck, sorgt sich um seine mordenden Landsleute. Der Prozess soll endlich losgehen, damit man ein Urteil fällen und das Ganze abhaken kann.« Mace nahm noch einen Schluck. »Der Konsul hat anscheinend dem Staatsanwalt eingeheizt, damit der in die Gänge kommt.«

Pylon beobachtete die Leute unten auf dem Platz, die sich zur Begrüßung umarmten, am Ende der Woche entspannten. »Du hättest sie erledigen sollen.«

»Paulo und Vittoria?«

»Ja. Hätte dir viel Ärger erspart. Du bist weich geworden.«

»Vielleicht.« Mace spielte mit einem losen Faden, der aus der Couchlehne herausstand. »Ich dachte … Ich weiß nicht, was ich dachte. Ich dachte, nach dem Blutrausch, in dem die waren, würde die Sache klar und schnell über die Bühne gehen.« Er zog den Faden heraus. »Zwei echte Pluspunkte für Captain Gonzales in seiner Akte. Paulo und Vittoria im Labyrinth des Strafvollzugs verschwunden. Stattdessen wollen sie der Welt beweisen, dass ich sie gefoltert habe.« Er wickelte den Faden um seinen Finger.

»Was du getan hast.«

»Um sie zu einem Geständnis zu zwingen. Wie sie die italienischen Schwulen, Isabella und ihren Handlanger umgebracht haben.«

Pylon runzelte die Stirn. »Isabella war ein Problem. Sie hat nur Schwierigkeiten gemacht, wir hätten uns von ihr fernhalten sollen.«

»Von ihr haben wir aber die Diamanten bekommen. Schon vergessen?«

»Wegen ihr wären wir beinahe hopsgegangen. Und das alles, weil sie dich am Schwanz hatte.«

»Früher war ich mal scharf auf sie. Stimmt.« Mace wickelte den Faden so fest um seinen Finger, dass es schmerzte.

»Früher ist früher. Du kannst nicht loslassen. Das ist dein Problem.« Pylon schüttelte den Kopf. »Was meint also der Captain?«

»Der steckt auch in Schwierigkeiten. Ihm wird Konspiration vorgeworfen. Und Zurückhaltung von Beweisen. Gonz ist kein glücklicher Mann. Die Anhörung soll in einem Monat stattfinden. Ich kann jetzt jederzeit eine Vorladung bekommen.«

»Aber bisher ist keine eingetroffen?«

»Nein, bisher nicht.«

Mace zog den Faden fester. Schnitt eine Grimasse.

Pylon sagte: »Du schnürst dir noch den Finger ab, wenn du so weitermachst.«

Sie tranken. Vom Platz drangen Stimmen zu ihnen hoch. Pylon durchbrach das Schweigen. »Deshalb willst du also die Firma verkaufen. Willst du abhauen, bevor es zum Prozess kommt?«

Mace sah ihn an. Er musste die Augen zusammenkneifen, um Pylons Miene im Gegenlicht zu erkennen. »Siehst du eine andere Möglichkeit? Mir steht Gefängnis bevor. Und was wird dann aus Oumou und Christa?«

»Es gab doch schon drei Terminverschiebungen. Die Mühlen der Gerechtigkeit geraten immer wieder ins Stocken. Verlass dich auf den Captain, der hat viel zu verlieren.«

»Du steckst nicht in meiner Lage«, erwiderte Mace.

»Ich meine ja nur …« Pylon glitt vom Fensterbrett und streckte sich. »… dass wir erst einmal alle Möglichkeiten abwägen sollten. Wir müssen den richtigen Zeitpunkt wählen, um zu verkaufen. Jetzt noch nicht. Das weißt du auch. Du kannst dein Leben nicht anhalten, nur weil dieser Prozess droht. Vielleicht kommt das Ganze ja gar nicht vor Gericht. Und was ist dann?«

Mace zog die Augenbrauen hoch. Seine Miene: Na klar, träum weiter.

»Nein, warte. Das meine ich ernst.« Pylon schlenderte zur Couch und setzte sich Mace gegenüber. »Hör zu.« Er beugte sich vor, damit Mace ihn ansehen musste. »Es gibt einen Ausweg, langfristig betrachtet. Mach bei meinem Vorhaben an der Westküste mit. Golfanwesen bringen richtig viel Kohle.« Die Sache an der Westküste gehörte zu Pylons Risikofinanzierungen, an denen sich Mace ohnehin beteiligen wollte.

»Und wie?« Er nahm noch einen Schluck. »Womit? Woher sollen Oumou und ich das Geld dafür kriegen?«

»Von mir.« Pylon starrte ihn bedeutungsvoll an. »Das ist die Lösung für uns, Brother. Wenn du es so dringend willst, dann halt dich an der Rettungsleine fest, die ich dir gerade hinwerfe. Falls das klappt, dann können wir über einen Verkauf der Firma nachdenken. Dann können wir uns absetzen und müssen nicht mehr diesen ganzen Mist hier machen. Wir können die Cayman-Konten auflösen und richtig aus dem Vollen schöpfen. Wenn wir vorsichtig sind, erwischt uns das Finanzamt nie.«

»Und der Prozess?«

»Vergiss den Prozess. Denk positiv.«

Mace warf einen Blick aus dem Fenster auf den Berg hinaus. Das letzte Sonnenlicht des Tages erhellte die Felswände und brachte das Rot im Sandstein zum Glühen. »Wir hocken hier und kommen einfach nicht an dieses ganze verdammte Geld auf den Caymans heran. Unsere Kohle. Unsere hart verdiente Kohle.«

»Wenn das mit dem Golfanwesen klappt, lässt es sich darüber waschen, zumindest ein Teil. Dann können wir machen, was wir wollen.«

»Es frisst mich auf«, sagte Mace.

Pylon lehnte sich zurück. »Das ist eine Möglichkeit, endlich alles in Ordnung zu bringen.«

»Falls ich ins Kittchen wandere.«

»Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, du sollst den Prozess vergessen. Der Sache stellen wir uns, wenn und falls es nötig ist.«

Mace sah seinen Partner an. Unerschütterliche Überzeugung in Pylons Augen.

»Glaub mir«, sagte Pylon. »Vielleicht kommt es gar nicht so weit. Also …« Er lehnte sich wieder nach vorn. »Lass uns das erst mal beiseiteschieben, und klären wir diese andere Sache. Die mit dem Verkauf. Ich habe schon früher von dir gehört, dass du rauswillst. Vielleicht zwei- oder dreimal bisher.«

»Stimmt.« Mace nickte. »Als Christa angeschossen wurde. Nachdem dieses Arschloch diese Entführungsnummer durchgezogen hatte. Und nachdem Isabella ermordet wurde. Ich weiß, ich hab’s jedes Mal gesagt. Aber jetzt mal ehrlich: wieso nicht? Ich habe das Geld gebraucht. Ich brauche es immer noch. Ohne die Kohle stecken Oumou und ich fest.« Mace griff nach seinem Bier. »Mit dem Prozess gerate ich in verdammt große Schwierigkeiten. Das war’s dann. Für mich. Und für meine Familie.«

Sie tranken schweigend. Mace dachte: Wenn ich abhaue, wo zum Teufel sollen wir leben? In Malitia? In Oumous Wüstenheimat, wo sie sich kennengelernt hatten? Mittelalterliche Tuaregs und Ziegen. Nichts außer Saharasand und in der Ferne diesige Berge. Er würde wahnsinnig werden. Nichts zu tun. Niemand, mit dem man reden konnte. Kein Wasser, nirgendwo zu schwimmen. Und Christa war ein Mädchen aus der Stadt. Sie würde das nicht ertragen. Außerdem hatte Pylon recht. Und Pylon selbst würde auch nie von hier weggehen. Das war sein Leben. Er musste die Firma behalten, bis er die Schwarzgeldkonten waschen konnte. Nach und nach, damit niemand etwas merkte.

Mace fragte: »Was ist mit Obed Chocho? Wird er dir die Westküste vor der Nase wegschnappen?«

»Das ist echt großer Bockmist«, erwiderte Pylon. »Bereitet mir ziemliches Kopfzerbrechen. Selbst aus dem Gefängnis heraus schafft es dieser Kerl, sein Netzwerk am Laufen zu halten. Er könnte uns alles versauen.«

Maces Handy klingelte. Er zog es aus seiner Hosentasche. Hob ab.

Eine Stimme fragte in sein Ohr: »Spreche ich mit Mr Mace Bishop?«

Mace merkte, wie es ihm die Brust zusammenschnürte. Er wollte nur noch weg. Fragte: »Wer ist da?« Sah, dass Pylon aufstand und ihm zuflüsterte: »Wir reden morgen weiter.«

Mace hielt eine Hand hoch; warte. Pylon schüttelte den Kopf und fuhr sich mit den Fingern quer über den Hals: »Treasure.«

Mace winkte ihn lächelnd fort und hörte die Stimme sagen: »Mein Name ist Telman Visser, Mr Bishop. Richter Telman Visser.«

Der Name sagte ihm nichts. Kein Afrikaans im Akzent. Klang nach teurer Kapstädter Privatschule, ruhig, entschlossen. Visser mit »r« und nicht dem üblichen schweren »a«: Vissa. Mace stellte sich Bishopscourt vor, ein langgestrecktes Haus im Ranchstil, umgeben von einer hohen Hecke, der Richter auf einem Rasen stehend und zum Berg hinüberblickend. Vogelgezwitscher im Hintergrund. Der Richter, der von niemandem belauscht werden wollte. Ein Mann zwischen Ende vierzig und Anfang sechzig. Ließ jedenfalls die Stimme vermuten.

Mace sagte: »Aha.« Wartete.

Bis der Richter am anderen Ende der Leitung fragte: »Mr Bishop, sind Sie noch da?«

»Bin ich«, erwiderte Mace. Und wartete. Zuckte mit den Achseln. Hörte, wie Hagedasch-Ibisse kreischten, während sie wahrscheinlich über dem Richter dahinflogen.

Der Richter sagte: »Mr Bishop, können wir uns treffen? Vielleicht in der Michael-Stevenson-Galerie. Kennen Sie die? In Green Point.«

Mace meinte: »Nicht viele haben diese Nummer.«

»Ah.« Das Kreischen der Ibisse drang nun nur noch von ferne durch die Leitung. In der Stimme des Richters klang ein Lachen an. »Natürlich. Entschuldigen Sie. Ein New Yorker Kollege hat mich an Sie verwiesen. Er gab mir auch Ihre Handynummer. Er und seine Frau waren hier auf einer Schönheitssafari, wie er das nannte. Im letzten November. Richter Steinhauer und seine Gattin. Ihr Sicherheitsservice hat ihn sehr beeindruckt. Und noch jemanden vor Ort, der allerdings lieber anonym bleiben möchte.«

»Interessant«, erwiderte Mace. »Ich erinnere mich an Richter Steinhauer.« Er sah den silberhaarigen Richter vor sich, ein Johnny-Cash-Fan, der die meiste Zeit über die Knopfhörer seines iPods in den Ohren hatte. Seine Frau war gekommen, um sich Gesicht und Brüste verschönern zu lassen. Nicht, dass sie das mit fünfundvierzig nötig gehabt hätte. War zehn oder fünfzehn Jahre jünger als ihr Mann gewesen.

»Ich habe ein Problem, Mr Bishop. Und deshalb brauche ich jemanden, der mich beschützt. Zuverlässig beschützt.«

»Das ist unser Beruf«, erwiderte Mace und wünschte sich, das nicht sagen zu müssen. Er stand auf und trat ans Fenster. Der Tafelberg war nicht mehr in Sonnenlicht getaucht und wirkte jetzt düster und unheimlich.

»Wenn wir das nicht am Telefon besprechen könnten, wäre ich Ihnen sehr verbunden. Ich bevorzuge ein persönliches Gespräch«, erklärte der Richter. »Wie wäre es morgen Vormittag? So um halb elf, elf?« Sein Tonfall verriet, dass er es nicht gewohnt war, anderen entgegenzukommen.

Mace überlegte. Mist. Damit konnte er seine Runde im Schwimmbecken des Point vergessen. Wenn er noch seltener übte, würde ihn Christa bald überholen. Sollte ihn seine Tochter wirklich beim Schwimmen auf Robben Island links liegen lassen? Das würde er sich dann immer wieder anhören müssen. Pylon würde sein Bestes geben, ihn das nie vergessen zu lassen.

»Wie wäre es mit Dienstag? Da bin ich wieder in der Stadt.«

»Ich muss umgehend zu einer Vereinbarung kommen, Mr Bishop. Spätestens morgen. Verstehen Sie?«

Mace dachte: Kann nur ein Richter sein, der umgehend zu einer Vereinbarung kommen muss. Er beschloss, sich den Typen einmal anzusehen. Vielleicht sprang ja ein gutes Geschäft dabei heraus.

»Also gut«, sagte er. »Halb elf. Wo noch mal?«

Der Richter wiederholte die Adresse.

»In einer Galerie?«

»Da gibt es etwas, was ich Ihnen zeigen möchte. Damit Sie mich besser verstehen.« Er legte auf.

5

Sie waren jetzt seit zwei Stunden unterwegs. Hatten die stillgelegten Minen und die Gewerbegebiete hinter sich gelassen und das Farmland erreicht. Der Horizont tat sich auf. Es wurde stiller, und die Sonne ging im Westen glühend rot unter – genau in der Richtung, auf die sie zusteuerten. Sie tauchte die Maisfelder in ein orangefarbenes Licht. Manga schaltete die Scheinwerfer ein. Er brauchte dringend einen Burger und Pommes, Ketchup und dazu ein Bier, um alles hinunterzuschwemmen.

Spitz auf dem Beifahrersitz lauschte seinem iPod, die Augen auf die Landschaft gerichtet. Alle fünfundvierzig Minuten rauchte er eine Mentholzigarette. Manga fiel das auf. Nach genau fünfundvierzig Minuten zündete sich Spitz eine weitere an. Als ob ein Wecker in seinem Kopf rasseln würde. Nach der Zigarette trank er einen Schluck Mineralwasser, mit Kohlensäure versetzt. Stellte die Flasche in einen Halter über dem Ventilator auf dem Armaturenbrett. Die ganzen zwei Stunden über wechselten die beiden kein Wort.

Manga dachte: Captain, du bist echt öde. Er fasste nach der Coladose im Halter neben dem Wasser. Trank sie leer. Warf die Dose über seine Schulter nach hinten. Hätte er nicht sein Handy dabei, hätte er mit niemandem gesprochen. Noch schlimmer: Er hatte keine Musik mitgebracht. Soweto zu verlassen, war ein echter Fehler gewesen. Und dieser Typ neben ihm hatte nicht vor, seine Songs mit irgendjemandem zu teilen. War sowieso bizarres Zeug, soweit er das hören konnte. Kein Rap. Kein R&B. Kein Kwaito. Nur Popscheiß.

Er beugte sich zu Spitz hinüber und berührte ihn am Arm. Spitz wandte den Kopf. Seine Augen wirkten benommen, die Lider auf halbmast.

»Wir wär’s mit ’nem Happen zu essen, Captain? Burger und Pommes? In fünf Kilometern fahren wir an einem One Stop vorbei.«

Spitz zog seine Ohrhörer heraus. »Was gibt es?«

»Ein One Stop.«

»Ein One Stop?«

Manga lachte. »Kein Spur oder Steers. Nicht mal ein McDonald’s. Ein One Stop.«

Spitz schüttelte den Kopf. »Was ist das?«

»Mann, Captain.« Manga sah ihn belustigt an. »Sie kennen One Stop nicht?«

»Nein.«

»Fahren Sie nie Auto? So wie jetzt – über lange Strecken?«

»Wenn ich in einer anderen Stadt arbeite, fliege ich.«

Manga schlug auf das Lenkrad. »Kann nicht sein, Mann. Sie sind noch nie in Ihrem Leben so wie jetzt durchs Land gefahren? Nie?«

»Nein. Warum auch?«

»Warum? He, Captain. Captain. Um sich das Ganze anzusehen. Sie wissen schon – um zu sehen, wo die Vorfahren so abgehangen sind. Auf den Grasebenen. In der Wüste. Oben in den Bergen. Die Art von Land, die sie noch kannten. Um das zu sehen, was so zwischen den Städten passiert.«

Spitz schüttelte eine Mentholzigarette aus der Schachtel und drückte am Armaturenbrett den Zigarettenanzünder hinein. »Interessiert mich nicht.«

»Hä?« Manga fuhr mit der Zunge über seine Zähne. Ihm wurde auf einmal etwas klar. »Sie wissen gar nicht, wohin wir fahren und wie der Job aussieht, der Sie dort erwartet – oder?«

»Das ist Ihre Aufgabe.« Spitz zündete seine Zigarette an und stieß ein wenig Rauch aus. »Ich arbeite so: Man bringt mich an einen Ort, und dort erklärt man mir, wer die Zielperson ist. Ich erledige den Job. Dann bringt man mich wieder nach Hause.«

»Raten Sie mal, Captain.«

Spitz gab keine Antwort.

»Kommen Sie schon, raten Sie.«

»Ich kann Ihre Gedanken nicht lesen.«

»Ich selbst hab absolut keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ein Zimmer in einem Motel für uns reserviert wurde, das noch vier Stunden Fahrzeit entfernt ist. Das bedeutet Mitternacht. Morgen ruft man uns dann an. Um mir weitere Anweisungen zu geben.«

»Das ist okay.«

»Vielleicht für Sie, Captain. Aber ich meinerseits hätte gern etwas mehr Informationen.«

Spitz sog an seiner Menthol. Etwas entfernt sah man grelle Lichter in der Dämmerung aufleuchten. Musste Mangas One Stop sein.

Manga fuhr fort: »Das hier ist nicht meine Art von Arbeit. Ich bin eigentlich kein Chauffeur. Das ist nur ein Gefallen für die Leute, die uns angeheuert haben.«

»Und es bringt Ihnen Geld.«

»Was?«

»Sie machen es auch wegen des Geldes.«

Manga lachte. »Klar, Captain, für die Knete.«

Nach dem One Stop fuhren sie stundenlang durch die Nacht. Der Burger lag schwer in Spitz’ Magen, und er hatte jedes Mal einen verbrannten Geschmack im Mund, wenn er aufstieß. Der Nudelsalat wäre besser gewesen. Und Bier statt Wein. Der Wein war bereits sauer. Er starrte in die Dunkelheit hinaus, eine Dunkelheit, die so undurchdringlich war, dass man weder Gestalt noch Größe der Landschaft erkennen konnte. Gelegentlich wanderten die Scheinwerfer in einer Kurve über den Rand der Fahrbahn hinaus und zeigten Steine, hartes Gebüsch und das Schimmern von Abfall. Manchmal rot leuchtende Tieraugen. Am Horizont blitzte ein Gewitter auf. Spitz beugte sich nach vorn, um die Sterne durch die Windschutzscheibe zu betrachten. Die Bewegung brachte erneut einen Rülpser hervor, der angekohlt schmeckte. Die Sterne sagten ihm gar nichts.

»Das ist die Wüste«, meinte Manga. »Wollen Sie die Sterne sehen?«

Spitz schüttelte den Kopf. »Ich kann sie auch von hier aus sehen.«

Manga hatte eine Maglite-Taschenlampe mit vier Batterien in der Hand, mit der er von Zeit zu Zeit das Gestrüpp am Straßenrand beleuchtete. Er hatte das Fenster heruntergelassen. Die Luft war kühl. Spitz hatte nichts dagegen, auch nichts gegen den durchdringenden Vegetationsgeruch, der hereinwehte, scharf wie frischer Katzenurin.

Augen blitzten in Mangas Lichtstrahl auf und verschwanden wieder.

»He, wena. Da haben wir sie. Genau, Captain, genau.« Manga stieß einen schrillen Pfiff aus, während er bremste und den Wagen herumwirbelte, so dass er in die Richtung zeigte, aus der sie soeben gekommen waren.

Spitz stützte sich mit beiden Händen am Armaturenbrett ab. »Was soll das?« Seine Worte klangen leise. Beinahe wie ein Flüstern.

Manga achtete nicht auf ihn. Drückte ihm nur die Maglite in die Hand. »Leuchten Sie da hin. Nach vorn. In die Augen.« Langsam fuhren sie am Kiesrand der Straße entlang, bis der Lichtstrahl Augen erfasste.

»Yeah«, sagte Manga, lenkte den Wagen auf das Feld und hielt an. »Esel, Captain. Was meinen Sie? Was zum Zielen.« Ehe Spitz antworten konnte, war Manga bereits ausgestiegen und durchwühlte seine Tasche im Kofferraum. Spitz trat zu ihm, die Taschenlampe in der Hand. Er richtete den Strahl auf die beiden CZ-Pistolen, die Manga hielt.

»Ich meine, Captain, man kann nie wissen. Zwei sind besser als eine.« Er hielt Spitz eine Waffe hin. »Nehmen Sie. Los, machen Sie schon. Machen Sie.«

Spitz nahm die Waffe, deren Gewicht sich ungewohnt, aber nicht unangenehm anfühlte.

»Keine windige Zweiundzwanziger, sondern eine mit echter Feuerkraft, Captain. Neun Millimeter Parabellum. Genau so eine wollen wir.« Er klappte den Kofferraum zu und nahm Spitz die Taschenlampe aus der Hand.

Dann führte er sie durch das Gestrüpp in Richtung der Esel, wobei er den Lichtstrahl herumwandern ließ und drei von ihnen beim Grasen entdeckte. Die Tiere rührten sich nicht von der Stelle, als die Männer näher kamen. Manga gab Spitz die Lampe wieder.

»Richten Sie den Strahl auf den Kopf. Hinter die Augen.«

Spitz richtete das Licht auf den Kopf des Esels, der ihnen am nächsten stand. Das Tier trat zur Seite, und in diesem Moment schoss Manga. Der Esel ging zu Boden, sein Körper zuckte noch einen Augenblick lang.

Spitz spürte den Widerhall des Schusses, dessen Lautstärke rasch von der gewaltigen Dunkelheit um sie herum verschluckt wurde. Die anderen Esel schrien und stürzten davon, ihre Hufe klapperten auf den Steinen.

Manga fluchte. Zuerst rief er in Zulu, dann auf Englisch. »Ihnen nach! Das Licht! Richten Sie das Licht auf sie!« Als Spitz nicht gehorchte, riss er ihm die Lampe aus der Hand und ließ sie hastig über die Büsche wandern. Das Hinterteil eines Tieres verschwand gerade in einer Senke.

Manga rannte ihm hinterher. Stolpernd und fluchend rutschte er den Hang hinunter. Spitz rührte sich nicht von der Stelle. Hörte, wie Vögel aus den Büschen aufflogen, sich aus dem Staub machten. Hörte zwei weitere Schüsse kurz nacheinander. Wartete. Sah den Lichtstrahl zurückkehren. Manga atemlos.

»Ich hab ihn irgendwo getroffen. Einen von ihnen.« Er richtete das Licht auf den toten Esel, dessen Augen weit offenstanden und feucht schimmerten. »Mist, was? Nicht so leicht zu töten.« Er leuchtete Spitz ins Gesicht. »He, Sie haben ja gar nicht geschossen.«

Spitz hielt eine Hand hoch, um das Licht abzuwehren. Meinte: »Ich schieße nicht auf Tiere.«

Eine Stunde nachdem sie im Motel eingecheckt hatten, brach Manga noch einmal alleine auf. Er fuhr auf der Umgehungsstraße um die Stadt und dann die Hauptstraße hinunter. Ihm war rasch klar, dass dieser Ort für einen Überfall ideal war. Man konnte mit einem Lkw direkt in eine der Banken donnern, und niemand würde etwas bis zum nächsten Morgen merken. Noch ehe die Bullen wach waren, hätte man aufgeladen und wäre über alle Berge.

Er fuhr langsam, während er nach der Kanzlei von »Jan Niemand, Staatsanwalt/Rechtsanwalt« Ausschau hielt. Kam an der Kanzlei eines anderes Anwalts vorbei und fragte sich, warum es genügend Arbeit für zwei Advokaten in einer Kleinstadt wie dieser gab, ehe er entdeckte, was er suchte. Kleines Gebäude mit einem Giebeldach, auf die Straße blickend, umrahmt von zwei weiteren Häusern. Die Fensterläden geschlossen. Ein Schild mit dem Namen des Anwalts sauber über der Tür angebracht.

Die Lage zwischen zwei Häusern behagte Manga nicht ganz. Doch er wusste, dass es in einer solchen Stadt eine Gasse hinter den Büros geben musste. Dort stellte er seinen Wagen vor einem Tor ab, auf dem Jan Niemands Name mit großen Lettern geschrieben stand. Einige Hunde bellten, doch Lichter gingen keine an.

Er holte einen Benzinkanister aus dem Kofferraum sowie einen Schraubenzieher aus dem Werkzeugsatz. Die Maglite schob er zusammen mit einer Neun-Millimeter hinten in seinen Gürtel.

Das Tor war nicht verschlossen. Manga betrat den Hintergarten. Zwei Gartenstühle standen um einen Tisch, ein Sonnenschirm ragte aus einem Loch in der Mitte hervor. Rasen unter seinen Schuhsohlen. An den Seiten Blumenbeete. Jemand machte sich die Mühe, den Garten zu pflegen.

Vier Schritte bis zur Hintertür. Er verwendete den Schraubenzieher, um das Schloss zu öffnen. Ein handelsübliches einzylindriges Schloss. Hätte man sich genauso gut gleich sparen können. Im Inneren roch es nach Abflussreiniger. Teetassen auf einem Geschirrtuch, ein Kühlschrank, eine Mikrowelle, ein Toaster. Die Holzdielen knarzten, als er sich bewegte. Er hielt inne und lauschte.

Dann schlich er durch die Küche in den Flur hinaus. Zwei Zimmer rechts, zwei Zimmer links. Er warf überall einen Blick hinein, ließ die Maglite durch die Räume wandern: vorne Empfangszimmer, gegenüber ein Büro, dahinter jeweils Lagermöglichkeiten für die Dokumente. Metallene Aktenschränke an den Wänden. Manga begann rechts. Öffnete Schubladen, übergoss den Inhalt mit Benzin. Das Gleiche mit den Schränken in dem anderen Zimmer. Holzdecken. Holzböden unter abgetretenen Teppichen. Das Haus würde lichterloh brennen. Er warf rechts und links brennende Streichhölzer hinein und wich zurück.

Aus dem Büro kam ein alter Mann in einem Morgenmantel, ein Jagdgewehr fest in beiden Händen.

Manga lenkte den Lichtstrahl auf ihn: »Ah, Scheiße, Mann, Captain. Was tun Sie hier? Haben Sie kein Zuhause?«

Der Mann richtete das Gewehr auf ihn und rief etwas auf Afrikaans, was Manga nicht verstand.

Fragte: »Was?« Spürte die Hitze des Feuers, dessen Flammen bereits den Teppich erfassten.

Der Mann jetzt auf Englisch: »Hände hoch!«

»Hä?« Manga lachte. »Sie machen Witze, oder?«

»Nehmen Sie die Hände hoch.« Der alte Mann fuchtelte mit seinem Gewehr herum. »Sonst schieße ich.«

»Scheiße, Captain.« Ehe der Alte einen Schuss abfeuern konnte, zog ihm Manga eine mit der Maglite über. Leise ächzend brach er zusammen. Er trug nicht nur einen Morgenmantel, sondern auch Hausschuhe, wie Manga jetzt bemerkte. »Scheiße, Captain«, wiederholte er und wich weiter zurück. Er packte das Gewehr und schloss die Küchentür hinter sich. Die Hunde hatten aufgehört zu bellen. Die kleine Stadt war wieder so still wie die Wüste um sie herum.

Samstag

6

Mace schob sich ein Stück Croissant in den Mund und schlug die Zeitung auf, um eine Reportage zu lesen: Vier weitere Touristen auf dem Tafelberg überfallen. Trotz all der Ranger, die nun patrouillierten, gelang es niemandem, diesen Mistkerl zu erwischen, der sich offenbar auf Touristen spezialisiert hatte. Unglaublich. Wedelt mit einem Messer vor der Nase einiger Deutscher herum und löst sich dann in Luft auf. Mace schüttelte den Kopf. Ein Straßenräuber, der immer wieder entkam. Diese Art von Unfähigkeit der Behörden ermutigte ja geradezu zur Selbstjustiz. Auch Mace begann bereits darüber nachzudenken, ob er nicht einfach da hinauf und die Sache ein für allemal klären sollte.

»Papa«, sagte Christa. »Ich versuche die ganze Zeit, dir was zu erzählen.«

Mace legte die Zeitung auf den Frühstückstisch. »Ich höre zu.«

»Tust du nicht«, widersprach Christa.

»Doch, ich höre«, sagte Mace und wischte sich mit dem Handrücken die Brösel vom Mund. »Ich habe dich schon beim ersten Mal gehört. Ich glaube, ich weiß, von wem du sprichst. Sie ist in deine Schule gekommen. Erzähl es mir aber noch einmal.«

Oumou trat mit einer Kaffeetasse in der Hand in einem blauen Sarong aus dem Haus. Sie gesellte sich zu den beiden neben den Pool, wo sie frühstückten. Unter ihnen lag die Stadt. Ein ruhiger Samstagmorgen. Oben auf dem Berg fuhren die ersten Touristen mit der Seilbahn auf den Gipfel, um von dort aus auf die Sehenswürdigkeiten hinunterzudeuten: Hafen, Waterfront, Robben Island, die geschwungene Linie der Bucht an der Westküste.

Oumou sagte: »Das ist eine schlimme Geschichte, Christa.« Doch sie lächelte.

»Du hast nicht gelacht?«, wollte Mace wissen.

»Hat sie wohl«, erklärte Christa.

»Oui«, sagte Oumou. »Ich muss es zugeben.«

»Na eben«, meinte Mace. »Also, erzähl es noch mal.« Cat2 räkelte sich auf seinem Schoß, und er strich dem Tier über die Narbe an jener Stelle, wo es als junges Kätzchen an die Wand genagelt worden war. Es krümmte bei seiner Massage genüsslich den Rücken.

»Okay«, erwiderte Christa. »Also, diese Frau kommt zu uns in die Klasse, um über Drogen zu reden. Wie sie sich früher das Zeug gespritzt und so oft in ihr Bein gejagt hat, dass es schließlich entfernt werden musste. Ihr Bein.« Sie kicherte.

»Heftig«, sagte Mace, ließ von der Katze ab und wandte sich wieder seinem Mandelcroissant zu.

»Sie hat jetzt so eine coole Chromstange, die an ihrem Knie befestigt ist, und trägt untendran einen Nike-Schuh, der zu dem an ihrem richtigen Fuß passt.«

Mace lächelte. »Gelbe Turnschuhe.«

»Woher weißt du das?«

»Einfach so.«

Christa musterte ihn misstrauisch. »Wie einfach so?«

»Wenn es sich um dieselbe Frau handelt, die ich meine, dann trägt sie gelbe Turnschuhe. Erzähl weiter.«

»Okay. Also, sie erzählt uns, wie sie sich zwischen die Zehen gespritzt hat. Dann holt sie diese Spritze mit Blut und so raus und zeigt sie uns. Ekelhaft!«

Oumou goss Kaffee aus der Bialetti in ihre Tasse. Schlug Maces Hand beiseite, die unter dem Sarong über ihren Schenkel wanderte.

»Maman! Papa!«, rief Christa.

Mace zwinkerte seiner Frau zu und bemerkte, wie Christa sie beobachtete. »Erzähl weiter, C.«

»Du hörst mir gar nicht zu.«

»Doch, tue ich.« Mace drückte Oumous Knie und widmete sich wieder mit beiden Händen seinem Frühstück. Schmierte Honig auf ein Croissant, riss ein Stückchen davon ab. Er kaute genüsslich und schwappte es mit einem Schluck Kaffee hinunter.

»Dann schraubt sie es auf. Nicht richtig aufschrauben. Du weißt schon, sie drückt eine Art Knopf hinter dem Knie, und die ganze Stange kommt heraus.«

»Eine Prothese.«

»Genau«, sagte Christa. »Pro-hese.«

»Prot«, korrigierte sie Mace und fütterte Cat2 mit etwas Croissant. »Prothese.«

»Egal«, fuhr Christa fort. »Jedenfalls steht sie da auf einem Fuß, mit ihrer Prot… was auch immer … in der Hand. Sie fuchtelt wie mit einem Zauberstab damit herum. Wir rufen alle: ›Igitt‹ und ›Oh‹ und so, und sie ruft: ›He, fangt auf!‹ Und sie wirft uns ihr künstliches Bein zu. Echt jetzt. Sie wirft es uns direkt zu. In meine Nähe. Alle springen beiseite, um es ja nicht zu berühren.«

»Und was macht sie?«, wollte Mace wissen. »Die Frau mit dem einen Bein?«

»Hab ich dir doch schon erzählt«, erwiderte Christa. »Sie lacht. Als wäre das alles ein echt guter Witz. Und so.«

Mace schenkte sich Kaffee nach und goss auch Oumous Tasse wieder voll. »Und dann hat sich Pumla das Bein geschnappt?«

»Sie und ein paar andere«, erklärte Christa.

»Aber du nicht?«

»Ich habe es auch angefasst.« Christa schnitt eine Grimasse. »An der Kniestelle war es noch warm.«

»Und wer hat den Turnschuh ausgezogen?«

»Pummie.« Christa sah ihren Vater an.

Mace grinste. Pylon würde das gefallen: seine Stieftochter mittendrin. »Und?«

»Der Fuß hatte grüne Zehennägel. Das war so was von widerlich.«

»Genau das soll es doch sein.«

»Mace!« Oumou lachte. »Du bist gemein. Diese Frau ist sehr mutig, darüber zu sprechen.«

»Natürlich«, sagte Mace. »Stimmt, sie ist mutig. Das ist aber auch ihr Job, so verdient sie ihr Geld – wie eine Motivationstrainerin. So läuft das. Man raubt eine Bank aus, man wandert in den Knast, und danach zahlt man dir gutes Geld, um dich sprechen zu hören. Oder man wird vergewaltigt, man bekommt beinahe den Hals durchtrennt, man wird irgendwo als tot liegen gelassen, und schon kann man beruflich eine ganz neue Richtung einschlagen.«

»Mace.« Oumou sah ihn tadelnd an.

»Was?«

»Das ist nicht nett.«

»Aber so läuft das. Die Frau war drogensüchtig. Sie schafft es, clean zu werden, ein neues Leben anzufangen. Jetzt zeigt sie den Leuten, dass man nicht stehenbleiben muss. Dass man sein Leben ändern kann.« Er zeigte auf Christa. »Wir haben hier auch so jemanden. Noch vor ein paar Jahren galt sie als für immer gelähmt.« Mace dachte an den Schuss. Wie Christa aufgeschrien hatte. Wie sie zusammengebrochen war. An den Blutfleck, der sich auf ihrem Bauch ausgebreitet hatte. Jetzt sah er seine Tochter an, die ihm am Tisch gegenübersaß und ihn beobachtete: ihre Zen-Miene, ihr Buddha-Lächeln. Genau deshalb muss ich hier raus, dachte Mace. Und schwappte seinen Wunsch mit einem Schluck Kaffee hinunter.

Hörte Christa sagen: »Papa! Papa, hör zu.«

Mace lächelte sie an.

»Pummie wollte von ihr wissen, warum sie die Zehennägel angemalt hat.«

»Und was hat sie geantwortet?«

»Um sich an ihren Fuß zu erinnern. Dass sie früher mal einen echten hatte.«

»Wie traurig«, meinte Oumou.

»Die ist tough«, entgegnete Mace. »Wenn das die Frau ist, die ich meine, lebt sie mit einem Detektiv zusammen, einem früheren Bullen. Wir haben ihn einmal angeheuert, damit er gestohlene Waren für uns ausfindig macht. Kaut ständig Pfefferminzkaugummis. Netter Typ. Er und seine einbeinige Puppe.«

Sein Handy klingelte. Er fasste über den Tisch, wo es neben dem Korb mit Croissants und Brötchen lag. Auf dem Display stand »Pylon«. Er hob ab. Sah zu, wie Christa ihren Stuhl zurückschob und aufstand. Wunderschön. Der schwarze Badeanzug auf ihrer honigfarbenen Haut. Der Kinderkörper, der sich allmählich in den einer jungen Frau verwandelte. Er wusste noch nicht so recht, was er davon halten sollte, dass sich ihre Kindheit dem Ende zuneigte.

Er sagte ins Telefon: »Du störst beim Frühstück.«

Hörte, wie Oumou Christa erklärte, die jetzt am Rand des Pools stand: »Ich muss nachher Ton kaufen gehen, Cherie.