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Zwei Autoren, die für exzellenten Horror stehen, haben ihre Fähigkeiten zum zweiten Mal vereint; zwanzig Jahre nach «Der Talisman» legen sie erneut einen packenden Roman vor. Um einen unheimlichen Serienmörder zu stellen, muss Ex-Detective Jack Sawyer das schwarze Haus betreten - es ist der Eingang zu einer anderen Welt.
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Seitenzahl: 1317
DAS BUCH
In dem kleinen Ort French Landing, inmitten der weiten Wälder von Wisconsin, verschwinden Kinder. Einige von ihnen werden ermordet und auf grauenvolle Weise verstümmelt aufgefunden. Die Morde scheinen das Werk eines Serienkillers zu sein, den die Medien bald den Fisherman nennen. Der Polizeichef des Bezirks bittet seinen Freund Jack Sawyer um Hilfe bei den Ermittlungen. Dabei ahnt er nicht, dass Jack seit geraumer Zeit von unheimlichen Wachträumen heimgesucht wird, die offenbar mit den Morden in Zusammenhang stehen.
Die Vergangenheit hat Jack Sawyer eingeholt: Seit er vor fast zwanzig Jahren in jener anderen Welt war, steht er mit magischen Kräften in Verbindung. Der irdische Zugang zu dieser Parallelwelt ist ein düsteres Haus am Ortsrand, das von oben bis unten schwarz gestrichen ist. Um den Fisherman zu besigen, muss Jack dort gegen eine Macht kämpfen, die das Universum in Gefahr bringen könnte.
DIE AUTOREN
Stephen King ist einer der bekanntesten und erfolgreichsten amerikanischen Gegenwartsautoren. Er lebt in Bangor, Maine. Die meisten seiner Werke sind im Wilhelm Heyne Verlag erschienen.
Peter Straub gilt als einer der bedeutendsten Erneuerer der fantastischen Literatur. Er lebt in New York City. Zahlreiche seiner Werke sind im Wilhelm Heyne Verlag erschienen.
Der Talisman, der Vorgängerband zu Das schwarze Haus, ist ebenfalls im Wilhelm Heyne Verlag erschienen.
Im Anhang an den Roman findet sich ein ausführliches Werkverzeichnis von Stephen King.
Für David Gernert und Ralph Vicinanza
You take me to a place I never go, You send me kisses made of gold, I’ll place a crown upon your curls, All hail the Queen of the World!
The Jayhawks
Genau hier und jetzt …
Genau hier und jetzt, wie ein alter Freund zu sagen pflegte, sind wir in der ungewissen Gegenwart, in der Hellsichtigkeit keineswegs vollkommene Sehschärfe garantiert. Hier: etwa sechzig Meter, der Flughöhe eines kreisenden Adlers, über dem äußersten Westen von Wisconsin, wo die Launen des Mississippis eine natürliche Grenze haben entstehen lassen. Jetzt: ein früher Freitagmorgen Mitte Juli, einige Jahre nach Beginn eines neuen Jahrhunderts und eines neuen Jahrtausends, deren verschlungene Pfade so verborgen sind, dass ein Blinder bessere Chancen hat, das Zukünftige zu sehen als jeder gewöhnliche Mensch. Genau hier und jetzt, es ist kurz nach sechs Uhr morgens, und die Sonne steht im Osten tief am wolkenlosen Himmel: eine pralle, selbstbewusst gelblich weiße Kugel, die wie jeden Morgen scheinbar jungfräulich der Zukunft entgegensteigt und in ihrem Gefolge eine stetig wachsende Vergangenheit hinterlässt, die sich zurückweichend verfinstert und uns alle zu Blinden macht.
Unter uns übergießt die Morgensonne die weiten, sanften Wellen des Flusses mit rotgoldenen Glanzlichtern. Sonnenlicht glitzert auf den Gleisen der Burlington Northern Santa Fe Railroad, die zwischen dem Flussufer und den Rückseiten der schäbigen einstöckigen Häuser entlang der als Nailhouse Row bekannten Country Road Oo verlaufen; dies ist der tiefste Punkt der behaglich aussehenden Kleinstadt, die sich unter uns hügelaufwärts und nach Osten erstreckt. In diesem Augenblick scheint das Leben im Coulee Country den Atem anzuhalten. Die unbewegte Luft um uns herum ist so bemerkenswert klar und rein, dass man einen in einer Meile Entfernung aus dem Erdboden gezogenen Rettich riechen könnte.
Wir schweben in Richtung Sonne vom Fluss weg, über die glitzernden Schienen, die Gärten und Dächer der Nailhouse Row, dann über eine Reihe Harley-Davidsons, die schräg auf ihren Seitenständern stehen. Diese schlichten kleinen Häuser wurden zu Beginn des jüngst vergangenen Jahrhunderts für die in der Fabrik der Pederson Nail beschäftigten Eisengießer, Formenbauer und Packer errichtet. Da nicht zu erwarten war, dass einfache Arbeiter sich über die Mängel ihrer subventionierten Behausungen beschweren würden, wurden diese so billig wie nur möglich gebaut. (Die Firma Pederson Nail, die schon in den Fünfzigerjahren mehrfach unter Blutungen gelitten hatte, verblutete schließlich im Jahr 1963 endgültig.) Die wartenden Harleys legen den Schluss nahe, dass die Fabrikarbeiter durch eine Bikergang abgelöst worden sind. Das einheitlich wilde Aussehen der Harley-Besitzer – struppige, vollbärtige, schmerbäuchige Männer, die Ohrringe, schwarze Lederjacken und Zahnlücken zur Schau tragen – scheint diese Annahme zu bestätigen. Wie die meisten Annahmen enthält auch diese eine unbehagliche Halbwahrheit.
Die jetzigen Bewohner der Nailhouse Row, denen misstrauische Einheimische bald nach dem Einzug in die Häuser am Fluss den Spitznamen Thunder Five gegeben haben, lassen sich nicht so leicht einordnen. Sie sind qualifizierte Angestellte der Brauerei Kingsland Brewing Company, die am Südrand der Stadt einen Straßenzug östlich des Mississippis steht. Rechterhand kann man »den größten Sechserpack der Welt« sehen: Lagertanks, die mit gigantischen Etiketten der Biersorte Kingsland Old-Time Lager bemalt sind. Die Männer, die jetzt in der Nailhouse Row leben, haben sich auf dem Campus der University of Illinois in Urbana-Champaign kennen gelernt, wo sie alle bis auf einen im Hauptfach Englisch oder Philosophie studierten. (Die Ausnahme war Assistenzarzt an der chirurgischen Abteilung der Universitätsklinik gewesen.) Ihr Spitzname Thunder Five bereitet ihnen nicht wenig Vergnügen: Irgendwie könnte er einem Comicheft entsprungen sein. Sie selbst bezeichnen sich als »den hegelianischen Abschaum«. Diese Gentlemen bilden eine illustre Mannschaft, später werden wir genauer mit ihnen Bekanntschaft machen. Im Augenblick haben wir nur Zeit, die handgemalten Poster zu bemerken, die an mehreren Hausfassaden, zwei Laternenmasten und einigen leer stehenden Gebäuden kleben. Auf den Postern steht: FISHERMAN, BETE LIEBER ZU DEINEM STINKENDEN GOTT, DASS WIR DICH NICHT ALS ERSTE ERWISCHEN! DENK AN AMY!
Von der Nailhouse Row aus führt die Chase Street steil bergauf zwischen schief stehenden Gebäuden mit verwitterten, ungestrichenen, nebelgrauen Fassaden hindurch: das alte Hotel Nelson, in dem einige verarmte Dauergäste im Schlaf liegen; eine gesichtslose Kneipe; ein Schuhgeschäft, das schon bessere Zeiten gesehen hat und hinter seiner schlierigen Schaufensterscheibe Arbeitsstiefel der Marke Red Wing ausstellt; und ein paar weitere düstere Gebäude, deren Zweck nicht erkennbar ist, die aber eigenartig traumhaft und melancholisch wirken. Diese Bauten haben etwas von fehlgeschlagener Wiederauferstehung an sich, als wären sie vor dem dunklen Gebiet im Westen errettet worden, obwohl sie eigentlich schon tot waren. In gewisser Weise ist ihnen auch genau das widerfahren. Ein ockergelber waagrechter Streifen – drei Meter über dem Gehsteig an der Fassade des Hotels Nelson und einen halben Meter über dem ansteigenden Gelände an den aschgrauen Fassaden der beiden letzten Gebäude gegenüber – bezeichnet die Hochwassermarke der Überschwemmung des Jahres 1965. Damals war der Mississippi über die Ufer getreten und hatte die Bahngleise und die Nailhouse Row überflutet, wobei er bis fast zum oberen Ende der Chase Street gestiegen war.
An der Stelle, wo die Chase Street sich über die Hochwassermarke erhebt, um dann flach weiterzuführen, wird sie breiter und erlebt eine Umwandlung zur Hauptstraße von French Landing, so der Name der Kleinstadt unter uns. Das Agincourt Theater, das Lokal Taproom Bar & Grille, die First Farmer State Bank, das Samuel Stutz Photography Studio (das mit Porträts zur Schulentlassung, Hochzeitsfotos und Kinderporträts ein stetiges Geschäft macht) und Läden, die nicht wie die geisterhaften Relikte in der Chase Street wirken, säumen hier die unebenen Gehsteige: Benton’s Rexall Drugstore, das Eisenwarengeschäft Reliable Hardware, Saturday Night Video, Regal Clothing, Schmitt’s Allsorts Emporium, aber auch Geschäfte, die Unterhaltungselektronik, Zeitschriften und Grußkarten, Spielwaren und Sportkleidung mit den Logos der Brewers, der Twins, der Packers, der Vikings und der University of Wisconsin verkaufen. Einige Häuserzeilen weiter wird die Straße zur Lyall Road. Hier rücken die Gebäude auseinander und schrumpfen zu eingeschossigen Holzbauten, vor denen Firmenschilder Reisebüros und Versicherungsagenturen anpreisen; danach geht die Straße in einen Highway über, der an einem 7-Eleven, der Reinhold T. Grauerhammer Hall der Veteranenvereinigung und einem hier als Goltz’s bekannten großen Landmaschinenhändler vorbei nach Osten in eine Landschaft aus ebenen, durch nichts unterbrochenen Feldern gleitet. Steigen wir in der kristallklaren Luft weitere dreißig Meter hoch und suchen ab, was unter und vor uns liegt, sehen wir Karsttrichter, Felsenschluchten, kegelförmige Hügel mit einem Pelz aus Kiefern, lößreiche Täler, die zu ebener Erde erst richtig sichtbar sind, wenn man unvermutet auf sie stößt, mäandernde Flüsse, meilenweite Flickenteppichfelder und kleine Ansiedlungen – darunter auch Centralia, das aus ein paar verstreuten Häusern an der Kreuzung zweier schmaler Highways mit den Nummern 35 und 93 besteht.
Direkt unter uns macht French Landing den Eindruck, als wäre es mitten in der Nacht geräumt worden. Niemand ist auf den Gehsteigen unterwegs oder in gebückter Haltung dabei, den Schlüssel in eine der Ladentüren entlang der Chase Street zu stecken. Auf den schräg angeordneten Parkflächen steht noch keiner der Personenwagen und Pickups, die in ein, zwei Stunden allmählich auftauchen werden: erst allein oder paarweise, dann in einem wohl geordneten kleinen Strom. Hinter den Fenstern der Bürogebäude oder der unprätentiösen Häuser in den umliegenden Straßen brennt kein Licht. In der Sumner Street, eine Häuserzeile nördlich der Chase Street, stehen vier baugleiche zweistöckige Klinkergebäude, in denen von West nach Ost untergebracht sind: die Stadtbibliothek von French Landing; die Praxis von Dr. med. Patrick J. Skarda, des hiesigen Arztes für Allgemeinmedizin; Bell & Holland, eine Anwaltssozietät, die heute von Garland Bell und Julius Holland, den Söhnen ihrer Gründer, geführt wird; das Bestattungsunternehmen Heartfield & Son, das jetzt einem weit verzweigten Bestattungskonzern mit Zentrale in St. Louis gehört; sowie das Postamt von French Landing.
Das Gebäude am Ende der Straße, wo Sumner Street und Third Street sich kreuzen – ebenfalls ein zweigeschossiger Klinkerbau, der sich jedoch länger hinstreckt als seine unmittelbaren Nachbarn –, wird von diesen durch eine breit angelegte Einfahrt getrennt, die zu einem geräumigen Parkplatz hinter dem Haus führt. Ungestrichene Eisenstäbe versperren die nach hinten hinausführenden Fenster im ersten Stock, und zwei der vier Fahrzeuge auf dem Parkplatz sind Streifenwagen mit paarweise angeordneten Blinkleuchten auf dem Dach und den Buchstaben FLPD auf den Türen. Das Vorhandensein von Streifenwagen und vergitterten Fenstern wirkt in diesem Hort ländlichen Friedens fehl am Platz – welche Art Verbrechen könnte es hier wohl geben? Bestimmt nichts Ernstliches; sicher nichts Schlimmeres als ein paar Ladendiebstähle, Trunkenheit am Steuer und gelegentlich eine Schlägerei in einer Bar.
Wie um die Friedlichkeit und Rechtschaffenheit des Kleinstadtlebens zu bezeugen, rollt ein roter Lieferwagen mit der Aufschrift LA RIVIERE HERALD an den Seiten langsam die Third Street entlang und hält an fast allen Briefkastensäulen, damit der Zusteller die in einer blauen Plastikhülle steckenden Tageszeitung in die grauen Metallzylinder mit derselben Aufschrift stecken kann. Als der Lieferwagen in die Sumner Street abbiegt, wo die Häuser Einwurfschlitze statt Briefkasten aufweisen, wirft der Zusteller die verpackten Zeitungen einfach gegen die Haustüren. Blaue Pakete klatschen an die Türen der Polizeistation, des Bestattungsunternehmens und des Bürogebäudes. Das Postamt bekommt keine Zeitung.
Sieh da, hinter den zur Straße hinausführenden Fenstern im Erdgeschoss der Polizeistation brennt doch Licht. Die Tür öffnet sich. Ein großer, dunkelhaariger junger Mann, der ein blassblaues Uniformhemd, ein Lederkoppel mit Schulterriemen und eine marineblaue Hose trägt, tritt ins Freie. Das breite Koppel und die goldfarbene Plakette an Bobby Dulacs Brust glänzen in der Morgensonne, und alles, was er trägt, auch die 9-mm-Pistole an seiner Hüfte, scheint ebenso fabrikneu zu sein wie Bobby Dulac selbst. Er beobachtet, wie der rote Lieferwagen nach links auf die Second Street abbiegt, und betrachtet stirnrunzelnd die zusammengerollte Zeitung. Er stößt sie mit der Kappe des schwarzen, auf Hochglanz polierten Schuhs an und beugt sich eben weit genug nach vorn, um vermuten zu lassen, dass er die Schlagzeilen durch die Plastikhülle hindurch lesen will. Aber diese Methode scheint nicht allzu gut zu funktionieren. Bobby bückt sich, noch immer düster dreinblickend, ganz hinunter und hebt die Zeitung unvermutet sanft auf, so wie eine Katzenmutter ihr Junges aufnimmt, das sich vorwitzig von ihr entfernt hat. Er hält sie ein kleines Stück von sich weg, sieht mit raschem Blick die Sumner Street hinauf und hinunter, macht zackig kehrt und geht in die Polizeistation zurück. Wir, die wir in unserer Neugier stetig tiefer geschwebt sind, um das von Officer Dulac gebotene Schauspiel genauer zu beobachten, folgen ihm hinein.
Der graue Korridor führt an einer unbeschrifteten Tür und einem schwarzen Brett, an dem nur wenig befestigt ist, vorbei zu zwei Stahltreppen, von denen eine zu einem kleinen Umkleideraum, Duschkabinen und einem Schießstand hinunterführt, während die andere zu einem Vernehmungsraum und zwei Reihen gegenüberliegender Zellen hinaufführt, von denen im Augenblick allerdings keine belegt ist. Irgendwo in der Nähe läuft im Radio eine Talkshow mit einer Lautstärke, die für einen friedlichen Morgen zu hoch erscheint.
Bobby Dulac öffnet die unbeschriftete Tür und betritt – mit uns auf seinen glänzend polierten Fersen – den Bereitschaftsraum, den er kurz zuvor verlassen hatte. Rechts an der Wand stehen eine Reihe von Aktenschränken und daneben ein zerschrammter Holztisch mit ordentlich aufgeschichteten Aktenstapeln und einem Transistorradio, der Quelle des misstönenden Lärms. In dem nahe gelegenen Studio von KDCU-AM, »Die Stimme von Coulee Country«, ist der unterhaltsame Querulant George Rathbun mit seiner beliebten Morgensendung Fragen über Fragen in Fahrt gekommen. Der gute alte George klingt ein bisschen zu laut; unabhängig davon, wie weit man die Lautstärke zurückdreht, ist der Kerl einfach ein unverbesserlicher Krakeeler – was aber sein Markenzeichen ist.
In die Mitte der uns gegenüberliegenden Wand ist eine geschlossene Tür mit einer dunklen Milchglasscheibe eingelassen, auf der DALE GILBERTSON, CHIEF OF POLICE steht. Dale wird erst in ungefähr einer halben Stunde zum Dienst kommen.
Links in der Ecke stehen zwei Metallschreibtische in rechtem Winkel zueinander, und hinter dem uns zugewandten betrachtet Tom Lund – ein blonder Polizeibeamter, der etwa so alt wie sein Partner ist, aber nicht wie dieser den Eindruck erweckt, erst fünf Minuten zuvor prägefrisch aus der Münze gekommen zu sein – die Plastikhülle, die Bobby Dulac in der rechten Hand zwischen Daumen und Zeigefinger hält.
»Also gut«, sagt Lund. »Okay. Fortsetzung folgt.«
»Hast du vielleicht schon befürchtet, die Thunder Five würden uns wieder einen Anstandsbesuch abstatten wollen? Hier. Ich will das verdammte Ding nicht lesen.«
Ohne die Zeitung eines Blickes zu würdigen, lässt Bobby die aktuelle Ausgabe des La Riviere Herald mit sportlichem Schwung seines Handgelenks in einem flachen, schnellen Bogen über die drei Meter Fußboden segeln, dreht sich nach rechts, macht einen langen Schritt und baut sich vor dem Holztisch auf, kurz bevor Tom Lund den Wurf auffängt. Bobby starrt die beiden Namen und die verschiedenen Einzelheiten finster an, die auf die lange Tafel gekritzelt sind, die an der Wand hinter dem Tisch hängt. Er scheint nicht gerade gut gelaunt zu sein, unser Bobby Dulac. Er macht vielmehr den Eindruck, als könnte er jeden Augenblick vor schierem Zorn aus seiner Uniform platzen.
Fett und zufrieden im KDCU-Studio hockend, brüllt George Rathbun ins Mikrofon: »Mister, halten Sie mal die Luft an, okay, und lassen Sie sich ’ne neue Brille verschreiben! Reden wir hier übers gleiche Spiel? Mister …«
»Vielleicht ist Wendell zur Vernunft gekommen und hat beschlossen, damit aufzuhören«, sagt Tom Lund.
»Wendell«, sagt Bobby. Da Lund nur seinen glatten, dunklen Hinterkopf sehen kann, ist das kleine höhnische Grinsen, zu dem er die Lippen verzieht, eigentlich vergeudet, aber er setzt es trotzdem auf.
»Mister, ich will Ihnen eine einzige Frage stellen und bitte Sie in aller Aufrichtigkeit, dass Sie mir die Frage ehrlich beantworten. Haben Sie das Spiel gestern Abend wirklich gesehen?«
»Ich hab gar nicht gewusst, dass Wendell dein großer Kumpel ist«, sagt Bobby. »Hatte keine Ahnung, dass du jemals so weit nach Süden wie La Riviere kommst. Ich hab immer gedacht, deine Vorstellung von einem tollen Abend wäre ein Krug Bier und beim Bowlen im Arden möglichst über hundert Punkte zu erzielen, und jetzt kriege ich raus, dass du mit Zeitungsreportern in College-Städten rumhängst. Wahrscheinlich bist du auch mit der Wisconsin Rat, dem Kerl von KWLA, dick befreundet. Gibt’s da noch andere Schmierfinken, mit denen du rumhängst?«
Der Anrufer behauptet, er habe das erste Inning verpasst, weil er seinen Jungen nach einer Therapiestunde im Mount Hebron abholen musste, aber danach habe er alles gesehen, ehrlich.
»Habe ich gesagt, dass Wendell Green mein Freund ist?«, sagt Tom Lund. Über Bobbys linke Schulter hinweg kann er gerade eben den ersten der Namen auf der Tafel sehen. Sein Blick fixiert ihn hilflos. »Ich hab ihn bloß nach dem Fall Kinderling kennen gelernt, und der Kerl ist mir gar nicht so übel vorgekommen. Ich hab ihn irgendwie gemocht. Ehrlich, er hat mir sogar irgendwie Leid getan. Er wollte ein Interview mit Hollywood machen, aber Hollywood hat ihn rundweg abgewiesen.«
Nun, natürlich habe er die zusätzlichen Innings gesehen, sagt der bedauernswerte Anrufer, deshalb wisse er ja auch, dass Pokey Reese nicht out gewesen sei.
»Und was die Wisconsin Rat betrifft, ich würde den Kerl nicht erkennen, wenn er hier reinkäme. Überhaupt finde ich, dass die so genannte Musik, die der spielt, wie der größte Scheiß klingt, den ich je in meinem Leben gehört habe. Wie hat dieser dürre Fiesling mit dem teigigen Gesicht es überhaupt zu ’ner eigenen Sendung gebracht? Auch noch bei ’nem College-Sender? Was sagt dir das über unsere wundervolle UW/La Riviere, Bobby? Was sagt es über unsere ganze Gesellschaft aus? Oh, ich hab ganz vergessen, dass du auf diesen Scheiß stehst.«
»Ach was, ich mag viel eher 311 und Korn. Du aber bist ja so wenig auf dem Laufenden, dass du Jonathan Davis und Dee Dee Ramone nicht voneinander unterscheiden könntest, aber vergiss das jetzt, okay?« Bobby Dulac dreht sich langsam um und lächelt seinen Partner an. »Hör auf, drum herumzureden.« Sein Lächeln ist nicht allzu freundlich.
»Ich rede um etwas herum?« Tom Lund reißt die Augen in einer Parodie gekränkter Unschuld auf. »He, hab etwa ich die Zeitung durch den Raum gepfeffert? Nicht, dass ich wüsste.«
»Wenn du die Wisconsin Rat noch nie zu Gesicht bekommen hast, woher weißt du dann, wie der Kerl aussieht?«
»Genau wie ich weiß, dass er wild gefärbtes Haar und eine gepiercte Nase hat. Genau wie ich weiß, dass er tagaus, tagein und bei jedem Wetter eine beschissene abgewetzte schwarze Lederjacke trägt.«
Bobby scheint auf mehr zu warten.
»Rein vom Zuhören. Aus den Stimmen der Leute kann man einiges heraushören. Sagt einer beispielsweise: ›Sieht so aus, als bekämen wir heute schönes Wetter‹, will er einem nur gleich seine ganze Lebensgeschichte erzählen. Du willst mehr über Rat Boy wissen? Also gut. Er ist seit sechs, sieben Jahren nicht mehr beim Zahnarzt gewesen. Seine Zähne sehen aus wie Scheiße.«
Aus dem hässlichen KDCU-Hohlblocksteinbau, der am Peninsula Drive neben der Brauerei steht – beziehungsweise aus dem Radio, das Dale Gilbertson der Polizeistation gespendet hat, lange bevor Tom Lund oder Bobby Dulac erstmals ihre Uniform trugen – kommt der patentierte Aufschrei jovialer Empörung des guten, alten, zuverlässigen George Rathbun: ein leidenschaftliches, alles einschließendes Plärren, das noch in hundert Meilen Umkreis bewirkt, dass frühstückende Farmer ihren Frauen über den Tisch hinweg zulächeln und zufällig vorbeikommende Fernfahrer laut lachen.
»Ich schwör’s Ihnen, Mister, und das gilt auch für den vorigen Anrufer und jeden Einzelnen von euch da draußen, ich liebe euch innig, das ist die reine Wahrheit, ich liebe euch, wie meine Mama ihr Steckrübenbeet geliebt hat, aber manchmal macht ihr Leute mich verrückt! Also echt. Zweite Hälfte des elften Innings, zwei Mann out! Sechs zu sieben, Brewers! Spieler an der zweiten und dritten Base. Der Batter schlägt kurz ins Mittelfeld, Reese läuft von der dritten Base los, guter Wurf zur Plate, eindeutig out. Eindeutig out. Das hätte ein Blinder entscheiden können!«
»He, und ich dachte, er wäre safe gewesen, allerdings hab ich das Spiel nur im Radio gehört«, sagt Tom Lund.
Beide Männer reden um den heißen Brei herum, und das wissen sie genau.
»Also wirklich«, plärrt der bei weitem populärste Moderator im Coulee Country, »jetzt mal Tacheles, Boys und Girls, ich schlag euch was vor, okay? Wir ersetzen alle Schiedsrichter im Miller Park, ach was, alle Schiedsrichter in der ganzen National League einfach durch Blinde! Wisst ihr was, meine Freunde? Ich garantiere eine Verbesserung von sechzig bis siebzig Prozent, was die Korrektheit ihrer Entscheidungen anlangt. Gebt den Job denen, die dafür geeignet sind – den Blinden!«
Heiterkeit überzieht Tom Lunds freundliches Gesicht. Dieser George Rathbun, Mann, echt zum Kaputtlachen!
»Mach schon, okay?«, sagt Bobby.
Lund zieht grinsend die zusammengefaltete Zeitung aus der Hülle und streicht sie auf seinem Schreibtisch glatt. Seine Miene verhärtet sich; ohne die Form zu ändern, wird sein Grinsen zu Stein. »O nein. Oh, verdammt.«
»Was?«
Lund stößt ein unbestimmbares Ächzen aus und schüttelt dann den Kopf.
»Verdammt, ich will’s nicht mal wissen.« Bobby rammt die Hände in die Hosentaschen, richtet sich dann stocksteif auf, reißt die rechte Hand wieder heraus und presst sie sich auf die Augen. »Ich bin jetzt blind, okay? Mach einen Schiedsrichter aus mir – ich will kein Cop mehr sein.«
Lund sagt nichts dazu.
»Ist’s eine Schlagzeile? Gleich eine Riesenbalkenüberschrift? Wie schlimm ist’s?« Bobby nimmt die Hand von den Augen, hält sie aber weiter vor dem Gesicht.
»Also«, sagt Lund, »Wendell scheint doch nicht zur Vernunft gekommen zu sein. Er hat jedenfalls todsicher nicht beschlossen, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Ich kann’s gar nicht glauben, dass ich vorhin gesagt habe, dass ich den kleinen Scheißer mag.«
»Wach auf!«, sagt Bobby. »Hat dir nie jemand gesagt, dass Ordnungshüter und Journalisten auf verschiedenen Seiten des Zauns stehen?«
Tom Lund beugt seinen massigen Rumpf über den Schreibtisch. Eine tiefe waagrechte Furche teilt narbengleich seine Stirn, die Pausbacken leuchten puterrot. Er deutet mit einem Finger auf Bobby Dulac. »Das ist eine Sache, die mich an dir echt aufregt, Bobby. Wie lange bist du jetzt hier? Fünf, sechs Monate? Dale hat mich vor vier Jahren eingestellt. Als er und Hollywood besagten Mr. Thornberg Kinderling die Handschellen angelegt haben, was der seit ungefähr dreißig Jahren größte Fall in unserer County war, konnte ich zwar keinen großen Verdienst daran beanspruchen, aber ich hatte wenigstens meinen Teil getan. Ich habe mitgeholfen, einige der Puzzlesteinchen zusammenzusetzen.«
»Nur ein einziges«, sagt Bobby.
»Ich habe Dale an die Barfrau im Taproom erinnert, und Dale hat Hollywood von ihr erzählt, und Hollywood hat mit dem Mädchen geredet, und das war ein großes, großes Stück. Es hat mitgeholfen, ihn zu schnappen. Also komm mir nicht auf die Tour.«
Bobby Dulac setzt einen Ausdruck völlig heuchlerischer Zerknirschung auf. »Sorry, Tom. Ich glaube, ich bin irgendwie angespannt und gleichzeitig restlos erledigt.« Dabei denkt er: Du hast also ein paar Dienstjahre mehr als ich, und du hast Dale einmal diesen beschissenen kleinen Tipp gegeben, na und? Ich bin ein besserer Cop, als du jemals einer sein wirst. Wie heldenhaft bist du eigentlich gestern Nacht gewesen?
Gegen Viertel vor zwölf in der Nacht zuvor waren Armand»Beezer« St. Pierre und seine Kumpane von der Thunder Five aus der Nailhouse Row heraufgeröhrt gekommen, um in die Polizeistation zu stürmen und von den drei anwesenden Beamten, die bereits jeweils eine Achtzehnstundenschicht hinter sich hatten, genaue Auskunft über ihre Fortschritte in dem Fall zu fordern, der ihnen allen am meisten am Herzen lag. Was zum Teufel ging hier vor? Was war mit der Dritten, ha, was war mit Irma Freneau? Hatte man sie schon gefunden? Hatten diese Clowns irgendwas in der Hand, oder warfen sie weiter nur Nebelkerzen? Ihr braucht Hilfe?, donnerte Beezer. Macht uns zu Deputies, dann bekommt ihr alle gottverdammte Hilfe, die ihr braucht, und noch mehr dazu. Ein Riese namens Mouse war grinsend an Bobby Dulac herangetreten und hatte ihn vor sich her geschubst, Jumbowanst gegen Sechserpackbauch, bis Bobby mit dem Rücken an einem Aktenschrank stand. Dann hatte der Riese Mouse sich in einer Wolke aus Bier- und Marihuanadunst rätselhafterweise danach erkundigt, ob Bobby schon jemals einen Blick in die Werke eines Gentlemans namens Jacques Derrida geworfen habe. Als Bobby erwiderte, er habe noch nicht einmal den Namen dieses Gentlemans gehört, sagte Mouse: »Ohne Scheiß, Sherlock«, und trat zur Seite, um finster die Namen an der Tafel anzustarren. Eine halbe Stunde später wurden Beezer, Mouse und ihre Kumpane unzufrieden, nicht zu Deputies ernannt, aber beschwichtigt fortgeschickt, und Dale Gilbertson sagte, er müsse nach Hause fahren, um etwas zu schlafen, aber Tom solle noch bleiben – für alle Fälle. Die zum Nachtdienst eingeteilten Kollegen hatten beide eine Ausrede gefunden, um nicht hereinkommen zu müssen. Und dann sagte Bobby, er werde eben auch bleiben, kein Problem, Chief. Das ist also der Grund dafür, dass wir diese beiden Männer so früh am Morgen in der Polizeistation antreffen.
»Gib mal her«, sagt Bobby Dulac.
Lund nimmt die Zeitung vom Schreibtisch, dreht sie um und hält sie hoch, damit Bobby sie lesen kann: FISHERMAN IM RAUM FRENCH LANDING WEITER AUF FREIEM FUSS lautet die Schlagzeile über einem Dreispalter in der linken oberen Ecke der Titelseite. Die Kolumnen sind blassblau unterlegt und durch einen schwarzen Rand vom Rest der Titelseite abgesetzt. Unter der Schlagzeile steht in kleinerer Schrift: Identität des Psychokillers gibt Polizei Rätsel auf. Unter diesem Untertitel wird in noch kleinerer Schrift Wendell Green, mit Unterstützung der Redaktion als Verfasser genannt.
»Der Fisherman«, sagt Bobby. »Dein Freund hatte gleich vom Start weg den Arsch offen. Der Fisherman, der Fisherman, der Fisherman. Würdest du mich King Kong nennen, wenn ich mich plötzlich in einen fünfzehn Meter großen Affen verwandeln würde, der auf Gebäuden rumtrampelt?« Lund lässt die Zeitung sinken und grinst. »Okay«, sagt Bobby verbindlich, »schlechtes Beispiel. Sagen wir, ich würde ein paar Banken überfallen. Würdest du mich dann John Dillinger nennen?«
»Na ja«, sagt Lund und grinst noch breiter, »Dillingers Pimmel soll so riesig gewesen sein, dass er im Smithsonian in Spiritus aufbewahrt wird. Also …«
»Lies mir den ersten Satz vor«, sagt Bobby.
Tom Lund senkt den Kopf und liest vor: »›Während es der Polizei in French Landing nicht gelingt, Hinweise auf die Identität des teuflischen Doppelmörders und Sexualverbrechers zu entdecken, dem wir den Namen ›Fisherman‹ beigelegt haben, grassieren die Schreckgespenster von Angst, Verzweiflung und Misstrauen immer ungehemmter auf den Straßen unserer kleinen Stadt, verbreiten sich von dort aus zu den Farmen und Dörfern überall in der French County und verfinstern durch ihr Umherstreichen das gesamte Coulee Country.‹«
»Genau das, was wir brauchen«, sagt Bobby. »O Mann!« Und schon im nächsten Augenblick hat er den Raum durchquert, beugt sich über Tom Lunds Schulter und liest die Titelseite des Herald, wobei die rechte Hand auf dem Griff seiner Glock ruht, als wäre er kurz davor, den Artikel gleich hier und jetzt zu durchlöchern.
»›Unsere Tradition von Vertrauen und gutnachbarlicher Art, unsere Gewohnheit, jedermann Herzlichkeit und Großzügigkeit entgegenzubringen [schreibt Wendell Green, der wie verrückt leitartikelt], verfallen unter der zerstörerischen Kraft dieser fürchterlichen Emotionen täglich immer mehr. Angst, Verzweiflung und Misstrauen sind Gift für die Seelen von Gemeinwesen, groß oder klein, weil sie Nachbar gegen Nachbar aufhetzen und Höflichkeit zu einer Farce machen.
Zwei Kinder sind skrupellos ermordet, ihre sterblichen Überreste teilweise verzehrt worden. Jetzt ist ein drittes Kind verschwunden. Zuerst sind die achtjährige Amy St. Pierre und der siebenjährige Johnny Irkenham den Leidenschaften dieses Ungeheuers in Menschengestalt zum Opfer gefallen. Keiner der beiden wird die Freuden der Jugend oder die Segnungen des Erwachsenseins erleben. Ihre trauernden Eltern werden nie die Enkel bekommen, für die sie liebevoll hätten sorgen wollen. Nicht nur die Eltern von Amys und Johnnys Spielgefährten bergen ihre Kinder in der Sicherheit ihrer Häuser vor den lauernden Gefahren, wie es auch andere Eltern tun, Eltern, deren Kinder die Ermordeten nie gekannt haben. Mittlerweile sind in praktisch allen Ortschaften und Gemeinden der French County die Sommerspielgruppen und andere Erholungsunternehmen für Kinder abgesagt worden.
Jetzt stellt das Verschwinden der zehnjährigen Irma Freneau – sieben Tage nach dem Tod von Amy St. Pierre und nur drei Tage nach dem von Johnny Irkenham – die Geduld der Öffentlichkeit auf die Zerreißprobe. Wie bereits berichtet, wurde Merlin Graasheimer, 52, ein arbeitsloser Landarbeiter ohne festen Wohnsitz, am späten Dienstagabend in einer Seitenstraße Fountains von einer Gruppe Unbekannter überfallen und zusammengeschlagen. Ein weiterer Fall dieser Art ereignete sich am frühen Donnerstagmorgen. Elvar Praetorius, 36, ein allein reisender schwedischer Tourist, wurde von drei Männern, auch sie unidentifiziert, tätlich angegriffen, als er in La Riviere im Leif-Eriksson-Park schlief. Graasheimer und Praetorius mussten zwar nur ambulant behandelt werden, aber es steht zu erwarten, dass künftige Fälle von Selbstjustiz nicht so glimpflich ausgehen werden.‹«
Tom Lund wirft einen Blick auf den nächsten Absatz, der das plötzliche Verschwinden der kleinen Freneau von einem Gehsteig in der Chase Street beschreibt, und stößt sich dann von seinem Schreibtisch ab.
Bobby Dulac liest einige Zeit schweigend weiter, dann sagt er: »Diesen Scheiß musst du dir anhören, Tom. Zum Schluss schreibt er Folgendes: ›Wann wird der Fisherman wieder zuschlagen? Denn er wird zuschlagen, da möge sich niemand täuschen. Wann wird der Polizeichef von French Landing, Dale Gilbertson, endlich seine Pflicht tun und die Bürger dieser County vor der abscheulichen Brutalität des Fishermans und der verständlichen Gewalt retten, die nur eine Folge seiner Untätigkeit ist?‹«
Bobby Dulac stapft in die Mitte des Raums. Sein Gesicht ist lebhaft gerötet. Er holt tief Luft, dann stößt er eine beachtliche Menge Sauerstoff aus. »Wie wär’s, wenn der Fisherman wieder zuschlägt«, sagt Bobby, »wie wär’s, wenn er nächstes Mal genau Wendell Greens schlaffen Hintern treffen würde?«
»Ganz deiner Meinung«, sagt Tom Lund. »Ist dieser Scheiß nicht unglaublich? ›Verständliche Gewalt‹? Der erzählt den Leuten doch glatt, dass es in Ordnung ist, sich jeden vorzuknöpfen, der nur irgendwie verdächtig aussieht!«
Bobby tippt mit dem Zeigefinger in Lunds Richtung. »Diesen Kerl fasse ich persönlich. Mein Ehrenwort. Ich schnappe ihn mir, tot oder lebendig.« Für den Fall, dass Lund den springenden Punkt nicht mitbekommen hat, wiederholt er: »Persönlich.«
Tom Lund, der klugerweise darauf verzichtet, die Worte auszusprechen, die ihm als Erstes einfallen, nickt mit dem Kopf. Der Finger ist weiterhin auf ihn gerichtet. »Solltest du dabei Hilfe brauchen«, sagt er dann, »redest du am besten mit Hollywood. Dale hat da zwar kein Glück gehabt, aber vielleicht gelingt’s dir ja besser.«
Bobby winkt ab. »Nicht nötig. Dale und ich … und natürlich du, wir haben die Sache auch allein im Griff. Ich fasse diesen Kerl jedenfalls persönlich. Das garantiere ich.« Er macht eine kurze Pause. »Außerdem lebt Hollywood ja im Ruhestand, seit er hergezogen ist, oder?«
»Hollywood ist noch zu jung, um in den Ruhestand zu treten«, sagt Lund. »Selbst nach Polizeidienstjahren gerechnet ist der Kerl praktisch ein Baby. Da bist du allerdings kaum mehr als ein Embryo.«
Und unter ihrem gemeinsamen gackernden Lachen schweben wir davon, aus dem Bereitschaftsraum hinaus wieder in den Himmel hinauf, durch den wir einen Straßen weiter nach Norden zur Queen Street segeln.
Ein paar Straßen weiter östlich sehen wir unter uns einen niedrigen, weitläufigen Gebäudekomplex, der von einer Mittelachse ausgeht und mit seinem weiten, an den Rändern breiter werdenden Rasen, der hier und da mit großen Eichen und Ahornbäumen gesprenkelt ist, einen ganzen Straßenzug einnimmt, zu dem hin er von buschigen Hecken begrenzt wird, die einmal gründlich geschnitten werden müssten. Dieser Gebäudekomplex, offenbar irgendeine öffentliche Einrichtung, erinnert auf den ersten Blick an eine progressive Grundschule, deren Seitenflügel Klassenzimmer ohne Wände sind, während die quadratische Mittelachse den Speisesaal und die Büros der Schulverwaltung beherbergt. Als wir tiefer gehen, hören wir George Rathbuns joviales Gebrüll, das aus den Fenstern zu uns heraufdringt. Die große gläserne Eingangstür wird aufgestoßen, und eine schlanke Frau, die eine Brille mit ovalen Gläsern trägt, tritt mit einem Plakat in der einen und einer Rolle Klebeband in der anderen Hand in den sonnigen Morgen hinaus. Sie dreht sich sofort um und befestigt das Plakat mit raschen, geschickten Bewegungen an der Tür. Ein nicht lupenreiner haselnussgroßer Edelstein am Ringfinger ihrer rechten Hand reflektiert das Sonnenlicht.
Während sie eine kleine Pause macht, um ihr Werk zu bewundern, werfen wir einen Blick über ihre Schulter und sehen, dass das Plakat mit einem fröhlichen Wirbel aus handgemalten Ballons verkündet: HEUTE IST ERDBEERFEST!!! Als die Frau wieder hineingeht, nehmen wir in dem unter dem knallbunten Plakat sichtbaren Teil des Eingangsbereichs zwei, drei zusammengeklappte Rollstühle wahr. Jenseits der Rollstühle schreitet die Frau, deren kastanienbraunes Haar am Hinterkopf zu einer kunstvollen Rolle festgesteckt ist, auf ihren hochhackigen Pumps durch eine hübsche Eingangshalle mit hellen Holzsesseln und dazu passenden Tischen, auf denen kunstvoll Zeitschriften arrangiert sind, marschiert dann an einer Art unbesetztem Wachposten oder Empfangstheke vor einer geschmackvollen Natursteinmauer vorbei und verschwindet schließlich mit der Andeutung eines Hopsers durch eine polierte Tür mit der Aufschrift WILLIAM MAXTON, DIRECTOR.
Was für eine Art Schule das hier wohl sein mag? Weshalb ist man hier während der Ferienzeit geschäftig, wieso werden mitten im Juli Feste veranstaltet?
Wir könnten sie als Graduiertenkolleg bezeichnen, die hier Wohnenden haben nämlich schon alle Stadien ihrer Existenz mit Ausnahme des letzten absolviert, das sie nun tagtäglich unter der achtlosen Obhut von Mr. William »Chipper« Maxton, Direktor, verbringen. Es handelt sich hier um die Seniorenresidenz Maxton, ein Institut, das einst – in unschuldigeren Zeiten noch vor Mitte der Achtzigerjahren, als hier Schönheitsreparaturen vorgenommen wurden – unter der Bezeichnung Altenpflegeheim Maxton bekannt war, dessen Besitzer und Geschäftsführer sein Gründer Herbert Maxton, Chippers Vater also, war. Herbert war ein anständiger, wenn auch lascher Mensch, der, das lässt sich mit Sicherheit behaupten, von einigen Dingen, die mittlerweile die einzige Frucht seiner Lenden anstellt, ziemlich entsetzt wäre. Chipper wollte auf keinen Fall »den Familienlaufstall«, wie er ihn nennt, mit seiner Fracht aus »Zahnlosen«, »Zombies«, »Bettnässern« und»Sabberern« übernehmen. Nachdem unser Junge also an der UW/La Riviere ein Betriebswirtschaftsstudium absolviert hatte (mit schwer verdienten Abschlüssen in den Nebenfächern Promiskuität, Glücksspiel und Biertrinken), nahm er zunächst einen Posten bei der Steuerbehörde in Madison, Wisconsin, an, hauptsächlich zu dem Zweck, um zu lernen, wie man den Staat unentdeckt bestehlen kann. Fünf Jahre bei der Steuerbehörde lehrten ihn zwar viel Nützliches, aber als seine anschließende Karriere als Freiberufler seine hoch gesteckten Erwartungen schließlich nicht erfüllte, gab er den stetig schwächer werdenden flehentlichen Bitten seines Vaters nach und ließ sich mit den Untoten und den Sabberern ein. Mit gewisser grimmiger Befriedigung musste Chipper anerkennen, dass das Geschäft seines Vaters ihm trotz einem beklagenswerten Mangel an Glamour wenigstens Gelegenheit bieten würde, gleichermaßen Heiminsassen und Staat zu bestehlen.
Wir wollen nun durch die große Glastür hineinfliegen, die elegante Eingangshalle durchqueren (wobei uns die Geruchsmischung aus Luftverbesserer und Salmiakgeist auffällt, die selbst in den öffentlichen Bereichen solcher Einrichtungen vorherrscht) und durch die Tür mit Chippers Namen schweben, um herauszubekommen, was diese gut ausgestattete junge Frau hier so früh am Morgen eigentlich tut.
Hinter Chippers Tür liegt zunächst ein fensterloses Kabuff, dessen Einrichtung aus einem Schreibtisch, einem Garderobenständer und einem kleinen Bücherregal besteht, das von Computerausdrucken, Broschüren und Faltblättern überquillt. Die Tür neben dem Schreibtisch steht offen. Durch die Öffnung sehen wir in einen um einiges größeren Büroraum. Die Wände sind hier mit dem gleichen polierten Holz wie die Tür des Direktors getäfelt; das Büro enthält zudem einen Ledersessel, einen Couchtisch mit Glasplatte und ein graubeiges Sofa. Im rückwärtigen Teil ragt ein riesiger Schreibtisch auf, der unordentlich mit Akten voll getürmt und so blitzblank poliert ist, dass er fast zu leuchten scheint.
Unsere junge Frau, die Rebecca Vilas heißt, sitzt auf der Kante dieses Schreibtischs und hat die Beine auf besonders sehenswerte Weise übereinander geschlagen. Ein Knie liegt über dem anderen, und die Waden bilden zwei wohlgeformte, gleichsam parallele Linien, die zu den beiden dreieckigen Spitzen der schwarzen hochhackigen Pumps hinunterführen, von denen die eine in die Zeigerposition vier Uhr und die andere nach sechs zeigt. Rebecca Vilas, das merken wir, hat sich in Szene gesetzt, um begutachtet zu werden, hat eine Pose eingenommen, die gewürdigt werden soll, wenn auch gewiss nicht von uns. Hinter den ovalen Brillengläsern lugen die Augen skeptisch und gleichzeitig amüsiert hervor, aber wir können nicht erkennen, was diese Empfindungen verursacht hat. Alles deutet darauf hin, dass sie Chippers Sekretärin ist, aber auch diese Annahme drückt wieder einmal nur die halbe Wahrheit aus, wie die spöttische Ungezwungenheit ihrer Haltung impliziert. Ms. Vilas’ Pflichten sind längst über reine Sekretariatstätigkeit hinaus erweitert worden. (Wir könnten darüber spekulieren, wer den hübschen Ring an ihrem Finger bezahlt hat; solange wir uns in schmutzigen Verdächtigungen ergehen, liegen wir jedenfalls genau richtig.)
Wir schweben durch die offene Tür, folgen der Richtung von Rebeccas zunehmend ungeduldigem Blick und starren nun das stämmige, in Khaki gekleidete Hinterteil ihres knienden Arbeitgebers an, der Kopf und Schultern in einen geräumigen Safe gesteckt hat, in dem wir Stapel von Kontenbüchern und eine Anzahl brauner Umschläge sehen, die offenbar prall mit Geld gefüllt sind. Chipper nimmt die Umschläge jetzt aus dem Safe, wobei einige Geldscheine herausflattern.
»Du hast das Schild, das Plakat gemalt?«, fragt er, ohne sich umzudrehen.
»Aye, aye, mon capitaine«, sagt Rebecca Vilas. »Und ein herrlicher Tag ist’s, den wir für diesen großen Anlass haben werden, wie’s nur recht und billig ist.« Ihr irischer Akzent ist überraschend gut, wenn auch etwas aufgesetzt. Sie ist noch nie an einem exotischeren Ort als Atlantic City gewesen, wohin Chipper, der dafür seine Vielflieger-Meilen verwendet hat, sie vor zwei Jahren für fünf zauberhafte Tage begleitete. Den Akzent hat sie alten Filmen abgelauscht.
»Wie ich dieses Erdbeerfest verabscheue!«, sagt Chipper, während er die letzten Umschläge aus dem Safe angelt. »Die Frauen und Kinder bringen die Zombies jedes Mal durch die Hektik den ganzen Nachmittag über dermaßen auf Trab, dass wir sie abends bis ins Koma sedieren müssen, damit wieder etwas Ruhe einkehrt. Und wenn du die Wahrheit hören willst: Ballone hasse ich geradezu.« Er kippt das Geld auf den Teppich und fängt an, die Scheine nach dem jeweiligen Nennwert in Stapel zu sortieren.
»Als Mädchen vom Lande frag ich mich bloß«, sagt Rebecca, »warum ich an diesem großen Tag schon bei Tagesanbruch kommen sollte.«
»Weißt du, was ich außerdem noch hasse? Die ganze Musikchose. Singende Zombies und dieser dämliche DJ. Symphonic Stan mit seinen Big-Band-Schallplatten, o Mann, wenn das kein Nervenkitzel ist.«
»Ich vermute mal«, sagt Rebecca, jetzt ohne ihren irischen Bühnenakzent, »dass ich etwas mit dem Geld hier tun soll, bevor die Action beginnt.«
»Zeit für einen weiteren Trip nach Miller.« Auf ein unter einem fiktiven Namen eingerichteten Konto bei der State Provident Bank in Miller, vierzig Meilen von hier, werden regelmäßig Barbeträge eingezahlt, die von Patientenguthaben abgeschöpft werden, die ursprünglich für zusätzliche Anschaffungen und Dienstleistungen bestimmt waren. Chipper dreht sich mit Händen voller Geld auf den Knien um und sieht zu Rebecca auf. Er sinkt auf die Fersen zurück und lässt die Hände in den Schoß fallen. »Mann, hast du tolle Beine. Mit solchen Beinen müsstest du eigentlich berühmt sein.«
»Ich dachte schon, du würdest sie nie bemerken«, sagt Rebecca.
Chipper Maxton ist zweiundvierzig Jahre alt. Er hat ein tadelloses Gebiss, noch volles Haar, ein breites, aufrichtiges Gesicht und eng stehende braune Augen, die immer etwas feucht wirken. Außerdem hat er zwei Kinder: Trey, neun, und Ashley, sieben. Bei Ashley ist vor kurzem Hyperaktivität diagnostiziert worden, was Chipper nach seiner Schätzung ungefähr 2000 Dollar im Jahr allein für Medikamente kosten wird. Und er hat natürlich auch eine Frau – seine Lebenspartnerin Marion, neununddreißig Jahre alt, die mit ihren eins fünfundsechzig dennoch gut 85 Kilo auf die Waage bringt. Zu diesen Segnungen kommt noch, dass Chipper als Folge einer unklugen Investition in das Spiel der Brewers – über das George Rathbun noch immer poltert – seinem Buchmacher seit gestern Abend 13 000 Dollar schuldet. Er hat sie bemerkt, o ja, das hat er, Chipper hat Ms. Vilas’ prächtig arrangierte Beine bemerkt.
»Bevor du dort rüberfährst«, sagt er, »könnten wir’s uns ja noch auf dem Sofa gemütlich machen und ein bisschen herumalbern.«
»Aha«, sagt Rebecca. »Was meinst du mit herumalbern genau?«
»Schmatz, schmatz, schmatz«, sagt Chipper und grinst wie ein Satyr.
»Du romantischer Schelm, du«, sagt Rebecca, eine Bemerkung, deren Sinn ihrem Arbeitgeber völlig entgeht. Chipper bildet sich tatsächlich ein, er sei romantisch.
Sie gleitet elegant von ihrem Hochsitz herab, während Chipper sich unelegant hochstemmt und die Safetür mit dem Fuß zudrückt. Seine Augen glänzen feucht, als er ein paar angriffslustig stolzierende Schritte über den Teppich macht, einen Arm um Rebecca Vilas’ schlanke Taille schlingt und mit der anderen Hand einen dicken braunen Umschlag auf den Schreibtisch wirft. Er zurrt bereits an seinem Gürtel, noch bevor er Rebecca in Richtung Sofa zu ziehen beginnt.
»Ich kriege ihn also zu sehen?«, sagt die clevere Rebecca, die genau weiß, wie sich das Gehirn ihres Liebhabers in Pudding verwandeln lässt …
… aber bevor Chipper ihr gefällig ist, schweben wir vernünftigerweise wieder in die Eingangshalle hinaus, die noch immer leer ist. Der Korridor links neben der Empfangstheke führt uns zu zwei großen Türen aus hellem Holz mit Glaseinsätzen, auf denen DAISY und BLUEBELL steht – die Namen der Gebäudeflügel, zu denen sie führen. Weit hinten im grauen Korridor von Bluebell lässt ein Mann, der einen ausgebeulten Overall trägt, Asche von seiner Zigarette auf die Fliesen rieseln, über die er mit exquisiter Langsamkeit einen schmutzigen Mopp hin und her bewegt. Wir schweben zum Daisy-Trakt hinüber.
Die funktionalen Teile des Maxton sind weit weniger attraktiv als die öffentlichen Bereiche. Der Korridor wird auf beiden Seiten von nummerierten Türen gesäumt. Unter den Ziffern stecken in Plastikrahmen handgeschriebene Kärtchen mit den Namen der Zimmerbewohner. Vier Türen weiter steht ein Schreibtisch, an dem ein stämmiger Altenpfleger in leicht schmuddeliger weißer Uniform aufrecht sitzend döst, gegenüber den Türen zu den Männer- und Frauentoiletten; im Maxton bieten nur die teuersten Zimmer – die im Trakt Asphodel auf der anderen Seite der Eingangshalle – mehr Komfort als ein Waschbecken. Überall auf dem gefliesten Korridor, der sich vor uns zu unwahrscheinlicher Länge erstreckt, trocknen schmutzige Moppwischspuren an und werden hart. Auch hier scheinen die Wände und die Luft denselben Grauton zu besitzen. Sehen wir uns die Korridorecken und den Winkel, in dem Wände und Decke zusammenstoßen, genauer an, entdecken wir Spinnweben, alte Flecken, Schmutzansammlungen. Desinfektionsreiniger, Salmiakgeist, Urin und Schlimmeres parfümieren die Luft. Wie eine ältere Dame im Bluebell-Trakt zu sagen pflegt, ist man unter Leuten, die alt und inkontinent sind, nie weit vom »Kackageruch« entfernt.
Die Zimmer selbst unterscheiden sich je nach Zustand und Fähigkeit ihrer Bewohner. Da noch fast alle schlafen, können wir ungestört einen Blick in einige dieser Unterkünfte werfen. Hier in D10, einem zwei Türen von dem dösenden Altenpfleger entfernten Einzelzimmer, liegt die alte Alice Weathers (sanft schnarchend, während sie davon träumt, als perfekte Tanzpartnerin Fred Astaires über einen weißen Marmorboden zu schweben). Sie ist von so vielen Dingen aus ihrem früheren Leben umgeben, dass sie sich zwischen Sesseln und Beistelltischen hindurchschlängeln muss, um von der Tür zu ihrem Bett zu gelangen. Was ihre Geisteskräfte anbelangt, so besitzt Alice davon sogar noch mehr als an alten Möbeln: Sie hält ihr Zimmer ohne Mithilfe makellos sauber. Nebenan in D12 schlafen zwei alte Farmer namens Thorvaldson und Jesperson – die seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen haben – nur durch einen dünnen Vorhang getrennt in einem bunten Gewirr aus Familienfotos und Kinderzeichnungen ihrer Enkel.
D18, weiter den Korridor entlang, bietet einen Anblick, der dem sauberen, übervollen Durcheinander in D10 vollkommen entgegengesetzt ist, genau wie sein Bewohner, ein als Charles Burnside bekannter Mann, als exaktes Gegenteil von Alice Weathers gelten könnte. D18 weist keinerlei Beistelltische, Vitrinen, Polstersessel, goldgerahmte Spiegel, Lampen, Webteppiche oder Samtvorhänge auf; der kahle Raum enthält nur ein Metallbett, einen Plastikstuhl und eine Kommode. Auf der Kommode sind weder Fotos von Kindern oder Enkeln zu sehen, noch sind die Wände mit Buntstiftzeichnungen von klobigen Häusern und Strichmännchen geschmückt. Mr. Burnside zeigt auch keinerlei Interesse an häuslicher Arbeit, weshalb eine dünne Staubschicht den Fußboden bedeckt, das Fensterbrett und die kahle Deckplatte der Kommode. D18 ist aller Geschichte beraubt, bar jeglicher Persönlichkeit. Es wirkt so brutal und seelenlos wie eine Gefängniszelle. Starker Gestank nach Exkrementen verpestet die Luft.
Trotz aller Unterhaltung, die uns Chipper Maxton bietet, und trotz Alice Weathers’ ganzem Charme sind wir aber vor allem hergekommen, um Charles Burnside – »Burny« – zu sehen.
Chippers Herkunft kennen wir ja bereits, nun zu Alice. Sie ist aus einem großen, in der Gale Street gelegenen Haus ins Maxton gekommen. Dort, im alten Teil der Gale Street hat sie zwei Ehemänner überlebt, fünf Söhne großgezogen und als Klavierlehrerin vier Generationen von Kindern aus French Landing unterrichtet, von denen keines jemals den Pianistenberuf ergriffen hat, die sich aber alle liebevoll an sie erinnern und mit Zuneigung an sie zurückdenken. Alice ist wie die meisten anderen hierher gekommen: in einem Auto, das von einem der eigenen Kinder gefahren wurde, und mit einer Mischung aus Widerstreben und Schicksalsergebenheit. Sie war zu alt geworden, um allein in dem großen Haus im alten Teil der Gale Street leben zu können; da waren zwar zwei erwachsene, verheiratete Söhne, die sich liebevoll um sie kümmerten, aber sie wollte ihnen um keinen Preis zur Last fallen. Alice Weathers hatte ihr gesamtes Leben in French Landing verbracht und keine Lust, irgendwo anders zu leben; in gewisser Weise hatte sie schon immer gewusst, dass sie ihre Tage im Maxton beschließen würde, das zwar keineswegs luxuriös, aber durchaus annehmbar war. An dem Tag, an dem ihr Sohn Martin sie zu einer Besichtigung der Seniorenresidenz hinübergefahren hatte, wurde ihr bald klar, dass sie bereits mindestens die Hälfte der Bewohner hier kannte.
Anders als Alice ist Charles Burnside, der große, hagere Alte, der vor uns unter einem Laken auf seinem Metallbett liegt, mitnichten in vollem Besitz seiner Geisteskräfte, noch träumt er gar von Fred Astaire. Die von Adern durchzogene Fläche seines kahlen, schmalen Schädels zieht sich zu Augenbrauen hinunter, die grauen Drahtbürsten gleichen, Augenbrauen, unter denen, geteilt durch eine fleischige Hakennase, zwei eng zusammenstehende Augen aus dem nach Norden führenden Fenster des Zimmers in den großen Wald hinter dem Maxton hinausstarren. Von allen Bewohnern des Daisy-Trakts schläft nur Burny nicht. Seine Augen glitzern, und die Lippen sind zu einem bizarren Lächeln verzogen – aber diese Details haben nichts zu bedeuten, Charles Burnsides Verstand ist nämlich ähnlich leer wie sein Zimmer. Burny leidet seit vielen Jahren an der Alzheimerkrankheit, und was wie eine aggressive Form von Vergnügen wirkt, ist vielleicht nicht mehr als körperliche Befriedigung einfachster Art. Hätten wir nicht schon vermutet, dass der Gestank in diesem Zimmer von ihm stammt, beseitigen die Flecken, die sich auf dem Laken ausbreiten, die letzten Zweifel. Er hat gerade massiv in sein Bett defäkiert, und das Allermindeste, was sich über seine Reaktion auf diese Tatsache sagen lässt, ist, dass ihn das nicht im Geringsten stört. O nein, Schamgefühl gehört nicht eben zu seiner Persönlichkeitsstruktur.
Aber auch wenn Burny – anders als die reizende Alice – nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, ist er dennoch kein typischer Alzheimer-Patient. Manchmal verbringt er ein, zwei Tage damit, wie Chippers übrige »Zombies« in seinen Haferbrei zu murmeln, um sich dann neu erwacht wieder unter die Lebenden zu mischen. Ist er nicht untot, schafft er es im Allgemeinen, rechtzeitig den Korridor entlang auf die Toilette zu gehen, und verbringt Stunden damit, sich allein fortzuschleichen oder auf dem Gelände zu patrouillieren und zu jedermann unfreundlich – eigentlich sogar ziemlich aggressiv – zu sein. Ist er gerade kein Zombie, ist er verschlagen, hinterhältig, rüde, bissig, starrköpfig, unflätig, bösartig und nachtragend, mit anderen Worten – in der Welt nach Chippers Begriffen – ein Blutsbruder der anderen alten Männer, die im Maxton leben. Einige der Krankenschwestern, Altenpfleger und Pflegekräfte bezweifeln sowieso, dass Burny wirklich Alzheimer hat. Sie glauben vielmehr, dass er die Krankheit nur vortäuscht, sich verstellt und sich verweigert, nur um ihnen absichtlich mehr Arbeiten aufzubürden, während er sich ausruht und Kräfte für die nächste unerfreuliche Episode sammelt. Wir können ihnen diesen Verdacht kaum verübeln. Falls bei Burny keine falsche Diagnose vorliegt, ist er vermutlich der weltweit einzige Alzheimer-Patient im fortgeschrittenen Stadium, bei dem die Symptome zwischendurch für längere Zeit nachlassen.
Im Jahr 1996, seinem 78. Lebensjahr, kam der als Charles Burnside bekannte Mann aus dem La Riviere General Hospital ins Maxton – in einem Krankwagen, nicht etwa im Wagen eines hilfreichen Verwandten. Er war eines Tages mit zwei schweren Koffern, die schmutzige Kleidungsstücke enthielten, in der Notaufnahme aufgekreuzt und hatte lautstark medizinische Betreuung verlangt. Seine Forderungen waren unzusammenhängend, aber sie waren eindeutig. Er behauptete, beträchtlich weit marschiert zu sein, um das Krankenhaus zu erreichen, und wollte nun, dass man sich im Krankenhaus um ihn kümmerte. Die Entfernung schwankte von Mal zu Mal – zehn Meilen, fünfzehn Meilen, fünfundzwanzig Meilen. Er hatte – oder hatte nicht – einige Nächte lang auf Feldern oder am Straßenrand geschlafen. Sein Allgemeinzustand und der Geruch, den er an sich hatte, ließen jedenfalls darauf schließen, dass er etwa eine Woche lang zu Fuß unterwegs gewesen war und im Freien übernachtet hatte. Sollte er jemals eine Brieftasche gehabt haben, so musste er sie unterwegs verloren haben. Im La Riviere General wusch man ihn, fütterte ihn, gab ihm ein Bett und versuchte, seine Vorgeschichte aus ihm herauszubekommen. Die meisten seiner Äußerungen endeten in zusammenhangslosem Gebrabbel, aber obwohl er offenbar keinerlei Papiere besaß, schienen wenigstens folgende Tatsachen festzustehen: Burnside hatte in der hiesigen Gegend viele Jahre lang sowohl selbstständig als auch bei Bauunternehmen als Zimmerer, Schreiner und Gipser gearbeitet. Eine Tante, die in der Kleinstadt Blair lebte, hatte ihn bei sich aufgenommen.
War er also die achtzehn Meilen von Blair nach La Riviere zu Fuß gegangen? Nein, er hatte seinen Marsch irgendwo anders begonnen, er konnte sich nicht an den Ort erinnern, aber er lag zehn Meilen entfernt, nein, fünfundzwanzig Meilen, irgendein Nest, und die Leute in diesem Nest waren allesamt nichtsnutzige, dämliche Arschgeigen. Wie hieß seine Tante? Althea Burnside. Ihre Anschrift und Telefonnummer? Keine Ahnung, konnte sich nicht daran erinnern. Ging seine Tante irgendeiner Arbeit nach? Ja, sie hatte einen Ganztagsjob als dämliche Arschgeige. Aber sie hatte ihm erlaubt, bei sich zu wohnen? Wer? Was erlaubt? Charles Burnside brauchte niemands Erlaubnis, er machte verdammt noch mal, was er wollte. Hatte seine Tante ihn schließlich aus dem Haus gewiesen? Vom wem redest du überhaupt, du dämliche Arschgeige?
Der einweisende Arzt notierte als vorläufige Diagnose Alzheimerkrankheit, eine Diagnose, die aber mittels verschiedener Untersuchungen erst noch erhärtet werden müsse, und die Sozialarbeiterin setzte sich ans Telefon, um sich Anschrift und Telefonnummer einer Althea Burnside, gegenwärtig wohnhaft in Blair, geben zu lassen. Die Telefonauskunft fand keine Teilnehmerin dieses Namens in Blair – und auch niemanden in Ettrick, Cochrane, Fountain City, Sparta, Onalaska, Arden, La Riviere oder irgendeiner anderen Stadt oder Großstadt im Umkreis von fünfzig Meilen. Die Sozialarbeiterin warf ihr Netz daraufhin weiter aus und forderte vom Grundbuchamt, der Sozialversicherung, der Führerscheinstelle und der Steuerbehörde Informationen über Althea und Charles Burnside an. Von den beiden Altheas, die das System ausspuckte, betrieb die eine einen Schnellimbiss in Butternut, weit im Norden von Wisconsin, und die andere war eine Schwarze, die in Milwaukee in einer Kindertagesstätte arbeitete. Keine der beiden hatte etwas mit dem Mann im La Riviere General zu tun. Die Charles Burnsides, die das System aufspürte, waren nicht der Charles Burnside der Sozialarbeiterin. Althea schien nicht zu existieren. Charles, so schien es, gehörte zu den schwer erfassbaren Menschen, die durchs Leben gehen, ohne jemals Steuern zu zahlen, sich als Wähler registrieren zu lassen, eine Sozialversicherungsnummer zu beantragen, ein Bankkonto zu eröffnen, sich freiwillig zum Militär zu melden, den Führerschein zu machen oder ihre Zeiten etwa im offenen Vollzug zu verbringen.
Eine weitere Runde Telefongespräche führte dazu, dass der schwer erfassbare Charles Burnside als Mündel der County eingestuft und in die Seniorenresidenz Maxton eingewiesen wurde, bis im State Hospital in Whitehall ein Bett für ihn frei sein würde. Ein Krankenwagen transportierte Burnside auf Kosten des großzügigen Steuerzahlers ins Maxton, wo Chipper ihn missmutig in den Daisy-Trakt verfrachtete. Sechs Wochen später wurde auf der Pflegestation im State Hospital ein Bett frei. Chipper erhielt den entsprechenden Anruf, nachdem der Postbote ihm kurz zuvor einen von einer Althea Burnside auf eine Bank in De Pere ausgestellten Scheck für Charles Burnsides Unterbringung im Heim gebracht hatte. Als Althea Burnsides Anschrift war ein Postfach in De Pere angegeben. Auf den Anruf vom State Hospital hin kündigte Chipper an, um seine Bürgerpflicht zu erfüllen, sei er gern bereit, Mr. Burnside weiter in der Seniorenresidenz Maxton zu beherbergen. Der alte Knabe war soeben zu seinem Lieblingspatienten mutiert. Ohne dass Chipper die gewohnten Buchhaltungstricks hätte anwenden müssen, hatte Burny Chippers Monatseinnahmen verdoppelt.
In den darauf folgenden sechs Jahren glitt der Alte unaufhaltsam ins Dunkel der Alzheimerkrankheit hinab. Falls er simulierte, lieferte er jedenfalls eine glänzende Vorstellung. Sein Weg nach unten führte über die absteigenden Zwischenstationen Inkontinenz, Sprachverlust, häufige Wutausbrüche, Gedächtnisschwund, Unfähigkeit zu selbstständiger Nahrungsaufnahme und schließlich Persönlichkeitsverlust. Er sank zunächst ins frühkindliche Stadium und dann in geistige Leere zurück, bis er seine Tage im Rollstuhl festgeschnallt verbrachte. Chipper betrauerte das unvermeidliche Dahinsiechen dieses einzigartig kooperativen Patienten. Im Sommer vor den bereits geschilderten Geschehnissen ereignete sich dann die erstaunliche Wiederbelebung. Lebhaftigkeit kehrte in Burnys schlaffes Gesicht zurück, und er begann, lautstark Unsinn zu reden: Abbalah! Gorg! Munshun! Gorg! Er wollte ohne Hilfe essen, er wollte sich Bewegung verschaffen, umherstolpern und sich wieder mit seiner Umgebung vertraut machen. Innerhalb einer Woche benützte er wieder englische Wörter, um darauf zu bestehen, seine eigenen Anziehsachen zu tragen und allein auf die Toilette zu gehen. Er nahm zu, wurde kräftiger, war wieder eine Plage. Jetzt wechselt er, oft am selben Tag, zwischen alzheimerscher Leblosigkeit und einer verhalten durchscheinenden Verdrießlichkeit, die bei einem Mann von fünfundachtzig Jahren so gesund ist, dass man sie rüstig nennen könnte. Burny gleicht einem Mann, der nach Lourdes gepilgert ist und eine Wunderheilung erfahren hat, dort aber abgereist ist, bevor sie vollständig war. Für Chipper ist ein Wunder ein Wunder. Wen kümmert’s, ob der alte Fiesling übers Gelände wandert oder in den Haltegurten seines Rollstuhls hängt, solange er nur am Leben bleibt?
ENDE DER LESEPROBE
Die Originalausgabe BLACK HOUSE erschien bei Random House, New York.
2. Auflage Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 04/2004 Copyright © 2001 by Stephen King and Peter Straub Copyright © 2004 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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