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Sie nennen es Effizienz – doch in Wahrheit ist es ein System gigantischer Verschwendung
Die deutsche Landwirtschaft produziert immer mehr Milch, Fleisch und Eier in immer kürzerer Zeit. Die Effizienz scheint ihr bestes Argument zu sein. Nur mit den Methoden der Agrarindustrie könne man neun Milliarden Menschen ernähren, behaupten deren Anhänger.
Doch diese Hochleistungslandwirtschaft ist eine Verschwendungs- und Vernichtungslandwirtschaft . Sie erzeugt Milchkühe, die – bei einer natürlichen Lebenserwartung von zwanzig Jahren – schon nach drei Jahren im Melkstand geschlachtet werden. Sie werden zu einer so hohen Milchproduktion getrieben, dass sie krank und unfruchtbar werden.
Gleichzeitig können die meisten Bauern nicht mehr autonom handeln, weil sie abhängig und hoch verschuldet sind. In der Geflügelmast verkaufen wenige große Konzerne Küken, Futter und Medikamente an die Landwirte und nehmen ihnen nach der Mast die schlachtreifen Hühner ab. Die Preise bestimmen die Unternehmen – die Stallkosten und das Risiko für die Aufzucht tragen die Bauern, die sich trotzdem der Logik der Industrie beugen.
In ihrem neuen Buch Die Wegwerfkuh belässt Tanja Busse es nicht bei der schonungslosen Kritik der Missstände und Abhängigkeiten, sondern zeigt auch Wege zu einer nachhaltigen Landwirtschaft auf.
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Seitenzahl: 303
Das Buch
Die deutsche Landwirtschaft hat in den letzten Jahrzehnten einen Strukturwandel nach industriellen Prinzipen durchlaufen: Intensivierung, Technisierung, Spezialisierung und Standardisierung. Ein Ergebnis dieser Entwicklung ist das Höfesterben. Nur noch große landwirtschliche Betriebe sind noch konkurrenzfähig. In der Tierhaltung führt dieser Prozess zu teils schockierenden Zuständen – die Bilder von Legebatterien, in denen bis zu vierzigtausend Hühner in einer Einheit dahinvegetieren, von überzähligen Ferkeln, die einfach totgeschlagen werden, von Schweinen, die unter der Last ihres Gewichtes zusammenbrechen, sind aus dem deutschen Fernsehen gar nicht mehr wegzudenken. Die Empörung über solche Kollateralschäden der Massentierhaltung ist laut, aber sie zerschellt an einem zentralen Argument, dem man sich kaum entziehen kann, weil es plausibel wirkt: Die moderne Industrie Landwirtschaft sei überaus effizient, schaffe sie es doch große Mengen von Fleisch und Eier für vergleichsweise niedrige Preise bereitzustellen. Das System wirkt brutal, aber alternativlos, zumal wenn man den Blick auf ferne Ländern wirft, wo noch Hunger herrscht.
Aber wie effizient ist dieses System wirklich?
Die Autorin
Tanja Busse wurde 1970 geboren, studierte Journalistik und Philosophie in Dortmund, Bochum und Pisa. Sie promovierte 2000 mit einer Arbeit über die Massenmedien (Weltuntergang als Erlebnis). Sie schrieb wichtige Artikel über Verbraucherschutz und Landwirtschaft in der ZEIT, für das Greenpeace-Magazin und für utopia.de. Ihr Buch Die Einkaufsrevolution (Blessing, 2006) wurde ein Longseller. Auch Die Ernährungsdiktatur (Blessing 2010) erreichte hohe Resonanz.
Tanja Busse
DieWegwerfkuh
Wie unsere Landwirtschaft Tiere verheizt,
Bauern ruiniert, Ressourcen verschwendet
und was wir dagegen tun können
Blessing
1. Auflage 2015
Copyright 2015 Karl Blessing Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Geviert Grafik & Typografie, München
Satz: Leingärtner, Nabburg
e-ISBN: 978-3-641-15641-1V002
www.blessing-verlag.de Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Für L., der so gerne Kühe mag
Inhalt
Einleitung
Ein Wort an die Landwirtinnen und Landwirte
Ein Wort zur Wortwahl
Kapitel1 Das Wegwerfkalb
Kapitel2 Die Wegwerfkuh
Kapitel3 Der Kuhzauberer
Kapitel4 Der Risikolandwirt
Kapitel5 Die Effizienzweltmeister
Kapitel6 Verschwendungslandwirtschaft
Kapitel7 Die Dialektik der Effizienz
Kapitel8 Alternativlosigkeit ist keine Alternative
Kapitel9 Die Farben der Zukunft
Dank
Literatur
Anmerkungen
Namensregister
Einleitung
In den letzten Jahrzehnten hat sich die Art, wie in Europa Milch, Fleisch, Eier, Getreide und Gemüse erzeugt werden, fundamental verändert. Das neue landwirtschaftliche System – moderne Landwirtschaft nennen es die einen, Agroindustrie die anderen – beruht auf den Prinzipien der Industrie: Intensivierung und Technisierung1, Spezialisierung und Standardisierung. Immer geht es dabei um Leistungssteigerung durch Effizienz.
Dieses neue System hat beinahe überall in Europa die kleinen Bauernhöfe verdrängt – Strukturwandel nennen das die einen, unvermeidlich und unumkehrbar, Höfesterben nennen es die anderen. Es ist die Einlösung des Versprechens: Nie wieder Hunger! Wir bekommen euch satt! Dafür hat die Landwirtschaft den Turbo eingelegt.
Die Profiteure dieser Entwicklung erzählen die Agrargeschichte der letzten Jahrzehnte gerne als beispiellose Erfolgsstory. Sie halten eine Laudatio auf den technischen Fortschritt und preisen die wundersame Produktivitätssteigerung der Landwirte. Das System gilt ihnen als alternativlos, weil wir Konsumenten unsere Lebensmittel so billig wie möglich habenwollen. Weil es die deutschen Landwirte weltmarktfähig macht. Und weil bald acht, neun oder sogar zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben werden, die ernährt werden müssen.
Wenn Tierfreunde und Naturschützer gegen Intensivtierhaltung demonstrieren und eine Agrarwende fordern, lächeln sie mitleidig. »Das ist ja süß, was ihr da fordert! Aber damit kann man die Welt nicht ernähren! Wenn alle Bio machen würden, gäbe es nicht mal in Deutschland genug zu essen.« Und dann zücken die Agrarindustriellen ihre größte Waffe: die Effizienz.
Sie behaupten: Die moderne weltmarktfähige Landwirtschaft sei so effizient, dass wir nicht auf sie verzichten können. Mit Methoden, die sich an der Industrie orientieren, produziere sie immer mehr Milch, Fleisch und Eier in immer weniger Zeit.
1950 ernährte ein Landwirt noch zehn Menschen, heute sind es einhundertvierzig.2 1950 gaben gute Milchkühe 4 000 Kilogramm Milch pro Jahr, heute sind es im Durchschnitt über 8 000.3 Das ist ein gewaltiger Fortschritt, der nur durch beeindruckende Effizienzsteigerungen erreicht wurde. Und die Landwirte sind stolz darauf: Sie produzieren mehr als jemals zuvor und sind gleichzeitig der harten körperlichen Arbeit, die die Landwirtschaft über Jahrhunderte prägte, entkommen. Keine Schwielen mehr an den Händen, keine Rückenschmerzen mehr. Das ist die Faszination der Effizienz: das Versprechen, der Maloche zu entgehen und trotzdem erfolgreich zu sein.
Dass diese Art von Landwirtschaft nicht der Erhöhung der Biodiversität dient und dass Tiere darin nicht gehalten werden wie im Streichelzoo, versteht sich von selbst. Das aber scheint der Preis dafür zu sein, dass die moderne Landwirtschaft Millionen Menschen mit günstigen und sicheren Lebensmitteln versorgen kann. Dazu muss es wohl nicht idyllisch, sondern effizient zugehen.
Die Geschichte hat nur einen Haken. Sie stimmt nicht.
Die Effizienz ist das Ergebnis einer falschen Rechnung. Die Hochleistungslandwirtschaft, die seit Jahrzehnten von einflussreichen Lobbyisten propagiert und politisch gefördert wird, ist gleichzeitig eine Verschwendungswirtschaft, die mehr Ressourcen verbraucht, als sie an Werten schafft.
Sie erzeugt Milchkühe, um sie zu töten, bevor sie ihre beste Zeit erreicht haben, weil sie nicht schnell genug wieder tragend werden. Sie brütet jährlich rund vierzig Millionen Küken aus, um sie sofort nach dem Schlüpfen zu töten, weil sie als Brüder der Legehennen keinen ökonomischen Nutzen bringen. Sie züchtet Sauen, die mehr Ferkel gebären, als sie aufziehen können. Die Tiere, die sie produziert, gleichen gedopten Hochleistungssportlern. In ihrer natürlichen Umgebung sind sie oft nicht mehr lebensfähig. Eine Art Evolution rückwärts. Survival of the unfittest. (Darunter leiden vor allem die Biobauern: Es fehlt ihnen an leistungsfähigen und robusten Rassen.)
Aber diese Art der Hightechtierproduktion hat sich durchgesetzt: Seit Jahrzehnten hält das Höfesterben an. Die meisten kleinen Höfe, die gegen den Trend zur Industrialisierung weiter gewirtschaftet haben, sind ruiniert. Mit ihrem Untergang geht wertvolles traditionelles Wissen verloren. Alte widerstandsfähige Nutzviehrassen sterben aus, sortenfeste Gemüsesorten – also solche, die man nach der Ernte neu aussähen kann, über Zehntausende von Jahren der natürlichste Vorgang der Welt – gehen verloren. Und die Agrarunternehmer, die weitermachen, bauen immer größere Ställe mit immer mehr Tieren, die immer schneller fett und immer früher geschlachtet werden.
Ein kollektiver Wettlauf in die falsche Richtung.
Das alles ist nur der Anfang einer Produktionskette, deren Prinzip das Wegwerfen bleibt: Alles, was nicht in die Handelsklassen passt, sortieren Verarbeiter und Händler aus. Und am Ende der Kette stehen die Konsumenten, die jedes achte gekaufte Lebensmittel in den Müll werfen.
Die moderne Land- und Ernährungswirtschaft gibt sich den Anschein, ökonomisch sinnvoll zu handeln – und ist dabei eine gigantische Ressourcenvernichtungsmaschine.
»Der Wirkungsgrad der sogenannten modernen Landwirtschaft ist ähnlich schlecht wie der eines Kohlekraftwerks«, sagt Dr. Thomas Griese, grüner Staatssekretär im rheinland-pfälzischen Agrarministerium.
»Über Jahrtausende hinweg kannte die Landwirtschaft keinen Abfall«, sagt Onno Poppinga, ehemals Professor für ökologische Agrarwissenschaft an der Uni Kassel-Witzenhausen und Rinderzüchter. Die alte Landwirtschaft kannte Stoffkreisläufe. Es gab Mist, aber keinen Müll. Das ist ein Unterschied.
Etwa zehntausend Jahre lang haben die Menschen eine solare Landwirtschaft betrieben, die weder Energieinput von außen brauchte noch Abfälle produzierte.
Dann fanden die Chemiker Haber und Bosch heraus, wie man Stickstoff aus der Luft gewinnen und zu Kunstdünger verarbeiten kann. Damit begann die große Energieverschwendung der Landwirtschaft, die bis zum heutigen Tag anhält. Längst sind die Böden so überdüngt, dass überall dort, wo zu viele Tiere gehalten werden, Stickstoff ins Grundwasser sickert.
Die Agrarindustrie hat sich ihre ungeheuren Produktivitätssteigerungen durch einen ineffizienten Umgang mit Ressourcen erschlichen – dort, wo keiner hinguckt.
Heute ist die Agrar- und Ernährungswirtschaft ebenso globalisiert wie der Rest der Wirtschaft. Ihre Transportketten schlingen sich – klimaschädlich und ressourcenfressend – um den Globus: Wir kaufen Futter aus Südamerika für Schweine im Emsland, deren Schinken nach Asien exportiert werden, während Hühner aus Thailand in Europa zu Fertiggerichten verarbeitet werden. Und so weiter, hin und her. Dieses System senkt bizarrerweise die Preise für Lebensmittel im Supermarkt, während es gleichzeitig Energie und Ressourcen verschleudert.
Dieses Buch handelt von jungen Kühen, die ausrangiert werden, von Kälbern, Küken und Ferkeln, die erzeugt werden, obwohl sie keiner braucht. Es erzählt, wie ein kleines Bullenkalb aus dem System gerettet wird und wie es für alle besser gehen könnte.
Ein Wort an die Landwirtinnen und Landwirte
»Wegwerfkuh« als Titel, das klingt provokant. Und das soll es auch. Aber dieses Buch ist kein Bauern-Bashing. Im Gegenteil, ich habe großen Respekt vor den Landwirten, mit denen ich gesprochen habe.
Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen, und ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn Leute, die keine Ahnung von Landwirtschaft haben, alles besser wissen. »Das Pony friert doch im Schnee«, habe ich immer zu hören bekommen. Wenn aber unsere Kühe unter der Hitze litten, sagten dieselben Leute: »Denen geht’s ja gut, den ganzen Tag können sie sich sonnen!«
Aber: Nur weil es Leute gibt, die über Dinge, von denen sie wenig verstehen, Unsinn reden, heißt das nicht, dass die Entwicklung der Landwirtschaft nicht kritisiert werden darf!
Ich weiß, dass es heftig ist, unter Dauerbeschuss einer oft naiv tierfreundlichen und inkonsequenten Öffentlichkeit zu stehen. Und gleichzeitig unter enormem Arbeits- und Innovationsdruck, und dies alles bei stark schwankenden, fast immer zu niedrigen Preisen. Und auch wenn mein Herz für Tierrechte schlägt, weiß ich, wie es sich anfühlt, wenn sich die Kinder eines Hähnchenmästers nicht mehr in die Schule trauen, weil nachts die Tierschutzaktivisten in den Stall eingestiegen sind und fiese Bilder gemacht haben. Ziemlich mies nämlich.
Trotzdem kritisiere ich die Entwicklung der modernen Landwirtschaft unter dem Diktat der Anpassung an den Weltmarkt und behaupte, dass die viel gelobte Effizienz dieser modernen Landwirtschaft das Ergebnis einer Rechnung ist, bei der viele Variablen vergessen wurden.
Um das jedoch gleich am Anfang klarzustellen: Nein, ich plädiere weder dafür, die Schlepper zu verbieten, noch dafür, die Technik aus den Ställen zu verbannen. Und nein, ich möchte nicht, dass die Bauern morgens in den Stall gehen, um erst mit ihren Tieren zu kuscheln, um anschließend bis tief in die Nacht mit der Forke in der Hand auszumisten. Ich will auch nicht zurück in die Vergangenheit, zu Milchkühen in Anbindehaltung, und erst recht nicht noch weiter zurück zum Vieh, das im Winter im Stall beinahe verhungert wäre! Das sind nicht meine Forderungen, und ich weiß, es klingt albern, das zu betonen. Doch genau solche Unterstellungen habe ich oft gehört – von Landwirten, die mit solchen Vorwürfen jegliche Kritik – unsinnige genauso wie fundierte – reflexartig zurückweisen.
Für Landwirte ist es eine relativ neue und oft traumatisierende Erfahrung, vor einer empörten Öffentlichkeit und unter dem Dauerbeschuss von Tier- und Umweltschützern zu stehen. Über Jahrzehnte hinweg waren die Bauern hochgeschätzte Lieferanten begehrter Waren. Sie waren es, die den Hunger der Nachkriegsjahre stillten. Ohne sie hätten die Leute nicht genug zu essen gehabt. Und noch etwas ist wichtig, um die Landwirte zu verstehen: Jahrhundertelang wirtschafteten die Bauern, ohne dass sich jemand von außen in ihre Arbeit eingemischt hätte. Sie waren die Fachleute, die den Stallbesuchern erklärten, wie man eine Kuh melkt, und die Städter standen und staunten. Und auch heute arbeiten sie im eigenen Stall und können die Tore schließen, wie es ihnen passt. Landwirte sind es schlicht nicht gewohnt, unter ständiger Beobachtung zu arbeiten wie zum Beispiel Lehrer, Busfahrer oder Verkäufer.
Aber es gibt noch einen anderen Grund, weshalb viele Landwirte sich zu Unrecht kritisiert fühlen: Ihnen werden Dinge vorgeworfen, die ihre Kritiker nicht besser machen. Die intensive Fleischproduktion ist für einen großen Teil der Klimagase verantwortlich, sie schadet der Umwelt – das stimmt. Doch gilt das für Autofahren nicht? Und was ist mit den Flugreisen wohlhabender Biokonsumenten? Gerade Bauernfamilien, die Mühe haben, einmal im Jahr ein paar Tage wegzufahren, empfinden es zu Recht als zynisch, wenn sie von Leuten kritisiert werden, die selbst kein konsequenteres Leben führen.
Bloß hilft es nicht weiter, den Kritikern entgegenzuwerfen: »Ja, aber ihr! Ihr seid viel schlimmer!« Besser wäre es zu sagen: Die moderne industrialisierte Landwirtschaft ist Teil einer Gesellschaft, die als Ganzes einer falschen Wachstumserwartung verfallen ist. Die einer kurzsichtigen Effizienzlogik folgt und die – unter dem Strich einer komplexeren Rechnung – bei aller Effizienz und Leistungssteigerung mehr Ressourcen verbraucht, als sie an Werten schafft. Deshalb muss die Landwirtschaft ebenso wie die Wirtschaft insgesamt einen neuen Wachstums- und Wertbegriff finden – und das auf eine Weise, die auch ökonomisch nachhaltig ist. Und damit kommen die Bürger ins Spiel, die als nachhaltige, verantwortungsvolle Konsumenten ihren Teil zu dieser Wende beitragen und als Wähler Rahmenbedingungen für diesen Wandel von der Politik einfordern müssen. In diesem Spannungsfeld muss die Debatte über die Zukunft unserer Landwirtschaft angesiedelt werden, nicht vor den Hoftoren eines einzelnen Landwirts.
In meiner Kindheit kannte ich viele Bauernfamilien, die nur für die Landwirtschaft lebten. Ich habe Betriebe groß werden und andere sterben sehen, ich habe stolze Bauern erlebt und gebrochene. Seit ich als Journalistin über Ökologie und Landwirtschaft schreibe, haben sich viele Landwirte an mich gewandt, die die Nase vollhatten von der Abhängigkeit vom Preisdiktat der großen Konzerne, vom Dauerdruck des ewigen Wachsen- und Investierenmüssens. Oder die durch eine unerkannte Seuche ihren gesamten Tierbestand verloren haben. Oder durch falsch verordnete Medikamente in den Ruin getrieben wurden. Wieder andere kommen wirtschaftlich gut über die Runden und fragen sich trotzdem, wohin diese Entwicklung führen mag, wie groß ihre Betriebe noch werden müssen, wie viele Nachbarhöfe sie noch pachten und wie sehr sie ihre Effizienz noch steigern müssen, um mithalten zu können beim großen, nie endenden Strukturwandel.
Ihnen allen ist dieses Buch gewidmet.
Ein Wort zur Wortwahl
Massentierhaltung ist ein Kampfbegriff: Tier- und Umweltschützer benutzen das Wort, um all das zusammenzufassen, was sie an der gegenwärtigen Tierhaltung kritisieren: viele Tiere auf engem Raum, ihrer Rechte beraubt, gehalten nicht als Individuen, sondern als Produktionsmittel unter dem Diktat der ökonomischen Kostenoptimierung. Wann immer die Verfechter dieses Systems aber dieses Wort hören, kontern sie: Es hängt nicht von der Anzahl der Tiere ab, ob sie artgerecht gehalten werden. Milchkühe in einem modernen Boxenlaufstall mit fünfhundert Plätzen haben mehr Freiheit als ihre zehn bis zwanzig Artgenossen im alten Anbindestall. Damit haben sie recht. Nicht die Zahl der Tiere ist entscheidend, sondern wie sie leben oder gehalten werden. Als die nordamerikanischen Bisons noch in Herden von Hunderttausenden über die Prärie zogen, war das zwar eine Masse Tiere, jedoch kein Problem für die Büffel und ihr Ökosystem. Zum Problem wird die Masse, wenn die Tiere in Massen auf engem Raum gehalten werden. Das aber in den modernen Ställen fast immer der Fall ist. Deshalb müsste man von Dichttierhaltung sprechen, was aber sehr sperrig klingt. Ich verwende deshalb den neutralen Begriff Intensivtierhaltung.
Der Ausdruck konventionelle Landwirtschaft wird oft zur Abgrenzung von der Biolandwirtschaft benutzt. Doch das führt in die Irre, denn das Adjektiv konventionell suggeriert, dass es sich dabei um herkömmliche oder hergebrachte Weisen der Tierhaltung und des Landbaus handelt. Das aber ist nicht der Fall: Die Art und Weise, wie moderne, nicht ökologische Landwirte arbeiten, hat sich in den letzten Jahren fundamental verändert, von der Genetik der Tiere über die Größe der Betriebe bis zum Einsatz der Technik. Ich spreche deshalb, wie die Branche selbst, von moderner Landwirtschaft.
Kapitel 1
Das Wegwerfkalb
Am letzten Sonntag im Januar bringt die Kuh Marianne ihr Kalb zur Welt, allein und ohne Probleme. Der Bauer steht dabei und muss nicht eingreifen. Auch die Nachgeburt ist vollständig. Es ist ihr viertes oder fünftes Kalb, da ist sich der Bauer nicht ganz sicher.
Marianne ist eine ruhige Kuh, ein bisschen kleiner als die anderen Schwarzbunten rechts und links neben ihr. Sie lehnt sich nicht auf gegen den Eisenbügel, der ihren Hals im Anbindestall fixiert. Sie steht auf, wenn der Bauer morgens mit dem Melkgeschirr kommt, sie gibt ihm ihre Milch und frisst, sie legt sich hin zum Wiederkäuen, schläft und steht wieder auf. Das ist ihr Leben, und sie ist geduldig.
Ihr Kalb, noch nass vom Fruchtwasser, versucht auf seine staksigen Beine zu kommen, als der Bauer es in die Arme nimmt und wegträgt. Es ist sehr dünn und hat einen schwarzen Kopf mit einem hübschen weißen Dreieck und einer weißen Schnute. Aber das weiß Marianne nicht, denn sie bekommt es nicht zu sehen.
»Was denkt die Kuh, wenn Sie es ihr wegnehmen?«, frage ich den Bauern.
»Weiß ich nicht«, sagt der Bauer. »Sie kennt es ja noch nicht. Bei Milchkühen ist das nicht so schlimm. Wenn eine Fleischrasse kalbt, da kannst du nicht bei, die bringen dich um.«
Aber Marianne ist kein Fleischrind, sondern eine Holstein-Friesian. Seit Jahrzehnten wird diese Rasse auf Milchleistung gezüchtet. Früher standen die alten Schwarzbunten Niederungsrinder in den Kuhställen Westfalens. Die hatten auch ein schwarz-weiß geschecktes Fell, deshalb ist es den meisten Leuten gar nicht aufgefallen, dass sie inzwischen fast ausgestorben sind.4
Die Niederungsrinder waren klein und rund, die Holstein-Friesian sind groß und knochig. Die Niederungsrinder konnten beides, Milch und Fleisch produzieren, die Holstein-Friesian sind auf Milch spezialisiert, auf viel Milch. Die Mütter geben alle ihre Energie in die Milch, dreißig, vierzig Liter am Tag, kurz nach dem Kalben sogar über sechzig, und bleiben selbst so mager, dass ihre Hüftknochen hervorstehen.
So eine Kuh ist Marianne, und das macht ihr kleines, ebenso mageres Kälbchen zum Wegwerfkalb. Sein Schicksal scheint schon mit dem ersten Atemzug besiegelt zu sein.
Am Nachmittag kommt der Nachbar in den Stall und begutachtet das neugeborene Kälbchen, das jetzt allein in einer Box auf Stroh liegt. Er war früher selbst Bauer und sieht auf einen Blick, dass es ein Problem gibt. Das Kalb ist zu klein. Gesund, lebendig, aber viel zu dünn.
»Was kriegst du denn dafür?«, fragt der Nachbar.
»20 Euro«, sagt der Bauer und zuckt mit den Schultern. »Wenn er es überhaupt nimmt.« Er, das ist der Viehhändler, der die Kälber an die industriellen Mastbetriebe liefert.
Der Bauer hat eine andere Kuh, deren Milch er nicht abliefern darf, weil sie Medikamente bekommt. Ihre Milch gibt er Mariannes Kalb zu trinken, morgens und abends. Dass die Kälber am Euter der eigenen Mutter trinken, ist in der modernen, marktorientierten Landwirtschaft nicht vorgesehen. Die Milch ist die wichtigste Einnahmequelle der Bauern, also wird sie verkauft. Statt Muttermilch bekommen die Kälber Milchaustauscher, ein weißes mehliges Pulver, das in heißes Wasser gerührt wird. Das ist billiger. Aber die Aufzucht mit Ersatzmilch macht die Kälber so anfällig, dass sie oft an Durchfall leiden.
Mariannes Kalb hat Glück, dass eine Kuh im Stall ist, deren Milch es haben darf. Doch aus einem Eimer zu trinken, ist schwierig für ein Kalb. Es kann aus einem Euter saugen, an Nuckeln oder an Fingern. Dass es seinen Kopf nach unten halten muss, um Milch zu bekommen, das kann es noch nicht verstehen. Es säuft sehr langsam, und der Bauer hat viel zu tun mit seinen Kühen. Lässt er das Kalb allein mit dem Eimer, stößt es ihn um.5 Also bleibt er dabei, morgens und abends eine Viertelstunde. »Das blöde Kalb«, sagt er. »Aber das ist wie bei den Menschen: Einer kann saufen wie verrückt, und dieser da, der spuckt einmal in den Eimer rein. Deswegen macht er sich ja nicht.« Er vergleicht das Kalb mit den Nachbarjungs, der eine groß und kräftig, der andere sehnig und mager. So was gibt es halt.
Die Kuh, deren Milch er Mariannes Kalb gegeben hat, wird nicht gesund. Der Bauer bringt sie zum Schlachter und kauft einen Sack Milchpulver für 80 Euro. »Deswegen kosten die Kälber ja nichts«, sagt der Bauer, »weil das Milchpulver so teuer ist.« Zwei Wochen nach der Geburt guckt der Viehhändler in den Stall und sagt, so nehme er es nicht, auch nicht geschenkt. Der Bauer soll es noch einmal vierzehn Tage füttern, dann vielleicht.
Im Laufe des Jahres 2013 sind die Erzeugerpreise für Milch von rund 33 auf 40 Cent pro Kilogramm gestiegen.6 Gleichzeitig ist das Milchpulver teurer geworden, mit dem Kälber gefüttert werden. Es kostet also mehr, die Kälber zu mästen, doch die Erlöse für ihr Fleisch sind nicht mit angestiegen. Mit anderen Worten: Kälbermast ist im Winter 2013/14 ein ziemlich unrentables Geschäft.
Nun steht da also dieses kleine, lebendige Bullenkalb auf dem Hof und ist sein Futter nicht wert. Ökonomisch gesehen lohnt sich sein Leben nicht. Seinen Zweck hat es mit seiner Geburt erfüllt: Die Kuh braucht jedes Jahr ein Kalb, sonst gibt sie keine Milch.
Ich frage einen befreundeten Fotografen, Dieter Müller, ob er für mich ein Foto von einem Kalb machen könnte. »Ja«, sagt er, »aber warum?« Weil es nichts wert ist, sagte ich ihm. Es ist geboren und gesund, aber zu klein. Deshalb holt es der Viehhändler nicht ab. Es ist sozusagen ein Wegwerfkalb.
Es passiert, womit ich nicht gerechnet habe: »Dann nehmen wir es«, ruft Dieter. »Wir stellen es in den Garten. Oder zum Pferd meiner Frau! Ein Kalb für zwanzig Euro!« Halb im Ernst und halb im Spaß gehen wir die Möglichkeiten durch, ein junges Bullenkalb irgendwo auf dem Land unterzubringen. Ich finde, es würde nicht viel bringen, denn Mariannes Kälbchen ist ja nur eines von ganz vielen. Und schwierig ist es obendrein: Aus dem niedlichen kleinen Kälbchen wird bald ein sehr starker junger Bulle, der nicht zu bändigen wäre und möglicherweise gefährlich würde. Junge Bullen wissen nicht, wie stark sie sind, sie wollen spielen und rennen Menschen um. Nicht um anzugreifen, sondern weil sie nicht verstehen, dass Menschen viel schwächer sind als sie und einen nett gemeinten Kopfstupser kaum überleben würden. Trotzdem hat es mich gerührt, dass der Fotograf das Kalb retten will. Dass er es nicht hinnimmt, dass so ein kleiner Kerl einfach überflüssig ist.
Der Bauer füttert sein nutzloses Kalb erst einmal weiter, was soll er sonst auch tun. Aber die Zeit wird knapp für ihn: In spätestens zwei Wochen muss es über vierzig Kilo wiegen. Leichtere Kälber kann der Viehhändler nicht weiterverkaufen und ältere auch nicht. Die Kälbermastbetriebe nehmen ihm keine Tiere ab, die älter als vier Wochen sind. Sie wollen einheitliche Partien von gleichaltrigen, gesunden Kälbern. Ältere Kälber könnten zudem schon Heu oder Kraftfutter gefressen haben und dann ist ihr Fleisch möglicherweise nicht mehr so hell.
Es war der Nachbar des Bauern, der mir einigermaßen ratlos über diese Entwicklung vom wertlosen Kalb erzählt hat. Er ist Anfang der Vierzigerjahre geboren, zu einer Zeit als Hunger und Mangel herrschten und Fleisch wertvoll war, überlebenswertvoll, und als es noch keine Kühe gab, die Milch gaben, aber kein Fleisch ansetzten, zumindest nicht in den westfälischen Dörfern. Als Landwirt erlebte er den Wertverfall seiner Produkte und seiner Arbeit. Er verdiente immer weniger und ärgerte sich, dass er immer mehr Formulare ausfüllen musste, um Subventionen zu beantragen, auf die er nicht angewiesen sein mochte. Er wollte viel lieber vom Ertrag seiner Arbeit leben wie seine Eltern und Großeltern vor ihm. Schließlich verkaufte er seine Tiere, riet allen jungen Menschen, die er kannte, davon ab, in die Landwirtschaft zu gehen, und arbeitete als Treckerfahrer für andere Bauern. Ihn kann nichts mehr umhauen. Aber dass Kälber geboren werden, die keiner haben will, das war selbst für ihn neu.
»Der Kälbermarkt steht unter Druck«, hat der Bauer im Landwirtschaftlichen Wochenblatt gelesen, seiner Pflichtlektüre, die in den meisten Bauernküchen in hohen Stapeln auf der Eckbank liegt.7 »Und die Perspektiven sind nicht gut.« Zwischen 90 und 150 Euro habe man über Jahre hinweg für schwarzbunte Bullenkälber bekommen. Jetzt liege der Durchschnittspreis bei 53 Euro und für »schwache Kälber« bei 16 Euro. Der Absatz für Kalbfleisch lasse sich in Europa nicht steigern. Viele Landwirte, die sich auf Bullenmast spezialisiert hätten, seien in den letzten Jahren ausgestiegen. Das Milchpulver werde teuer bleiben. Insgesamt seien das keine guten Perspektiven für den Absatz von Kälbern von Milchkühen.
Das Wochenblatt bestätigt, was der Bauer selbst erlebt hat: Schwächere Bullenkälber wollten die Kälberhändler »im Grunde gar nicht mitnehmen. 45 Kilo soll das Kalb schon wiegen!« Das Wochenblatt schreibt: »Nun ist es nicht so, als wären Kälber gar nicht zu vermarkten – es müssen nur die richtigen sein.«
Aber wohin mit den Falschen? Wohin mit Mariannes Kalb? Dazu steht nichts im Wochenblatt. »Weiß ich auch nicht«, sagt der Bauer. »Vielleicht in einen Zoo als Löwenfutter?« Kein Schlachthof nimmt Kälber, die 40 Kilo wiegen, das lohnt sich nicht. Das Kalb behalten und zusammen mit den weiblichen Kälbern großziehen, die auf dem Hof bleiben, weil sie in zwei Jahren Milchkühe werden sollen, geht ebenfalls nicht. »Dann macht er sie tragend«, sagt der Bauer. »Das ist das Einzige, was er kann.« Und das soll er nicht. Für Milchkühe ist der Samen von Zuchtbullen aus Besamungsstationen vorgesehen, deren Gene die Eigenschaften vererben, die der Milchbauer braucht.
»Noch ist bei mir kein Kalb stehen geblieben«, sagt der Viehhändler mit fester Stimme. Jeden Dienstag in der Früh fährt er alle Milchbauern ab, die ihm Kälber zum Weiterverkauf anbieten, das sind etwa zehn bis zwanzig pro Woche. Er treibt sie auf seinen Viehwagen und fährt sie zu einem Kollegen, der sie auf einen größeren Viehtransporter lädt und zur großen Sammelstelle eines Futtermittelkonzerns fährt. Etwa eine Stunde dauert die erste Etappe, zwei Stunden die zweite.
Es gibt kaum noch unabhängige Bauern, die Kälber mästen. Diesen Betriebszweig hat ihnen die Futtermittelindustrie in den letzten Jahrzehnten aus der Hand genommen. Auf den Milchhöfen bleiben die weiblichen Kälber, die Milchkühe werden sollen. Manche bäuerlichen Betriebe haben sich auf Bullenmast spezialisiert, sie kaufen den Milchbauern männliche Kälber ab, um sie ein bis zwei Jahre zu mästen und dann als junge Bullen zu verkaufen. Die Kälbermast aber, bei der die jungen Tiere nur wenige Monate leben, bis sie 120 bis 170 Kilo wiegen, ist etwa zu zwei Dritteln in der Hand weniger großer Unternehmen. Der niederländische Futtermittelkonzern Denkavit ist einer von ihnen. Er produziert Milchaustauscher, jenes Pulver, das gerade so teuer geworden ist, dass sich die Kälbermast kaum mehr rentiert. Im niedersächsischen Goldenstedt hat Denkavit eine große Sammelstelle gebaut, in der jede Woche rund 1500 Kälber aufgenommen werden können.8 Dort werden sie begutachtet, gewogen, nach Gewicht und Qualität sortiert und weiterverschickt. Zu Ställen in Deutschland, den Niederlanden und bis nach Frankreich, wo sie im Auftrag von Denkavit und mit Futter von Denkavit gemästet werden. Wenn Mariannes Kalb gut zunimmt, steht ihm also eine lange Reise bevor.
Für die drei Wochen alten Kälbersäuglinge ist das System der Kälberlandverschickung lebensgefährlich. Gestresst durch die lange Reise, treffen sie in den Sammelstellen auf viele andere erschöpfte Kälber. Wenn eines von ihnen krank ist, steckt es die andern schnell an. Das niedersächsische Landwirtschaftsministerium hat im Jahr 2011 mehr als 20 000 Mastkälber untersucht und festgestellt, dass nicht ein einziges Kalb das Schlachtalter ohne Antibiotika erreicht hat. Knapp der Hälfte der Kälber wurden sogar mehr als zwanzig verschiedene Wirkstoffe verabreicht. »Der Durchschnitt über alle Durchgänge betrug 39,9 Einzelgaben pro Tier«9, so steht es nüchtern in diesem Bericht, der sich wie eine Krankenhausakte liest.
Aus tiergesundheitlicher Sicht ist es unbestritten ineffizient, drei Wochen alte Kälber über weite Strecken zu transportieren und sie mit Hunderten anderen aus unterschiedlichen Ställen zusammenzubringen. Ein Branchenvertreter hat mir gegenüber im Februar 2014 zugegeben, dass es üblich sei, diese Kälber bei der Einstallung vorsorglich mit Antibiotika zu behandeln. Das ist eigentlich verboten, doch »wenn sie einen cleveren Tierarzt haben, wird der ihnen bescheinigen, dass es unbedingt nötig war». Unter dreihundert Kälbern werde man immer eines mit Anzeichen von Durchfall oder Grippe finden. Das sagte er gerade sechs Wochen vor dem Inkrafttreten des neuen Arzneimittelgesetzes, das eine Dokumentation aller eingesetzten Antibiotika in der Tierhaltung vorsieht – mit dem Ziel, den viel zu hohen Einsatz zu reduzieren.10 »Wir kümmern uns intensiv um dieses Problem«, sagt der Geschäftsführer des Bundesverbands der Kälbermäster, Dr. Richard Bröcker, auf meine Frage, ob diese Art der intensiven Mast mit weniger Antibiotika überhaupt möglich sei. »Das ist eine Herausforderung für die Tierärzte.«11 Aber wo die Kälber bleiben, die die Mäster nicht gebrauchen können, weiß er auch nicht.
Rechnet sich dieser Aufwand denn überhaupt? Für ein Kalb, das im Stall keine zwanzig Euro wert ist, lohnt sich offenbar die Investition in einen langen Transport von Westfalen nach Niedersachsen und von dort in die Niederlande oder sogar bis nach Frankreich. Wie kann es billiger sein, ein Kalb zu verladen und viele Stunden durch Mitteleuropa zu karren, um es in einem spezialisierten Mastbetrieb mit künstlich hergestelltem Milchersatz zu füttern, wenn die Milch seiner Mutter für weniger als vierzig Cent pro Liter zur Molkerei gefahren wird?
Mail vom 28.2.2014 an den Geschäftsführer des Bundesverbands der Kälbermäster e.V. und der Kontrollgemeinschaft Deutsches Kalbfleisch:
Sehr geehrter Herr Bröcker,
herzlichen Dank für die beiden Experten, ich werde mich umgehend an sie wenden!
An den Bundesverband habe ich noch eine Frage, die sich aus unserem Gespräch und meinen Recherchen ergeben hat:
Warum ist es effizient, junge Kälber über weite Strecken, zum Teil über Hunderte von Kilometern zu Sammelstellen und weiter zu spezialisierten Mästern zu transportieren, wo sie mit ebenfalls von weither transportiertem Milchaustauschpulver gefüttert werden und – bislang – nur unter Einsatz von Antibiotika zur Einstallung am Leben bleiben?
Wie ich es verstanden habe, ist diese Art der Aufzucht mit erheblichem Arbeitsaufwand und relativ hohem Energieeinsatz beim Zubereiten der Nahrung verbunden, außerdem werden dafür Ställe mit teuren Materialien – Tropenholz oder Gummimatten – benötigt, die wiederum nur durch intensiven Einsatz von Desinfektionsmitteln hygienisch bleiben.
Eine Aufzucht direkt auf dem Hof auf Stroh oder auf der Weide mit Milch von der Mutter oder einer Ammenkuh scheint mir arbeits- und energietechnisch gesehen viel einfacher und günstiger und für die Kälber natürlich viel angenehmer.
Bitte verstehen Sie meine Frage nicht rhetorisch! Ich würde wirklich gerne wissen, wie sich das rechnet! Wo der Effizienzvorteil liegt oder wie dieses System sonst entstanden ist!
Ganz herzlichen Dank für Ihre Geduld!
Tanja Busse
Keine Antwort.
»Die Schlechten sind wertlos, die sind geschenkt zu teuer«, sagt der Viehhändler. »Das ist bald ein Zuschussgeschäft – bei den kleinen Preisen.« Für den Bauern sowieso, aber auch für ihn als Händler. »Es war schon mal besser«, sagt er knapp, ist nicht larmoyant wie einer, der sich mit Widrigkeiten zu arrangieren weiß. Trotzdem, wiederholt er, habe er noch kein Kalb stehen lassen. Im Prinzip sei das wie Kundendienst, dass er auch die schlechten Kälber abhole. Denn die Bauern verkaufen ihm ja auch die ausrangierten Milchkühe, und mit denen läuft das Geschäft nicht so schlecht.
»Wenn aber das Milchpulver noch teurer wird? Und wenn Sie die schlechten Kälber gar nicht loswerden?, bohre ich nach. »Dann müsste man sie rein theoretisch töten«, antwortet der Viehhändler. »Mancher Bauer hat mir schon gesagt: Normalerweise, wenn ich die Arbeit rechne und das Milchpulver, wäre es besser, wenn es gleich tot wäre.«
Dann fügt er hinzu: »Bloß macht das keiner.«
In der Landwirtschaftsschule hat der Bauer gelernt, dass er ein landwirtschaftlicher Unternehmer sei und als solcher ökonomisch zu denken habe. Er soll nicht weiterwirtschaften, wie es seine Vorfahren auf dem Hof gemacht haben, sondern so, dass es sich rechnet. Dächte der Bauer also ökonomisch, müsste er dem Kalb für zwei bis vier Wochen täglich etwa eine Arbeitsstunde in Rechnung stellen: Futter zubereiten, füttern, Eimer reinigen, den Stall einstreuen und misten, später desinfizieren. Dazu die Materialkosten: Stroh für ein paar Euro, Milchersatzpulver für zwanzig Euro, Desinfektionsmittel, eventuell Medikamente gegen Durchfall. Und der Platz im Stall. Das alles für ein Kalb, für das er bestenfalls zwanzig Euro bekommt. Das rechnet sich nicht.
Der Abdecker nimmt 2,04 Euro für ein totes Kalb.
Der Bauer mag landwirtschaftlicher Unternehmer geworden sein, aber er trägt auch sein bäuerliches Erbe in sich, das Denken seiner Vorfahren, die in Notzeiten überlebten, weil sie Tiere hatten, deren Fleisch sie essen konnte. Sein bäuerliches Ethos sagt ihm, dass man junge Kälber nicht einfach tötet.
Die Wegwerfkälber des Winters 2013/14 sind die Kollateralschäden eines ökonomischen Systems. Sie sind die logische Folge der sogenannten modernen Landwirtschaft, die sich – dem Wachstumsparadigma folgend – immer weiter konzentriert und spezialisiert. Rinder sind nicht mehr Milch- und Fleischlieferanten, sondern Spezialisten für das eine oder das andere. Kühe tun nicht mehr, was sie tun würden, wenn man sie ließe, nämlich ihre Kälber säugen, sondern sie produzieren den Rohstoff Milch für den Weltmarkt. Die Futtermittelindustrie versorgt ihre Kälber zu Preisen, die wiederum von den Weltmarktpreisen für Milchpulver abhängen. Das männliche Kalb einer Milchkuh, das bei der Produktion der Melkfähigkeit der Kuh anfällt, wird üblicherweise als Rohstoff in der Fleischerzeugung zweitverwertet. Entspricht es nicht den Qualitätsanforderungen, wird es unter bestimmten Marktkonstellationen (hohe Milchpreise, stagnierende Nachfrage nach Kalbfleisch) vom Produktionsmittel zum Abfallprodukt.
Dann ist es aus der Verwertungslogik der modernen Landwirtschaft herausgefallen. Aber es ist ein Tier. Und es lebt.
Dieter, der Fotograf, ruft mich an und erzählt, ab heute sei seine Tochter Vegetarierin. Sie ist zwölf Jahre alt. Er habe ihr vom Wegwerfkalb erzählt. Und davon, dass er überlegt habe, das Kalb zu kaufen, nur nicht wisse, wohin damit. Die Tochter hat das Kalb Jonny Roastbeef getauft und im Telefonbuch nach Gnadenhöfen gesucht. Sie hat einen nach dem anderen angerufen. Ob sie ein Kalb nehmen könnten. Aber keiner hatte Platz für ein junges Bullenkalb.
Es hat mich gerührt, dass seine Tochter das Kalb nicht einfach seinem Schicksal überlassen wollte. Natürlich ändert es nichts am System der modernen Landwirtschaft und am Elend von Hunderttausenden Mastkälbern, wenn dieses eine Kalb in ein besseres Leben gerettet würde. Dennoch hat sie in der philosophischen Debatte, ob Tiere Rechte haben und welche, ganz klar Stellung bezogen: Ja, auch dieses nutzlose Nutztier hat ein Recht auf Leben, und zwar auf ein gutes Leben!
Mir fällt ein Biobauer ganz in der Nähe ein, Josef Parensen, der seine kleine Rinderherde den ganzen Sommer auf der Weide grasen lässt und sie im Winter in großen Laufställen auf Stroh hält. Ob er nicht unser Kalb in seine Herde aufnehmen könne?
»Ich kenne das Kalb«, sagte er mir. Der Bauer hat es ihm schon gezeigt: das Kalb, das nichts wert ist. Aber als Biobauer kann er es weder kaufen noch als Geschenk annehmen, denn zertifizierte Ökobetriebe dürfen Tiere aus konventioneller Haltung nur in besonderen Ausnahmen nehmen, und die Rettung aus der ökonomischen Nutzlosigkeit gehört nicht dazu. Und wenn wir es kaufen, fragte ich ihn. Wir könnten es bei ihm unterstellen, als Pensionskalb sozusagen, wie man es mit Pferden macht. »Dann ja«, sagte er, ohne lange zu zögern. Obwohl es sich für ihn natürlich auch nicht rechnet, so viel Weidefläche für ein Tier zu opfern, das viel langsamer zunehmen wird als seine Fleischrinder. »Das kriegen wir schon hin. Wenn es überhaupt überlebt!«
Denn, das hat Josef Parensen im Stall gesehen, Jonny Roastbeef leidet unter Durchfall. Viele Kälber, die ohne Mutter und Muttermilch aufwachsen, werden krank. Doch bei Kälbern ist Durchfall lebensgefährlich. Und ausgerechnet jetzt, wo es aussieht, als könnte der kleine Jonny Roastbeef vor einem Leben in der Mastanstalt bewahrt werden, da rinnt ihm heller Durchfall an den Hinterbeinen herunter. Wäre er bei seiner Mutter geblieben und hätte er an ihrem Euter getrunken, wäre das vermutlich nicht passiert.
Kälber töten?
Wann immer ich in diesen Tagen mit Bauern und Händlern über die Kälber spreche, die nichts mehr wert sind, bekomme ich eine Antwort auf eine Frage, die ich gar nicht gestellt habe: »Nein, die Kälber werden nicht getötet.« Und dann sagen sie: »Ich hab’s von keinem gehört.«
»Ich glaube das auch nicht«, sage ich dann. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Bauer nach der Geburt ein Kalb töten würde.
Aber wenn es einer täte, würde er es ja niemandem erzählen. Weil man es nicht darf. Und weil man so was nicht tut als Bauer.
So, denke ich, empfinden die Milchbauern, die ich näher kennengelernt habe, doch ein landwirtschaftlicher Berater mit jahrzehntelanger Erfahrung widerspricht mir. »25 Prozent der Kälber sind nicht aufzuchtsfähig«, sagt er. »Entweder sie gehen tot, oder sie werden totgemacht.« Solange ein Landwirt auf seinem Betrieb nicht mehr als zehn Prozent tote Kälber hat, komme kein Amtsveterinär und frage nach, wie natürlich der Verlust gewesen sei.«
Das deutsche Tierschutzgesetz verbietet, Tiere ohne vernünftigen Grund zu töten. Aber es verbietet nicht, Tiere ohnevernünftigen Grund zu erzeugen. Aus der Sicht des Landwirts ist der vernünftige Grund für die Erzeugung von Kälbern, dass die Kuh nach der Geburt des Kalbes Milch gibt. Bloß wenn es geboren ist, gibt es eben keinen vernünftigen Grund mehr dafür, dass es lebt. Aber was wäre denn vernünftig in dieser verworrenen Situation, in der ökonomische Zwänge auf bäuerliches Empfinden, juristische Grenzen und auf den Überlebenswillen eines kleinen Bullenkalbes mit weißer Schnute treffen?