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Frank führt ein außergewöhnliches Leben. Er wacht in fremden Städten auf, in fremden Betten, neben fremden Frauen. Nach wenigen Wochen springt er weiter und muss alles zurücklassen. Jede Person, jeden Besitz und jede Hoffnung auf Vertrautheit muss er zwangsläufig verlieren. Frank bleiben nur seine Erfahrung und die Theorie eines Physikers, die sein Schicksal zu erklären scheint. Dies ist die Geschichte des einsamsten Menschen der Welt, der nur eines finden will: eine Gemeinschaft von Weggefährten.
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Seitenzahl: 303
Veröffentlichungsjahr: 2023
Ralph Alexander Neumüller
AndroSF 94
Ralph Alexander Neumüller
DAS STOFFUNIVERSUM
AndroSF 94
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: Oktober 2023
p.machinery Michael Haitel
Titelbild: Alfred Kelsner
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 356 7
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 748 0
Dieser Roman ist ein fiktives Werk. Sämtliche Handlungen, Charaktere und Ereignisse wurden frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden Personen, ob gegenwärtig oder historisch, sind rein zufälliger Natur und nicht beabsichtigt. Die Darstellung von Personen, Orten und Situationen dient allein dem Zweck der fiktiven Erzählung und sollte nicht als vermeintliche Bezugnahme auf tatsächliche Ereignisse oder Personen interpretiert werden. Der Autor übernimmt keinerlei Verantwortung für Missverständnisse oder falsche Schlussfolgerungen in dieser Hinsicht.
Für Familie,
Freunde
und Weggefährten.
Gegen die Einsamkeit.
Ich lag mit geöffneten Augen im Bett und starrte an die Decke des Hotelzimmers. Es musste nach Mitternacht sein, doch ich hatte das Gefühl für die Zeit längst verloren.
Irgendwo im Zimmer blinkte eine Lampe. Sie tauchte den Raum in festen Abständen in ein kaum wahrnehmbares Licht. Vielleicht ein Telefon? Oder der Fernseher? Ich zählte die Dunkelphasen, doch kam nie über wenige Dutzend hinaus. Wieder und wieder zogen die gleichen Gedanken an mir vorbei.
In einem Magazin hatte ich über den Halbseitenschlaf der Delfine gelesen. Träumen mit der einen und Wachen mit der anderen Gehirnhälfte. Obwohl es aussichtslos war, hatte ich oft versucht, es ihnen gleichzutun. Dann schloss ich ein Auge und hoffte, dem Schlaf ein Schippchen zu schlagen.
Doch heute hielt ich beide Augen krampfhaft geöffnet und starrte an die Decke. Hätte ich meine Lider an die Stirn nähen können, um mich vor dem Einschlafen zu retten, ich hätte es getan. Ich wollte lieber unentwegt auf diese Welt starren, als auch nur einen Traum zu träumen.
Vierundzwanzig Dunkelphasen. Dann spürte ich meine Glieder erschlaffen, riss mich aus dem Schlummer und drückte Claras Hand fester. Sie war inzwischen eingeschlafen und erwiderte den Druck nicht. Ich spürte, wie sich die Knochen ihrer Hand verschoben.
Ich wandte meinen Kopf zu ihr, doch in der Dunkelheit konnte ich nichts erkennen. Dann richtete ich meinen Blick wieder an die Decke. Aufstehen war keine Option. Schlafen auch nicht. Mir blieb nur das Zählen der Dunkelphasen. Ich konzentrierte mich und riss die Augen noch weiter auf. Eins. Zwei. Claras Hand hielt ich fest gedrückt. Ich war nicht gewillt, sie loszulassen. Nicht gewillt, auch nur das kleinste Irgendetwas zwischen uns zu akzeptieren. Schon gar nicht den Schlaf. Vielleicht funktionierte es heute. Vielleicht gab es doch so etwas wie einen Willen, der mehr war als die Illusion von Kontrolle.
Ich ahnte, dass ich erneut alles verloren hatte, als mich ein pochender Kopfschmerz weckte. Widerwillig öffnete ich die Augen einen Spaltbreit, da ich sie, auch wenn ich es wollte, nicht weiter geschlossen halten konnte. Wie ironisch. Das, was mir abends nicht gelingen wollte, passierte jeden Morgen ganz von allein.
»Es gibt nichts Bedrückenderes als eine Vorahnung, die durch einen Blick bestätigt wird«, hatte einer meiner vielen Väter vor Jahren zu mir gesagt. Wie recht er doch gehabt hatte.
Um mich standen fremde Möbel in einem fremden Raum. Neben dem Bett ein Nachtkästchen, darauf ein Wecker mit Digitalanzeige. Sechs Uhr irgendwas. Das Fenster war geöffnet und ein weißer Vorhang wurde vom Wind in Wellen gelegt.
Dann spürte ich wieder den Schmerz. Ich schloss die Augen, drehte mich erst auf den Rücken, danach auf die andere Seite. Als ich sie wieder öffnete und eine brünette Frau neben mir liegen sah, wusste ich, dass ich schon wieder zum einsamsten Menschen der Welt geworden war. Ich verabscheute meine Unrast, die es mir unmöglich machte, irgendwo bleiben zu können. Die mich immer und immer wieder in Neues stolpern ließ.
Ich betrachtete die Frau. Sie wirkte jung, vielleicht fünfzehn oder zwanzig Jahre jünger als ich. Sie lag mir zugewandt im Bett und schlief. Ihre Züge waren weich und entspannt, und auf ihren Wangen und Lippen klebten Reste von Make-up. Sie atmete gleichmäßig, und ich konnte sehen, wie sich ihre Augen unter den geschlossenen Lidern bewegten. Sie war nackt. Nur ein Laken bedeckte ihre Hüfte. An ihrer Hand glitzerte ein Ring, der mich an nichts erinnerte. Ich war nicht im Geringsten verwundert.
Ich musste einige Minuten so dagelegen haben. Der Kopfschmerz ließ allmählich nach, sodass ich riskierte, mich im Bett aufzusetzen. Der Raum wirkte, als wäre er einem Magazin für Luxusreisen entnommen. Vor dem Bett stand ein Tisch, darauf eine Vase aus Glas. Darin lagen faustgroße Steine und Muscheln, zwischen die Seidenblumen gesteckt worden waren. Die Farben Weiß und Blau dominierten im Zimmer. Ein orientalischer Teppich befand sich in der Mitte des Raumes, dahinter stand ein Schreibtisch, auf dem zwei Computer und Mobiltelefone lagen.
Ich rückte an den Rand des Bettes, um aufzustehen. Das rechte Knie schmerzte wie gewohnt. Meine Füße berührten den Holzboden, und ich spürte das grobe Relief, das in ungewöhnlich tiefen Furchen längs der Balken verlief. Ich zog die Decke von den Oberschenkeln. Auch ich war nackt.
»Bleib noch liegen«, hörte ich die Frau hinter mir sagen.
Auch ihre Stimme kam mir nicht bekannt vor. Zu gern hätte ich gewusst, wer sie war und wo ich sie kennengelernt hatte.
Ich drehte mich langsam um und beobachtete, wie sie ihren Körper auf meine Seite des Bettes schob. Ihre Arme umschlangen mich von hinten. Sie streichelte meinen Bauch mit der einen und fuhr mit der anderen Hand über meinen Oberschenkel.
»Ich muss was trinken«, murmelte ich.
Meine Stimme hörte sich unerwartet tief an, fast wie ein Fremdkörper, der nicht zu mir passte, doch das konnte von Alkohol oder Zigaretten kommen. Ich sah eine leere Wasserflasche, die neben hingeworfenen Kleidern auf dem Boden lag. Langsam schob ich die Arme der Frau von mir. Sie drehte sich um und vergrub ihren Kopf in den Kissen.
»Dann kommst du aber wieder, versprochen? Ich bin noch nicht fertig mit dir.«
Ich stand auf und ging einige Schritte, doch mir wurde schwindelig und schwarz vor Augen. Mit gesenktem Kopf blieb ich stehen, bis der Raum aufhörte, sich zu drehen. Auf dem Schreibtisch lagen eine Packung Aspirin und andere Schmerzmittel. Ich drückte einige Tabletten aus dem Blister und schluckte sie ohne Wasser. Dann schob ich den Vorhang vor der Balkontür voller Erwartung zur Seite und trat hinaus.
Dort bot sich mir ein Blick, der an absurder Schönheit nicht zu überbieten war. Ich überblickte weißblaue Dächer, die sich im Glitzern des Meeres verloren. Die Häuser waren in die Klippen gebaut worden und wirkten wie ein Mosaik, das langsam aus dem Wasser zu steigen schien. Weiter links, jenseits des Dorfes, erstreckte sich die lange Krümmung eines Sandstrands. Dahinter bäumten sich Felsformationen schroff empor, an denen die Brandung mit jeder Welle weißen Schaum in die Luft warf, den der Wind zerstäubte. In der Bucht lagen einige Schiffe vor Anker. Sie wogten in der Morgensonne, die sich über dem Blau der See durch das Blau des Himmels schob.
Noch nie hatte ich etwas vergleichbar Schönes gesehen. Und das mit über vierzig. Ich war noch nie am Meer im Urlaub gewesen, auch wenn ich unentwegt unterwegs war. Was hätte der einsamste Mensch der Welt auf Reisen finden sollen? Noch mehr Einsamkeit? Das Meer kannte ich eigentlich nur aus den Chroniken der Computermedien oder dem Fernsehen. Einige Tage hatte ich in New York und Rotterdam gelebt. Ich kannte nur die öligen Schlieren des Wassers in den Häfen und das treibende Plastik, Pappkartons, Verpackungen und Papierfetzen in den trüben Stehgewässern zwischen den Schiffen.
Aber das war das echte Meer. Hier bot sich ein Blick, den ich lange auf mich wirken ließ. Endlich vertrieben die Tabletten den Schmerz. Ich musste meine Augen nicht länger zusammenkneifen, und das Pochen in meinem Kopf ließ nach. Ich griff nach einem Badetuch, das auf einem Tisch neben mir lag, und wickelte es mir um die Hüfte. Um die Ecke fand ich eine Treppe, die auf das Dach führte.
»Darf Frühstück servieren?«, fragte eine uniformierte Dame in gebrochenem Deutsch, die Weintrauben und zwei Flaschen Orangensaft auf einen Tisch neben dem Pool stellte.
Ich blickte sie an und sagte nichts.
»Herr Doktor Kurath?«
Kurath also. Zumindest das passte. »Bitte warten Sie noch. Ich wollte noch etwas schwimmen.«
»Bitte Entschuldigung. Nicht stören. Sie sagen, ich soll Frühstück für sieben Uhr neben dem Pool bereit. Wegen Ausflug nach Hydra. Wenn Sie schwimmen möchten, entferne ich sofort.«
Hydra, schoss es mir durch den Kopf. Ich war wohl in Griechenland oder der Türkei. Jugoslawien war auch eine Möglichkeit.
»Nicht notwendig. Das hatte ich vergessen. Bitte bereiten Sie das Frühstück wie geplant vor. Sieben Uhr klingt wunderbar. Ich kann auch später schwimmen gehen.«
Die Dame nickte und wandte sich ihrer Arbeit zu. Ich ging die Treppe hinunter und nahm auf einem Sessel auf dem Balkon Platz. Auf dem Tisch vor mir lagen eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug. Ich steckte mir eine an und blies den Rauch in die Meeresluft.
Einige Minuten später kam die brünette Frau auf den Balkon. Sie hatte ein beinahe durchsichtiges Nachthemd übergezogen, durch das ich ihre Brüste und den Slip sehen konnte. Ich hatte über die Jahre gelernt, aus einem Gespräch über Belanglosigkeiten die relevanten Informationen zu ziehen. Ich musste fragen, bevor sie es tat.
»Das nenn ich einen Sonnenaufgang. Ist das nicht schön hier?«
»Ja. Ein Traum. Du hattest recht, hierher zu fahren.«
Scheinbar kannte ich sie schon länger. Es schien sich um eine Reise zu handeln, die wir gemeinsam geplant hatten. Sie nahm neben mir Platz und griff nach den Zigaretten.
»Willst du eine?«
»Im Urlaub schon!«
Ich steckte mir noch eine an und nahm einen tiefen Zug.
»Wie wohl das Wetter zu Hause ist?«, fragte ich beiläufig und blickte übers Meer.
»Ich habe keine Ahnung und will es auch gar nicht wissen. Ich bin froh, nicht in Wien zu sein.« Sie lachte und zündete die Zigarette an, nahm einen Zug und blies den Rauch in einer anmutigen Bewegung, bei der sie ihren Kopf Richtung Himmel hob, in die Luft.
»Ich bin schon so entspannt, dass ich nicht mal mehr weiß, welcher Tag heute ist«, sagte ich und lächelte ihr zu. »Es könnte aber auch an der gestrigen Nacht liegen.«
»Montag, glaube ich.« Sie blies erneut Rauch in die Luft. »Gestern war wunderschön. Ich wusste nicht, dass du so viel trinken und dennoch so gut tanzen kannst.« Sie lachte, stand auf, kam zu mir herüber und setzte sich auf meinen Schoß, küsste mich auf die Stirn und rieb sich an meinem Schambein.
Etwas grob schob ich sie beiseite und stand auf, woraufhin sie mich mit ihren Armen umschlang. Ich konnte das nicht tun. Ich kam gerade erst von Clara, die ich wohl nie wiedersehen würde, wenn sich alles so verhielt wie bisher.
»Oben gibt’s Frühstück«, flüsterte ich in ihr Ohr.
Sie biss in mein Ohrläppchen. »Aber zuerst vernasche ich dich.«
»Wir sollten uns beeilen, wenn wir nach Hydra wollen.«
Ich trug sie über die Stufen, vorbei am Pool und hin zu dem kleinen Tischchen, auf dem die Speisen standen.
»Ich komme gleich wieder. Muss mal«, sagte ich.
Die Frau setzte sich sichtlich enttäuscht an den Tisch. »Komm schnell wieder! Wir sollten genau dort weitermachen, wo wir letzte Nacht aufgehört haben.«
Ich ging zurück in das Zimmer und dann ins Bad, das ich von innen absperrte. Dann betrachtete ich mein Spiegelbild. Den grauen Dreitagebart trug ich oft. Die lockigen Haare standen in alle Richtungen. Wenigstens mein Aussehen glich einigermaßen dem, was ich gewohnt war. Ich verließ das Badezimmer und suchte nach der Handtasche der Frau. Bingo. Ihr Pass identifizierte sie als Julia Zimmer. Achtundzwanzig Jahre alt. Schweizer Staatsbürgerin. Ich kramte weiter und fand zwei Briefumschläge, in denen sich Flugtickets befanden. Frau Doktor Julia Zimmer. Ein zusammengefaltetes Magazin für Dermatologie. Daneben ein paar Fachartikel und ein Kriminalroman. Ich öffnete die Tür zum begehbaren Schrank. In ihrem Reisekoffer fand ich einen weiteren Briefumschlag, aus dem ich eine Glückwunschkarte zog.
»Zur Hochzeit alles Gute. Lasst es euch gut gehen. Eure Eltern!«
Vier Unterschriften. Meine Eltern waren doch tot. Zumindest meistens. Mir glitt die Karte aus der Hand. Wie gelähmt stand ich vor einem Wandspiegel und blickte in meine rot unterlaufenen Augen. Es bestand kein Zweifel. Ich war hier auf Flitterwochen. Was sollte ich nun tun? Immer hatte ich mich vor einem Leben mit so viel Bedeutung geängstigt. Ich wollte nichts zerstören. Nichts in die falsche Bahn lenken. Am liebsten hätte ich mich in nichts aufgelöst. Die Kopfschmerzen fielen mir wieder ein. Der gestrige Abend musste ausgelassen gewesen sein. Den Flugtickets nach zu urteilen, würden wir zwanzig Tage in Griechenland bleiben. Was sollte ich nur tun?
Wenig später saß ich mit Sonnenbrille und Strohhut, den ich tief über die Stirn gezogen hatte, neben Julia auf einer Bank eines Motorbootes. Sie streichelte meinen Bauch. Die Kopfschmerzen waren meine Rettung gewesen. Nachdem ich ihr gesagt hatte, dass ich mich fühlte, als bearbeite jemand mein Gehirn mit einem Presslufthammer, hatte Julia in den Modus der Fürsorglichkeit umgeschaltet. Selbst das störte mich in meiner momentanen Situation, doch es war erträglicher, als ihre penetranten Annäherungsversuche abzuwehren.
Mein Arm lag auf ihrer Schulter, und ich blickte abwesend in die Ferne. Einige vom Wind zerfetzte Wolken zogen über den Himmel. Die Sonne hatte inzwischen den Zenit erreicht und brannte unnachgiebig auf die Felsen und das verdorrte Gras der Inseln, an denen wir vorüberfuhren. Die wenigen Büsche schienen die sengende Hitze am Boden zusammengekauert zu erdulden. Alles Leben war in den Schatten verbannt.
Ich dachte an Clara. Die vier Monate, die ich mit ihr zusammen gewesen war, schienen mir wie eine Ewigkeit entfernt. Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, so viele Details wie möglich in Erinnerung zu behalten. Über Mnemotechniken zu lesen, gehörte neben der Philosophie zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Es war erstaunlich, wie viel der menschliche Geist im Gedächtnis speichern konnte, wenn er darauf trainiert wurde. Ich hatte jedoch gemerkt, dass ich es nicht schaffte, neben dem faktischen Wissen, das sich leicht und fast nach Belieben abspeichern ließ, ein inneres Bild des Aussehens eines Menschen zu behalten. Auch Düfte und Empfindungen rutschten, mit oder ohne Mnemotechnik, stets ins Abstrakte. Dies oder jenes war schön. Dies oder jenes sah toll aus oder schmeckte gut. Ein Moment konnte für mich nur als die Summe seiner faktischen Zuschreibungen weiterexistieren, nie jedoch als wiederbelebbare Empfindung. Ich fragte mich, ob es anderen Menschen auch so ging. Alles Erinnern war immer nur entrücktes Betrachten, die Projektion eines Gegenstands auf eine Wand, die ich beschreiben konnte, ohne den Gegenstand je wieder sehen oder fühlen zu können.
Ich merkte den Strudel, in den mich diese Überlegungen zogen, und brach sie abrupt ab. Ohne etwas zu sagen, drückte ich Julias Hände und schob meinen Körper näher an ihren.
Hydra war bezaubernd. Die roten Dächer der Häuser fügten sich so achtsam in die Landschaft, dass sie in mir den Eindruck erweckten, sie wären einst mit dem Gestein der Insel aus der glühenden Lava gegossen worden. Die Menschen wirkten zwischen den Gemäuern vergänglich und zerbrechlich. Austauschbar, so wie sie es für mich immer waren. Ein namenloses Füllwerk im Gemäuer der Zeit. Ich spazierte neben Julia her, die auf mich einredete und alle paar Meter ein Foto von sich verlangte. So hübsch sie war, so sehr nervte mich ihr Geplapper. Dennoch war es hilfreich. Ich stellte ein paar Fragen und erfuhr mehr über uns: wo wir wohnten, wen wir mochten und wen nicht, wer uns mochte und wer nicht. Doch zu den Namen gab es keine Gesichter und zu den Plätzen keine Erinnerung. Zuschreibungen ohne Vergangenheit. Ich war Arzt wie sie, arbeitete im gleichen Krankenhaus. Radiologe. Ich hatte sie vor Jahren eingestellt. In meinen Arm eingehängt erzählte sie von der Parkgarage des Krankenhauses, in der wir uns das erste Mal nähergekommen waren. Dennoch verlor ich irgendwann das Interesse und gab nur noch mit leisen Lauten oder Nicken vor, ihren Ausführungen zu folgen. Ich dachte an das blinkende Licht. An Claras Hand. Julia merkte es nicht. Ihre Aufmerksamkeit wurde von den anderen Touristen, den Geschäften und ihrem Mobiltelefon absorbiert. Ich hingegen hatte mein Telefon im Hotelzimmer liegen gelassen, da ich dreimal den falschen Code eingegeben hatte. Der letzte Versuch sollte ihm gehören, dachte ich, ohne dieses »ihm« völlig zu verstehen.
Am Nachmittag gingen wir essen. Ich trank zwei Bier, und mit einem Mal kam das Kopfweh zurück. Als ich während des weiteren Spaziergangs durch die Stadt auf die Toilette musste und dazu in ein kleines Hotel ging, bestellte ich an der Bar zwei Schnäpse. Die betäubten den Schmerz und ließen mich in mich selbst versunken neben Julia hertrotten. Sie redete in einem fort. Ich zuckte manchmal mit den Schultern und nickte, wenn sie mich direkt anblickte. Ich wünschte mich inständig auf das Boot, zurück ins Hotel, in den Schlaf. Kurz vor der Abfahrt trank ich noch ein Bier. Julia blickte mich entgeistert an, fragte mich, weshalb ich so viel tränke. Ich begründete es mit meinem Kopfweh. Im Boot legte ich mich auf die Sitzbank, mein Kopf ruhte in Julias Schoß, und ich merkte, wie ich einschlief. Ich musste schnellstmöglich von der Insel. In diesem erzwungenen Glück würde ich es keine zehn Tage aushalten. Ich hoffte auf den Schlaf, der in seltenen Fällen auch mal etwas Gutes bringen konnte.
Zweimal war ich durch alle Räume gegangen und hatte mich versichert, allein zu sein. Ich stand im Badezimmer und betrachtete die Falten in meinem Gesicht. Sie waren tiefer als sonst, doch all das Lachen, die Sorgen und Ängste, die sich in Furchen in mein Gesicht geschrieben hatten, waren mir fremd. Ich ging ins Schlafzimmer und nahm das Mobiltelefon, das auf dem Nachtkästchen lag. Ein Sensor musste meinen Fingerabdruck registriert haben, da sich der Bildschirm unaufgefordert entsperrte. Ich fand eine Fotogalerie und durchstöberte sie. Sinnlose Naturaufnahmen dominierten: Berge, Seen, Bäume und Bäche in allen Variationen. Ich hatte nie verstanden, weshalb Menschen so viele Varianten des Immergleichen festhielten. Eine Natur, die Millionen Jahre vor und Millionen Jahre nach dem Menschen Eruptionen der Vielfalt produzieren würde, musste doch nicht dokumentiert werden. Waren nicht die Körper und Gesichter der Menschen für den Menschen alles? Eine verschwenderische Vielfalt, ein unentwegtes Anderssein, so als wäre jedes Kind um nichts anderes bemüht, als ein Antlitz wie kein zweites zu formen.
Ich fand nur wenige Fotos mit Menschen. Zwei Kinder und eine Frau mittleren Alters tauchten immer wieder auf. Manchmal sah auch ich mich auf einem Bild. Dann umarmte ich die Frau oder die Kinder. Ich hatte also Familie. Doch niemand war zu Hause.
Ich öffnete ein Programm mit einer Sprechblase als Symbol. Es war tatsächlich ein Nachrichtenprogramm. Das Foto meiner Frau fand sich ganz oben. Ich tippte es mit dem Daumen an und die letzte Nachricht erschien. »Sind gut angekommen. Meine Eltern grüßen dich. Bis Freitagabend. Fahren mit dem Zug um vier Uhr wieder zurück. Haben dich lieb.«
Ich beendete das Programm und sah auf dem Display, dass heute Dienstag war. Danach öffnete ich ein weiteres Nachrichtenprogramm. Es schien sich um mein Diensttelefon zu handeln. Unzählige Arbeitsmitteilungen wurden aufgerufen. Ausgehende Post hatte ich mit Frank Kurath, Softwareentwickler bei WWY, Erkergasse 7, 1240 Wien unterzeichnet.
Es war acht Uhr morgens. Mein Wecker hatte um sieben geläutet. Ich hatte keine Ahnung, ob ich zur Arbeit musste oder nicht. Im Grunde war es egal, aber ich wollte nichts riskieren. Eine Suche im Netz verriet mir, dass die Zentrale von WWY nur wenige Kilometer von meiner Wohnung entfernt war. Ich beschloss, dem Büro einen Besuch abzustatten, und malte mir den Plan auf einen Zettel, da ich nicht davon ausgehen konnte, dass das Telefon außerhalb der Wohnung funktionieren würde. Ich hatte Ähnliches schon oft erlebt. Viele der Straßennamen kannte ich, was mich ein wenig beruhigte.
Nach einem Frühstück, das aus zu Zöpfen geflochtenem Brot und einer Paste, die entfernt nach Pistazien schmeckte, bestanden hatte, verließ ich die Wohnung. Ich wusste instinktiv, dass ich die erste Querstraße nach links gehen musste. Auf die Intuition war meistens Verlass.
Zu meinem großen Erstaunen stellte ich fest, dass ich der einzige Fußgänger war und zudem kaum Autos unterwegs waren. Das war ein gutes Zeichen. Denn wenn ich eines beobachtet hatte, dann, dass eine Gesellschaft, die nach wie vor auf Autos setzte, keine allzu hohe Wahrscheinlichkeit auf eine rosige Zukunft hatte. Hier bewegten sich die Menschen vorwiegend auf Fahrrädern fort, die aufklappbare Dächer besaßen.
Die Stadt glich einem Ameisenhaufen. Auf den Straßen herrschte auf den ersten Blick ein wirres Durcheinander, das sich bei näherer Betrachtung als geordnetes Fließen herausstellte. Ich ging so nahe am Straßenrand wie möglich, wo mir der Strom der Radfahrer wie eine elastische Masse auswich. Die Stadt wirkte ruhig ohne den Lärm des morgendlichen Berufsverkehrs. Stattdessen rollten die Menschen fast geräuschlos an mir vorbei. Hin und wieder hörte ich Kinder lachen oder vernahm Wortfetzen von Leuten, die an mir vorüberfuhren. In all das mischten sich der Vogelgesang und das Rauschen der Laubbäume, die in jeder Straße wuchsen, die ich durchwanderte.
Eine ältere Dame stoppte neben mir. »Frank. Ist dein Rad kaputt? Magst du mitfahren? Ich habe auf dem Gepäckträger noch einen Sitz frei.« Sie griff in einen Beutel und zog einen weiteren Sitz heraus.
Ich winkte ab. »Vielen Dank! Mein Fahrrad ist in der Tat kaputt. Ich werde heute zu Fuß gehen.«
»Alles klar. Ich wünsche dir einen schönen Tag.«
Ich hob die Hand zum Gruß und sie trat in die Pedale.
Ein paar Hundert Meter weiter kam ich zu einer Straße, auf der Autos fuhren. Es waren Kleintransporter, Krankenwagen und Lastwagen, die mit großer Geschwindigkeit an mir vorüberrasten. Ich querte die Straße über eine Brücke, und nach fünfzehn Minuten Fußmarsch kam ich auf dem Firmengelände an.
Am Eingang stoppte mich das Wachpersonal, weil ich meine Chipkarte vergessen hatte. Ich war ihnen allerdings bestens bekannt, sodass ich mit einem Ausweis, den ich zu Hause gefunden und eingesteckt hatte, und einigen freundlichen Worten der Ermahnung, die ich über mich ergehen ließ, das Drehkreuz passieren durfte.
Wie an jedem Tag, an dem ich arbeiten musste, war ich nervös. Ich kannte weder meine Kollegen noch mein Büro. Zudem wusste ich nicht, was ich in der Firma eigentlich tat. Von Softwareentwicklung hatte ich keine Ahnung. Ich spazierte an einer Cafeteria im Untergeschoss vorbei, als eine kleine Gruppe meinen Namen rief.
»Guten Morgen, Frank! Komm rüber. Trink was mit uns. Wir können später raufgehen.«
»Ist gut.« Ich konnte mein Glück kaum fassen. Auf Kollegen zu treffen, machte alles einfacher.
Ich bestellte einen Kaffee, der mir in einer Art Reagenzglas überreicht wurde. Da ich wegen der vergessenen Firmenkarte nicht bezahlen konnte, ließ ich meine Schulden notieren, die jedoch gleich von einem der Kollegen, der das Gespräch mit dem Kellner mitbekommen hatte, beglichen wurde. Am Tisch konnte ich Informationen sammeln. Ich war der Chef eines ganzen Geschäftszweiges und der Vorgesetzte aller, die um mich saßen. Die Leute sprachen mich vorsichtig und höflich an. Ich musste nicht viel sagen, sondern hörte zu, antwortete auf Fragen so knapp wie möglich und versuchte – so hatte ich es mir über die Jahre angewöhnt – Gegenfragen zu stellen. Ich hatte gelernt, dass dies die beste Methode war, um an Information zu kommen. Zuerst mit schmeichelnden Fragen Vertrauen schaffen und dann die Menschen einfach reden lassen. Passwörter und Adressen, Firmengeheimnisse und Telefonnummern, beinahe alles hatte ich so erfahren. Ich hatte gelernt, die Menschen auf eine Bühne zu heben und sie dann spielen zu lassen.
Ein großer, rundlicher Mann mit einem Pferdeschwanz kam vom Gang auf mich zu. Er winkte mir und bedeckte, als er vor mir stand, kurz die Augen. Ich stand auf und tat es ihm gleich.
»Danke, dass du mir den Urlaub genehmigt hast, Frank.«
Während er sprach, hielt er eine Hand vor den Mund. Ich tat es ihm gleich. »Nichts zu danken, Hugo.« Seine Firmenkarte hing an einem Band um seinen Hals, auf der sein Bild und darunter sein Name, Hugo Umbert, abgedruckt waren. Solche Dinge fielen mir inzwischen sofort auf.
»Ich freue mich auf ein paar Tage Nichtstun. Ein paar Tage ohne Formeln.« Er lachte und nickte, als würde er seinen eigenen Gedanken zustimmen. »Wenn ein Mathematiker keine Formeln mehr sehen kann, braucht er dringend Urlaub.«
»Das kannst du laut sagen.« Ich nickte und schlug ihm auf die Schulter.
Als wir entschieden, in die Büros zu gehen, kam es zur einzig brenzligen Situation. Eine ältere Dame, die gegenüber von mir saß und deren Haar zu einem strengen Zopf geflochten war, fragte mich, was wir nun tun würden, da das Projekt abgeschlossen war.
Ich blickte in die Runde und sah, wie die Blicke sich erwartungsvoll auf mich richteten. Ich wusste nicht mal, worum es bei dem alten Projekt gegangen war, was die Firma überhaupt machte.
»Liebe Kollegen, wir werden uns nun, da wir viel geleistet haben, Zeit nehmen. Zeit für eine … wie soll ich es nennen … Zeit für eine kreative Klausur.«
Mit einem Mal wurde es ruhig am Tisch. Alle blickten mich an, als hätte ich etwas Unmögliches gesagt. Dann stellten die Kollegen ihre Gläser ab und begannen, leise und vollkommen synchron zu klatschen.
»Großartige Wortwahl, Frank. Ich freue mich darauf, diesen Weg mit dir zu gehen«, sagte der Mathematiker. Die anderen nickten.
Als wir zum Lift kamen, war ich bemüht, als Erster einzusteigen. Bewusst ging ich an die Rückwand und wählte kein Stockwerk aus.
»Ich drück für dich, Frank. Du musst in dein Büro im vierzehnten Stock, nehme ich an?«
Ich blickte den jungen Anzugträger an, der in der Cafeteria zwei Sitze weiter gesessen war, und nickte ihm wortlos zu. Die anderen verließen den Aufzug vor mir, und so fuhr ich allein in den vierzehnten Stock. Ich trat in einen offen gestalteten Bereich, in dem zwischen raumhohen Topfpflanzen einige Sitzgruppen standen. Eine kleine Teeküche befand sich in der hinteren Ecke. Auf der linken Seite führten Türen in Büros mit halbtransparenten Wänden. Ich ging zielstrebig hinüber und entdeckte meinen Namen an der zweiten Tür. Sie ließ sich zum Glück ohne Chipkarte öffnen, und ich nahm an dem großen Schreibtisch Platz.
Der Computer startete automatisch und eine Stimme begrüßte mich. »Guten Morgen, Herr Doktor Kurath. Soll ich Ihnen die Agenda des heutigen Tages zusammenstellen?«
»Ich bitte darum«, entgegnete ich, ohne zu wissen, woher die Stimme kam und wem sie gehörte.
»Sie wollten sich heute zuerst mit der Nachbesetzung der Stelle von Patrick Craemer beschäftigen. Ich habe die Lebensläufe der Kandidaten zusammengefasst und zeige Ihnen die Daten auf Ihrem Monitor.«
Auf dem Bildschirm erschien ein Dokument mit vier Namen.
»Danach wollten Sie sich einer neuen Simulation zuwenden und den Plan, den Ihr Team ausgearbeitet hat, konkretisieren. Der Abgabetermin des Konzepts an Georg Buckner ist in neun Wochen.«
»Ich habe es mir anders überlegt. Ich würde gerne mit den Plänen der Simulation starten und die Lebensläufe erst gegen Ende des Tages durchsehen.« Ich hatte keine Lust, folgenschwere Entscheidungen über Bewerber zu treffen, wenn ich nichts über die Firma wusste. »Bitte stellen Sie mir eine Übersicht des Projekts und der Pläne meines Teams zusammen. Und führen Sie bitte an, wie sich das Projekt in die Gesamtstrategie der Firma eingliedert. Bitte gestalten Sie den Umfang so, dass ich das Material in dreißig Minuten durchsehen kann. Während dieser Zeit wünsche ich, nicht gestört zu werden.«
Ich wusste nicht, wie die Person hinter der Stimme reagieren würde. Ich musste eine hohe Position in dem Unternehmen bekleiden, und so schien es mir angebracht, mit meiner Sekretärin, die ich hinter der Stimme vermutete, in einem fordernden Ton zu sprechen.
»Natürlich, Herr Doktor Kurath. Ich habe Ihnen die Informationen zusammengestellt und das Dokument ist nun auf dem Monitor sichtbar. Da Sie nicht gestört werden wollen, möchte ich Sie darauf hinweisen, dass ich die nächsten dreißig Minuten in den Inaktivitätsmodus schalten werde und nur durch die Codewörter ›Computer reaktiviere‹ geweckt werden kann.«
Ich musste lachen. »Danke … ähm … Computer!«
Die nächsten dreißig Minuten widmete ich mich dem, was mein Computer bereitgestellt hatte. Schon nach den ersten beiden Folien war ich hellwach und vom Inhalt begeistert. WWY verdiente Geld mit der Erstellung von Prognosen anhand von Simulationen alternativer Szenerien der Welt. Das Untersuchungsobjekt konnte eine Wohnung, eine Stadt, eine Nation oder der ganze Planet sein. Die weitere Entwicklung einer Stadt konnte zum Beispiel aus der millionenfachen Simulation der kommenden Jahre unter Variation der Eingangsparameter errechnet werden. Zwar waren die Ergebnisse nur Wahrscheinlichkeiten, doch der Erfolg der Firma musste beträchtlich sein. Vor allem im städtebaulichen Bereich konnte die Preisentwicklung einzelner Bezirke und selbst einzelner Immobilien sehr genau vorhergesagt werden. Das Informationsmaterial schloss mit einem Gedankenspiel eines Philosophen, wonach es wahrscheinlicher war, dass wir alle in einer Computersimulation lebten als in der realen Welt.
Ich hielt inne. Mit der Simulationstheorie hatte ich mich in all den Jahren noch nicht eingehend beschäftigt. Konnte in ihr der Schlüssel zu meinem Schicksal liegen?
Da ich den Abend nicht allein verbringen wollte, ging ich auf dem Heimweg in eine Bar. Ich wählte eine, in der ich Leute am Tresen sitzen sah. Es stank nach Schweiß, aber ich gewöhnte mich schnell daran. Eine Band sorgte für Hintergrundmusik. Zwei Damen und ein Herr bespielten ein eigentümliches Saiteninstrument, das die ganze Bühne ausfüllte. Ich hatte etwas Vergleichbares noch nie gehört. Lang gezogene Töne gingen ohne Pause ineinander über, und manchmal hielten sie einen Akkord für mehrere Minuten.
An der Bar bestellte ich mit der Gegenfrage: »Was würden Sie nach einem harten Arbeitstag trinken?«
Der Kellner reichte mir ein schäumendes Getränk, in dem Kügelchen schwebten. Ich nahm am Tresen Platz und starrte wie die um mich Sitzenden auf einen Bildschirm, der neben der Bar angebracht war. Der Ton war abgeschaltet, sodass ich nur den Bildern folgen konnte. Es musste sich um einen Nachrichtenkanal handeln. Kurze Themenblöcke wechselten sich in der üblichen Hektik ab. Ich verlor schnell das Interesse, drehte mich um und sah in Richtung der Tische. Die Menschen saßen nah beieinander und redeten im Flüsterton. Wenn sie lachten, bedeckten sie mit einer Hand den Mund, als schämten sie sich, eine Gefühlsregung zu zeigen. Wenn jemand aufstand und den Tisch verließ, bedeckte die Person mit den Händen kurz die Augen und verneigte sich, wie ich es zuvor in der Firma gesehen hatte. Wie die Töne der Musik flossen die Bewegungen der Menschen an einem Tisch ineinander, bis alle Anwesenden für einen Moment in einer Pose verharrten. Zudem fiel mir auf, dass nur gemeinsam getrunken wurde. Griff eine Person nach dem Glas, dann taten es auch alle anderen am Tisch.
Ich verbrachte die nächste Stunde beobachtend und trinkend. Wie üblich! Das Verhalten faszinierte mich, und die ruhige Atmosphäre entfaltete eine angenehme Wirkung. Ich sackte immer tiefer in meine Gedanken und musste an die letzten Stationen meiner Reise denken. Griechenland. Davor Wien. Nun wieder Wien, das sich während meiner Abwesenheit stark verändert hatte. Ich dachte an Clara, der ich alles erzählt hatte. Sie hatte mir den Rat gegeben, einen Psychologen aufzusuchen. Das wollte ich in den nächsten Tagen tun.
Als ich heimkam, war ich betrunken. Die Wohnung machte den verlassenen Eindruck jener Immobilien, die in den Hochglanzmagazinen der Makler ein Bild des Glücks vermitteln sollten, dabei jedoch kläglich versagten, weil nicht das Leben, sondern die plumpe Absicht, zu gefallen, die Möbel arrangiert hatte. Kein Gegenstand kam mir bekannt vor. Kein Möbelstück war abgelebt, die Glasflächen hatten keine Kratzer und keiner der Teppiche war abgetreten oder ausgebleicht. Ganz so, als wäre die Wohnung nach ihrer Fertigstellung in Formalin eingelegt und konserviert worden. Den Stil der Bilder kannte ich nicht, doch er fügte sich gänzlich in die Belanglosigkeit der Einrichtung ein. Es musste sich um zeitgenössische Kunst handeln, zu deren Geschichten ich keinen Zugang hatte. Ich mochte Farbspritzer und gegenstandslose Flächen nur, wenn ich wusste, aus welchen Betrachtungen heraus sie geschaffen worden waren. Die Bilder in der Wohnung konnten sonst was darstellen.
Als der Alkoholschwindel langsam nachließ, ging ich zum Bücherregal im Wohnzimmer. Ich hoffte, dort etwas zu finden, das Brücken in meine eigene Vergangenheit schlagen konnte. Die Bücher waren thematisch und dann alphabetisch sortiert. Das verstärkte den Eindruck, dass die Wohnung eher ein Ausstellungsraum als ein Ort des Familienlebens war.
Im Abschnitt für Philosophie fand ich viel Sekundärliteratur. Schmöker über die Denkgeschichte. Ich verlor schnell das Interesse. Als ich mich schon abwenden wollte, fielen mir jedoch zwei dünne Bücher von Friedrich Nietzsche ins Auge. Ein außerordentlicher Glücksfall. Nietzsche war einer jener Philosophen, die mich durch die Zeit begleiteten. Ich hatte sein Werk etliche Male gelesen. Zielsicher blätterte ich in der »Fröhlichen Wissenschaft« umher, bis ich die Stelle gefunden hatte. Amor fati: das sei von nun an meine Liebe! Ich will keinen Krieg gegen das Hässliche führen. Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. Wegsehen sei meine einzige Verneinung! Und, alles in Allem und Großen: Ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein!
Ich stellte das Buch zurück ins Regal und fühlte mich entspannt. In der Küche öffnete ich eine Flasche Wein und trank sie im dunklen Wohnzimmer, in das der Lichtsmog der Stadt drang. Nietzsche. Wie er nach Jahren der Reise in Genua zum ersten Mal das Meer gesehen hatte. Ob meine aussichtslose Suche nach dem richtigen Ort je enden würde, war das Einzige, was mich interessierte.
Der nächste Tag in der Arbeit war bereits Routine. Ich kannte die meisten Leute meines Teams und gab ihnen bei einer Besprechung einige Anweisungen. Auch hier hielt ich mich an das, was ich über die Jahre in vergleichbaren Positionen gelernt hatte. Da ich über kein fachspezifisches Wissen verfügte, verließ ich mich auf die Hierarchie und das inhaltslose Geschwafel, das die Chefetagen vieler Computerfirmen erfüllte. Auch wenn alles, was ich sagte, nach einem einzigen Klischee klang, schien es gut zu funktionieren.
»Denkt an unsere Werte.«
»Ich vertraue voll auf die Expertise des Teams, die besten Lösungsvorschläge zu finden.«
»Was braucht ihr, um die nächsten Aufgaben zu lösen?«
»Wir sind ein Innovationsunternehmen. Ich bin hier, um euch die notwendigen Ressourcen zu beschaffen. Die kreativ-technische Arbeit ist in euren Händen.«
Da sich niemand beschwerte, hatte ich den Ton wohl sehr gut getroffen. Alle nickten energisch und gingen nach der Besprechung wieder an ihre Arbeitsplätze. Ich hatte den Ethikkodex der Firma am Tag zuvor in der Präsentation auf meinem Computer gefunden. Zwei Seiten generischer Handlungsanweisungen, die ich inzwischen selbst im Halbschlaf besser hätte formulieren können. Ein Gefühl des Stolzes, aber auch der Dankbarkeit erfasste mich. Ich hatte mich in nur einem Tag eingearbeitet. Je weiter oben mein Posten in einer Firma war, desto einfacher war es für mich. Im besten Fall musste ich nur noch einige Initiativen zu sozialen Themen anstoßen. Ich hatte das vor über zehn Jahren zum ersten Mal erlebt und hatte kaum glauben können, so viel Geld dafür zu bekommen. Doch Geld interessierte mich nicht im Geringsten. Es war ein System des Glaubens, das ich schon zu oft hatte kollabieren sehen.
Nach dem Meeting fragte ich den Computer, ob ich mir den Rest des Tages freinehmen könnte. Das Wort Urlaub wurde vom System für meine Position nicht verstanden. »Sie können nach Belieben kommen und gehen«, war die Antwort. Auch das Wort »Psychotherapeut« war dem System nur im historischen Kontext bekannt. Es schien seit über zwanzig Jahren nicht mehr verwendet zu werden. Genauso die Wörter »Psychologie« oder »Seelenkunde«. Ich probierte es mit dem Suchbegriff »Aussprache« und hatte Erfolg.
Es gab in Wien Hunderte Zentren für Aussprachen. Ich notierte mir die Adresse des Nächstgelegenen und machte mich auf den Weg. Das Fahrrad, das ich zu Hause gefunden hatte, war überaus komfortabel, und so rollte ich entspannt durch den vierundzwanzigsten Bezirk Richtung Innenstadt.
Das Haus der Aussprachen im Bezirk Wieden war ein Altbau und wirkte wie ein Wohnhaus. Die Tür ließ sich mit einem leichten Druck öffnen. Ich sah niemanden und ging durch ein nichtssagendes Treppenhaus in den ersten Stock. Der Gang war nicht beleuchtet, aber beiderseits lagen unbeschriftete Türen. Im zweiten Stock sah ich über einer Tür ein mattes blaues Licht. Dort klopfte ich.
»Herein!«
In einem Wartezimmer wurde mir ein Termin in dreißig Minuten angeboten, den ich nickend annahm. Ich entschloss mich, vor Ort zu warten, und blätterte in ein paar Wissenschaftsmagazinen, in denen die chemischen Strukturen neuer Krebstherapeutika besprochen wurden.
Nachdem ich aufgerufen wurde, betrat ich den Behandlungsraum, in dem zwei ältere Damen in einladenden Polstersesseln saßen. Dazwischen ein Lampenschirm und davor ein Glastisch, auf dem einige Zettel lagen. Ein dritter Sessel stand den beiden gegenüber. Ansonsten war der Raum vollkommen leer. Ich erkannte ein Wandgemälde, doch da die Fenster fast vollständig abgedunkelt waren, konnte ich nur konturlose Farbflächen ausmachen.