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Lehrkräfte stehen im Schulalltag vor vielfältigen Aufgaben. Die Funktionen des Bildungssystems - u. a. Enkulturation, Qualifikation, Allokation und Integration - produzieren mitunter widersprüchliche Anforderungen, denen sich Lehrkräfte in ihrem Unterrichtsalltag stellen müssen, die gleichfalls jedoch Handlungsprobleme erzeugen können. Eines dieser Spannungsverhältnisse befindet sich zwischen der Bewertungsaufgabe und dem Auftrag zur Mündigkeitserziehung. Die Bewertung von Schüler*innenleistungen ist eine zentrale Aufgabe der Lehrkräfte und dient nicht nur den vielfältigen formativen Zielen wie der Diagnostik, dem lernwirksamen Feedback, der Planung zukünftigen Unterrichts und der individuellen Förderung. Lehrkräfte müssen durch summative Bewertungen auch die gesellschaftliche Selektion und Berechtigungsvergabe sicherstellen. Diese Studie folgt der Annahme, dass die summativen Bewertungen mit dem Auftrag zur Erziehung zur Mündigkeit in einem Widerspruchsverhältnis stehen. Lehrkräfte sollen einerseits Schüler*innen zur Mündigkeit erziehen, also zum Widerspruch und zur Kritik an bestehenden Verhältnissen animieren und einen gleichberechtigten Diskurs mit den Schüler*innen führen, führen jedoch andererseits mit der selektionsrelevanten und summativen Bewertungsfunktion eine Aufgabe aus, in der sich ihre Schüler*innen in einer asymmetrischen, heteronomen und undemokratischen Rolle wiederfinden. Das Forschungsanliegen der vorliegenden Arbeit besteht darin, herauszufinden, wie sich Lehrkräfte in dem antinomischen Spannungsverhältnis von Bewertung und Mündigkeitserziehung behaupten. Welche Strategien entwickeln sie, um diesem Spannungsfeld gerecht zu werden? Lassen sich bestimmte Muster in ihrem Handeln erkennen? Und wie lassen sich diese theoretisch bewerten? Dafür bietet diese Arbeit im theoretischen Teil zunächst einen umfassenden Überblick über die Praxis der Leistungsbewertung und die Mündigkeitserziehung. Im Zentrum der empirischen Forschung steht eine Interviewstudie mit acht Lehrkräften, die zu ihren Umgängen mit dem Spannungsfeld befragt wurden. Von Kapitulation, Resignation, über partizipative Notengebung und Systemkritik offenbaren sich differenzierte Umgänge mit dem Spannungsfeld, die jeweils in den Zusammenhang aktueller wissenschaftlicher Kontroversen eingeordnet und diskutiert werden.
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Seitenzahl: 128
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Impulse sind Antriebe, Anstöße und Anregungen. Als Denkanstöße sind sie im hochschulischen (Arbeits-)Alltag auf vielfältige Weise Ausgangspunkt und zugleich Gegenstand von Wissenschaft. Daraus resultierende Forschungsvorhaben sind zumeist vorerst exklusiv Wissenschaftler*innen vorbehalten.
Leider viel zu selten – hier sei aus der Perspektive der Erziehungswissenschaft gesprochen – wird die Lehre als Forschungsraum verstanden. Gemeint ist damit keineswegs, dass die Studierenden in den Lehrveranstaltungen zu Probanden von Studien werden oder diese evaluieren. Intendiert sind ebenfalls keine Praxisseminare, die z. B. im Rahmen von Lehr-Lern-Laboren den Professionalisierungsprozess von Lehramtsstudierenden forcieren und deren Selbstwirksamkeitsüberzeugungen steigern wollen. Ohne Zweifel haben die skizzierten Settings alle ihre Berechtigung, verbinden die für die Hochschulen elementaren Sphären der Forschung und Lehre jedoch nicht ganzheitlich, weil die Forschung als Prozess nicht im Seminarkonzept inhärent ist, sondern zum spezifischen Inhalt (z. B. Publikationen) wird oder als Additum angesehen werden muss.
Dazu konträr stehen jene Lehrformate, in denen Forschung und Lehre verschmelzen und die Studierenden zu Forschenden werden. Ohne Frage muss der Gehalt studentischer Forschung anders bewertet werden als wissenschaftliche Forschung. Studierende sind Forschungsnovizen, die das Forschen erlernen müssen. Dennoch können aus studentischer Forschung Impulse hervorgehen. Für Dozierende ist die hochschuldidaktische Gestaltung von „Forschungsseminaren“ eine polyvalente Herausforderung, gilt es doch eine wissenschaftstheoretische und methodologische Basis zu schaffen und die (Forschungs)Interessen aller Teilnehmenden zu berücksichtigen. Das Anliegen stößt zudem nicht selten auf administrative Hürden, da solche Formate nicht immer mit Studienordnungen kompatibel sind. Studentische Abschlussarbeiten – in Zeiten der Internationalisierung des Studiums vor allem Bachelor- und Masterarbeiten – haben das Potential, ausgehend von den Interessen der Studierenden zu kleinen Forschungsvorhaben zu werden. Die Studierenden bearbeiten über einen Zeitraum von mehreren Monaten selbstständig eine Fragestellung und erschließen sich Forschungsmethoden und Diskurse mit dem Ziel, ihre Ergebnisse in einen Kontext zu stellen. Dabei behandeln sie Themen, die für wissenschaftliche Forschung zu partikular sind. Nicht selten wird mit ihnen neues Wissen generiert, aus dem sich wiederum Möglichkeiten für sich anschließende wissenschaftliche Forschung ergeben können oder die Abschlussarbeiten sind bereits die Weiterentwicklung eines vorausgegangenen Studienprojektes aus dem Praxissemester.
Die Reihe Erziehungswissenschaftliche Impulse setzt es sich zum Ziel, exzeptioneller studentischer Forschung ein Forum zu bieten. Anker sind neben der Bedeutung des Gegenstandes und der gewählten Herangehensweise auch Anerkennung und Wertschätzung der Leistung. Dabei sollen die veröffentlichten Arbeiten auch als Impuls, das heißt als Anregung verstanden werden, die erwähnten partikularen Themen aufzugreifen und weitere Forschung (vor-)an-zutreiben.
Münster, im Sommer 2024
Patrick Gollub
1. Einleitung
2. Aufgaben von Lehrkräften und Funktionen von Schule
3. Bewertung von Schüler*innenleistung
3.1 Die historische Entwicklung der Bewertungspraxis in Deutschland
3.2 Die Entwicklung des Schul- und Bewertungssystems in NRW ab 1945
3.3 Aktuelle Bewertungsvorgaben und -praxis in NRW
3.4 Kontroversen um das schulische Leistungsprinzip und die Leistungsbeurteilung
4. Erziehung zur Mündigkeit
4.1 Kann die Schule zur Mündigkeit erziehen?
4.2 Bildung, Kritik und Mündigkeit
4.3 Mündigkeitserziehung in der jüngeren Pädagogik
4.4 Vorgaben zur Erziehung zur Mündigkeit im deutschen Schulwesen
5. Antinomien und das Verhältnis von Bewertung und Mündigkeit
5.1 Positionen zum Spannungsfeld von Bewertung und Mündigkeit
5.2 Vorstellung der Referenzstudie
6. Verfahren und Methodik der Studie
7. Vorstellung der Untersuchungsergebnisse
7.1 Einzelfallanalysen
7.1.1 Der Fall Karina: Resignation im naturwissenschaftlichen Fachunterricht
7.1.2 Der Fall Anika: leidenschaftliche Mündigkeitserziehung im kaputten System
7.1.3 Der Fall Elisabeth: Ringen um die eigene Position
7.1.4 Der Fall Alyssa: (pseudo-)partizipative Notengebung
7.1.5 Der Fall Anja: spannungsfrei an einer demokratischen Schule
7.1.6 Der Fall Stefan: Schüler*innen provozieren Spannungsfeld
7.1.7 Der Fall Reiner: Spannung als Teil des gesellschaftlichen großen Ganzen
7.1.8 Der Fall Isolde: Kapitulation vor der Klientel
7.2 Komparative Verortung der Lehrkräfte
8. Diskussion
9. Schluss
Literaturverzeichnis
Anhang
Abbildung 1
Abbildung 2
Abbildung 3
Abbildung 4
Abbildung 5
Lehrkräfte sind in der Schule mit vielfältigen Aufgaben konfrontiert – sie unterrichten, beraten, erziehen, beurteilen – und müssen sich mitunter in widersprüchlichen Anforderungen behaupten. Schaut man auf die Funktionen von Bildungssystemen nach Fend (2009) – Enkulturation, Qualifikation, Allokation und Integration – hat die Gesellschaft die Lehrkräfte als jene Auserwählte auserkoren, die diese Funktionen an vorderster Front umsetzen sollen. Ergeben sich den Lehrkräften aus den Aufgaben Widersprüche, so stellen sie sich ihnen unmittelbar in ihrem Arbeitsalltag und führen zu Handlungsproblemen.
Die vorliegende Arbeit widmet sich dem bisher wenig Beachtung geschenkten Spannungsverhältnis zwischen Bewertung und Mündigkeitserziehung. Die Bewertung von Schüler*innenleistung stellt nach der Bremer Erklärung (2000) eine zentrale Aufgabe von Lehrkräften in der Schule dar (vgl. KMK, 2000). Dabei geht es zum einen um die vielfältigen formativen Zielsetzungen von Leistungsbewertung, wie die Diagnostik, das lernwirksame Feedback, die Planung zukünftigen Unterrichts und die individuelle Förderung (vgl. Hesse & Latzko, 2017, S. 58). Andererseits sind Lehrkräfte an deutschen Schulen aber auch beauftragt, mit summativen Bewertungen die gesellschaftlich geforderte Selektion und Vergabe von Berechtigungen für bestimmte Berufswege durchzusetzen (vgl. Fend, 2009). Als eine weitere zentrale Aufgabe sind Lehrkräfte als Teil ihres Bildungsauftrages mit der Erziehung zur Mündigkeit beauftragt, dessen Ausbildung in der Gesellschaft von einem der verbreitetsten Referenzautoren Theodor W. Adorno als Demokratieversicherung und „allererste [Forderung] an Erziehung“ (Adorno, 1971, S. 88) proklamiert wurde. Folgt man dem Verständnis von Adorno, dann bedeutet Mündigkeit das Aufgeklärtsein „über jene gesellschaftlichen Verhältnisse, Zusammenhänge und Mechanismen, die die Menschen in Unmündigkeit halten“ (Fabel-Lamla, 2006, S. 85), die Fähigkeit zu kritischer Selbstreflexion und die Kraft zur Selbstbestimmung und zum Nicht-Mitmachen (vgl. Adorno, 1971, S. 93). Die Erziehung zur Mündigkeit steht – das ist die These der vorliegenden Arbeit – in einem antinomischen Verhältnis zur summativen Bewertungsaufgabe. Für Antinomien gelten dabei nach Helsper (2021) bezogen auf Bildungs- und Erziehungsprozesse, „dass für das professionelle pädagogische Handeln widerstreitende Orientierungen vorliegen, die entweder beide Gültigkeit beanspruchen können oder die nicht aufzuheben sind“ (ebd., S. 168). Ziel dieser Arbeit ist eine explorative Untersuchung der Deutungen, Begründungszusammenhänge und Hintergrundüberzeugungen, mit denen sich Lehrkräfte in dem Spannungsverhältnis von Bewertung und Mündigkeitserziehung behaupten. Welche Strategien nutzen Lehrkräfte, um dem Spannungsfeld gerecht zu werden, lassen sich darin bestimmte Muster identifizieren und wie sind diese in Hinblick auf theoretische Überlegungen zu bewerten?
Nach einer Verortung des Spannungsfeldes in den Aufgaben von Lehrkräften und den Funktionen von Schule (Kapitel 2) geben die folgenden Kapitel drei und vier einen Überblick über die dieser Arbeit zugrundeliegenden Aufgaben von Lehrkräften zur Bewertung (Kapitel 3) und zur Mündigkeitserziehung (Kapitel 4). In Kapitel drei werden zunächst historisch bedeutsame Entwicklungen der Bewertungspraxis dargestellt (3.1 und 3.2) und anschließend die aktuellen Bewertungsvorgaben und -realitäten in Deutschland genauer beleuchtet (3.3). Abschließend wird auf einschlägige wissenschaftliche Kontroversen um das schulische Leistungsprinzip und die Leistungsbeurteilung eingegangen (3.4). Das Kapitel vier fokussiert zunächst einleitend den Mündigkeitsbegriff, betrachtet die grundsätzliche Frage um die Durchführbarkeit von Mündigkeitserziehung in der Schule (4.1) und setzt den Begriff Mündigkeit mit den Begriffen Bildung und Kritik in Beziehung (4.2). Anschließend werden die Mündigkeitsverständnisse der kritischen Erziehungswissenschaft, Demokratiepädagogik und politischen Bildung genauer beleuchtet (4.3). Den Abschluss bildet ein Blick auf die Vorgaben und Realitäten der Mündigkeitserziehung in deutschen Schulen (4.4). Kapitel fünf widmet sich dann der Betrachtung des antinomischen Spannungsfeldes von Bewertung und Mündigkeitserziehung. Nach einer einleitenden Definition von Antinomien und ihrer Rolle für das vorliegende Spannungsfeld werden verschiedene Positionen zum Spannungsfeld von Bewertung und Mündigkeit aus der Literatur präsentiert und eingeordnet (5.1) und die Referenzstudie dieser Arbeit vorgestellt (5.2). Kapitel sechs präsentiert dann das Verfahren und die Methodik dieser Studie. In Kapitel sieben, Vorstellung der Untersuchungsergebnisse, werden für alle acht Lehrkräfteinterviews Einzelfallanalysen dargelegt (7.1) und die Lehrkräfte in einer komparativen Analyse in einem Koordinatensystem verortet (7.2). Die Analyseergebnisse werden in Kapitel acht diskutiert und abschließend mit Blick auf die Forschungsfrage resümiert (Kapitel 9).
Das Spannungsverhältnis von Bewertung und Mündigkeitserziehung kann in zwei zentralen Aufgaben von Lehrkräften verortet werden, die in der Bremer Erklärung (2000) auf Beschluss der Kultusministerkonferenz festgehalten wurden (vgl. KMK, 2000). Das ist zum einen die Beurteilungsaufgabe „im Unterricht und bei der Vergabe von Berechtigungen“ (ebd., S. 3) und zum anderen die Erziehungsaufgabe als „bewusste und absichtsvolle Einflussnahme auf die Persönlichkeitsentwicklung [zur Evokation] positive[r] Wertorientierungen, Haltungen und Handlungen“ (ebd.). Die Aufgaben von Lehrkräften sind Produkt der der Schule zugeschriebenen individuellen und gesellschaftlichen Funktionen, die bei Fend (z. B. 1980, 2006, 2009) zusammengetragen sind. Nach Fend (2009) sind Schulen Einrichtungen zur Lösung gesellschaftlicher Probleme mithilfe sozialisatorischer Maßnahmen im „Spannungsfeld von menschlicher ‚Unfertigkeit‘ und den komplexen Notwendigkeiten sozialen Lebens“ (S. 43). Er (ebd., S. 44) schreibt der Schule eine Doppelfunktion aus gesellschaftlicher Reproduktion und Innovation (gesellschaftliche Funktionen) und Persönlichkeitsentwicklung (individuelle Funktionen) zu. Das untersuchte Spannungsfeld von Mündigkeitserziehung und Bewertung kann in dieser Doppelfunktion verortet werden, denn die gesellschaftliche Allokationsfunktion, die mit Prüfungen und Berechtigungen durchgesetzt wird, konstituiert die summative Bewertungsaufgabe und die gesellschaftliche und individuelle Enkulturations- und Integrationsfunktion erfüllt in Demokratien die Ausbildung von Mündigkeit (vgl. Abbildung 1).
Funktionsschema des Zusammenhangs von Schule und Gesellschaft (vgl. Fend, 2009, S. 47)
Der Begriff der Leistungsbewertung bedarf in dieser Arbeit gleich einer doppelten Begriffspräzision. Die erste Präzision betrifft den Bestandteil der Leistung. Leistung bzw. das Leistungsprinzip gilt als Grundlage der Bewertungspraxis an deutschen Schulen: Es gehört nach Fauser (2010) zu den „grundlegenden normativen Bewegungsbegriffen, Analyseinstrumenten und Organisationskonzepten, mit denen moderne Gesellschaften und erst recht Demokratien ihr Entwicklungspotential zu steigern suchen“ (S. 61). Fausers Definition zeigt dreierlei. Erstens ist das Leistungsprinzip normativ. Argumentiert man mit der Definition von Nerowski (2018), der Leistung als „bewertete Handlung“ (S. 243) versteht, wird deutlich, dass Leistung keine natürliche Konstante, sondern eine wertende gesellschaftliche Festlegung ist, die nach nahezu beliebigen Wertvorstellungen konstruiert und potenziell jeder Handlung zugeschrieben werden kann. Zweitens ist das Leistungsprinzip ein Instrument zur Steigerung des gesellschaftlichen Entwicklungspotentials. Der schulische Leistungsbegriff ist primär ökonomisch-politisch generiert und nicht „genuin pädagogischer Natur“ (Klafki, 1991, S. 219, hierzu mehr in Kapitel 3.1). Und drittens ist das Leistungsprinzip ein Organisationskonzept moderner Gesellschaften, das aus den Idealen der französischen Aufklärung geboren und in der Entwicklung von vorindustriellen zu industriellen Gesellschaften notwendig wurde (vgl. Bolte, 1979, S. 17-19; hierzu mehr in Kapitel 3.1).
Einer zweiten Präzision bedarf es bezüglich des Begriffes der Bewertung. In der Einleitung wurde erwähnt, dass Bewertung in der Schule unterschiedlichen Zwecken dient und dabei hinsichtlich einer formativen oder summativen Motivation unterschieden werden kann. Eine formative Bewertung zielt primär auf diagnostische Informationen ab und wird auch als assessment for learning bezeichnet (vgl. Broadfoot et al., 1999; Andrade & Cizek, 2010). Formative Bewertungen werden üblicherweise im Verlauf einer Lern- oder Unterrichtseinheit durchgeführt und haben das Ziel, Stärken und Schwächen von Schüler*innen zu ermitteln, Lehrkräfte bei der Abstimmung des weiteren Unterrichts auf die Schüler*innen zu unterstützen und das Lernen zu verbessern (vgl. Cizek, 2010, S. 4). Eine summative Bewertung hingegen, auch assessment of learning, wird in der Regel am Ende einer Unterrichtseinheit durchgeführt und hat das Ziel, ein Leistungsmaß zu erhalten, um daraus Entscheidungen über Noten, Versetzungen und Zertifikate zu treffen (vgl. ebd., S. 3; Schmidinger et al., 2016, S. 61; Broadfoot et al., 1999). Sie dient vornehmlich den gesellschaftlichen Leistungsbewertungsfunktionen der Allokation und Selektion (vgl. Krüll, 2023, S. 63; Heritage, 2011, S. 2). Für die vorliegende Arbeit wird davon ausgegangen, dass sich für die Lehrkräfte ein Spannungsverhältnis insbesondere zwischen der summativen Bewertungsaufgabe und der Aufgabe zur Mündigkeitserziehung konstituiert. Daher wird die Bewertungsaufgabe in der gesamten Arbeit, sofern nicht anders präzisiert, explizit in seiner summativen Bedeutung betrachtet, ohne jedoch zu vernachlässigen, dass Bewertungen auch formativ durchgeführt werden können.
Zuletzt soll festgehalten werden, dass der Begriff Bewertung in dieser Arbeit dem Begriff Beurteilung vorgezogen wird, da Leistungsbeurteilung als Oberbegriff für die Beschreibung und Bewertung von Leistungen verstanden wird (vgl. Brüggelmann, 2014, S. VIII) und in dieser Arbeit insbesondere der Bewertungsaspekt im Vordergrund stehen soll.
Die Bewertungspraxis im deutschen1 Bildungswesen reicht bis ins Mittelalter zurück. Ab dem 16. Jahrhundert wurden fakultative Benefizienzeugnisse für Stipendiate ausgestellt und sechsstufige Skalen zur Bewertung angelegt (vgl. Ziegenspeck, 1999, S. 68-72; Sacher, 2014, S. 20). Angetrieben wurde der leistungsbasierte Bewertungs- und Berechtigungsanspruch letztendlich aus den Idealen der französischen Aufklärung, den Bestrebungen des erstarkten Wirtschaftsbürgertums und den Dynamiken der Moderne, nämlich, dass Leistung als Grundlage des Berechtigungswesens dienen solle, anstelle standesbezogener und geburtsabhängiger Selektion (vgl. Bolte, 1979, S. 18-19). Noten, Berichte und Zeugnisse können daher als ein „Produkt der Aufklärung“ (Beutel & Beutel, 2010, S. 9) gesehen werden. Der Schulabschluss wurde zunehmend zu der zentralen Berechtigungsinstanz für spätere Berufswege, beginnend im höheren Schulwesen im 19. Jahrhundert mit dem gymnasialen Reifezeugnis für gehobene Tätigkeiten (vgl. Ziegenspeck, 1999, S. 68-72; Sacher, 2014, S. 20). Hierbei spielten machtpolitische Überlegungen im Nachhall der revolutionären Unruhen des Vormärz eine zentrale Rolle, primär um die „Kontrolle des Verhaltens und der Gesinnung der Studienanwärter“ (Sacher, 2014, S. 21) sicherzustellen. Im niederen Schulwesen dienten Volksschulabgangszeugnisse zunächst eher der Kontrolle der Schulpflicht (vgl. ebd., S. 20). Ein Beurteilungs- und Berechtigungscharakter erhielt das Zeugnis flächendeckend erst 1920 mit der Einführung der gemeinsamen Grundschule, die gleichsam auch mit der Selektionsentscheidung für den weiteren (höheren) Bildungsweg betraut wurde (vgl. Kraul, 1995). Mit der Einführung von Jahrgangsklassen bekamen dann auch periodische Zeugnisse Einzug in das Schulwesen (vgl. Streckeisen et al., 2007, S. 19). 1938 wurden im Dritten Reich einheitlich die bis heute verbreiteten sechs Leistungsstufen eingeführt und 1954 für Westdeutschland übernommen (vgl. Neumayer, 2017).
Ingenkamp (1989) resümiert, dass „die Einführung des Zensurensystems […] eine politische Maßnahme [war]. Die Schule hatte nicht mehr nur zu erziehen und zu unterrichten, sie hatte auch Berechtigungen zu vergeben. Diese Doppelfunktion hat unser Bildungssystem belastet und seine Rückmeldungspraktiken aus pädagogischer Sicht deformiert“ (S. 96). Kritik dieser Art formierte sich auch schon kurz nach Einführung des Zensurensystems in Deutschland und es entstand eine heterogene reformpädagogische Bewegung, die in der Ablehnung von Ziffernzensuren einen gemeinsamen Nenner fand (vgl. Brüggelmann, 2014, S. 8; Link, 2017, S. 16-20).
Die vorliegende Arbeit fokussiert nachfolgend die Entwicklung der Bewertungspraxis des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen (NRW), in dem die in dieser Studie interviewten Lehrkräfte unterrichten. Als erste große Umstrukturierung des Schulsystems in NRW gelten die Reformen nach der diagnostizierten deutschen Bildungskatastrophe in den 1960ern, in dessen Zuge die Volksschulen aufgelöst, die neue Schulform Hauptschule eingeführt und die ersten Gesamtschulen in NRW etabliert wurden (vgl. Land NRW, 2019; Volmer 2011, S. 9). Als weiterer Systemschock gelten die unterdurchschnittlichen Leistungen des im OECD-Raum durchgeführten ersten internationalen PISA-Tests von 2000, der Deutschland zudem einen besonders hohen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg diagnostizierte (vgl. OECD, o. J.). Sie eröffneten unter dem Schlagwort PISA-Schock eine breite Diskussion um die Leistungsfähigkeit und generelle Gerechtigkeit des deutschen Schulwesens. In der Folge wurden nationale Bildungsstandards eingeführt und der Kompetenzbegriff in das Zentrum bildungspolitischer Bemühungen gestellt (vgl. ebd.; Eder, 2021, S. 150). Inwiefern sich die kürzlich veröffentlichte PISA-Erhebung 2022 und der darin diagnostizierte starke Leistungsabfall auswirkt, kann noch nicht eingeschätzt werden (vgl. OECD, 2023). 2006 befeuerte zudem ein Bericht des UN-Sonderberichterstatters Vernor Muñoz die Kontroverse um die deutsche Bildungsgerechtigkeit, in dem er das hochselektive gegliederte Schulsystem und die „Marginalisierung von Schulkindern, besonders mit Einwanderungsgeschichte oder mit Behinderungen“ (übersetzt aus Muñoz, 2006, S. 21) kritisierte.
In NRW trat im Jahr 2005 das Schulgesetz NRW in Kraft, das sogleich durch eine Novelle zum Erhalt der Hauptschulen und des geglie