Das Spatzennest von Schloss Goldenes - Regine König - E-Book

Das Spatzennest von Schloss Goldenes E-Book

Regine König

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Beschreibung

In der völlig neuen Romanreihe "Fürstenkinder" kommt wirklich jeder auf seine Kosten, sowohl die Leserin der Adelsgeschichten als auch jene, die eigentlich die herzerwärmenden Mami-Storys bevorzugt. Ihre Lebensschicksale gehen zu Herzen, ihre erstaunliche Jugend, ihre erste Liebe – ein Leben in Reichtum, in Saus und Braus, aber oft auch in großer, verletzender Einsamkeit. Große Gefühle, zauberhafte Prinzessinnen, edle Prinzen begeistern die Leserinnen dieser einzigartigen Romane und ziehen sie in ihren Bann. »Es ist Mumps, nichts weiter als Mumps, Gräfin!« Jan Termeulen lachte ein wenig. Er stand zwischen den Betten der drei Kinder, die mit schiefen, dicken Backen zwischen den Kissen hockten und ihn anstarrten. »Ziegenpeter, wenn ihr es ganz genau wissen wollt!« »Herr Professor!« Die grauhaarige Gräfin von Hoheneichen, die sich immer noch lieber mit ihrem englischen Titel Lady Rutherford anreden ließ, prallte beinahe heftig zurück. »Professor, wie können Sie so etwas aussprechen, so etwas…« Der Mann las den Abscheu der Gräfin gegen das so vulgäre Wort aus ihren Augen. »Nun«, besänftigte er, »nennen wir es Parotitis epidemica! Das klingt vielleicht gesellschaftsfähiger. Gleich aber wie die Krankheit heißt –, Bettruhe für die Rasselbande, Öleinreibungen, ein dickes wollenes Tuch um den Kopf. Ganz wie zu Großmutters Zeiten. Und dann wird auch alles vorübergehen.« »Können wir dann auch wieder etwas essen?« erkundigte sich der kleine, auch ohne Ziegenpeter etwas rundliche Mobby vorsichtig. Vorab schmerzte jede Kaubewegung. »Dir schadet das Hungern gar nicht, kleiner Freund!« Der Mann setzte sich auf des fünfjährigen Mobbys Bettrand. »Aber zur Beruhigung: du darfst essen, was du magst.

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Fürstenkinder – 36 –

Das Spatzennest von Schloss Goldenes

Dort fehlt die zärtliche Hand der Mutter

Regine König

»Es ist Mumps, nichts weiter als Mumps, Gräfin!« Jan Termeulen lachte ein wenig. Er stand zwischen den Betten der drei Kinder, die mit schiefen, dicken Backen zwischen den Kissen hockten und ihn anstarrten.

»Ziegenpeter, wenn ihr es ganz genau wissen wollt!«

»Herr Professor!«

Die grauhaarige Gräfin von Hoheneichen, die sich immer noch lieber mit ihrem englischen Titel Lady Rutherford anreden ließ, prallte beinahe heftig zurück. »Professor, wie können Sie so etwas aussprechen, so etwas…«

Der Mann las den Abscheu der Gräfin gegen das so vulgäre Wort aus ihren Augen.

»Nun«, besänftigte er, »nennen wir es Parotitis epidemica! Das klingt vielleicht gesellschaftsfähiger. Gleich aber wie die Krankheit heißt –, Bettruhe für die Rasselbande, Öleinreibungen, ein dickes wollenes Tuch um den Kopf. Ganz wie zu Großmutters Zeiten. Und dann wird auch alles vorübergehen.«

»Können wir dann auch wieder etwas essen?« erkundigte sich der kleine, auch ohne Ziegenpeter etwas rundliche Mobby vorsichtig. Vorab schmerzte jede Kaubewegung.

»Dir schadet das Hungern gar nicht, kleiner Freund!«

Der Mann setzte sich auf des fünfjährigen Mobbys Bettrand. »Aber zur Beruhigung: du darfst essen, was du magst. Und natürlich trinken. Viel trinken gegen das Fieber.«

»Zitronensaft?« fragte Mobby.

»Zitronensaft!« Der Mann nickte.

»Zitronensaft!« echote jetzt aus dem Nebenbett sein Bruder Tobby. Es klang bereits gebieterisch. Tobbys graue Augen streiften die Großmutter, die hochaufgerichtet am Fußende des dritten Bettes stand.

In dem lag Betty, schrecklich entstellt mit dem dickgeschwollenen Gesicht. Betty führte sonst das Regiment über die kleinen Brüder. Jetzt war sie still. Die Drüsen schmerzten schrecklich. Das Fieber lähmte den zarten Körper.

Fraglos hatte die Krankheit, die in Großmutters Ohren einen vulgären Klang hatte und dennoch eine schreckliche Krankheit war, Betty am härtesten gepackt.

»Zitronensaft dürfen wir nie trinken!« flüsterte die Kleine, deren schöne dunkle Augen man in dem häßlich angeschwollenen Gesichtchen kaum noch erkennen konnte. »Großmutter sagt…«

»Ich stehe auf dem Standpunkt, daß Kinder sich mit bescheidener Nahrung zufriedengeben sollen. Es ist eine Erziehungsangelegenheit. Es gibt nichts Verhaßteres für mich als anhaltendes Naschen!«

Professor Jan Termeulens helle Augen, deren Farbe nicht einmal ein Paßbeamter treffend bestimmen konnte, wanderten von dem langen, hageren Gesicht der alten Gräfin zu den drei Kinderbetten. Plötzlich blinzelten sie im Einverständnis mit den drei Paar Kinderaugen, denen sein Blick begegnete.

»Zitronenwasser mit Zucker, ausreichend Zucker, ist bei Ziegenpeter – ah, bei Parotitis epidemica – keine Leckerei. Es ist dringend erforderlich, daß die Kinder etwas trinken. Und nicht nur Tee.«

Des Mannes Augen streiften jetzt die riesige dickbauchige Teekanne, die auf einem Seitentischchen wie eine dicke Glucke stand.

»Zitrone enthält die so notwendigen Vitamine, die ganz besonders bei Parotitis epidemica unerläßlich sind.«

»Also bestellen Sie Zitronenwasser in der Küche, Miß!« befahl die Gräfin. Sie bemerkte nicht das zwinkernde Augenspiel zwischen dem Arzt und den drei kleinen Patienten.

Miß Suppy flüsterte ergeben: »Wie Sie befehlen, Lady!«

Die dünne, ältliche Erzieherin, die die alte Gräfin von Hoheneichen eigens aus ihrer Heimat geholt hatte, um die drei Enkelkinder zu erziehen, widersprach ihrer Herrin niemals.

Trotz ihrer Schmerzen und des Fiebers blinzelte Betty die beiden kleinen Brüder triumphierend an.

Jan Termeulen fing diese Blicke auf.

Ein seltsames Krankenzimmer! dachte er.

Er erinnerte sich plötzlich all dessen, was ihm sein Onkel gesagt hatte, bevor er ihn für ein paar Wochen in seiner Landarztpraxis vertrat.

»Hallo, alter Junge!« hatte der immer joviale alte Herr am Apparat gesagt. »Wenn du nicht so vornehm geworden bist, einen alten Landarzt, der eigentlich auch ein halber Viehdoktor sein muß, zu vertreten, so verschaff mir mal vier Wochen Urlaub. Ich muß mir mal freundlicheren Wind um die Nase wehen lassen als immer den rauhen Wind von der holsteinischen Küste. Wenn man den jahraus jahrein eingeatmet hat, will man mal andere Luft schnuppern!«

»Und wohin soll’s gehen?« hatte sich Jan Termeulen, der international angesehene Universitätsprofessor, dessen Privatpraxis berühmt war, erkundigt.

»Na, wohin schon!« Der alte Piet Termeulen, dessen breites rotes Gesicht den Neffen immer an einen alten Kapitän erinnerte, hatte schallend durch den Apparat gelacht. »Wind von der Nordsee muß ich haben, mein Junge. Ganz steifen!«

Ja, so war er, Onkel Piet. Auf einer kleinen, der niederländischen Küste vorgelagerten Insel war er aufgewachsen, hatte immer Sehnsucht nach Wasser und Dorf gehabt, obgleich er sich später in Amsterdam einen großen Namen gemacht hatte. Aber dann hatte er etwas erlebt, worüber er nicht hinweggekommen war.

»Die Liebe, Junge«, hatte er einmal gesagt, »die Liebe ist die gefährlichste und vor allem die unheilbarste Krankheit auf dieser Erde. Und manchen steigt sie sogar in den Kopf!«

Jan Termeulen liebte den schrulligen Alten. Zudem hatte der Onkel nicht so ganz unrecht. Es tat gut, von Zeit zu Zeit einmal ländliches Leben um sich zu haben. Ja, ganz einfach hemdsärmelig zu sein.

Zudem gab es wenig Patienten im Dorf. Man war gesund, trank mit dem alten Dr. Termeulen lieber eine lütte Lage in Petersens Wirtschaft.

Jan Termeulen kam eigentlich hauptsächlich zu seinem Vergnügen ins Dorf. Mit dem Wagen war die See schnell zu erreichen. In den zahlreichen Seen rundum konnte man fischen, Hechte und Karpfen. Und wie das immer war: »Die Dummen haben das Glück!« sagte der alte Landarzt. Er selber kam trotz langjähriger Erfahrung immer nur mit bescheidener Beute heim. Der Neffe aber hatte immer Petri-Heil, brauchte kaum zehn Minuten die Angel ins Wasser zu halten. Ganz gleich an welcher Stelle.

In diesem Jahr aber schien es mit dem Petri-Heil nichts zu werden. Kaum hatte Jan den eleganten, maßgeschneiderten Anzug mit einem bunten Hemd und Hosen, die man in Schaftstiefel steckte, vertauscht, als fast alle Kinder im Dorf dicke Gesichter bekamen, Fieber, und so entstellt aussahen, daß sogar kleine Bauersfrauen, die sonst ängstlich mit dem Pfennig rechneten, den Arzt holten.

Ziegenpeter, ja, Ziegenpeter, wohin man in Kindergesichter schaute. Ziegenpeter steckte nun einmal an. Die Schule wurde geschlossen. Aber es war schon zu spät. Die Krankheit griff wie eine Epidemie um sich. Und Jan Termeulen fuhr von morgens bis abends durch das weit auseinanderliegende Dorf und verordnete alte Hausmittel.

»Das hätten wir auch selber gewußt!« sagte dann eine alte Großmutter.

»Das hättet ihr euch früher überlegen können!« knurrte Jan Termeulen dann. »Mir ist nichts daran gelegen, in eure abseits gelegenen Katen zu kommen. Mir liegt wahrhaftig nichts daran, einen ganz vulgären Ziegenpeter festzustellen, statt mich mit dem Angeln zehnpfündiger Karpfen zu beschäftigen, von denen nachher das ganze Dorf spricht und es noch dem guten Onkel Piet erzählt.«

Jan konnte oft genauso barsch sein wie sein Onkel mit dem holländischen Kapitänsgesicht. Er selber hatte zwar ein schmales, sehr scharfgeschnittenes Gesicht. Es war auch nicht rot. Aber braun und erinnerte, obgleich der Mann seit Jahren in der Stadt wohnte, an salzige Seeluft, steifen Wind.

Jan mochte die Leute aus dem Dorf gut leiden. Schon weil sie immer gesund waren und er deshalb seiner Anglerleidenschaft nachgehen konnte. Und nun machte ihm der Ziegenpeter, dieser ganz gewöhnliche Ziegenpeter, einen Strich durch die Rechnung.

»Wie meine Enkel sich eine solche Krankheit holen konnten, verstehe ich nicht recht!« sagte die ehemalige Lady Rutherford. »Sie kommen doch mit den Dorfkindern gar nicht in Berührung.

Miß Suppy unterrichtet sie selbst. Miß Suppy geht mit ihnen spazieren. Miß Suppy…«

»Sie soll zusehen, daß sie sich nicht auch noch ansteckt!« Jan Termeulens Stimme klang jetzt grob und beinahe bösartig.

Einen Vater hatten die drei Kinder nicht mehr. Piet Termeulen hatte die ganze tragische Geschichte von Schloß Goldensee einmal erzählt. An einem Wintertag.

Mit viel Grog und nie ausgehender Pfeife. Die Luft im Zimmer war zum Zerschneiden gewesen. Auch sein Neffe Jan liebte Grog und Pfeife.

Man konnte in einem solchen Zimmer Dinge aussprechen, die man sonst verschwieg. Und wenn man sich über die Augen fuhr, brauchte keiner an Mitleidstränen zu denken. Die Feuchtigkeit rührte gewiß vom Rauch her.

Einmal hatte er dem Neffen denn auch die ganze Geschichte erzählt, die Geschichte von dem jungen Grafen Hubertus, der gegen den Willen seiner Mutter ein bettelarmes Mädchen heiratete. Und dazu noch die Tochter eines Schauspielers! Man denke – ein Graf von Hoheneichen und die Tochter eines Schauspielers. Daß der Name dieses Schauspielers bekannter war als der des holsteinischen Grafen, spielte keine Rolle. Ein Schauspieler war eben immer nur ein Schauspieler. Zudem – waren nicht alle üblen Prophezeiungen der alten Gräfin von Hoheneichen eingetroffen? Diesem Schauspieler waren seine gewiß nicht unerheblichen Einnahmen durch die Finger geronnen wie anderen Leuten einfaches Wasser. Und als er starb, war er eben bettelarm. Seine Tochter Michaela brachte nichts mit in die Ehe. Nichts wenigstens, was in den Augen ihrer künftigen Schwiegermutter als Wert auf die Waage gelegt werden konnte.

Keinen Namen, kein Geld, keine Internatserziehung. Keinen Beruf, mit dem sie sich sehen lassen konnte. Tierpflegerin hatte sie werden wollen!

»Graf Hubertus hat sich um all dies nicht gekümmert!« hatte damals der alte Dr. Termeulen erzählt, während der Tabaksqualm die Stube völlig vernebelte.

»Er hat sie nach Goldensee gebracht, diese kleine Person. Siebzehn war sie damals und hatte den Vater gerade verloren. Ein halbes Kind noch. Aber das zauberhafteste Geschöpf, das ich je gesehen habe. Ein wenig scheu wie Wild im Wald, schmal wie ein edles junges Rennpferd, das seinem Stall einmal Preise hereinholt. Und bei all dem ein verzaubernder Liebreiz. Wir haben unseren jungen Grafen alle verstehen können. Und zudem – frisches Blut tut auch in den alten Familien gut!«

Piet Termeulen sprach wie ein alter Landtierarzt, der sich auf sein Fach verstand.

Auf jeden Fall hatten sie dicht nacheinander in der Wiege im Schloß gelegen, Betty, Tobby und Mobby, die eigentlich Bettina, Thomas und Matthias hießen.

»Auf eine solche Stute hätte selbst die alte Gräfin stolz sein können!« pflegte der alte, grobe Landarzt zu sagen. Im Dorf nannte man die Dinge nicht eben bei feinem städtischem Namen.

Ja, und dann kurz nach der Geburt des kleinen Matthias war dies entsetzliche Unglück geschehen. Auf der Jagd. Ein sich verirrender Schuß. Am Abend hatte man den toten jungen Grafen von Hoheneichen auf einer aus Ästen geflochtenen Bahre nach Goldensee getragen.

Was dann alles geschehen war –, darüber wußte selber der alte Landarzt Termeulen nichts zu sagen.

Fest stand allein, daß die alte Gräfin von Hoheneichen die Zügel in der Kinderstube wie auch auf dem Gut in die Hand genommen hatte. In dem jungen Carsten Burmeester, dessen Familie – einmal im Osten ansässig – unverschuldet verarmt war durch den Krieg, hatte sie einen tüchtigen Verwalter, der aus Liebe zu Landwirtschaft und Gestüt wie für etwas Eigenes unermüdlich arbeitete.

Ja, und die junge Gräfin?

»Michaela?« Der alte Dr. Piet Termeulen hatte damals, als er dem Neffen die ganze Geschichte erzählte, noch mehr Rauch aus seiner Pfeife ausgestoßen. »Die Kinder hat man ihr völlig fortgenommen. Sie sei zu jung und selber nicht entsprechend erzogen, als daß man ihr die drei Kinder Hoheneichen anvertrauen könnte. Die alte Gräfin erzieht sie selber. Mit dieser Miß Suppy oder Suppe, wie die Kinder sagen. Gräfin Michaela darf die Kinder täglich nur zwei Stunden sehen!«

»Und das läßt sie sich als Mutter gefallen?«

Jan hatte aufbegehrt.

Der Onkel zuckte die Schultern.

»Gegen Gräfin Elizabeth ist kein Kraut gewachsen. Sie hat seinerzeit den einzigen Sohn als Eigentum betrachtet. Jetzt stellt sie die gleichen Ansprüche im Hinblick auf seine hinterlassenen Kinder. Es laufen so mancherlei Gerüchte um. Die junge Gräfin mache sich nichts aus den Kindern… Manche sagen auch, Gräfin Elizabeth wolle die ungeliebte Schwiegertochter endgültig von Goldensee verjagen.«

»Und was tut diese Gräfin Michaela den ganzen Tag?« hatte Jan sich seinerzeit erkundigt.

Wiederum zuckte der alte Landarzt mit den Schultern. Er schien in diesem Punkt aber nicht Rede und Antwort stehen zu wollen, selbst nicht bei dem Neffen, den er wie einen Sohn liebte.

»Reiten soll sie!« wich er aus. »Ja, sie kümmert sich um die Pferde. Aber darüber sprechen wir alle nicht. Gräfin Elizabeth würde ihr vielleicht auch diese Beschäftigung verbieten.«

Gräfin Elizabeth – Gräfin Elizabeth!

Jan Termeulen meuterte innerlich an diesem Tag, an dem er auf dem Schloß keinen Ziegenpeter wie überall hatte feststellen dürfen, sondern nur eine Krankheit mit einem lateinischen Namen.

Wenn er des Onkels Kartei durchblätterte, konnte er feststellen, daß nun endgültig wohl die letzten Kinder um Schloß Goldensee an Mumps erkrankt waren. Kein Anruf würde ihn mehr herbeizitieren.

Endlich kann ich angeln gehen! dachte der Mann.

*

»Hallo, kommt man hier auch zum See hinab?«

Jan Termeulen hatte eine Abkürzung eingeschlagen, stand nun aber nicht wie erwartet am Seeufer, sondern auf einer Fohlenkoppel.

Schnuppernd drängten sich die Fohlen an die weichen Bäuche der Stuten. Etliche der Fohlen aber hatten Hunger und die mütterliche Wärme vergessen. Sie rieben die noch ein wenig unförmigen Köpfe an der Schulter einer Mädchengestalt, die auch die Hände den danach drängenden Tieren entgegenhielt. Manchmal gab’s einen kleinen zärtlichen Nasenstüber. Meist aber nur eine kosende Bewegung an den jungen Mäulern. Und das jüngste Fohlen, das noch so sehr lange, ein wenig hilflos-staksige Beine hatte, hielt dies Mädchen zärtlich im Schoß geborgen. In der untergehenden Sonne glühte das Haar des Mädchens beinahe wie flüssiges Gold. Es war seidenweich und glatt und bildete in seiner bis auf die Schulter herabfallenden Flut einen seltsamen Kontrast zu dem sonst so einfachen sportlichen Reitanzug.

»Hallo!« Jan Termeulen mußte sich beinahe überwinden, noch einmal zu rufen.

Er fühlte sich fast wie ein Barbar, daß er die zärtliche Harmonie des liebreizenden Bildes auf der Koppel zerstörte.

Aber schließlich will ich ja hier nicht bis an mein Lebensende dies Bild studieren. Schließlich und endlich will ich angeln gehen. Und wenn ich noch länger warte, verpasse ich die beste Gelegenheit, die ich von früheren Jahren mit Erfolg ausprobiert habe.

»Hallo!« Er strengte seine Stimme zum drittenmal an.

Da endlich hob das Mädchen den Kopf.

Mein Gott!

Der Mann prallte beinahe zurück.

Was für Augen schauten ihn an!

Sie schimmerten zwischen Grün und Blau, erinnerten an changierenden Opal, der, je nach dem, wie das Licht auf ihn einfiel, seine Farbe veränderte. Jetzt wurden diese Augen, die von langen, gebogenen und sehr dunklen Wimpern beschattet wurden, sehr grün. Irrlichter mochten so über dem Moor zu bestimmten Zeiten flackern.

Sie hat Angst! durchfuhr es den Mann. Aber weshalb nur ängstigt sie sich? Vor wenigen Minuten hat sie noch gelacht. Ich habe es deutlich gehört. Und wie zärtlich haben ihre Hände die jungen Tiere gekost, die wie verzaubert ihrer Stimme lauschten.

Und wie abwehrend lehnt sie sich jetzt gegen den weißen Stamm der jungen Birke, deren Zweige sich leicht im Wind wiegen.

Sie schaut selber wie solch zartes Birkenstämmchen aus, so biegsam,

so–, ja, irgendwie erscheint sie unberührbar.

»Den Weg zum See hinab möchte ich wissen!« erklärte der Mann, der jetzt ganz dicht neben der Birke stand. »Ich habe mich verlaufen!«

»Oh!« Das Mädchen von der Fohlenweide wies unbestimmt mit der Hand gegen die Weite.

»Dort hin, ja, dahin!«

»Ein bißchen ungenau, wie Sie das angeben. Typisch Frau. Frauen können Wege nie präzise angeben. Das weiß ich vom Autofahren her. Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, der Mann räusperte sich jetzt, »vielleicht bringen Sie mich auf den richtigen Weg zum Seeufer hinab. Ohne daß ich gleich in Schilf und Morast versinke.«

Da lachte das Mädchen plötzlich.

»Haben Sie Angst?«

»Ich dachte vorhin, Sie hätten Angst!« Jan Termeulen machte sich angelegentlich mit seinem Angelzeug zu schaffen.

»Ich?« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Weshalb sollte ich Angst haben? Ich kenne doch hier draußen jeden Weg und Steg. Na, und schließlich« – sie hob jetzt die großen Augen halb zu dem Mann auf, er konnte den seidigen Glanz der sehr dichten Wimpern beobachten, die ein wenig nervös bebten –, »ja, schließlich bin ich doch eine erwachsene Frau!«

»So?« Jan betrachtete die Fremde, die jetzt in einer beinahe tänzerischen Anmut neben ihm einherschritt. Sie war schmal wie ein Knabe, aber groß und sehr langbeinig.

Fast wie ein Mannequin! durchfuhr es den Mann. Er verwarf diesen Gedanken jedoch. Trotz der gertenhaften Biegsamkeit des schmalen Körpers schien er irgendwie zu adlig für ein Mädchen, das Kleider so vorführte, daß andere Leute sie kaufen und tragen sollten. Nein, sie sah aus wie jemand, der auch die vollendetsten Abendtoiletten als Eigentum selber tragen konnte.

Eine Frau? Eine Frau – ausgeschlossen.

»Daß Ihre Eltern Sie hier am Abend so unbeaufsichtigt herumlaufen lassen, ist eigentlich nicht zu verstehen!«

Jan suchte nach seiner Pfeife in der Jacke.

Er würde sie fragen, ob er rauchen durfte. Beim Rauchen gewann er stets seine Ruhe wieder. Irgendwie hatte er sie im Augenblick verloren.

»Auf mich braucht keiner aufzupassen!« erklärte die Fremde beinahe böse. »Und zudem – ich habe drei Kinder!«

»Was haben Sie?« Jan war so sprachlos, daß er die endlich gefundene Pfeife fallen ließ. Er beugte sich nieder, um sie aufzuheben. Dabei wanderte sein Blick von den langen, sehr schlanken Beinen der Fremden bis wieder hinauf zu den beinahe märchenhaft anmutenden Augen, in denen jetzt ein fast trotziger Glanz lag.

»Ach, das wundert Sie?« Die Fremde nickte jetzt, als der Mann mit den Augen bat, die Pfeife anzünden zu dürfen. »Sie sind wohl fremd? Das heißt, auch die Einheimischen kennen mich nicht alle. Schließlich bin ja auch nicht die alte Gräfin von Hoheneichen, sondern nur die junge.«

Das klang schmerzlich, aber auch ein wenig böse. Nichts erinnerte plötzlich mehr an das zärtlich versonnene Geschöpf auf der Fohlenweide.

»Also die Mutter vom Spatzennest!« Jan Termeulen lachte plötzlich. Ihm stand das Gesicht der drei Kinder auf Schloß Goldensee vor Augen, Kinder mit kecken Augen, wenn sie jetzt auch aus den verquollenen, entstellten Gesichtern hervorblinzelten.

»Spatzennest?« Die Frau schaute kurz auf.

»Na ja, ich habe die Bande ja gerade heute gesehen! Ich wundere mich nur…«

»Bitte!« In diesem Augenblick legte die mädchenhaft ausschauende Frau beschwörend die feingliedrige Hand auf des Mannes Unterarm. »Bitte, wundern Sie sich über nichts.«

Plötzlich standen die Erzählungen seines Onkels vor Jans inneren Augen.