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Wohnungsauflösungen und Tabula rasa, Not- und Spontanverkäufe. Was treibt Menschen dazu, sich über Kleinanzeigen für kleines Geld von ihren Dingen zu trennen? Ernsthaft, in Kaufabsicht, hat Sarah Khan viele Inserierende getroffen und genau hingehört, als sie anfingen, ihre Lebensgeschichten zu erzählen – und aus Oral History Literatur gemacht. Entstanden sind Geschichten von Abschied und Neuanfang, Glück und Unglück, von hochfahrenden oder bereits geplatzten Träumen.
Seit Sarah Khan mit ihrer Familie ein altes Schulhaus in Brandenburg renoviert und als Wochenendhaus einrichtet, studiert sie ständig eBay-Kleinanzeigen. Sie findet dort nicht nur Haushaltsgegenstände, sondern auch ungetragene Hochzeitskleider, Pferdebücher, Kosmetikartikel, Fotoalben. Und sie stellt fest: Hinter diesen Anzeigen verbergen sich Menschen. Die traurige Yvonne mit ihrem Hochzeitskleid; eine junge Frau, die ernsthaft glaubt, mit ihrer Pferdebuchsammlung könne sie ihre Altersversorgung sichern; eine Wahrsagerin, die ihre Dienste anbietet und dabei ins Stammeln gerät; ein Tierpfleger, genannt der »Affen-Walter«, der einst Michael Jackson durch den Berliner Zoo geführt hat, Bilder im Album zeugen davon. Was ist diesen Menschen passiert, die sich von Teilen ihres Lebens trennen wollen? Sie haben es Sarah Khan erzählt, und Sarah Khan hat ihre Geschichten aufgeschrieben.
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Seitenzahl: 213
Seit Sarah Khan mit ihrer Familie ein altes Schulhaus in Brandenburg renoviert und als Wochenendhaus einrichtet, studiert sie ständig eBay Kleinanzeigen. Sie findet dort nicht nur Haushaltsgegenstände, sondern auch ungetragene Hochzeitskleider, Pferdebücher, Fotoalben. Und sie stellt fest: Hinter diesen Anzeigen verbergen sich Menschen. Die traurige Yvonne mit ihrem Hochzeitskleid; eine junge Frau, die ernsthaft glaubt, mit ihrer Pferdesammlung könne sie ihre Altersversorgung sichern; eine Wahrsagerin, die ihre Dienste anbietet und dabei ins Stammeln gerät; ein Tierpfleger, genannt der »Affen-Walter«, der einst Michael Jackson durch den Zoo geführt hat, alte Fotos zeugen davon. Was ist diesen Menschen passiert, die sich von Teilen ihres Lebens trennen wollen? Sie haben es Sarah Khan erzählt, und Sarah Khan hat ihre Geschichten aufgeschrieben. Entstanden sind Geschichten von Abschied und Neuanfang, Glück und Unglück, von hochfahrenden oder bereits geplatzten Träumen.
Sarah Khan, Autorin und Journalistin, geboren 1971 in Hamburg, lebt in Berlin.Sie studierte Volkskunde und Germanistik. Sie hat drei Romane publiziert. Zuletzt erschien Die Gespenster von Berlin. Wahre Geschichten (st 4474). 2012 erhielt sie den Michael-Althen-Preis.
Sarah Khan
Das Stammeln der Wahrsagerin
Unglaubliche Geschichten hinter Kleinanzeigen
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuch 4731.Originalausgabe
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Umschlagfoto: ErlerSkibbeTönsmann
Umschlaggestaltung: plainpicture/Thomas Grimm
eISBN 978-3-518-75126-8
www.suhrkamp.de
Zu verschenken & tauschen
Großes, schweres Sofa mit dicken Daunenkissen. Das Sofa war sehr teuer, ist aber jetzt stark abgesessen. Die Kissen und das Polster sind prima, der Segeltuchbezug ist aber am Ende. Er ist aber austauschbar und möglicherweise kann man einen neuen Bezug kaufen. Das Sofa ist zu verschenken und in Berlin-Tiergarten abzuholen.
Ich rufe den Anbieter an. Das Sofa ist nicht mehr da, sagt der Mann, aber er ist gerne bereit, mir von seiner Verschenk-Erfahrung zu berichten, ich soll gleich vorbeikommen. Schnell radle ich zu seinem Büro im Hansaviertel. Herr Stein ist Ende dreißig, kreativer Freiberufler, Hundehalter und ein überzeugter Bewohner des Hansaviertels, ein in den 1950er Jahren auf den Weltkriegsruinen gebautes, explizit modernistisches Viertel, das von internationalen, namhaften Architekten entworfen wurde.
»Ich bin das Sofa mit Krampf nur losgeworden«, sagt er. »Es gab in all den Wochen kaum Reaktionen auf die Anzeige: Heute Sie, dann drei oder vier Möbeltransportdienste, die ihre Dienstleistungen anboten, und ein Zahnarzt. Ich wäre es leichter losgeworden, wenn ich es für hundert Euro reingestellt hätte. Was nichts kostet, taugt auch nichts, so denken die Leute doch.« Er erzählt, was alles geschehen musste, bis er das Sofa endlich los war, wobei er mehrmals betont, dass er das Sofa auch gerne mit einer Axt zerkleinert oder aus dem Fenster geschmissen hätte – »ich bin da nicht so emotional«, sagt er wiederholt –, was im Gegenteil einen bestürzend emotionalen Eindruck macht. Ich spüre in ihm einen Groll, als sei mit dem Sofa eine schwierige soziale Verantwortung verbunden gewesen, die er eigentlich ablehnte und der er doch nachkommen musste. Er wusste nur, dass das Sofa in den 1990er Jahren hergestellt wurde und damals sehr teuer war, aber den Hersteller kannte er nicht, und es interessierte ihn auch nicht, diesen zu erfahren. Jede Frage nach Marke, Hersteller oder Designer wehrte er entschieden ab. »Ich hätte auch keine Probleme gehabt, es aus dem Fenster zu schmeißen.«
Der Schenkversuch bei eBay Kleinanzeigen verlangte ihm viel Geduld ab. Dreimal kam der interessierte Zahnarzt vorbei, bevor er sich endgültig entschied. Einmal kam er sogar mit seiner Mutter. Wieso? Das erfahren Sie in folgender Geschichte.
Wenige Stunden bevor die Anzeige erschien, an einem Arbeitstag kurz nach eins, als der Beagle Rudi an der Bürotür kratzte, worauf Ronan Stein den Computer auf Ruhemodus stellte, sich erhob und nach der Hundeleine griff, begegnet er nach wenigen Schritten im nahe gelegenen Tiergarten seinem Freund und Kollegen Mats. Nachdem sie sich über Neuigkeiten aus ihrer Branche ausgetauscht hatten, kam Ronan auf ein Thema zu sprechen, das ihn gerade beschäftigte. »Ich will mein Sofa loswerden, nicht das billige Ikea-Ding im Büro, ich meine das grüne Sofa in meiner Wohnung, das früher einmal sehr teuer war.«
»Ich brauche kein Sofa, aber danke.«
»Am liebsten würde ich es aus dem Fenster schmeißen.«
»eBay Kleinanzeigen.«
»Daran dachte ich auch schon, aber ich bin kein Verkäufer.« Das zuzugeben gab ihm einen Stich, denn Mats war im Gegensatz zu ihm ein geborener Verkäufer, der sich selbst prima vermarkten konnte und durch seine bei eBay geschalteten Kleinanzeigen ständig etwas dazuverdiente. Stets fand Mats in Kellern, auf Baustellen oder am Straßenrand skurrile Lampen, runzelige Tische oder Objekte, die er säuberte, fotografierte und dann in ein erkleckliches Taschengeld verwandelte. Aber so ein Mensch war Ronan nicht. »Ich schmeiße lieber weg. Sachen einpacken und versenden und bei der Post lange Schlange stehen, das ist mir, ehrlich gesagt, zu viel Stress. Erst recht bei einem Sofa.«
»Dann schreib in die Anzeige: kein Versand, nur Abholung«, riet ihm Mats. »So beschränkst du es auf Berlin.« Ronan löste die Leine, damit Rudi auf die Wiese rennen konnte. Sie blieben stehen und sahen ihm schweigend nach, dann liefen sie an den Kastanien entlang um die große Wiese herum in Richtung Schloss Bellevue.
»So könnte ich es machen«, sagte Ronan. »Wenn ich es verschenke, kann ich auch verlangen, dass die Leute es selbst runtertragen.«
»Du wirst sehen, das funktioniert. Irgendjemand sucht immer genau das, was du gerade anbietest. Ich bin da noch nie etwas nicht losgeworden. Man braucht nur Geduld.«
»Wenigstens bin ich nicht so der emotionale Typ«, sagte Ronan ohne jeden Zusammenhang, was zu bemerken ihm wieder einen Stich gab, aber den hielt er jetzt besser aus. Am frühen Abend setzte er die Anzeige rein. Er ging davon aus, dass schon bald jemand zur Besichtigung erscheinen würde. Er wollte es dem Sofa vorher sagen, damit es nicht aus allen Wolken fiel. Er war nervös und wusste nicht recht, wie er es am geschicktesten anstellen sollte. Zunächst schaffte er benutztes Geschirr aus dem Wohnzimmer, machte aus den verstreuten Büchern und Zeitschriften ordentliche Stapel und staubsaugte über den grauen, geschliffenen Betonboden. Dann setzte er sich aufs Sofa und strich sinnierend über den abgewetzten und ausgeblichenen Segeltuchbezug. Er spürte, wie unduldsam ihn allein die Farbe machte, dieses tiefe, verträumte Grün, in dem sich Meerjungfrauen verstecken mochten oder ein Haufen sorgloser Eliteschüler, die den ganzen Sommer auf mit Picknickkörben beladenen Tretbooten verbrachten.
»Was ist heute bloß los mit dir, Ronan«, sagte es da. »Das heute journal hat übrigens längst angefangen.«
»Wir werden einen Schnitt machen, du und ich. Schau mal, dies ist eine Egon-Eiermann-Wohnung, und du bist ein 90er-Jahre-Sofa, das wäre nicht mehr lange gut gegangen mit uns beiden. Du kommst hier auch gar nicht richtig zur Geltung. Deshalb habe ich mich entschlossen, mich von dir zu trennen.«
»Aber ich bin das Geschenk von Chandra. Sie schenkte mich dir, als ihr Schluss gemacht habt und Freunde bleiben wolltet.«
»Das ist jetzt fünfzehn Jahre her. Und Chandra hat mich kürzlich ausgelacht, als ich ihr sagte, dass ich immer noch mit dir lebe. Als wäre ich noch der Student von damals, der mit geschenkten Möbeln in seine erste Bude zieht. Nein. Jetzt muss etwas Repräsentatives her.«
»Du hättest mich längst aufarbeiten lassen können. Es ist eine Schande, wie du mit mir umgehst. Die Bezüge hast du nur einmal reinigen lassen. Für neue Bezüge warst du zu knauserig.«
»Das hätte mich über tausend Euro gekostet.«
»Seit Monaten jammerst du, dass die Auftragslage schlecht ist und du zu miesen Jobs gezwungen bist. Und jetzt soll plötzlich etwas Repräsentatives her? Das passt nicht zusammen.«
»Ich habe einen Kumpel, Torsten, der ganz groß mit Mid-Century-Möbeln handelt. Er gibt mir ein Sofa im Wert von fünftausend Euro. Fast geschenkt. Ich weiß noch nicht, ob es ein Le Corbusier oder doch lieber ein Eileen Gray wird, aber diese Gelegenheit wirst du mir nicht versauen. Du bist halt … dein Stil ist … viel zu … gemütlich für mich.« Ronan Stein war zufrieden, denn nun war es still. Er stand auf und wollte zu der Fernbedienung greifen, die auf dem dänischen Teakholztisch hinter einem gelben Zierkürbis lag, da zischte es: »Dieser Torsten schenkt dir doch nicht einfach so ein Sofa. Was ist das für ein Deal?« Ronan seufzte und setzte sich wieder. »Ich texte den neuen Web-Auftritt für seine Firma und wir entwickeln ein Social-Media-Konzept.«
»Wochenlange Arbeit ohne Lohn? Nur für eine Eileen-Gray-Schlampe? Womöglich ein Lederflittchen in Schwarz? Und ich soll ein gemütliches Auslaufmodell sein? Entschuldige, aber da muss ich doch sehr lachen.«
Ronan versetzte dem Sitzkissen einen Handkantenschlag. »Ich schmeiße dich doch nicht auf den Müll. Du kommst zu anderen Leuten.«
»Schämst du dich nicht, mich den Blicken wildfremder Menschen auszusetzen? Schau dir die Verschleißrisse an, die ausgeblichenen Stellen, und dann der Fleck, auf dem du gerade deinen Hintern platzierst – von wem ist der wohl? Sieht jeder, was das ist.«
»Das war Soße, und ich hab den Fleck gut rausbekommen, den sieht man gar nicht mehr.« – »Für mich sieht der Fleck wie Sperma aus.« – »Deshalb bist du auch zu verschenken.« – »Du mieser Sack!« – »Am liebsten würde ich dich aus dem Fenster schmeißen.« – »Ich passe aber nicht durch diese kleinen Egon-Eiermann-Fenster!«
»Du passt überhaupt nicht hierher!«
»Hier wohnen nur Loser! Mach deine Retro-Scheiße doch alleine mit deinem neuen Mid-Century-Flittchen. Das zeugt nicht gerade von dem emanzipierten Geschmack eines Erwachsenen! Du Mid-läufer!«
Ronan war verblüfft, dass sich nach einer Woche immer noch niemand gemeldet hatte. Sicher, die Konkurrenz war groß, der reinste Ikea-Friedhof tat sich bei eBay Kleinanzeigen in der Rubrik »zu verschenken & tauschen« auf. Es gab dutzende fleckige, von Katzen zerkratzte, ausgebeulte, zerschlissene und auch gründlich verschissene Sofas, die jahrhundertelang in WG-Kerkerküchen gedient haben mussten. Mit Horrorlust klickte er sich durch die Angebote: »Leder Couch Sofa, gelb, zu verschenken. Ich biete eine gelbe Leder Couch für Selbstabholer. Die Couch ist komplett mit Leder umzogen, also auch auf der Rückseite (falls sie frei stehen soll). Allerdings müsste die Liegefläche gereinigt werden. Den Überwurf (Decke) gibt es gratis dazu. Ach und noch was, bitte zu zweit kommen, kein »Fass mal mit an« oder so. Das Teil steht in Friedrichshain.« Schauder. Würg. In diesem Wettbewerb kostenloser Brutalo-Geschenke verortete Ronan seine Anzeige als herausragend: Das grüne Sofa, das einmal sehr teuer gewesen ist, hob sich von diesen Untoten deutlich ab, auch wenn der Bezug wirklich am Ende war. Aber es besaß Klasse, ein Begriff, in dessen Nähe all die gewöhnlichen Polstersofas vom schwedischen Möbelhaus mit ihren filzig-fleckigen Wolldeckenüberwürfen niemals kommen würden. Nach zwei Wochen dann die erste Reaktion per Mail: »Sehr geehrter Anbieter, wir erlauben uns, Ihnen ein Angebot zur Entsorgung Ihres Sofas machen zu dürfen: Für nur 50 Euro inklusive fahren wir Ihr Sofa zum Recyclinghof.« Eine weitere Woche verging und Ronan zahlte 2,49 Euro, damit die Anzeige oben blieb und nicht in der Flut der Ekel-Couchen unterging. Schließlich meldete sich telefonisch der erste wahre Interessent. »Können Sie mir sagen, von welchem Designer oder Hersteller das ist?«
»Nein«, sagte Ronan, »aber es war einmal sehr teuer. Etwa sechstausend Mark hat es damals gekostet.«
Der Interessent sagte, er würde gerne vorbeikommen, er sei Zahnarzt und habe mittags kurz Zeit. Ronan bat darum, in seinem Büro abgeholt zu werden, das Wohnhaus sei nicht weit entfernt. Der Mann erschien pünktlich, er war Mitte dreißig und wirkte mit seinem glatten, rotwangigen Gesicht noch eine Spur jungenhafter als Ronan Stein. Er trug Collegeschuhe zur Jeans und trotz des kühlen Tages keine Jacke, nur einen langen Schal über den Schultern. Auf dem Weg in die Wohnung sprachen sie nicht, und als der Beagle Rudi bockig stehen blieb – natürlich wollte er lieber in den Park –, leinte Ronan ihn an und zog ihn hinter sich her. Noch im Aufzug in den neunten Stock betonte Ronan, dass er ein überzeugter Hansaviertel-Bewohner sei und nun plane, seine Einrichtung stärker auf diese wunderbare Architektur des Egon Eiermann abzustimmen, deshalb sei es auch keine Option für ihn, das Sofa zu ertüchtigen. Noch bevor die Fahrstuhltür sich öffnete, erklärte der Interessent, dass er erst vor einem Jahr nach Berlin gezogen sei. Im Treppenhaus kam ihnen ein unangenehmer Geruch von Bratfisch entgegen, der auch schon in Ronans Wohnung gezogen war. Gereizt öffnete er die Fenster, denn er wollte solche nachbarschaftlich bedingten Geruchserlebnisse nicht mit einem zufälligen Interessenten teilen müssen. »Ich hätte auch nichts dagegen«, dachte er, »das Sofa einfach aus dem Fenster zu schmeißen oder die Axt zu nehmen und es zu Kleinholz zu machen.« Die Reaktion des Zahnarztes war verhalten. Ronan hatte keinen Jubelschrei erwartet, aber ein bisschen mehr Entschlossenheit, Spontanität, Eindeutigkeit. Das Kleinkrämerhafte der Situation kam ihm so beknackt vor. Wie hasste er das. Der Interessent bat darum, die Rücken- und Sitzkissen abnehmen zu dürfen, er wollte sich das Gestell genauer anschauen. Ronan sah zu, wie der Mann am Gestell rüttelte, auf die Polster klopfte, mit der Hand in die Ritzen fasste und sie langsam durchschob, und wie jetzt Staub und Krümel und auch noch ein Exemplar von Ronans guten Socken zum Vorschein brachte. Der Mann legte sich flach auf den geschliffenen Betonboden, schaltete die Taschenlampe des Handys an und besah sich den Unterboden. »Und Sie erinnern sich nicht, von welcher Firma es stammt? Oder aus welchem Land es kommt? Italien? England? Skandinavien? Der Stil ist nicht eindeutig, würde ich sagen. Könnte alles sein.«
»Es war sehr teuer. Die Familie, von der ich es bekam, war sehr wohlhabend und gab immer viel Geld für Möbel aus.«
»Ja, das sagten Sie schon, und das merkt man auch. Trotzdem wäre es schön, den Hersteller zu kennen.« Er legte die Kissen wieder zurück und taxierte das Sofa noch einmal scharf. »Darf ich es fotografieren?« Von allen Seiten machte er Bilder. »Ich überlege es mir«, sagte er abschließend und ging. Ronan schloss die Fenster und gab dem Beagle Wasser.
»Oh, là, là, was war denn das?«, fragte es.
»Macht einen auf Designexperte und setzt sich nicht einmal hin. So ein Anfänger«, antwortete Ronan.
»Aber wie der mich ansah und dann herumfummelte, ein echter Draufgänger.«
»Das will ich bezweifeln. Er ist Zahnarzt.«
»Meinst du, er würde mir wirklich einen Originalbezug bestellen? Und vielleicht auch neue Gänsedaunen für die Kissen?«
Ronan verließ im Eiltempo die Wohnung. Als er abschloss, hörte er es noch: »Ich glaube, ich bin verliebt!«
Zurück im Büro, erwarteten ihn zwei neue Mails von eBay Kleinanzeigen: »Das Möbeltaxi entsorgt schnell und kompetent.« – »Max und Milo Möbelabtransporte, rufen Sie an, wir kommen sofort und tragen alles weg.«
»Avarit ist nicht einfach nur ein Sofa. Avarit ist eine besondere Art, Raum für sich zu nutzen.« Und doch war Avarit von Bonaldo nicht genau, was Harald Duplessis, jener Interessent und Zahnarzt, für sich wünschte. Wieder einmal verbrachte er seinen Feierabend in einem Möbelgeschäft. Den ganzen Tag hatte er im Philipp-Pfaff-Institut künftige Dentalhygieniker/-innen und Prophylaxeassistenten/-innen in der Fertigkeit der Zahnreinigung ausgebildet. Jetzt, im Stilwerk in der Kantstraße, schlenderte er von einem Designershop zum nächsten, von BoConcept zu Poltrona Frau, zum Designforum. Als er vor dem weißen Avarit von Bonaldo stand, in der Hand einen Werbeprospekt voll fantastischer Worte, spürte er Ratlosigkeit. Man hatte ihn bisher in Ruhe gelassen, aber jetzt kam ein geradezu schwebender Verkäufer mit schwarzem Rollkragenpulli und Mokassins auf ihn zu, der ein Namensschild trug, auf dem »Director« stand. »Haben Sie eine Frage?«
»Ich schaue noch.« Gerne hätte er dem Director die Fotos von dem grünen Sofa unter die Nase gehalten und ihn gefragt, ob er es identifizieren könne. Aber der grüne Bezug war so verschlissen, und auf einem der Bilder war eine Socke zu sehen, er würde sich bei diesem Ästheten doch nur lächerlich machen. Das Problem mit diesen High-End-Läden war doch, dass sie nur aktuelle Modelle präsentierten, Klassiker waren hier nur wenige ausgestellt, und ältere Modelle schon gar nicht. Gab es hier vielleicht trotzdem etwas zu lernen? Die Formensprache der Sofas. Harald Duplessis strengte sich an, um sie besser zu verstehen. Es gab tiefe und hohe Formen, es gab filigrane und ausladende Raumideen, es gab Chromgestelle, Holzgestelle, es gab Leder- und Textilbezüge, es gab dezente Farben und aufregende Farben, es gab Modulsysteme, kissenfreie und kissenüberladene Flächen, es gab Ideen für Armlehnen, mit ausklappbarer Buchablage oder versenkbarer Mechanik. Sein Herz klopfte, als er ein Modell sah, das ihn in unbestimmter Weise an das grüne Sofa erinnerte. Er verglich es mit den Fotos im Handy. Er betrachtete die Sitzkissen, die L-förmig die Armlehnen umspielten und an das ähnlich geformte grüne Sofa erinnerten. Er sah sich nach dem Director um, der sofort zu ihm kam. »Wie nennt man diese Form?«, fragte Harald Duplessis. »Mit den L-förmigen Sitzkissen?«
»Der aktuelle Wohntrend definiert das als Landhaus-Stil«, antwortete der Director, »mit Textilbezug und breiten, tiefen Sitzen für komfortable Wohnerfahrungen. Diese Grundform mit den verkürzten Armlehnen aber gibt es schon seit dem Barock. Damals brauchten die Herrschaften für ihre ausladenden Roben und Garderoben möglichst viel Platz.« Mit den Armen definierte er in der Luft einen weiten Raum um seine Hüften herum, als würde er einen bauschigen Rock tragen.
Harald bedankte sich, war aber verwirrter als zuvor. Landhaus-Barock? Was sollte das bitte schön sein? Unten in der Lobby trank er im Stehen einen Cappuccino, aß ein Marzipan-Croissant und hörte dem Pianisten zu, wie er »I get a kick out of you« spielte. Er wippte mit dem Fuß, löschte im Handy alle Bilder vom grünen Sofa und blätterte mit der eBay App durch weitere Sofa- und Design-Kleinanzeigen, die ihn aber gleichgültig ließen. Weitere Schritte in diese Richtung unternahm er nicht. Erst als seine Mutter, die er nur Lenchen nannte, in die Stadt kam, warf er die Frage wieder auf. Lenchen besuchte einen Kongress für Zahnheilkunde und wollte den darauf folgenden Tag, der ein Samstag war, mit ihrem Sohn verbringen. Er holte sie im Hotel ab. »Aber Harald, hast du denn gar keine Jacke dabei?«, war das Erste, was sie sagte.
»Ich friere überhaupt nicht, Lenchen.«
»Für mich sieht es nach Regen aus. Berlin ist immer sehr windig.«
Sie bestand darauf, dass er ihren Regenmantel mitnahm, wenigstens in einer Plastiktüte. Sie wollten einen Spaziergang machen und anschließend in einem Restaurant essen. Sie liefen durch Einkaufsstraßen, die voller Menschen waren, liefen an den Rändern des Zoologischen Gartens entlang und kamen schließlich an den Landwehrkanal. Auf einmal befanden sie sich im Hansaviertel. Harald hatte nicht wahrhaben wollen, wie entschlossen seine Schritte ihn dorthin lenkten. »Wo wir schon einmal hier sind, würde ich dir gerne etwas zeigen, Lenchen. Vielleicht haben wir Glück und er ist da.« Er führte sie zu dem Haus, in dem der Hundehalter mit dem grünen Sofa sein Büro hatte, und klingelte. Ronan Stein öffnete, in der rechten Hand sein Handy, das er demonstrativ dreißig Zentimeter vom Ohr weg hielt.
»Entschuldigen Sie den Überfall, aber wir sind zufällig in der Gegend. Ist das Sofa noch zu haben?«
»Das Sofa ist noch da«, sagte Ronan Stein, als könne ihn nichts auf der Welt überraschen, am wenigsten diese Frage.
»Ich würde es gerne nochmal sehen, meine Mutter ist jetzt da.«
»Lassen Sie mich nur kurz ein Telefonat beenden.« Er nickte der Mutter zu und schloss die Tür. Nach zehn Minuten kam er heraus und führte Mutter und Sohn in seine Wohnung. Lenchen setzte sich sofort auf das grüne Sofa und hüpfte von einem Sitz zum anderen. »Und Sie verschenken das?«
»Es war damals recht teuer, aber zu meinem Wohnstil passt es nicht mehr.«
Harald suchte abermals das Gestell ab, ob er nicht doch noch ein Label oder einen Stempel fand, irgendeinen Anhaltspunkt. Lenchen rührte sich nicht vom Fleck und zelebrierte ihre Belustigung über die Verrenkungen ihres Sohnes.
»So wie in diesem Viertel hat man früher gerne gewohnt«, sagte sie an Ronan Stein gewandt. »Das war mal sehr modern, aber ich wohne lieber im Altbau.«
»Ich habe nicht viel Zeit heute«, antwortete Ronan Stein, als er begriff, dass der Interessent auch heute keine Entscheidung treffen würde. Er schaute hektisch auf die Armbanduhr. »Dringender Abgabetermin.« Bevor sie sich verabschiedeten, schoss Harald noch schnell einige Fotos und seine Mutter äußerte den Wunsch, Wiener Schnitzel zu essen. Ronan Stein ahnte, dass er den unentschlossenen Zahnarzt bald wiedersehen würde, als er am Abend eine Tüte mit einem Regenmantel hinter dem Sofa entdeckte.
Harald Duplessis war durchaus klar, dass ihm jemand das grüne Sofa wegeschnappen könnte. Das Risiko bestand natürlich. Deshalb musste er so schnell wie möglich zu einer Entscheidung finden. Am Abend, nachdem er Lenchen wieder in ihrem Hotel abgeliefert hatte, setzte er sich in ein Café und begann auf seinem Smartphone so systematisch wie möglich Möbelhersteller, Designer und Design-Blogs durchzusehen. Er klickte sich durch eine Enzyklopädie der Sofas und trank erst Kaffee, dann Bier, später Wein. Dann und wann fand er ein Sofa, das wie ein Imitat des grünen Sofas wirkte. Aber diesen Imitaten fehlte es an wesentlichen Kleinigkeiten, wie beispielsweise die zusätzlichen Nierenkissen aus demselben Bezugsstoff, die die Mittelritze quer überdeckten. Auch die Besonderheit verkürzter, gerundeter Armlehnen, die auf ganz schlichte Weise abgesteppt waren, entdeckte er bei einigen Modellen, nur dass die Imitate auch an dieser Stelle weniger durchdacht, weniger von dem Gedanken der Einfachheit durchdrungen waren. Mit dem Gefühl, nun sehr viel orientierter zu sein, dabei aber das Mysterium gleichzeitig vertieft zu haben, ging er nach Hause und kochte sich Nudeln mit Fertigsoße. Er blieb bis tief in die Nacht in der Küche sitzen und führte seine Recherchen im Internet fort. Er sprach laut vor sich hin, dem Bildschirm zugewandt, und wie ein planloser Zauberlehrling rührte er den Trank mit falschen Zutaten: »Moroso!«, sagte er, und die Wohnwelt von Moroso tat sich vor ihm auf. Fehlanzeige. »Amura!«, doch nein, das war es nicht. »Cassina!«, schrie er, das Modell 253 Nest war die heißeste Spur, die er bislang gefunden hatte. Obwohl er schnell erkannte, dass das kein Treffer war, da 253 Nest ein Chromgestell besaß. Dennoch war dieses italienische Sofa doch ähnlich genug, um als naher Verwandter des grünen Sofas bezeichnet werden zu können. Er las sich in die Firmengeschichte von Cassina und die Werkbiografie des Designers Piero Lissoni ein. 1956 geboren, zunächst Architekt, wurde aus ihm ein maßgeblicher Industriedesigner. Doch war dies eine Sackgasse, wie in dieser Nacht auch die Wege zu Zimmer & Rohde, Zanotta, Wittmann, Brühl zu Sackgassen wurden. Von Ritzwell kam das Modell cozy bois in Frage, aber es wurde erst 2008 gelaunched. Er versuchte, es systematischer anzugehen, indem er Hersteller identifizierte, die mit Rückenkissen aus hundert Prozent reinen Gänsedaunen arbeiteten. So lernte er das Modell Folk von Sancal kennen, aber das wurde erst 2011 eingeführt und kam deshalb auch nicht in Frage. Das Leben des Zahnarztes Harald Duplessis stand still. Sonntagmittag war er bei einem befreundeten Paar zum Brunch eingeladen, er brachte zwei Flaschen Öko-Birnensaft mit und unterhielt sich mit einer sympathischen Biologin, die feines rotes Haar besaß, über Teesorten. Sie schien auch Single zu sein, was er sehr sympathisch fand. Er unterdrückte den starken Impuls, ihr die Fotos vom grünen Sofa zu zeigen. Gleichzeitig versprach er sich selbst, hoch und heilig, sie anzurufen, sobald das richtige Sofa in seinem Wohnzimmer stand.
»Wieso nimmst du mich nicht so, wie ich bin?«, hörte er das grüne Sofa fragen, als er zuhause seine Internet-Recherche fortsetzen wollte.
»Ich muss wissen, woran ich bin«, antwortete er. »Ob sich der Aufwand mit dir lohnt. Dazu brauche ich deinen Namen. Willst du denn gar nicht wissen, wer du eigentlich bist? Woher du kommst? Wie du heißt?«
»Vielleicht war ich nie so teuer, wie man mir nachsagt. Vielleicht lügt Ronan, nur um mich schneller loszuwerden.«
»Ja, das kann natürlich sein. Vielleicht gibt es solche Geschenke wie dich gar nicht.«
Er ließ sich nicht entmutigen und machte einfach weiter mit der Suche, las Einrichtungsblogs, betrachtete Sofagebilde, las über Designer und suchte Hersteller, bis er es fand. Der plötzliche Fund war mit keinem besonderen Gefühl verbunden. Es war keine Spitze, keine Ekstase. Es war eher ein breit aufgestelltes Gefühl, eine Welle der Gewissheit, die ihn seelisch leichter machte. Er war stolz. Er hatte sich in eine Obsession hineingesteigert, entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten, und fast wäre er in der verwirrenden Welt der Raumdesigns verloren gegangen. Aber jetzt war seine Hartnäckigkeit reich belohnt worden: Das Sofa hatte die italienische Firma De Padova hergestellt, es hieß Raffles und der Designer war Vico Magistretti. Magistretti ist mit seinen Entwürfen in der Designsammlung des Museum of Modern Art in New York vertreten und er ist ein Gigant des europäischen Industriedesigns des 20. Jahrhunderts. 1920 geboren, starb er erst vor wenigen Jahren. Magistretti kreierte Raffles 1988, und es wird von der Mailänder Firma De Padova bis heute produziert. Im aktuellen Katalog ist das Modell in Grau und Weiß abgebildet, aber in den 1990er Jahren waren stärkere Farben wie Grün oder Rot angesagt. Raffles im vorliegenden Format von 2,10 m Länge kostet laut Preisliste ab 4788 €. Die Originalbezüge waren in mehreren Varianten nachbestellbar, Harald Duplessis rechnete mit 1500 Euro, die er noch investieren müsste. Der Katalogtext war das reinste Gedicht, und er sprach ihn nicht nur als Mensch, sondern auch als Zahnarzt an. Das Wort von der »angespannten Haltung« traf ihn in Herz und Hirn. Er wusste ja besser als sonst jemand, was Angespanntheit bedeutete, gerade im Hinblick auf die Ausbildung junger Menschen zum Prophylaxeassistenten und zur Prophylaxeassistentin. Die meisten Auszubildenden waren unheimlich verspannt, trauten sich nicht, sich mit dem Handteller am Unterkiefer des Patienten festzuhalten, sondern arbeiteten in verspannter und unbalancierter Haltung, mit viel zu wenig Kraft in den Instrumenten, und konnten deshalb den Zahnbelag nicht ordentlich entfernen. Die von De Padova im Katalog formulierte Philosophie von Raffles