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Naturschützer schlagen Alarm: Sie haben beobachtet, dass die Zahl der Insekten in den letzten 27 Jahren um mehr als 75 Prozent abgenommen hat. Nicht nur die Bienen sind in Gefahr, sondern viele andere Insekten, die vor wenigen Jahren noch als weit verbreitet galten. Und mit den Insekten sterben die Vögel.
In den letzten Jahrzehnten sind vor allem die Spezialisten verschwunden, also Arten, die besondere Lebensräume brauchen, Störche etwa oder Kiebitze. Inzwischen aber passiert etwas Neues, etwas sehr Unheimliches: Allerweltsarten wie Feldlerchen, Schwalben und Spatzen verschwinden und ebenso Insekten, die es früher massenhaft gab. Feldgrashüpfer zum Beispiel oder Laufkäfer.
Tanja Busse, viel gefragte Landwirtschafts- und Ökoexpertin analysiert schonungslos die Situation und schlägt wirkungsvolle Gegenmaßnahmen vor.
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Seitenzahl: 475
Zum Buch
Naturschützer schlagen Alarm: Ihre Studien besagen, dass die Zahl der Insekten in den letzten 27 Jahren um mehr als 75 Prozent abgenommen hat. Nicht nur die Bienen sind in Gefahr, sondern auch Schmetterlinge und viele andere Insekten, die vor wenigen Jahren noch als weit verbreitet galten. Und mit den Insekten sterben die Vögel. Die chemielastige Intensivlandwirtschaft ist eine der Ursachen.
Früher wuchs auf Wiesen und Weiden eine große Mischung von Gräsern und Kräutern. Heute säen die Landwirte Hochleistungsgräser, die wilden Pflanzen keine Chance lassen. Und sie arbeiten bei der Ernte mit Kreiselmähern, die Heuschrecken keine Chance lassen.
Während so für den Kreislauf der Natur wichtige Arten verschwinden, tüfteln in Genlabors Naturwissenschaftler fernab der öffentlicher Diskussion Methoden, die ungeheure Eingriffe in die Evolution darstellen.
Tanja Busse, die renommierte Landwirtschafts- und Ökoexpertin analysiert, warum Schutzgebiete die Natur nicht wirkungsvoll schützen und warum die Politik immer wieder ihre eigenen Umweltziele verfehlt. Sie fordert neue regionale Räte für Ernährung, Biodiversität und Landwirtschaft und ein Klagerecht für Arten, um die Untätigkeit der Politik zu überwinden.
Zum Autor
Tanja Busse, 1970 geboren, studierte Journalistik und Philosophie in Dortmund, Bochum und Pisa. Sie promovierte 2000 mit einer Arbeit über die Massenmedien. Sie schrieb wichtige Artikel über Verbraucherschutz und Landwirtschaft in der ZEIT, für das Greenpeace-Magazin und für utopia.de. Ihre Bücher »Die Einkaufsrevolution« und »Die Ernährungsdiktatur« (Blessing 2010) wurden Longseller. 2015 erschien bei Blessing ihr viel diskutierter Titel »Die Wegwerfkuh«. 2009 erhielt sie die Reiner Reineccius-Medaille für Querdenker und Pioniere der Stadt Steinheim, 2017 den Salus-Medienpreis und 2018 den Wertewandel-Preis des Deutschen Tierschutzbundes.
Tanja Busse
Das Sterben
der anderen
Wie wir die
biologische Vielfalt noch
retten können
Blessing
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Copyright © 2019 by Karl Blessing Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-20241-5V003
www.blessing-verlag.de
Für Lenn, der mir Ohren und Augen geöffnet hat
Inhalt
Einleitung
Kapitel 1
Das Refugium der Heuschrecken
Warum die Landwirtschaft die Biodiversität jahrhundertelang gefördert hat und die Agrarindustrie sie jetzt gefährdet
Kapitel 2
Weckruf vom Niederrhein
Wie der Entomologische Verein Krefeld die Welt wachrüttelt
Kapitel 3
Todeszonen in der Ostsee und Zeckenplagen im Wald
Wir erleben ein Massenaussterben von weltgeschichtlichem Ausmaß und merken reichlich spät, dass wir die Vielfalt zum Überleben bräuchten
Kapitel 4
Der Kampf um die Deutungshoheit
Das Insektensterben ist dramatisch, aber doch nicht so schlimm: Warum eine widersprüchliche Berichterstattung verhindert, dass wir verstehen, dass es ums Ganze geht
Kapitel 5
Die Eulen sind tot, es leben die Eulen
Wie ich lerne, die Geschichte meiner Landschaft zu lesen, und wie ich verstehe, dass wir alle Verantwortung übernehmen müssen, hier und jetzt
Kapitel 6
Die Vernebelung der Ursachen
Immer wieder wird behauptet, wir wüssten nicht, warum die Insekten sterben. Aber es hängt keine Wolke des Unwissens am Himmel
Kapitel 7
Schutzgebiete, die nicht schützen
Warum dürfen Pestizide in Naturschutzgebieten eingesetzt werden?
Kapitel 8
Naturschutz verboten
Warum ich keinen Hutewald schaffen darf, obwohl das der biologischen Vielfalt nützen würde
Kapitel 9
Im Europa der gebrochenen Versprechen
Warum die Europäische Agrarpolitik der biologischen Vielfalt schadet
Kapitel 10
Verfehlte Ziele
Viele Gesetze schützen die Biodiversität – aber nur auf dem Papier
Kapitel 11
Systemfehler
Wie sich die Landwirtschaft vom chemischen Pflanzenschutz abhängig gemacht hat und wie sie sich jetzt befreien kann
Kapitel 12
An der Weggabelung: Vielfalt der Kulturpflanzen oder Gentechnik
Darf der Mensch im Molekularlabor die Zukunft der Arten bestimmen?
Kapitel 13
Wegweiser in die Zukunft
Die Rebellion gegen die Vernichtung unserer Lebensgrundlagen hat begonnen – das ist die Chance, die biologische Vielfalt zu retten
Kapitel 14
Das Tribunal der Arten
Das Ziele-Verfehlen muss ein Ende haben: Wir brauchen ein Klagerecht für Arten, um die notwendigen politischen Änderungen zu beschleunigen – und Umwelt- und Naturschutzziele müssen endlich verbindlich und einklagbar werden
Dank
Literatur
Anmerkungen
Einleitung
»Mama, was ist das für ein Geräusch?« Es ist ein später Nachmittag im Sommer 2017. Wir radeln auf dem Uferradweg den Bodensee entlang. Drei Tage sind wir schon unterwegs, wir haben Enten gesehen, Kraniche, Gänse, Bussarde. Jetzt zirpt eine Heuschrecke. Und mein Sohn fragt, was das ist.
Ich brauche einen Moment, bis ich die Frage verstehe. Bis ich kapiere, dass er das Geräusch nicht kennt. Offenbar noch nie gehört hat.
Mein Sohn ist nicht im 84. Stock eines Hochhauses in Manhattan aufgewachsen. Er ist auch nicht Konrad aus der Konservenbüchse, das erschreckend ordentliche Kind aus dem gleichnamigen Kinderbuch. Im Gegenteil. Er wohnt in einem Haus mit verwildertem Garten. Seine Großeltern leben auf dem Land und ziehen mit ihm durch die Felder. Seine Kitagruppe wandert jede Woche einen ganzen Tag lang mit einem Biologen durch den Wald und erkundet die Tierwelt. Mein Sohn kann Seeadler von Fischadlern unterscheiden und kennt Kreuzspinnen, Libellen, Eichelhäher und Rotkehlchen. Er ist vier, fast fünf Jahre alt. Aber er hat gerade zum ersten Mal in seinem Leben eine Heuschrecke gehört. In diesem Moment verstehe ich, was Insektensterben bedeutet.
Natürlich hatte ich davon in der Zeitung gelesen. Ich hatte sogar Interviews für den WDR darüber geführt. Ich hatte gelesen, dass die vom Bundesamt für Naturschutz erstellten Roten Listen der gefährdeten Tier- und Pflanzenarten immer länger werden. Ich kannte also die Fakten. Trotzdem brauchte ich eine Radtour am Bodensee und ein erstauntes Kindergesicht – Mama, was ist das für ein Geräusch? –, um zu verstehen, dass hier etwas völlig aus dem Ruder läuft. Dass etwas sehr Unheimliches geschieht.
Offenbar brauchen wir solche Momente, um das ganze Ausmaß der Gefahr zu begreifen. Jahrzehntelang warnten Ökologen, Biologinnen und Naturschützer vor dem großen Artensterben. Jeder, der gelegentlich eine Zeitung aufschlägt, hat davon gehört. Dass da etwas verloren geht. Dass wir etwas tun müssten. Doch so richtig gekümmert hat das jahrzehntelang nur die Fachleute. Die Insekten und viele andere Arten starben leise und unbemerkt.
1992, also vor mehr als zweieinhalb Jahrzehnten, hatten die Vereinten Nationen zur großen Umwelt- und Entwicklungskonferenz nach Rio de Janeiro eingeladen. Auf dieser bahnbrechenden Konferenz einigten sich über 150 Staaten darauf, dass die Biodiversität unbedingt geschützt werden müsse und nur eine nachhaltige Entwicklung die Menschheit retten könne. Doch auf den Nachfolgekonferenzen konnten sie sich nicht auf rechtsverbindliche Ziele einigen. So wurden trotz zahlreicher Strategien und Aktionspläne auf allen politischen Ebenen und trotz einzelner Erfolge wie beim Kranich die Roten Listen der bedrohten Tier- und Pflanzenarten immer länger.
Erst die Langzeitstudie der Krefelder Entomologen hat das Insektensterben zum Thema gemacht. Medien aus der ganzen Welt haben darüber berichtet. Mehr als 75 Prozent Verluste in den letzten dreißig Jahren, berichteten die Forscher, und zwar nicht nur seltene Arten, Spezialisten mit besonderen Ansprüchen – das kannte man ja schon –, sondern Verluste bei so ziemlich allen Arten. Die Insekten verschwinden.
Die Nachricht war deshalb so verstörend, weil viele merkten, dass sich die Krefelder Forschungsergebnisse mit ihrer Alltagserfahrung deckten. Saubere Windschutzscheiben nach langen Autofahrten, das war doch früher anders? Und warum kann ich im Sommer abends lüften und das Licht anlassen, ohne dass es hinterher im Zimmer summt und brummt? Warum ist es im Garten so still geworden? Wann habe ich eigentlich den letzten Schmetterling gesehen? Wo sind sie alle hin, die Insekten?
Trotzdem hatten Journalisten noch Ende 2017 das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen, wenn sie zur besten Sendezeit über die bedrohte biologische Vielfalt reden wollten. »Unser Thema heißt: Der stille Tod der Bienen – wer vergiftet unsere Natur? Falls Sie jetzt sagen, haben die keine anderen Sorgen? Was macht die GroKo, oder was macht Seehofer ohne das Ministerpräsidentenamt?«, so begann Frank Plasberg seine Sendung hart aber fair im Dezember 2017.1 Das klingt wie: Was sind schon ein paar Millionen wilde Bienen gegen einen Horst Seehofer? Der Moderator erläuterte ausführlich, warum das Insektensterben für uns wichtig ist: »Wenn die Bienen, wenn Insekten sterben, bedroht das das ganze Ökosystem und auch die Nahrungskette von uns Menschen.« Für Biologinnen, Ökologen und alle, die irgendwie mit Natur zu tun haben, ist das so selbstverständlich wie etwa die Tatsache, dass ein Fahrzeug ohne Motor und Treibstoff nicht fahren kann. Das würde kein Journalist seinem Publikum erklären. Aber was Insekten für unser Ökosystem und damit für uns bedeuten, offenbar schon. Insekten sind klein und unwichtig, so haben wir das wohl lange empfunden: Schmetterlinge sind schön, eigentlich schade, dass sie so selten geworden sind … Und die Mücken? Die stechen, vielleicht gar nicht so schlimm, wenn es weniger davon gibt! Nur bei den Bienen gibt es wohl ein Problem mit der Bestäubung. Ob wir dann bald keine Äpfel mehr essen können? Das Leben rund um uns erstirbt – und viel zu lange hat uns das nicht besonders beunruhigt.
Aber warum haben wir so viel Zeit verloren? Warum hat es so lange gedauert, bis viele gemerkt haben, dass der Verlust der biologischen Vielfalt zusammen mit dem Klimawandel unsere Existenz gefährdet? Dass Insekten systemrelevant sind? Vielleicht liegt es daran, dass wir uns so weit von der Natur entfernt haben. Dass wir dem Leben da draußen nicht mehr begegnen. Nicht im Auto auf dem Weg ins Büro. Nicht auf dem asphaltierten Schulhof, nicht im Fitnessstudio und auch nicht beim Grillen im Garten zwischen Kirschlorbeer und Steingarten-Arrangement.
Vielleicht liegt es auch daran, dass wir schon so oft vor Umweltkatastrophen gewarnt wurden und dann alles – scheinbar – doch nur halb so schlimm war. Hatte nicht die amerikanische Ökologin Rachel Carson schon 1962 vor dem Stummen Frühling gewarnt? Ihr Buch über den flächendeckenden und skrupellosen Einsatz von Pestiziden in Amerika war damals ein Bestseller, es gilt als Katalysator der weltweiten Umweltbewegung, ebenso wie der Bericht des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums, 1972. Aber noch singen ja die Vögel, werden viele bei der Lektüre gedacht haben, und die Wirtschaft wächst auch weiter. Es scheint, als könnte man angekündigte Katastrophen ruhig aussitzen. Irgendwer wird schon was dagegen tun.
Als ich zur Schule ging, beherrschten der Saure Regen und das Waldsterben die Umweltdebatte. Wir Kinder sahen Bilder von abgestorbenen Fichten in der Tagesschau und stellten uns vor, die Wälder rund um unser Dorf könnten bald auch so schaurig und tot aussehen. Auf einem Flur in unserer Schule hing plötzlich ein Zettel, auf dem stand: »Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann.«
Doch unsere Bäume überlebten. In den Zeitungen lasen wir von neuen Luftreinhalterichtlinien, von Rauchgasentschwefelungsanlagen und Katalysatoren. Nach der Wiedervereinigung wurden die Braunkohlekraftwerke der ehemaligen DDR geschlossen, und 2003 erklärte die erste grüne Bundeslandwirtschaftsministerin Renate Künast das Waldsterben für beendet. Natürlich gab es nach wie vor gefährliche Emissionen und geschädigte Wälder, doch das war bis zum Dürresommer 2017 nur ein Thema für Forstwissenschaftler und Ökologen – weit unter der Aufmerksamkeitsschwelle der Medien.
Mit dem Ozonloch war es ähnlich: Schon 1974 hatten zwei Forscher – die späteren Nobelpreisträger Mario Molina und Sherwood Rowland – vor Fluorchlorkohlenwasserstoffen in der Atmosphäre gewarnt. Doch erst als Anfang der Achtziger tatsächlich eine Ausdünnung der Ozonschicht über der Antarktis gemessen wurde, machte das Thema Schlagzeilen. Im Chemieunterricht zeichnete unser Lehrer komplizierte Gebilde mit Chlor- und Fluoratomen an die Tafel und erklärte uns, dass die gefährlichen Fluorchlorkohlenwasserstoffe als Treibgas und Kühlmittel verwendet werden. Wir staunten, dass chemische Verbindungen, die zu Hause in unseren Kühlschränken steckten, weit entfernt von uns – irgendwo über dem Himmel Australiens – große Löcher in die Atmosphäre rissen. Ich tadelte meine Mutter, als ich sah, wie sie sich Haarspray auf den Kopf sprühte: Ob ihr die Kinder in Australien egal seien, die bald nicht mehr draußen spielen könnten – wegen der gefährlichen Strahlung?
Aber bald waren wir beruhigt: 1987 wurden FCKW verboten. Die internationale Staatengemeinschaft hatte ein wirkungsvolles Abkommen zustande gebracht, und das Loch über der Antarktis wird seit einigen Jahren tatsächlich wieder kleiner.
Eine entschlossene Weltgemeinschaft hat vernünftige Beschlüsse gefasst und auch danach gehandelt: Sind es solche Erfahrungen, die uns lange so ruhig ließen, wenn wir davon hören, dass um uns herum die Insekten sterben?
Oder ist es das Gegenteil? Hat uns das Gefühl, andauernd von irgendetwas bedroht zu werden, abstumpfen lassen? Schließlich sind die meisten großen Umweltprobleme ja eben nicht schnell gelöst worden wie der Saure Regen und die Fluorchlorkohlenwasserstoffe. Klimawandel, Feinstaub in der Luft, Plastik im Meer, Nitrat im Grundwasser, multiresistente Keime im Krankenhaus und gefährliche langlebige Gifte aus den Chemiefabriken dieser Welt, die sich weltweit ausgebreitet haben, dazu das Revival der Atomwaffen: Auf dieser Liste der ungelösten globalen Umweltgefahren können ein paar tote Insekten eher harmlos wirken. Lässt uns die Mischung aus Dauerbedrohung und Ohnmachtsgefühl am Ende doch resignieren?
An jenem Nachmittag am Bodensee jedenfalls hat mich die Frage meines Sohnes aus dieser Lethargie aufgeweckt. In diesem Moment habe ich auch begriffen, was shifting baselines sind. Und wie gefährlich sie sind, wenn es darum geht, Veränderungen wahrzunehmen und darauf zu reagieren.
Der Meeresbiologe Daniel Pauly hat den Ausdruck 1995 geprägt. Jeder Fischereiwissenschaftler, schrieb er, nehme eine andere Bestandsgröße und eine andere Artenzusammensetzung als Ausgangspunkt für seine Forschung, nämlich jeweils die, die er zum Beginn seiner Laufbahn vorfindet. Weil die Fischbestände aber seit Jahrzehnten sinken, findet jede neue Forschergeneration viel kleinere und artenärmere Bestände vor. Doch genau diese geschrumpfte Tierwelt ist die neue baseline der Wissenschaft. Das Ergebnis, folgert Pauly, ist ganz offensichtlich eine Gewöhnung an das schleichende Verschwinden der Arten. Im englischem Original klingt das noch gruseliger: the creeping disappearance of resource species.2
Diese neue Linie aber ist ein unangemessener Referenzpunkt, warnt Pauly eindringlich. Damit kann man weder die ökonomischen Kosten der Überfischung richtig berechnen noch Ziele für die Wiederherstellung eines Gewässers entwickeln. Pauly schlägt vor, historische Berichte von Fischern nicht einfach als Anekdoten abzutun. Die Wissenschaftler sollten sie vielmehr systematisch auswerten, um sich nicht durch die shifting baselines täuschen zu lassen.
Der Historiker David Blackbourn hat das getan. In seinem Buch Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft zitiert er Naturschützer des 19. Jahrhunderts und Schriftsteller wie Theodor Fontane und Wilhelm Raabe, die voller Wehmut beschrieben, wie die Vielfalt vor ihren Augen verloren ging.3 Es war die Zeit, als deutsche Ingenieure die wilden Ströme Rhein und Oder begradigten und zu Wasserstraßen machten. Sie errichteten Talsperren und legten weite Sumpfgebiete trocken, um darin Dörfer und Felder anzulegen. Ganze Ökosysteme wurden vernichtet, Fische, Vögel und Insekten verloren ihre Lebensräume. Damals zog es Künstler in die Dörfer in den verschwindenden Mooren, nach Worpswede und Dachau. Sie dokumentierten in ihren Bildern eine im Verschwinden begriffene Landschaft. »Nie wurden verlorene Feuchtgebiete so wertgeschätzt, nie genossen sie eine solche Bekanntheit wie zum Zeitpunkt ihres Verschwindens«, schreibt Blackbourn, und es gibt mir einen Stich, als ich das lese, so sehr drängt sich der Vergleich auf: Nie wurde die Biene so wertgeschätzt, nie genoss sie eine solche Bekanntheit …
Obwohl Blackbourn den Begriff nicht verwendet, ist der ehemalige Harvard-Professor sich des Phänomens der shifting baseline sehr bewusst. Den Menschen damals schien es, als würde mit der Trockenlegung der Moore eine Wildnis zerstört, eine unberührte Natur. Doch auch die so ursprünglich wirkende Moorlandschaft war längst durch menschliche Tätigkeiten verändert worden. Was die Maler Ende des 19. Jahrhunderts festhielten, war nur eine Momentaufnahme einer im ständigen Wandel begriffenen Landschaft. »Pfarrer und Botaniker, die Tierarten zählten und über die zurückgehenden Zahlen klagten, machten ebenfalls Momentaufnahmen von einer einzelnen Phase eines längeren Übergangs«, erläutert der Historiker. Wir können lediglich sagen, schließt Blackbourn, »dass diese Nutzungen intensiver wurden. Sie waren auch zerstörerischer als frühere menschliche Eingriffe, wenngleich weniger zerstörerisch als das, was folgen sollte.«4
Ich erinnere mich, wie ich als Kind im Gras lag und das Krabbeln der Insekten beobachtete. Ich erinnere mich an viele Heuschrecken und an ein dauerndes Zirpen in unserem Garten. Wenn wir nicht schnell handeln, wird mein Sohn das nicht mehr erleben. Er ist zusammen mit den Kindern seiner Generation auf eine andere baseline heruntergerutscht. In eine Welt, in der Heuschrecken und Schmetterlinge kleine Sensationen sind.
Ich versuche mich in seine Naturerfahrung einzufühlen – Sommer: Gras, Löwenzahn und Amseln –, und das zeigt mir, wie falsch es ist zu denken, dass alles irgendwie gut gehen wird. Es ist eben nicht gut gegangen. Mein kleiner Sohn wächst in einer anderen, viel ärmeren Umwelt auf als ich vierzig Jahre zuvor. In einer Welt, in der Heuschrecken, Spatzen und Lerchen so selten sind wie für uns damals vielleicht Tagpfauenaugen und Störche. Aber er wird nichts vermissen, er kennt es ja nicht anders. Genauso wenig wie wir Erwachsenen die verlorene Vielfalt vermissen, die unsere Vorfahren für so selbstverständlich gehalten haben, dass sie uns nichts darüber in die Chroniken und Kirchenbücher geschrieben haben.
Der Umweltaktivist und Filmemacher Ulrich Eichelmann hat mir einmal die Flüsse seiner Kindheit gezeigt, in der hügeligen Landschaft südlich von Paderborn, die mir sehr vertraut ist, weil ich ganz in der Nähe aufgewachsen bin. Wir sind auf einem Wanderweg an dem kleinen Flüsschen Sauer entlangspaziert, das sich in sanften Biegungen durch einen hellen Auenwald schlängelt. Licht und Schatten wechseln sich ab, das Wasser rauscht und gluckert, während es Kiesbänke umspült und halb versunkene Baumstämme überwindet. Eine Idylle, fand ich.
Doch Ulrich Eichelmann hat geschimpft. »Es ist nicht mehr schön hier«, hat er gesagt. »Es mag grün sein, aber die Landschaft um uns herum ist einfach nur eine grüne Monotonie. Auf den Feldern wachsen nur noch Mais und Weizen und Turbogräser, die vier bis fünf Mal im Jahr gemäht werden. Früher hat man die Golfplätze in England nicht öfter gemäht. Da ist kein Leben mehr drauf. Es ist grüner Asphalt.«
Ulrich Eichelmann ist hier in den sechziger und siebziger Jahren aufgewachsen, als der grüne Asphalt am südlichen Rand des Eggegebirges noch lebendiger war. Als Kind hat er Eisvögel, Wasseramseln, Turteltauben und Rebhühner beobachtet und beschlossen, sie zu schützen. Er studierte Landschaftsökologie und ging zum WWF nach Wien, um die Donau-Auen vor einem Wasserkraftwerk zu schützen, und hatte damit Erfolg. Später gründete er die Naturschutzorganisation RiverWatch und drehte einen Film über Umweltverbrechen im Namen des Klimaschutzes.5 Immer, wenn er zurück in sein Dorf kommt, kümmert er sich um die Flüsse seiner Kindheit. Zusammen mit dem Heimatverein Atteln, dem er als Inspirator gilt, ist es ihm gelungen, eine Staumauer abreißen zu lassen und dem aufgestauten Flüsschen Altenau das alte Flussbett mit allen Schlingen und Biegungen zurückzugeben. Es hat mich sehr beeindruckt, wie die Leute aus Atteln, Bäcker, Bauern und Beamte, die Behörden so lange wachgerüttelt haben, bis die Abrissbagger angerollt sind und die Staumauer zerschlagen haben. Ein großartiger Erfolg für die Naturschützer in der konservativen katholischen Gegend, in der Aufruhr und Widerstand nicht als Tugenden gelten. Der Fluss ist gerettet. Doch die Agrarlandschaft um ihn herum?
»Die Kulisse stimmt für die Leute«, klagt Eichelmann. »Aber es ist gar nichts mehr da. Natürlich hören wir noch Vögel singen, aber das Konzert, was jeden Morgen erklingt, hat nur noch ganz wenige Instrumente. Wir haben längst verlernt, die Vogelstimmen zu erkennen. Es fällt uns gar nicht auf, wenn der Gartenrotschwanz verschwindet. Der Ortolan. Die Lerche, der Kiebitz, das Rebhuhn. Selbst die Turteltauben. Die sind alle weg.«
Das Sterben der Turteltauben muss leise gewesen sein. Diese hübschen kleinen Tauben mit den schwarzweißen Streifen am Hals sind viel zarter und zurückhaltender als die forschen Straßentauben, die sich Fußgängerzonen und Bahnhöfe als Revier erobert haben. Die Turteltauben halten lieber Abstand zu den Menschen, sie nisten in Hecken und wagen sich höchstens in Parks vor. »In den achtziger Jahren haben sie hier noch gelebt«, erzählt Eichelmann. »Aber weil sie so unauffällig sind, hat niemand ihr Verschwinden bemerkt.«
Inzwischen haben Forscher herausgefunden, warum es die Tauben nicht mehr gibt: Die Turteltauben füttern ihre Jungen mit dem Samen des Erdrauchs. »Eine ganz normale hübsche rot blühende Pflanze«, so nennt sie Eichelmann, Landwirte werden sie wohl zum Unkraut zählen. Seit den achtziger Jahren ist die Landbewirtschaftung immer intensiver geworden. Viele kleine Felder wurden zu größeren zusammengelegt, Feldränder wurden einfach mitgepflügt und Hecken gerodet. Und der chemische Pflanzenschutz wirkt, wie er soll: Er tötet alle Pflanzen außer der Feldfrucht, die der Landwirt gesät hat.
Deshalb ist der Erdrauch immer seltener geworden und schließlich verschwunden. Aus der »ganz normalen hübschen Pflanze« ist eine Seltenheit geworden. Spaziergänger mögen das schade finden, doch für die Turteltauben muss es eine Katastrophe gewesen sein.
Ich stelle mir vor, wie die Turteltauben nach ihrem langen Flug über die Sahara und das Mittelmeer ausgehungert in ihren Nistgebieten angekommen sind und nur wenig zu fressen gefunden haben. Wie sie vergeblich nach der Hecke gesucht haben, in der sie im letzten Jahr genistet hatten. Denn dort ist inzwischen eine Siedlung mit neuen Einfamilienhäusern gebaut worden. Oder ein Landwirt hat sie abgesägt, weil ihm wegen der Hecke die Flächenprämie gekürzt wurde. Ich stelle mir vor, wie die Turteltauben dann irgendwo einen neuen Nistplatz gefunden haben, aber keine Samen, um ihre Nestlinge zu füttern. Wie sie immer weiter und weiter fliegen mussten auf der Suche nach Körnern. Die Turteltauben kennen das Wort Ackerbegleitflora nicht, aber sie merken, dass etwas fehlt, was sie über Jahrhunderte gut ernährt hat: Erdrauch, Miere, Wegerich und Gänsefuß.6 Ich stelle mir vor, wie der Landwirt zufrieden von seinem großen Schlepper auf den Acker blickt und denkt: Wie gut der Weizen wächst! Oder wie eine junge Familie stolz ihr neues Haus in der Neubausiedlung bezieht und einen unkrautfreien Rollrasen im Garten ausbreiten lässt, damit die Kinder an der frischen Luft spielen können. Vielleicht ist genau an diesem nasskalten Tag der letzte Nestling der Turteltauben verhungert.
»Unsere Landschaft ist monoton geworden«, sagt Ulrich Eichelmann, »aber wir haben verlernt, das zu sehen.« Seine Definition der shifting baseline geht weiter als die von Pauly. »Auch die Älteren, die noch den Vergleich haben, vergessen mit der Zeit, wie es früher war«, sagt Eichelmann. »Du gewöhnst dich so dermaßen daran, dass du denkst, das war doch immer schon so.« Es startet nicht nur jede Generation an ihrer eigenen neuen baseline, sondern diese baseline sinkt im Laufe der Jahre offensichtlich noch weiter, zumindest bei Laien, die sich nicht auf gesicherte Zahlen stützen können.
Würden wir unsere Aufmerksamkeit heute noch so sehr auf die Natur richten wie unsere bäuerlichen Vorfahren aus der Zeit vor den Massenmedien, wäre uns das Verschwinden von Erdrauch und Turteltaube wohl aufgefallen. Der Erdrauch war den Kräuterkundigen als Heilpflanze bekannt, gegen Ekzeme und Bauchkrämpfe. Und das zärtliche Schnäbeln und Kuscheln der Turteltauben kannten früher alle auf dem Land und auch den Werberuf der Täuberiche, turr turr turr. Von ihrem Gesang stammt der schöne Ausdruck: miteinander turteln.
Aber weg sind sie. Der Erdrauch und die Turteltauben. Die Eisvögel und die Rebhühner. Die Heuschrecken und die wilden Bienen. Warum verschwinden sie? Warum stirbt die Vielfalt um uns herum? Was bedeutet das Sterben der anderen für uns? Warum tun wir nichts dagegen?
Ich steckte mitten in der Lektüre über die Fressgewohnheiten der Turteltauben, als ich einen Anruf vom Team der Ocean Film Tour bekam: Ob ich eine Diskussion zum Filmstart der Tour 2018 in Hamburg moderieren könne? Sie hätten Sylvia Earle eingeladen, die berühmte Meeresforscherin. Und die habe tatsächlich zugesagt, obwohl sie schon 82 Jahre alt sei und noch immer unermüdlich damit beschäftigt, für neue Schutzgebiete in den Ozeanen dieser Welt zu werben. Dreihundert Tage im Jahr ist sie dafür unterwegs. Damit möglichst viele Leute die große alte Dame des Meeresschutzes kennenlernen und sich von ihrem Enthusiasmus für Haie und Korallenriffe mitreißen lassen, plante die Ocean Film Tour eine Podiumsdiskussion mit Sylvia und lauter Prominenten. Der Schauspieler Hannes Jaenicke hat zugesagt und Anton Hofreiter, der Fraktionsvorsitzende der Grünen. Über Hope Spots. Orte der Hoffnung für die Fische, die Meere und das Klima.
Ich staunte: Die Ocean Film Tour kannte ich als Filmfestival für Abenteurer, für Segler, Taucher und Extremsportler. Und die Veranstalter holen eine Wissenschaftlerin und lassen sie eine halbe Stunde lang auf Englisch über den Meeresschutz und Ökosysteme reden? Am Ende der Rede sagt Sylvia Earle: Wir wissen mehr als jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit. Wir wissen, dass der Klimawandel die Korallenriffe sterben lässt. Dass die Meere wärmer und saurer werden und dass wir im Begriff sind, die weltweiten Fischbestände – unsere Nahrungsgrundlage – zu vernichten. Wir wissen das alles. Und deshalb können wir etwas dagegen tun! Jeder von uns kann etwas tun! Sylvia Earle, zierlich, elegant, gut aussehend, hebt ihre Hände und ballt sie zur Faust. Hunderte junge Leute im Publikum stehen auf und applaudieren. Ich bekomme eine Gänsehaut: Wenn das möglich ist, wenn wir uns für Sylvia Earle und ihre Botschaft begeistern können, dann muss es doch möglich sein zu handeln.
Seit über sechzig Jahren erforscht Sylvia Earle das Leben im Meer, sie war 7 000 Stunden unter Wasser und hat dokumentiert, wie Korallen erbleichen, wie Haie verschwinden, wie Fischbestände im Meer zusammenbrechen und wie Öl im Golf von Mexiko die wunderbare Unterwasserwelt erstickt. Von ihr habe ich gelernt, die Dimension dessen, was wir gerade auf der Welt anrichten, besser zu begreifen. Vor 220 bis 66 Millionen Jahren lebten die Dinosaurier. Ihre Zeit nennt man das Erdmittelalter, Trias, Jura, Kreide. Wer kleine Kinder hat, kennt das schöne, schaurige Gefühl, sich vorzustellen, wie lange das her ist. Unendlich lang. Die Dinosaurier lebten schon, bevor wir Menschen wurden. Zu ihrer Zeit gab es Korallenriffe und Haie. Sylvia Earle fragt: Warum haben wir in wenigen Jahrzehnten neunzig Prozent der Haie getötet, die so lange auf unserem kleinen Planeten überlebt haben? Und sie wiederholt, so eindringlich, dass niemand weghören kann: Wir wissen so viel, wir können so viel erforschen – wir dürfen nicht zulassen, dass das Leben in den Meeren untergeht. Und an Land auch nicht, füge ich in Gedanken hinzu. Was für Haie gilt, trifft auch auf Heuschrecken zu. Und es geht ja eben nicht nur um Haie und Heuschrecken. In Ökosystemen hängt alles mit allem zusammen, in Nahrungsnetzen und Stoffkreisläufen. Deshalb sind weder Haie noch Heuschrecken einfach nur für sich selbst da. Deshalb können wir nicht einfach sagen, schade, wenn sie weg sind, aber sei’s drum. Denn es geht immer um das ganze Leben und damit auch um unseres. Zur Verdeutlichung: Wenn das Leben in den Meeren stirbt, bleibt uns die Luft weg. Denn etwa die Hälfte des Sauerstoffs in der Luft wird von winzigen Meeresalgen produziert. Jeder zweite Atemzug.7
Als junges Mädchen hat Sylvia Earle die Flüsse an der Westküste Floridas erkundet. Sie erinnert sich an klares Wasser und viele verschiedene Fischarten. Heute sind die Flüsse ihrer Jugend zu Abwasserkanälen verbaut. Als junge Wissenschaftlerin erforschte sie die unendliche Artenvielfalt von Korallenriffen im Indischen Ozean. Als sie Jahrzehnte später an dieselben Stellen zurückkehrte, waren die Korallen gestorben und die Fische verschwunden. Sie spricht präzise und sachlich, Drama und Pathos sind nicht ihre Sache, und trotzdem spürt man ihren Schmerz über das große Sterben im Wasser. Aber sie hat dokumentiert, was vorher da war. Ihre Doktorarbeit hat sie über Algen im Golf von Mexiko geschrieben, 20 000 verschiedene Algen-Exemplare aus dieser Unterwasser-Recherche lagern heute im großen National Museum of Natural History in Washington. Es sind die Beweise der Vielfalt, ihr Trumpf gegen die shifting baselines.
»Ich sehe, was andere nicht sehen«, sagt Sylvia Earle. »Der Ozean stirbt.« Der amerikanische Autor Ian Frazier hat ein sehr eindrucksvolles Porträt über Sylvia Earle geschrieben und über den professionellen Optimismus und Enthusiasmus, mit dem sie ihr Ziel verfolgt: mehr Meeresschutzgebiete, mehrHope Spots. Doch dann stehen da diese Sätze: »Trotzdem ist da irgendwie dieses Gefühl, dass niemand zuhört. Sylvias meeresblaue Augen haben die gleiche sanfte Trauer, mit der weise und gütige Aliens in Filmen die törichten Erdlinge angucken.« »Viele Leute, die ich liebe, haben keine Ahnung von der Not, in der wir stecken«, sagt Sylvia.
Warum auch immer es so lange gedauert hat, bis wir verstanden haben, dass ein Teil unseres Ökosystems einfach verschwindet: 2018 ist etwas in Bewegung geraten. 2018 haben die Medien jenseits der Fachpresse und Politiker jenseits des Umweltressorts das große Sterben als großes Thema aufgegriffen. Endlich wird darüber geschrieben und gesprochen, dass etwas zusammenbricht, auf das wir alle angewiesen sind. Und das Jahr 2019 hat mit dem Erfolg des bayerischen Volksbegehrens Artenvielfalt begonnen. Ein breites Bündnis hat Alarm geschlagen, und fast jeder fünfte Wahlberechtigte hat unterzeichnet. Mehr als 1,7 Millionen Menschen. Es ist das bisher erfolgreichste Volksbegehren in Bayern, und es zeigt, dass sehr viele Menschen verstanden haben, dass es ums Ganze geht. Dass Reden nicht mehr reicht. Dass sich etwas ändern muss, und zwar schnell. Das ist neu. Und das ist unsere Chance, die biologische Vielfalt noch zu retten.
Denn gleichzeitig hat sich noch mehr verändert: Eine sechzehnjährige Schwedin ist weltberühmt geworden, weil sie wiederholt hat, sehr klar und sehr eindringlich, was Wissenschaftler seit Jahrzehnten sagen: Der Klimawandel wird unsere Lebensbedingungen so sehr verändern, dass wir alles tun müssen, um ihn abzumildern. Jugendliche auf der ganzen Welt sind Greta Thunberg gefolgt und gehen freitags zum Protestieren auf die Straße statt zur Schule. Sie nehmen den im März 2019 veröffentlichten UN-Bericht zum Klima ernst: Wenn schon jetzt Millionen Menschen von Extremwetter betroffen sind, mindestens zwei Millionen Menschen vor katastrophalen Klimabedingungen fliehen müssen und der Meeresspiegel innerhalb eines Jahres um 3,7 Millimeter gestiegen ist, können wir nicht länger warten.8
Wenige Tage vor der Europawahl kritisierte der YouTuber Rezo die Regierungsparteien heftig dafür, dass sie ihre Politik von den Erkenntnissen der Wissenschaft abkoppeln und ihre selbst gesteckten Ziele verfehlen. Rezo warnte eindringlich vor der menschengemachten Klimakrise und dem Verlust der Biodiversität. Auch wenn ich die Regierungsbilanz von CDU und SPD weniger drastisch kritisiert hätte als Rezo, war ich ihm doch sehr dankbar dafür, dass er das permanente Zieleverfehlen und die Dringlichkeit des Handelns zum Thema gemacht hat. Nach zehn Tagen war das Video mehr als 13 Millionen Mal geklickt worden. CDU und SPD verloren bei der Wahl, die Grünen verdoppelten beinahe ihre Stimmen, und spätestens jetzt ist klar: Regierungen, die Klima, Umwelt und Natur weiter gefährden und das nur rhetorisch verschleiern, werden sich nicht mehr lange halten können.
Das ist der Moment, den wir nutzen können. Für die Insekten. Für die Vielfalt. Und für uns.
Kapitel 1
Das Refugium der Heuschrecken
Warum die Landwirtschaft die Biodiversität jahrhundertelang gefördert hat und die Agrarindustrie sie jetzt gefährdet
»Achtung, Blindgänger!« steht auf dem Schild am Waldrand. Will man zum letzten Rückzugsort des Kleinen Heidegrashüpfers auf der Huppenheide gelangen, muss man die Warnung ignorieren.
»Blindgänger?«, frage ich. »Macht nichts«, sagt Thomas Fartmann. Er ist Heuschreckenforscher, promoviert und habilitiert, und leitet die Abteilung für Biodiversität und Landschaftsökologie an der Universität Osnabrück. »Hier wurde nie scharf geschossen.« Ich zögere kurz und folge ihm. Weg vom Wanderweg. Über einen kleinen Wall auf Mountainbikespuren hinein in die Huppenheide. Einst Allmende. Heute Truppenübungsplatz.
Thomas Fartmann ist hier aufgewachsen, auf einem Bauernhof am Rande der Huppenheide, nicht weit von Münster entfernt, die so heißt, weil hier früher der Wiedehopf sang, der Heuschreckenfresser.
Hupp hupp, so ruft der Wiedehopf. Huppe ist das Münsterländer Wort für Wiedehopf. Willkommen also in der Huppenheide, in der seit fast sechzig Jahren kein Wiedehopf mehr gesungen hat. Es ist wie mit dem Turteln und der Turteltaube: In unserer Sprache, in unseren Ausdrücken und Flurbezeichnungen überleben die Tiere länger als in der Natur. Als Wörter bewahren wir die Vielfalt besser als draußen im echten Leben. Der Name Wiedehopf ist mir vertraut, aber vielleicht auch nur, weil er seinen Auftritt in der Vogelhochzeit hat, dem uralten Kinderlied. »Der Wiedehopf, der Wiedehopf, er bringt der Braut ’nen Blumentopf!« Aber wie sieht er aus?
Ich muss erst im Internet nach Fotos suchen, um ein Bild zu haben: Der Wiedehopf trägt eine Art Irokesenschnitt aus langen orange-bräunlichen Federn, weiß und schwarz abgesetzt. Seine Flügel schwarz und weiß gestreift wie ein Zebra. Was für ein hübsches Tier!
An diesem Stückchen Land – der Heide, die nur noch so heißt, aber keine mehr ist – will mir Thomas Fartmann zeigen, warum die Wiedehopfe verschwunden sind und die Heuschrecken mit ihnen. Und all die anderen Tiere, die unsere Landschaft geprägt haben, unsere Lieder und unsere Sprache.
Bis vor zweihundert Jahren war die Huppenheide Gemeinschaftsland. Jeder, der Tiere hatte, durfte sie dort weiden lassen. Thomas Fartmann hat alte Karten mitgebracht, die zeigen, wie groß diese gemeinschaftlich genutzten Allmendeflächen früher waren – viel größer als die einzelnen Höfe im privaten Besitz. Eine der Karten zeigt das »Kirchspiel Telgte« – den Ort, an dem Günter Grass die Barockdichter über Muttersprache und Vaterland diskutieren lässt, während um sie herum der Dreißigjährige Krieg wütet. Fartmanns Karte zeigt Telgte knapp zweihundert Jahre nach dieser Zeit. Es sind darauf Stadtgärten eingezeichnet, größer als die Stadt selbst, und ein paar schmale Streifen: die Felder im Besitz der einzelnen Höfe. In einem weiten Bogen beinahe einmal um die Stadt herum liegen die großen Heideflächen.
Viele Jahrhunderte, vielleicht sogar Jahrtausende lang hatten die Hirten ihre kleinen Herden dorthin zum Weiden geführt. Auf diese Weise entstanden die offenen Heideflächen und die lichten Wälder. Denn auch dort – zwischen den Bäumen – ließen die Hirten ihr Vieh weiden und Bucheckern und Eicheln fressen. Man nennt sie Hude- oder Hutewälder oder auch Hutungen. Die alte Heimat der Heuschrecken und Wiedehopfe war also keine ursprüngliche Natur, sondern eine Kulturlandschaft, ein Ökosystem, das erst durch die Nutzung der Bauern und Hirten, durch ihre Agrar-Kultur, entstanden ist. »Hätten wir hier Naturlandschaft, wäre Mitteleuropa extrem langweilig«, flachst Fartmann. »Dann wäre hier nur Buchenwald. Wir könnten nichts sehen, es wäre dunkel, überall stünden Bäume.« Zu kalt und zu dunkel für Heuschrecken und Schmetterlinge.
Seit dem Ende der letzten Eiszeit, seit etwa 11 700 Jahren, haben die Menschen die Landschaft Mitteleuropas geformt – und damit nicht nur Platz für ihre Bedürfnisse geschaffen, sondern auch Lebensraum für viele verschiedene Tier- und Pflanzenarten. »Ohne die Kulturtätigkeit des Menschen wären ganz viele Arten gar nicht da«, sagt der Ökologe. Die historischen Kulturlandschaften hatten eine höhere Biodiversität als die dichten Buchenwälder, die Mitteleuropa dominierten, bevor die Menschen begannen, Bäume zu roden und Felder anzulegen. Zwar haben auch die riesigen Weidetiere, die vor der letzten Eiszeit in Mitteleuropa lebten und inzwischen ausgestorben sind, offene Flächen in den Urwäldern geschaffen. Erst im Neolithikum, also in der Jungsteinzeit, zogen Ackerbauern und Viehzüchterinnen aus Vorderasien nach Mitteleuropa. Damals waren wir Menschen also eine invasive Spezies, die in fremde Ökosysteme eindrang. Diese frühen Migranten aus dem Osten schufen neue Biotope, indem sie Äcker und Gärten anlegten, ihr Vieh in den Wäldern weiden ließen und Pferche bauten. Und dabei verbreiteten sie neue Arten. Weizen, Gerste, Erbsen und Linsen und – versteckt im ungereinigten Saatgut – viele andere wilde Gräser und Kräuter. Auf diese Weise schufen die Bäuerinnen und Bauern die große Biodiversität Mitteleuropas, die uns heute so natürlich vorkommt. Mit ihrem Saatgut gelangten die winzigen anthrazitfarbenen Samenkörner des Klatschmohns zu uns. Über Jahrhunderte prägten seine feuerrot leuchtenden Blüten die Getreidefelder unserer Vorfahren – bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Wer heute rote Farbtupfer im Kornfeld eines Ökobauern entdeckt, fühlt sich an eine verloren gegangene Heimat erinnert, an unsere alte Kulturlandschaft, vielleicht sieht er Goethe oder Eichendorff in der Postkutsche vorbeirumpeln.
Dabei sind es Einwanderer aus dem Osten, die unser Bild von der urdeutschen Landschaft prägen – Klatschmohn, Echte Kamille, Ackerfrauenmantel, Storchschnabel, Taubnessel, Senf und sogar die Kleine Brennnessel. Später haben die Römer neue Pflanzen in den Norden gebracht, teils als Gemüse wie Kresse oder Portulak, teils unbeabsichtigt über ungereinigtes Saatgut, die hübsche Acker-Lichtnelke zum Beispiel.9
»Der Mensch hat über Jahrtausende Artenvielfalt gefördert«, so fasst Thomas Fartmann diese Entwicklung zusammen. »Dass er das nicht mehr macht, ist ein junges Phänomen des Anthropozäns. Seit etwa siebzig Jahren überlagert der Mensch mit seiner Aktivität alle geologischen Prozesse.« Er sagt das sehr nüchtern, als schaue er von außen auf diese Entwicklung und auf die seltsame Spezies Mensch und ihren Einfluss auf die Ökosysteme: erst als Schöpfer von Vielfalt und Schönheit und dann als ihr Vernichter.
Fartmann zählt auf, welche Vögel damals in den Heiden des Münsterlands zusammen mit den Wiedehopfen lebten: Blauracken, Schwarzstirnwürger, Ziegenmelker, Alpenstrandläufer oder Goldregenpfeifer. »Die kennt heute keiner mehr«, konstatiert Fartmann trocken, und ich muss ihm zustimmen und erst im Netz nach Bildern suchen. Die Blauracke ist wunderschön, sie sieht aus, als käme sie direkt aus dem tropischen Regenwald. Ihr Gefieder ist so bunt und schillernd, dass es für einen Auftritt im Zeichentrickfilm Rio reichen würde. »Sie ist in Deutschland ausgestorben«, sagt Fartmann. »Und von den Goldregenpfeifern gibt es weniger als zehn Brutpaare.« Kein Wunder, denn beide brauchen genau wie der Wiedehopf offene Landschaften zum Wohnen und große Insekten zum Fressen.
Unter den Ökologen gilt das Ende der Gemeinschaftsflächen um 1830 als Beginn des ersten großen Vogelsterbens. Damals beschlossen viele Regierungen des Deutschen Bundes, ihre Ländereien neu aufzuteilen und das Gemeinschaftsland, die Marken, zu privatisieren. Viele Heiden wurden damals mit Fichten und Waldkiefern aufgeforstet. So wuchsen dunkle dichte Wälder, in denen weder Heuschrecken noch Wiedehopfe leben können. »Diese Markenteilung war der Startschuss für die Trennung von Wald und Weide«, sagt Fartmann. »Und damit ging ein ganz wichtiger Lebensraum für viele Vögel verloren. Um 1800 waren zwei Drittel von Niedersachsen Moor und Heide, heute sind es weniger als ein Prozent.«
Bestimmt habe ich das Wort Markenteilung im Geschichtsunterricht gehört, aber ich erfasse erst hier, in der Huppenheide, was es bedeutet hat. Die scharfe Linie, die überall in Deutschland Wälder von Feldern trennt, schien mir immer etwas Natürliches zu sein, der Anfang des Waldes eben. Dabei ist diese erste Baumreihe ein Lineal, das die Großgrundbesitzer während der Markenteilung in die Natur gelegt haben, um die Heidelandschaften mit ihren Büschen, Bäumen und Gräsern zu zerschneiden und anschließend aufzuräumen. Hier stehen die Bäume ordentlich in Reih und Glied wie einst preußische Soldaten. Und dort weidet das Vieh hinter schnurgeraden Zäunen. Diese neuen Grenzen haben die Landschaft sortiert und geordnet, in Weiden, Äcker und Forste, also Holzacker. Verloren gegangen ist dabei die bunte Vielfalt der Heiden, das ungeordnete Nebeneinander von kleinen und großen Büschen, von Lichtungen und Dickicht, von zarten Gräsern und Orchideen und großen alten Eichen, die Heimat unserer Biodiversität. Seit mir Thomas Fartmann erklärt hat, was die Markenteilung, das Ende der Gemeinschaftsflächen, für die Vielfalt bedeutet hat, blicke ich anders auf die Waldränder. Seitdem sehe ich, was fehlt.
1917 hat eine prominente Zeitzeugin beschrieben, wie sie diesen Niedergang empfindet: »Gestern las ich gerade über die Ursache des Schwindens der Singvögel in Deutschland: Es ist die zunehmende rationelle Forstkultur, Gartenkultur und der Ackerbau, die ihnen alle natürlichen Nist- und Nahrungsbedingungen: hohle Bäume, Ödland, Gestrüpp, welkes Laub auf dem Gartenboden – Schritt für Schritt vernichten.« Seit mehr als hundert Jahren ist also bekannt, welche Strukturen wir brauchen, um die biologische Vielfalt unserer Kulturlandschaften zu erhalten. Und seit mehr als hundert Jahren ist es nicht gelungen, dieses Wissen so wirkungsvoll anzuwenden, dass das große Sterben endlich gestoppt würde. Und seit mehr als hundert Jahren betrauern das die Naturfreunde. »Mir war es so sehr weh, als ich das las. Nicht um den Gesang für die Menschen ist es mir, sondern das Bild des stillen unaufhaltsamen Untergangs dieser wehrlosen kleinen Geschöpfe schmerzt mich so, daß ich weinen mußte«, schrieb Rosa Luxemburg im Mai 1917 in einem ihrer Briefe aus dem Gefängnis.10 Die Pazifistin und Sozialistin hatte an der Universität Zürich neben Philosophie auch Botanik und Zoologie studiert. Könnten Ornithologen von heute eine Zeitreise in das Jahr 1917 machen, wären sie vermutlich begeistert vom Singvogelreichtum dieser Zeit. Sie würden als Fülle empfinden, was Rosa Luxemburg und die zeitgenössischen Vogelkundler als Untergang beklagt haben. Shifting baselines eben.
Wie viele Vögel muss es in der Huppenheide vor der Markenteilung also gegeben haben! Wenn man die Naturbeschreibungen aus alten Romanen oder Zeitzeugnissen liest, stellt sich unwillkürlich eine Sehnsucht nach der Vielfalt und Schönheit und Fülle ein. Wie gerne würde ich für ein paar Stunden in der Zeit zurückreisen, um das zu erleben! Vielleicht sollten wir eine Sehnsucht danach entwickeln, um zu verstehen, was wir da eigentlich wiederbringen müssten.
Das zweite große Vogelsterben begann in den Siebzigerjahren mit der Intensivierung der Landwirtschaft: Um effizienter wirtschaften zu können, wurden die Ackerflächen neu sortiert. Aus vielen kleinen zerstückelten Ackerflächen wurden wenige große, sodass die Landwirte nicht mehr von einem winzigen Acker zum nächsten fahren mussten, sondern ihre Flächen schneller bearbeiten konnten. Doch damit verschwanden Randstreifen, Hecken und Feldwege. Flurbereinigung nennt man das im Verwaltungsdeutsch, als müsste man das Durcheinander der kleinen Felder, Ackerstreifen und Feldwege wegputzen.
Damals wurden auch viele feuchte Wiesen trockengelegt. Die Landwirte zogen Entwässerungsgräben oder legten Drainagerohre und schufen so fruchtbare Äcker aus Böden, die früher so nass waren, dass ein Trecker darin versunken wäre. Doch die zahlreichen Insekten, Vögel und Pflanzen, die in diesen Sumpfwiesen gelebt hatten, verloren ihren Lebensraum. Und noch etwas kam in dieser Zeit dazu, was das Zusammenleben von Pflanzen, Tieren und Insekten für immer verändern sollte: chemischer Pflanzenschutz und künstlicher Mineraldünger.
Mehr Dünger auf den Feldern und mehr Tiere in den Ställen, die wiederum mehr Gülle produzieren – das führte dazu, dass immer mehr Stickstoff auf die Böden gelangte, auf denen früher Mangel herrschte. Zusätzlich fallen Ammoniak und andere Stickstoffverbindungen aus der Luft auf alle Flächen, sie machen etwa fünfzehn Kilogramm Stickstoff pro Jahr und Hektar aus. Deshalb setzen sich beinahe überall Brennnesseln, Löwenzahn und Brombeeren durch, die so viel Stickstoff brauchen, dass sie auf mageren Standorten keine Chance hätten. Die Vegetation wächst schneller und dichter, das Mikroklima wird feuchter und kühler, und das verdrängt wärmeliebende Insekten. Weil es kaum noch magere Böden gibt, gibt es eben kaum noch Pflanzen und Tiere, die dort gut gedeihen. Der bekannte Autor und Ökologe Josef Reichholf nennt den Stickstoff aus den Düngemittelsäcken und Güllefässern deshalb Erstickstoff für die Artenvielfalt.11 Im Ohmtal in Hessen haben Forscher untersucht, wie sich die Arten des Grünlands von 1950 bis 1990 verändert haben, also in der Zeit, als aus feuchten und mageren Wiesen und Weiden nährstoffreiche wurden. Die Pflanzen, die dabei als verschwunden gelistet sind, klingen für mich wie Fantasie-Pflanzen: Kümmel-Silge, Pfennigkraut, Wald-Engelwurz, Wasser-Greiskraut und Teufelsabbiss.12 Das ist kein Wunder, denn vermutlich gab es alle diese Pflanzen schon nicht mehr, als wir Kinder in den siebziger und achtziger Jahren über die Wiesen im Weserbergland gezogen sind, etwa hundert Kilometer nördlich. Denn auch hier hatten die Landwirte Drainagerohre durch die feuchten Weiden gezogen (oder besser: ziehen lassen, denn oft mussten Zwangsrekrutierte des Reichsarbeitsdienstes diese Schufterei übernehmen), und sie brachten Kunstdünger aus.13
Längst gefährdet diese zu große Düngemenge nicht nur die Artenvielfalt, sondern auch unser Grundwasser. An vielen Messstellen, vor allem in Regionen mit viel Gemüsebau und hoher Viehdichte, wird der Nitratgrenzwert überschritten. Die Europäische Union hat deshalb 2013 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleitet. Erst vier Jahre später hat Deutschland seine Düngeverordnung verbessert, doch so lückenhaft, dass Agrarexperten wie Friedhelm Taube von der Kieler Christian-Albrechts-Universität warnten, dass die Verschärfung des Düngerechts nicht ausreiche, um die Nitratgrenzwerte künftig einhalten zu können. Auch die EU hielt die neue Regelung nicht für ausreichend, und deshalb musste Deutschland im Sommer 2019 die Verordnung gleich noch einmal verschärfen.14
Die 1970er-Jahre waren die Zeit der Modernisierung der Landwirtschaft: Die vielen kleinen Bauernhöfe, die ein paar Hühner, Schweine und Kühe hielten, Gemüsegärten und Streuobstwiesen kultivierten und viele verschiedene Feldfrüchte anbauten, verschwanden ebenso wie die Handwerker, all die Korbflechter, Weber, Schuhmacher, Schneider und Schmiede, die das Leben in den Dörfern über Jahrhunderte geprägt hatten. Und auch die Inhaberinnen der Tante-Emma-Läden. Übrig blieben wenige große Agrarbetriebe, die den Prinzipien der Industrie folgten: Intensivierung, Technisierung, Spezialisierung und Standardisierung. Was jetzt zählte, waren Ertrag und Effizienz. Wer nicht mithielt, konnte wirtschaftlich nicht bestehen.
Damit ist die große bunte Vielfalt der alten Höfe verloren gegangen, die den Bauernfamilien über die Jahrhunderte eine Lebensversicherung gewesen war. Sie waren – anders als die spezialisierten Betriebe heute – nicht von einem Erzeugnis abhängig und konnten schlechte Ernten einzelner Feldfrüchte besser kompensieren. Und genau diese Vielfalt der Kulturpflanzen und der unterschiedlichen Flächennutzungen bot auch vielen wilden Tieren und Pflanzen einen Lebensraum. Thomas Fartmann hat eine Postkarte mit einem Bild aus dem Jahr 1892 mitgebracht, Tecklenburg im Frühling von Otto Modersohn: eine Wiese voller weißer und roter Blüten, dahinter, bunte Farbtupfer in unterschiedlichsten Grün- und Gelbtönen: die Felder. Rings um den Ort Büsche, Bäume und Hecken. Platz für Artenvielfalt. Die Intensivlandwirte von heute sehen Landschaftsbilder aus alten Zeiten mit anderen Augen: Schwärmereien über die schöne vielfältige Landschaft belächeln sie als Romantisierung des Mangels. Sie wissen, wie viel Schufterei damals mit der Landwirtschaft verbunden war – und wie niedrig die Erträge ihrer Vorfahren waren.
Mit der Technisierung der Landwirtschaft und der Globalisierung der Agrarmärkte ist es unrentabel geworden, so zu wirtschaften. Heute rechnet es sich für Ackerbauern, vor allem Weizen und Mais im Wechsel anzubauen.
Ausgerechnet die längst überfällige Abkehr von der Atomenergie und die Klimakrise haben diese enge Fruchtfolge befördert: Um die Energiewende zu beschleunigen, hat die Bundesregierung im Jahr 2000 beschlossen, Strom aus erneuerbaren Energien besser zu vergüten als Atom- oder Kohlestrom. Biogasanlagen zu bauen und sie mit Gülle und Mais zu füttern garantierte gute Einnahmen. Die Energiewirte verdienen damit viel mehr Geld als andere Landwirte, vor allem als Milchbauern, die ihre Kühe auf der Weide fressen lassen. Deshalb können sie höhere Pachtpreise zahlen und kommen leichter an neue Äcker. Auf zweieinhalb Millionen Hektar Acker wurde in den letzten Jahren Mais angebaut – auf Flächen, die Ökologen als Agrarwüsten bezeichnen. »Der totale Tiefpunkt für den Naturschutz«, sagt Thomas Fartmann. Es ist ein gutes Beispiel für einen schlecht gelösten Zielkonflikt: Die Energiewende war Klimaschutz auf Kosten des Naturschutzes. Alle Entwicklungen der letzten Jahrzehnte – die Technisierung, die Intensivierung, die Spezialisierung – haben zu einer Homogenisierung der Landschaft« geführt. Es war der Anfang vom Ende der Heuschrecken.
Thomas Fartmann zählt auf, warum Insekten im intensiven Ackerbau kaum noch leben können: Vor allem wegen der Insektizide, die vor der Aussaat auf das Saatkorn aufgetragen werden. Sie wirken systemisch, das bedeutet, sie breiten sich beim Wachstum in der ganzen Pflanze aus, es gibt kein Entkommen: »Jedes Insekt, das in die Pflanze beißt, wird erwischt.« Aber auch wegen der Herbizide, die Ackerbeikräuter bekämpfen, so dass auf den Getreidefeldern nur noch Getreide wächst und nichts anderes mehr – gut für den Landwirt, schlecht für die pflanzenfressenden Insekten. Außerdem wachsen die Getreidehalme heute so dicht, dass kein Licht mehr auf den Boden gelangt, und es deshalb in den Feldern zu kühl ist für die Insekten, die Wärme brauchen. Es ist paradox: Obwohl es wegen des Klimawandels immer wärmer wird, geht es ausgerechnet den wärmeliebenden Arten in Mitteleuropa immer schlechter. Die Dichte der Halme in den Getreidefeldern wiederum ist nur möglich, wenn das Getreide mit Fungiziden, also Pilzbekämpfungsmitteln, behandelt wird. Denn die Halme stehen so dicht beieinander, dass sie nicht gut trocknen und deshalb anfällig für Pilzbefall sind.
Aber auch im Grünland haben Heuschrecken heute keine Chance: Früher wuchsen auf den Weiden viele verschiedene Gräser und Kräuter. Heute säen die Landwirte Hochleistungsgräser, die wilden Pflanzen keine Chance lassen. Die Standardmischungen enthalten Deutsches Weidelgras, Wiesenschwingel und Wiesenlieschgras – das ist kein guter Speiseplan für Heuschrecken, viel zu einseitig, sagt Fartmann. Diese Turbogräser werden so intensiv gedüngt, dass sie schnell wachsen und öfter gemäht werden können. »Jede Mahd aber bedeutet 80 bis 90 Prozent Verluste«, erklärt Fartmann. »Wenn sich früher ein Balkenmäher näherte, hatten die Heuschrecken gute Chancen davonzuhüpfen. Die alten Mähwerke waren für Insekten etwa so, als würde man die Vegetation mit einem Messer abschneiden.« Heute aber fahren die Trecker schneller, und die meisten Landwirte verwenden Kreiselmäher, bei denen sich eine Scheibe mit messerscharfer Klinge um die eigene Achse dreht, mit einer solchen Wucht und Geschwindigkeit, dass Steine in die Luft geschleudert werden. »Diese Scheiben zertrümmern alles«, sagt Fartmann. Die meisten Wiesen sind drainiert, also durch unterirdisch verlegte Abflussrohre trockengelegt, und sie werden regelmäßig gewalzt, sodass fliehende Insekten wenig Senken und Rillen finden, in denen sie sich nach der Mahd verstecken könnten. So haben sie keine Zufluchtsorte mehr und werden sofort von Vögeln gefunden. »Wenn ich das Ganze sieben Mal im Jahr mache, sind die Heuschrecken schon lange weg.«
Das ist ungefähr das Gegenteil einer Win-win-Situation: Alles, was dem Landwirt die Arbeit erleichtert und seine Erträge steigert, ist schlecht für die Heuschrecken. Und für die anderen Insekten. Und damit für die Vögel.
Dabei sind die Heuschrecken im Vergleich zu anderen Insektengruppen nicht einmal extrem gefährdet. »Heuschrecken und Grillen sind selten geworden, aber es sind nur ganz wenige Arten ausgestorben. Durch den Klimawandel ziehen sogar neue Arten aus dem Süden zu uns«, erklärt Thomas Fartmann. Die Große Schiefkopfschrecke zum Beispiel, eine grellgrüne und ziemlich schlanke Heuschrecke. Sie ist in den letzten Jahren vom Alpenrand bis nach Rheinland-Pfalz gewandert. »Bei anderen Insektengruppen sind die Verluste viel größer – vor allem bei denen, die relativ mobil sind, wie Schmetterlinge.« Solche Insekten brauchen ein ganzes Netz von geeigneten Habitaten in der Nachbarschaft. Ihre ursprünglichen Lebensräume sind in den letzten Jahrzehnten immer kleiner geworden und liegen immer weiter voneinander entfernt. Für Schmetterlinge aber kann schon eine Distanz von einem Kilometer zu groß sein.
Man kann sie sich wie kleine Boote vorstellen, die im großen Ozean von einer kleinen Koralleninsel zur nächsten segeln. Irgendwann liegt die nächste Insel nicht in Sichtweite am Horizont, sondern Hunderte von Kilometern weiter. Und die Boote segeln und segeln und entdecken sie nicht. So etwa ist es für die letzten überlebenden Schmetterlinge in den fragmentierten Landschaften. Sie fliegen hinaus auf den Ozean der lebensfeindlichen Agrarlandschaft – in der Hoffnung, auf eine Insel zu treffen. »Aber weil es viel zu wenig Habitate gibt, sterben sie, bevor sie sich reproduzieren.« So sind viele Arten verloren gegangen.«
Mit den Heuschrecken ist es anders. Auch wenn sie beeindruckende Sprünge machen können, ziehen sie nicht ins Ungewisse, sondern bleiben dort, wo sie als Larven aus der Erde gekrochen sind – wenn die Bedingungen dort für sie gut sind. Deshalb können Heuschreckenpopulationen auch auf kleinen Flächen lange Zeiten überdauern. Wie die Kleinen Heidegrashüpfer in der Huppenheide.
Thomas Fartmann führt mich auf Panzerspuren durch den Kiefernwald, immer tiefer hinein in das Truppenübungsgelände, bis wir zu einer winzigen Lichtung gelangen, nicht größer als sieben oder acht Meter im Quadrat.
»Hier ist er!«, ruft Thomas Fartmann und zeigt auf den sandigen Boden, auf dem ich nichts sehe außer einer paar struppigen Heidekräutern. Das also ist einer der letzten Rückzugsorte der Kleinen Heidegrashüpfer, hier verstecken sich die Überlebenden, die beinahe letzten ihrer Art.
Es ist Ende Januar, und ich stelle eine Frage, die für einen Orthopterologen, einen Heuschreckenforscher, ziemlich dumm klingen muss: Wo sind die Grashüpfer jetzt? »Sie liegen als Eier im Boden«, erklärt Thomas Fartmann, nachsichtig mit meiner Unkenntnis.
Hätte ich sie im Sommer gesehen, wäre mir nichts weiter an ihnen aufgefallen. Vielleicht hätte ich gestaunt, dass es so kleine Grashüpfer gibt, keine zwei Zentimeter lang. Grün, mit braunen oder gelblichen Streifen. Stenobothrus stigmaticus nennen sie die Forscher. Und sie kennen die winzigen Details, anhand derer man die Kleinen Heidegrashüpfer von anderen Grashüpfern unterscheiden kann. Zum Beispiel dass die Klappe der Legeröhre, mit der die Weibchen die Eier ablegen, winzige schwarze Zähnchen hat. In dem Heuschreckenbuch, an dem Fartmann mitschrieb, heißt es nüchtern und vielleicht deshalb so rührend zum Kleinen Heidegrashüpfer: »Der einfach strukturierte Gesang kann wegen seiner geringen Lautstärke leicht überhört werden.«15 Das erinnert mich an die Turteltauben: Auch sie waren so unauffällig und leise, dass kaum jemand ihr Verschwinden bemerkt hat.
Dass die Kleinen Heidegrashüpfer in der Huppenheide überleben können, verdanken sie einer Kooperation von Soldaten und Naturschützern. Die Militärs hatten ehrenamtlichen Naturschützern vom Naturschutzbund (NABU) gestattet, an dieser Stelle Bäume zu fällen und alle Büsche zu entfernen. Zunächst lag der sandige Boden offen da, was für die Soldaten merkwürdig ausgesehen haben muss: Was hat Bäumefällen mit Naturschutz zu tun? Doch tief unter den Wurzeln der großen Kiefern hatten die Samen der Heidepflanzen jahrzehntelang auf genau diese Situation gewartet: auf Sonne und Licht und Wärme. Inzwischen wachsen Thymian und Heidekraut auf der Lichtung, ganz wie früher, als die Huppenheide noch eine richtige Heide war und kein Kiefernforst. Thomas Fartmann pflückt einen Stängel und zerreibt die winzigen Blättchen zwischen den Fingern, bis es duftet. »Der Thymian zeigt uns an, dass der Boden hier mager ist.«
In wenigen Wochen wird die Frühlingssonne den Sand erwärmen. Aus den Eiern im Boden werden dann kleine Larven schlüpfen, die beinahe wie richtige Heuschrecken aussehen, nur zart und nackt und blass.
»Dieses Mikroklima ist für viele Arten überlebenswichtig«, erklärt Fartmann. »Auch für Eidechsen zum Beispiel. Die kommen hier ganz in der Nähe entlang des Bahndamms vor, weil sich der Schotter entlang der Gleise so gut erwärmt und nicht zuwächst.«
Überleben auf kleinen Flächen: Das ist für manche Arten also möglich – aber dem Wiedehopf nützt es wenig. Er bräuchte viel, viel mehr Futter. »Noch vor dreißig, vierzig Jahren hatten wir hier ein Hundertfaches an Tieren«, stellt Fartmann klar.
Genau das macht das Verschwinden der Heuschrecken so schlimm: Wenn sie verschwinden, reißen sie ganze Vogelbestände mit sich. Denn Heuschrecken gehören zu den Schlüsselarten, die für die Artenvielfalt eines bestimmten Ökosystems besonders wichtig sind. Von diesen Schlüsselarten gibt es einmal die keystone species, die Schlussstein-Arten, die für eine bestimmte Lebensgemeinschaft von Pflanzen und Tieren so wichtig sind wie der oberste Stein in einem gemauerten Torbogen. Ohne diesen Schlussstein würde das ganze Gewölbe zusammenbrechen, das wissen Baumeister seit Jahrtausenden. In der Ökologie ist es genauso: Wenn eine Schlussstein-Art ausfällt, bricht das ganze Ökosystem zusammen – auch wenn es sich nur um ganz wenige Individuen handelt.
Der Biber gilt als Musterbeispiel für diese Schlussstein-Arten: Entlang von Bächen und Flüssen nagt er unermüdlich an Bäumen, damit sie ins Wasser stürzen und dort wie Staudämme wirken. Hinter diesen Dämmen staut sich das Wasser zu kleinen Teichen, in denen andere Fische leben können als im schnell fließenden Wasser der Flüsse und Bäche, die kleinen silbernen Bitterlinge zum Beispiel. Auch Ringelnattern profitieren von der Baukunst der großen Nagetiere: Die Biber decken ihre Burgen mit organischem Material ab, das wie ein Komposthaufen gärt und dabei Wärme erzeugt. Wenn die Biber aber verschwinden, gibt es auch keine Teiche und Burgen mehr – und also auch keinen Lebensraum mehr für die Tiere, die dort früher lebten.
Die Heuschrecken dagegen zählen zu den Schlüsselarten, nicht weil sie besondere Baumeister wären, sondern wegen ihrer schieren Menge. Ihre große Biomasse ist eine wichtige Nahrungsquelle für viele andere Arten. Oder genauer: war. Schlüsseldominant nennt man sie deshalb. Das bedeutet: Ohne Heuschrecken kein Wiedehopf. Keine Blauracke. Kein Neuntöter.
Ich blicke mich um und sehe die dichten Kiefern der Huppenheide. Für mehr Heuschrecken bräuchte man mehr Platz, aber hier ist keiner. Sollten die Vögel und Insekten der Heidelandschaft hierher zurückkehren, müssten die Nadelbäume verschwinden.
Die Lage ist also klar: Es gibt keinen Naturzustand, den wir wieder erreichen könnten, wenn wir uns nicht einmischen. Wir leben im Anthropozän, und das bedeutet: Wir Menschen haben die globalen Stoffkreisläufe verändert. Vor allem Kohlendioxid und andere Treibhausgase, aber auch Stickstoff und Phosphor zirkulieren heute in bedenklich hoher Konzentration, und ihre Präsenz verändert nicht nur das Klima und den Säuregehalt der Ozeane, sondern auch den Nährstoffgehalt der Böden. All das hat Einfluss auf die Ökosysteme – überall. Was es gibt, sind die Reste einer Kulturlandschaft, die die Menschen anderer Zeiten erschaffen haben und die wir heute nur künstlich wiederherstellen könnten. Um die Natur zurückzuholen, müssten wir sie neu erschaffen. Mit Bewirtschaftungsmethoden, die unter den herrschenden Bedingungen nicht rentabel sind. Obwohl sich die Europäische Union dem Schutz des Klimas und der natürlichen Ressourcen verpflichtet hat, fördert die Gemeinsame Agrarpolitik der EU, GAP abgekürzt, noch immer eine Intensivlandwirtschaft, die hohe Erträge auf Kosten von Vielfalt und Natur produziert. Natürlich wollen die Landwirte auch nicht zurück in die alten Zeiten der idyllischen Heidelandschaft, in der arme Kinder nicht zur Schule gingen, sondern zum Schweinehüten in den Wald. Ist die Artenvielfalt der alten Kulturlandschaften also verloren? Träumen wir von einer musealen Landschaft, die sich ebenso überlebt hat wie die Sense und der Säkorb und die Ackergäule?
»Nein«, sagt Thomas Fartmann vehement. »Wenn man vorschlagen wollte, ach, der alte Kölner Dom, was wollen wir damit noch? Den können wir auch abreißen? Würde das etwa Zustimmung finden? Wir wollen die Artenvielfalt erhalten, die für Mitteleuropa typisch ist, und dazu gehören auch die Arten der Kulturlandschaft, und deshalb sollten wir viel Energie dareinstecken, diese Arten zu erhalten. Bei den Baudenkmälern fragt sich doch auch niemand, wollen wir die erhalten oder nicht.«
Auch bei der Erhaltung von Landschaften geht es um unser kulturelles Erbe: Wir wollen erhalten, was unsere Vorfahren geschaffen haben, was unsere Kultur geprägt hat. »Die vielen unterschiedlichen Kulturlandschaften, das ist es, was Deutschland ausmacht«, sagt Thomas Fartmann. »Und wir sind eines der reichsten Länder der Welt.«
Es geht dabei um Schönheit und Vielfalt und Genuss und Erholung und Inspiration, das gilt für den Kölner Dom genauso wie für die Lüneburger Heide. Wenn man es monetarisieren möchte, könnte man sagen, es geht um den Erhalt des touristischen Kapitals.
Doch die Frage nach dem Erhalt unserer Kulturlandschaft hat noch eine größere Dimension. Wie können wir die Stabilität unserer Ökosysteme, ihre Widerstandsfähigkeit und Ökosystemleistungen wie sauberes Wasser, frische Luft, fruchtbarer Boden, Bestäubung von Blüten, Zersetzung von Nährstoff und so weiter erhalten. Diese Leistungen der Natur haben wir zu lange für völlig selbstverständliche Geschenke gehalten und nicht bemerkt, dass wir sie gefährden, wenn wir die Vielfalt in den Ökosystemen reduzieren.
Und noch eine Dimension kommt bei der Frage nach dem Erhalt unserer Kulturlandschaften dazu, nämlich die Frage, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen. Wollen wir Homogenisierung und Vereinheitlichung? Denn das ist es, was auf den Feldern jenseits der Huppenheide passiert. Was ich gleich sehen werde, wenn ich mit dem Zug von Münster zurück nach Hamburg fahre: ausgedehnte Monokulturen. Maisäcker neben Maisäckern, dann Weizen und wieder Mais. Ab und zu ein bisschen Gerste. Tecklenburg im Frühling hätte heute nur noch zwei Farbtöne auf großen Flächen. Und das Pendant zur homogenisierten Landschaft sind die homogenisierten Fußgängerzonen mit den immer gleichen Ladenketten, die Neubaugebiete mit ihrer Kirschlorbeer- und Raseneinfalt und die großen Fast-Food-Ketten mit ihrer Pseudo-Auswahl von immer gleichen ungesunden Fettmachermenüs. Wollen wir in einer solchen Gesellschaft leben?