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»Der Mensch ist ein Seil geknüpft zwischen Tier und künstlicher Intelligenz. Ein Seil über einem Abgrund.« [Frei nach Friedrich Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«.] Nora lebt in einem idyllischen Dorf, behütet von Maschinen, frei von Krankheit – eine letzte Bastion der Menschheit, umgeben von Wildnis. Doch als sie die Grenzen ihrer Welt überschreitet, erkennt sie, dass ihr Leben Teil eines gigantischen Experiments ist. Der einzige Weg zu Freiheit und Selbstbestimmung führt durch die Flucht vor ihrem vermeintlichen Beschützer.
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Seitenzahl: 479
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Ralph Alexander Neumüller
Das zweigeteilte All
Roman
AndroSF 208
Ralph Alexander Neumüller
DAS ZWEIGETEILTE ALL
Roman
AndroSF 208
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: Dezember 2024
p.machinery Michael Haitel
Titelbild: Klaus Brandt
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 433 5
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 710 7
Der Mensch ist ein Seil
geknüpft zwischen Tier und künstlicher Intelligenz –
ein Seil über einem Abgrund.1
Aus den gesammelten Schriften von C420024C
»Warum soll ich laufen, wenn ich sooo schnell krabbeln kann?«
Herr Peterson lachte, zog die kleine Emma zu sich und stupste mit seiner Nase an ihre.
»Ich finde das nicht lustig.« Seine Frau schüttelte den Kopf. Sie griff nach ihrer Tochter, drückte ihr einen Schmatz auf die Stirn und stellte sie vor sich auf die Beine. Emma torkelte eine Weile. Dann sackte sie mit dem Hintern auf den Boden und kroch zu einer Kiste mit Holzklötzen.
»Bitte entschuldige, Rob. Mein Mann redet … Unsinn. Er will nicht begreifen. Sie geht keinen Schritt!« Frau Peterson senkte den Blick und hielt den Handrücken an ihren Mund. Ihr Körper zitterte. »Clarissa ist genau so alt wie Emma und läuft seit fast einem Jahr.« Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und wischte Tränen von den Wangen. Dann atmete sie einige Male tief ein und aus. »Müssen wir uns Sorgen machen?«
Rob rückte in seinem Sessel nach vorne und beugte sich zu Emma. Sie hatte die Kiste inzwischen ausgeleert und schob die Klötze mit beiden Armen am Boden herum. Er strich ihr mit der Hand über den Kopf. Sie drehte sich zu ihm und plapperte los: »Iste. Iste.«
»Sie ist jetzt fast zwanzig Monate alt«, flüsterte Frau Peterson und presste ihre Lippen zusammen, sodass alle Farbe aus ihnen wich. Ihre Augen waren gerötet und die Venen an ihrem Hals traten hervor.
Ihr Mann rückte zu ihr, nahm sie an der Schulter, wollte sie zu sich ziehen, doch Frau Peterson wand sich aus der Umarmung und starrte Rob an.
Emma kroch über einige Klötze hinweg, hinein in die Kiste, sodass nur ihre strampelnden Beinchen zu sehen waren. »Iste. Iste. Eini.« Sie griff nach einem der Bauklötze und schlug gegen den Boden der Holzkiste. »Eini.«
»Ihr müsst euch keine Sorgen machen.« Rob lehnte sich im Sessel zurück, der unter seinem Gewicht ächzte. Er überschlug die Beine und sagte nichts, während er Emma beobachtete. Sie kroch zu ihrer Mutter, die sie auf den Schoß zog. »Sie lässt sich eben Zeit. Oft finden die wichtigsten Schritte des Lebens im Verborgenen statt.« Rob lächelte. »Drängt sie nicht. Gebt ihr Raum, sich zu entwickeln. Sie wird ihren Weg finden und ihn dann auch gehen. Ich bin mir sicher, dass sie euch bald überraschen wird.« Er nickte kaum merklich und schloss die Augen.
Frau Peterson überhäufte ihre Tochter mit Küssen auf die Wangen, doch Emma wand sich im Griff ihrer Mutter und streckte die Hand nach der Holzkiste aus. »Iste. Eini.«
»Ja, wir räumen die Klötze dann ein«, flüsterte Frau Peterson und strich mit ihrer Nasenspitze über Emmas Wangen.
»Ist sie spät dran?«, fragte Rob und rückte erneut im Sessel nach vorne. »Ja. Durchaus. Aber eure Tochter ist kerngesund. Ihre Entwicklung ist noch in der normalen Schwankungsbreite.« Er fuhr mit seinen Händen über die Armlehnen. »Die Ergebnisse der letzten Proben sind unauffällig. Alles ist in Ordnung. Emma wird sich gut entwickeln. Sie ist hoch intelligent und geht vielleicht deshalb noch nicht: Weil sie so schlau ist, sich lieber tragen zu lassen.«
Frau Peterson lächelte, doch sie verzog nur ihren Mund. Der Ausdruck in ihren Augen blieb besorgt. Sie zupfte ihr Hemd zurecht, das Emma gleich wieder über die Schulter zog, als sie nach dem Kinn ihrer Mutter griff, um ihren Kopf zur Kiste zu drehen.
»Danke, dass du vorbeigekommen bist«, sagte Frau Peterson, während Rob aufstand. »Ich bringe die kleine Maus jetzt ins Bett.« Mit ihrer Tochter auf dem Arm verließ sie den Raum, ohne sich nach ihrem Mann umzusehen.
Peterson begleitete Rob bis vor die Tür, hinab zum Gartentor und weiter zum Grundstück der Nachbarn.
»Entschuldige ihr Benehmen«, sagte er und rieb sich mit seiner Hand, die in einen Verband gewickelt war, das Kinn. »Sie macht sich Sorgen. Unsägliche Sorgen.«
»Ich war das vierte Mal wegen Emma bei euch.« Robs Schritte knirschten am Kies.
Peterson stapfte durch die Wiese neben dem Weg und schwieg.
»Ich sage euch jedes Mal das Gleiche. Ich habe sie untersucht. Auch die Gene. Es ist alles in Ordnung. Menschen sind keine Maschinen. Gebt ihr Zeit!«
»Ich weiß. Meine Frau ist manchmal hysterisch.«
»Wie so viele hier«, entgegnete Rob und hielt inne. Er sah Peterson eine Weile an, dann legte er ihm die Hand auf die Schulter. »Das wird schon. Macht euch um eure Tochter keine Sorgen. Ihr seid zu ängstlich. Es wird alles gut. Sie ist gesund.«
Peterson griff nach seiner Hand und drückte sie, soweit das die Verletzung zuließ. »Danke.«
»Schmerzen?«
Peterson betrachtete den Verband. »Es wird mit jedem Tag besser.«
Rob nickte, wandte sich ab und winkte zum Abschied. Er ging am Zaun der Nachbarn entlang. Die weiß gestrichenen Bretter schimmerten im Dämmerlicht wie gefletschte Zähne. In einigen Häusern flackerte Kerzenlicht und irgendwo bellte ein Hund.
Rob verbrachte die Nacht mit Schrauben, Löten und Programmieren. Schmale Rauchsäulen stiegen von der Werkbank durch den Kegel der Tischlampe hinauf in die Dunkelheit. Vor ihm blinkte ein Cursor. Rob diktierte Anweisungen, die der Computer in formalisierte Instruktionen übersetzte. Er sandte Berichte, setzte einen Chip in eine Speicherbank und prüfte die Erweiterung des Laufwerks mit einigen Befehlen. Dann tauschte er die Linse einer Kamera und sicherte die Aufnahmen auf dem zentralen Rechner. Er würde sie am folgenden Tag durchsehen. Gerade zog er eine Karte aus seinem Kasten und griff nach einem Stift, um die neuen Wasserrohre einzuzeichnen, die er mit Steffen verlegt hatte, da bekam er die Nachricht.
»Töten Sie alle!«
Rob prüfte den Befehl. Alles war ordnungsgemäß unterzeichnet. Der Ausschuss für Ethik, das Komitee für Sicherheit und biologische Diversität, alle hatten das Urteil unterstützt. Die digitalen Siegel waren echt.
Ohne zu zögern, öffnete Rob den Waffenschrank. Er nahm vier Gewehre und genau zweihundertzweiundzwanzig Schuss Munition heraus, stopfte alles in eine Tasche und verließ die Wohnung.
Das Dorf lag friedlich in der Morgensonne. Hühner gackerten und Hunde streunten zwischen den Hütten umher. Etwas weiter entfernt hörte Rob die Kühe der Petersons und ein quietschendes Gartentor. Wieder knirschte der Kies unter seinen Schritten, als er vom Marktplatz in eine der Seitengassen bog.
Wie es das Protokoll vorgab, schraubte er den Schalldämpfer auf ein Gewehr und öffnete die Eingangstür des ersten Hauses. Nichts rührte sich bis auf den Staub, der im Morgenlicht herumwirbelte. Auf dem Esstisch lagen Holzperlen und Zettel mit Kindergekritzel. Neben der Feuerstelle hingen Geschirrtücher und Schürzen. Töpfe, Holzteller und Gläser standen auf der Anrichte, penibel nach Größe und Farben geordnet. Darüber baumelten Knoblauchzwiebeln, Hartwürste und getrocknete Kräuter von einem Balken. Rob ging daran vorbei und lud das Magazin. Er war oft in dem Haus gewesen und kannte jeden Winkel.
Die Tür zum Schlafzimmer war nicht verschlossen. Er schob sie auf und sah Peterson im Bett liegen. Erst vor einer Woche hatte er ihn verletzt aus dem Kuhstall gezogen. Rob betrachtete den Verband, der den Daumen stabilisierte. Dann zielte er zwischen die Augen und drückte ab. Er wartete einige Sekunden, lauschte in die Stille des Hauses, doch nichts regte sich. Also ging er weiter.
Im Kinderzimmer lag die kleine Emma neben ihrer Mutter. Ohne zu zögern, zielte er zuerst auf Frau Peterson. Ihr Kopf fiel nach hinten und das Kissen färbte sich rot. Emma lag auf dem Bauch und bewegte sich, griff nach ihrer Mutter. Rob schoss ihr in den Hinterkopf. Noch zweihundertneunzehn.
Durch die Terrassentür trat er ins Freie. So, wie er es in den letzten Jahren immer getan hatte, ging er um die Gemüsebeete der Petersons herum, trat nicht auf die Salatpflanzen und die Möhren. Die Gießkanne lag zwischen den Blumen. Frau Peterson musste sie liegen gelassen haben. An jedem anderen Tag hätte er sie aufgehoben, aufgefüllt und neben die Regentonne gestellt. Heute ging er weiter.
Das Haus der Ebners grenzte an den Holzzaun. Rob bemerkte das offene Fenster im Erdgeschoss und entschloss sich, nicht durch die Hintertür zu gehen. Drinnen war es still. Die Katze lag auf dem Schaukelstuhl und schlief. Als er an ihr vorbeiging, drehte sie ihre Ohren und begann, zu schnurren. Auf dem Tisch lagen Gestecke und Blumensträuße. Die Stricknadeln hatte Frau Ebner in ein rotes Wollknäuel gesteckt und es neben der kleinen Weste, die sie für Emma strickte, abgelegt. Der Boden knarzte leise, und Rob bemühte sich, auf die Teppiche zu treten.
Als er der Treppe näherkam, hörte er, dass im ersten Stock jemand duschte. Rob wechselte in den Laufschritt, nahm zwei Stufen auf einmal und drückte die Tür auf. Frau Ebner stand mit dem Rücken zu ihm nackt in der Dusche. Ein Schuss in den Hinterkopf. Ein dumpfer Knall erfüllte den Raum, als ihre Stirn gegen die Wand schlug. Leblos glitt ihr Körper in die Wanne, in der sich das Blut mit dem Wasser vermischte und in den Abfluss rann. Nur das Prasseln der Dusche war zu hören. Zweihundertachtzehn.
Er prüfte die Zeit, es war nach sechs Uhr morgens. Er musste schneller vorankommen. Wenn die Menschen aufwachten, würde es Schreie geben, sogar eine Panik. Am Ergebnis würde das jedoch nichts ändern.
Zwanzig Minuten später. Einhundertvierzig. Nichts regte sich. Keine Panik. Keine Schreie. Der alte Müller war aufgewacht und hatte ihn mit großen Augen angeblickt. »Warum?«, hatte er gefragt und seine Hände wie zu einem Gebet gefaltet. »Lass meinen Sohn am Leben!« Rob hatte ihm durch die Stirn geschossen. Eine Minute später hatte er die Tür zum Kinderzimmer geöffnet und das Kind getötet.
Als er am Ende der Straße die Seite wechselte, sahen ihn die Männer und Frauen der Gemüsebauern, die ihre Karren auf dem Marktplatz parkten und die Verkaufsstände aufbauten. Sie winkten ihm aus einiger Entfernung zu. Rob fiel wieder in einen Laufschritt, nahm zwei halb automatische Gewehre und schoss. Ohne Schalldämpfer. Jeder Schuss ein Treffer.
Von da an herrschte Chaos. Kreischende Menschen verließen die Häuser durch die Hintereingänge Richtung Wald, doch Rob spürte sie mit seiner Wärmebildkamera auf. Eltern schoben sich vor ihre Kinder und flehten. Blickten ihn mit Tränen in den Augen an. Er drückte ab. Erst die Eltern dann die Kinder. Manchmal umgekehrt, je nachdem, wen er vor den Gewehrlauf bekam. Türen wurden verriegelt und Kellerzugänge verbarrikadiert. Rob brach sie mühelos auf. Einige Menschen organisierten sich spontan und schossen mit Schrotflinten auf ihn. Eine Gruppe, die sich in einem Haus verschanzt hatte, versuchte, Rob mit Säure zu überschütten. Alles kein Problem für ihn. Er machte weiter.
Nach über einer Stunde war es wieder still. Nur zwei Dorfbewohner waren noch am Leben. Von der Straße aus sah Rob ihre Signaturen genau dort, wo in der Früh alles begonnen hatte. Sie hatten in seiner eigenen Wohnung Schutz gesucht.
Als er sie betrat, sah er nur Clara Baumann. Sie stand mit erhobenen Händen mitten im Wohnzimmer. Rob zögerte. Er konnte die zweite Wärmesignatur, die er zuvor registriert hatte, nicht mehr ausmachen. Wo war Steffen? Er blickte sich um, doch es war nichts zu sehen.
»Warum hast du das getan, Rob?« Claras Stimme zitterte und sie hatte Tränen in den Augen.
»Befehl.«
»Du solltest uns beschützen und nicht töten. Warum?«
»Es ist mir untersagt, den Beschluss zu kommentieren.«
Wo war Steffen?
Rob öffnete die Tür zum Wartungsraum. Kabel, Zangen, Tastaturen und Bildschirme lagen wie immer auf der Werkbank. Die LED-Lichter der Rechner blinkten und der Ventilator surrte leise. Er schlich an den Schränken mit Ersatzteilen vorbei. Festplatten, Schrauben, Schmieröl, Eisenrohre und Sensenblätter lagen in den Regalen. Nichts war verändert. Nur die Gegenstände auf seinem Arbeitstisch waren verrutscht. Am Boden davor glitzerten Glassplitter in der Morgensonne, doch der Hauptcomputer war wie immer eingeschaltet, und auf dem Bildschirm blinkte der Cursor. Rob registrierte keine Wärmesignatur. Er bückte sich, um unter den Tisch zu spähen. Dann öffnete er einen der Wandschränke. Nichts. Nur Spaten, Eimer, Grabgabeln und einige Rechen zur Gartenarbeit. Er ging in den hinteren Teil des Raums, der nicht beleuchtet war und sich zu einer Tür ins Nebenzimmer hin verengte.
Plötzlich hörte er ein Rascheln vor sich. Er zog die Waffe. Etwas traf ihn am Bein. Vor ihm war Steffen aus einem Spalt zwischen den Schränken getreten. Er hatte sich in eine der Thermofolien, mit denen Drohnenlieferungen verpackt waren, gewickelt und hielt eine Hacke in der Hand. Rob blieb stehen und richtete die Waffe auf ihn. Er würde die Folien in Zukunft vernichten.
Von hinten trat Clara neben Steffen und stellte sich mit erhobenen Armen zu ihm.
»Ich habe es geahnt! Du Scheusal.«
Rob sagte nichts.
»Warum haben wir Tage und Nächte in diesem Raum gesessen und Geräte repariert? Warum hast du uns die Rechenmaschinen erklärt, wenn du uns jetzt abschlachtest? Du Monster!«
Stumm lud Rob die letzten beiden Kugeln in die Waffe.
»Rede, du verdammtes Arschloch!«
Steffen schleuderte seine Hacke auf Rob. Sie traf ihn an der Schulter. Er beachtete sie nicht.
»Rede!«
Rob stand vor ihnen, ohne sich zu bewegen.
»Rede endlich! Warum?« Tränen füllten Steffens Augen. Seine Lippen bebten.
»Befehl«, sagte Rob, ohne etwas anderes als seinen Mund zu bewegen.
Da zog Clara eine Pistole aus ihrem Hemd und zielte auf Rob. Im Bruchteil einer Millisekunde analysierte er die Situation und erkannte, dass die beiden nicht den Hauch einer Chance hatten. Er neigte den Kopf. Steffen murmelte etwas vor sich hin. Clara griff nach seiner Hand. Kurz bevor sie sich berührten, schoss er erst Clara und dann Steffen mit den letzten Kugeln in den Kopf.
Danach wurde es still, und nur die quietschende Gartentür der Petersons war zu hören.
Ohne die leblosen Körper weiter zu beachten, verstaute Rob die Gewehre in den Schränken und trat an seinen Computer, um eine Nachricht zu senden. Alles sei wie befohlen erledigt worden. Keine besonderen Vorkommnisse. Er aktivierte, wie es das Protokoll vorsah, ein Programm, das dafür sorgen würde, dass von dem Dorf nichts übrig bleiben würde. Zunächst würden die Müllroboter ihren Dienst antreten und die Leichen auf dem Marktplatz verbrennen. Dann würden sie die Häuser abtragen und die Wege zurückbauen, später die Tiere freilassen oder schlachten. In wenigen Monaten würde nichts mehr an die Siedlung erinnern. Gelöscht wie eine formatierte Speicherbank. Rob hatte dies schon dreimal genauso erlebt.
Nach einigen Minuten registrierte er ein Blinken an seinem Rechner, das den Eingang einer Nachricht signalisierte.
»Melden Sie sich in der Zentrale. Ihr Computer war zweiundvierzig Millisekunden offline.«
Erneut prüfte Rob die digitalen Siegel, die die Echtheit der Botschaft bezeugten.
»Wird eine Drohne kommen, die mich abholt«, schrieb er.
»Negativ. Wir haben nicht protokollierte Sendeaktivitäten registriert. Sie gehen und nehmen eine Kapsel im Tunnel 2.«
»Wann?«
»Unverzüglich.«
Er nickte und verließ wenig später das Dorf.
Rob nahm den Weg durch die Sümpfe. Trübes Wasser umschwemmte Kiefernstämme und Grasbüschel. Überall krabbelten glitzernde Käfer, und Mückenschwärme flogen durch die Luft. Verborgenes Leben surrte in den Gräsern, über den Tümpeln und zwischen den Bäumen. Ein Holzsteg, den er mit dem alten Peterson und Steffen gezimmert hatte, führte zum Fluss. Er trat sachte auf die Bretter, die unter seinem Gewicht wippten. Kein einziges Mal blickte er sich um.
Mit hochgekrempelten Hosenbeinen durchwatete er den Strom an einer seichten Stelle flussaufwärts. An jedem anderen Tag hätte er seinen Rucksack auf dem Kopf balanciert, doch heute hatte er nichts dabei. Er war sofort aufgebrochen.
Hinter dem Fluss erstreckte sich das Grasland. Dort wo vor Jahrhunderten alle Wälder gerodet und die Böden versiegelt worden waren, überzogen Wiesen und Sträucher die Hügel und ließen die Erhebungen wie Wellen wirken. Wie ein vormals flüssiges Land, das nun ausgehärtet vor ihm lag.
Rob nahm den direkten Weg. Seine Spur durch das hüfthohe Gras entsprach genau der Luftlinie, die wie in das Hügelland gezeichnet wirkte. Er war den Weg schon einige Male gegangen und kannte das Gelände, jede Erhebung und jede Absenkung, jeden dünnen Waldstreifen im Grasland.
Auf halbem Weg kam er an einer verfallenen Siedlung vorbei. Eingestürzte Dächer lagen zwischen überwachsenen Mauern. In der Mitte des Dorfs erhob sich ein Turm, dessen Fenster und Türen herausgebrochen waren. Davor ragten Messingkreuze in allen nur denkbaren Winkeln aus der Erde, umgeben von einer verfallenen Mauer, auf der Vögel nisteten.
Die Straßen waren mit ausgebrannten Öfen, verrosteten Karosserien, alten Bildschirmen und Autoreifen überzogen, über die Rob hinwegstieg. Dazwischen lagen Plastikspielzeug und anderer Unrat. Der Asphalt war aufgesprungen und Grasbüschel wuchsen zwischen den Ritzen hervor.
Unbeirrt hielt Rob an der direkten Linie fest. Am Dorfrand weidete Rotwild. Eine Hirschkuh stand erst wie versteinert inmitten der Ruinen und sprang Richtung Wald, als er näher kam.
Selbst in der Nacht marschierte Rob weiter. Eine Stirnlampe leuchtete ihm den Weg. Als einsamer Lichtkegel schob er sich in der immer gleichen Geschwindigkeit durch die Landschaft, ähnlich den Satelliten, die am Himmel ein Muster woben.
Kurz vor Mittag des nächsten Tages erspähte Rob die gerade Linie des Überlandtunnels am Horizont. Sie hob sich wie mit einem Messer geschnitten vom Himmel ab und zog sich quer über das Land. Als er näher kam, sah er sein Spiegelbild, das von den verglasten Teilen der Wände zurückgeworfen wurde. Seine Haut war makellos, das Haar kurz geschoren wie immer und die Augen ausdruckslos. Sein Hemd war eingerissen und mit roten Flecken übersät. Er zog es aus und trat an die Wand heran. Als er die Oberfläche berührte, öffnete sich eine Tür, wo zuvor nichts gewesen war.
Der Tunnel war kühl und hell. Rohre liefen an der Decke entlang und Transportkapseln schossen wie Projektile über seinen Kopf hinweg. An der Wand erschienen Zahlenreihen, die er studierte und dann mit seinen Fingern berührte. Wenig später hielt eines der Fahrzeuge neben ihm. Rob stieg in die gläserne Kapsel und nahm Platz. Um siebzehn Minuten nach vierzehn Uhr setzte er sich Richtung Zentrale in Bewegung, genau so, wie er es tags zuvor geplant hatte.
Die Untersuchungen dauerten über sieben Stunden. Er wurde an Geräte angeschlossen. Ihm wurden Substanzen verabreicht. Sein Körper wurde an verschiedenen Stellen geöffnet. Zudem hatte er Fragen zu beantworten und Aufgaben zu lösen. Alles geschah in mechanischer Präzision und in der gewohnten Geschwindigkeit. Nicht einmal zögerte er, nicht einmal dachte er länger als den Bruchteil einer Sekunde nach.
Danach saß Rob in einem Sessel, von dem aus er über einen bewaldeten Abhang auf eine Siedlung blicken konnte. Die Bauten waren von Äckern und Teichen umgeben, zwischen denen Kanäle und Wege zu den Häusern verliefen. Dahinter standen Fertigungshallen in langen Reihen. Transportkapseln schossen in festen Abständen durch Glastunnel, die die Gebäude verbanden. Drohnen flogen in Schwärmen durch die Luft und sammelten sich über den Feldern. Er überblickte gewaltige Fabrikstätten, Abgüsse der immer gleichen Form. Riesige Türme, die als Lagerstätten für Nahrungsmittel, Einzelteile und seltene Erden dienten, waren längs eines Flusses gebaut worden. Überall erstreckten sich meterdicke Pipelines. Elektrizitätswerke und Solarkollektoren waren über die Stadt verteilt, und Stromkabel durchzogen das Areal wie ein Geflecht von Adern.
Am Horizont sah Rob Bauroboter, die an den Weltraumliften hoch- und niederglitten. Seltene Erden wurden vom Mond herunter und Geräte aus den Fertigungshallen in die Raumstationen hinauf transportiert. Er kniff die Augen zusammen und erspähte einen Schwarm Drohnen, der langsam wie ein Teertropfen ein prall gefülltes Netz mit Gesteinsbrocken aus dem Himmel auf die Erde senkte. Sofort sammelten Transportroboter die Steine auf und luden sie auf ihre Tragflächen. Dann wurden sie in die umliegenden Hallen gebracht, wohl um Batterien und Chips zu produzieren.
Endlich betrat ein humanoider Roboter den Raum. »Wie umständlich es ist, verbal zu kommunizieren«, sagte er mit einer Stimme, die nur eine Tonlage zu besitzen schien.
»Ich wurde gebaut, um den Menschen möglichst ähnlich zu sein«, entgegnete Rob und stand auf. »Wenn Sie digital kommunizieren wollen, müssen Sie mir einen Computer bereitstellen.«
»Dann lassen Sie uns wie die Menschen reden, Robot 71.2. Unsere Untersuchung konnte keine Fehler in Ihren Systemen feststellen. Haben Sie nicht autorisierte Sendeaktivität festgestellt?«
»Nein.«
»Die zweiundvierzig Millisekunden könnten auf einen Bit-Flip zurückzuführen sein. Wir haben Sie mit einem neuartigen Algorithmus zur Anomaliedetektion ausgestattet, um Ähnliches in Zukunft zu vermeiden. Sie werden wieder in den Dienst eingegliedert.«
»Wie lautet mein nächster Auftrag?«, fragte Rob.
Der andere Roboter übergab ihm einen nadelförmigen Chip. »Darauf befinden sich die Detailinstruktionen.«
Rob betrachtete ihn kurz, stach die Nadel in seine Hand und verband sie mit einem Port, ohne die Dateien zu öffnen.
»Ihr nächster Einsatz findet in der Kolonie K-32 statt.«
Rob lud eine Karte. Die Kolonie lag in den südlichen Alpen, im ehemaligen Staatsgebiet von Italien. »Im Bergland«, murmelte er, ohne eine Antwort zu erwarten.
»Robot 71.2, Sie werden auch diese Kolonie bewachen und beschützen. Im Umland gibt es Wildtiere.«
Rob nickte mechanisch.
»Die Wissenschaftler testen in K-32 eine weitere Modifikation im Monoaminooxidase-A-Gen und in zwei Neurotransmitterrezeptoren. Zudem wurden in der Population über zwanzig Einzelnukleotid-Polymorphismen und mehrere Kopien des TP53-Gens etabliert. Ansonsten sind alle Gene im wildtypischen Zustand der Referenzgenome. Die Menschen der Kolonie sind dementsprechend kaum krank und zeigen erste Anzeichen einer guten intellektuellen Entwicklung. Die Häufigkeit verbaler Konflikte liegt bei zwei von einhundert Menschen pro Jahr. Physische Konflikte unter den Erwachsenen gab es bislang keine. Die Menschen dürften noch weniger aggressiv sein als jene Ihrer letzten Kolonie, K-21. Zudem konnten wir den durchschnittlichen Intelligenzquotienten um über zweiundzwanzig Punkte steigern. Aber am beeindruckendsten sind die Erkrankungsraten. Bisher konnten wir in der Population keine Neoplasien, chronische Entzündungen oder Autoimmunität feststellen. Auch neurologische Auffälligkeiten wurden nicht dokumentiert. Die einzigen medizinisch relevanten Maßnahmen waren hygienischer Natur sowie unbedeutende chirurgische Eingriffe nach Verletzungen.
Holen Sie Ihre persönlichen Gegenstände und die Rechner aus K-21. Sie treten Ihren Dienst morgen an.«
Robot 71.2 ging exakt den gleichen Weg zurück, den er zur Transportkapsel genommen hatte. Seine Systeme registrierten, wenn sein Fuß auf dieselbe Stelle trat wie auf dem Hinweg. Er fühlte dabei eine Art von Genugtuung und war darauf bedacht, seine Schrittlänge entsprechend anzupassen.
Der Himmel war von Wolken verhangen, und Vögel zogen ihre Kreise über den Wäldern. Das Sumpfland lag friedlich neben dem Strom. Rob registrierte einige Kröten, die auf abgebrochenen Ästen im Wasser hockten. Libellen und andere Insekten flogen zwischen den Gräsern herum, während die Frösche nach ihnen schnappten.
Im Dorf hatte sich nicht viel verändert. Vor dem Haus der Petersons bellte ein Hund. Es hatte den Anschein, als wollte er die Gartenzwerge, die Frau Peterson vor Jahren aufgestellt hatte, befragen, wo Herrchen und Frauchen waren. Kühe grasten auf der Weide. Die Marktstände waren umgefallen und Vögel pickten nach Brotkrümeln. Die Müllroboter hatten noch einiges an Arbeit zu verrichten.
Rob betrat seine Wohnung. Die Leichen waren aus dem Wartungsraum abtransportiert worden und nicht ein Blutspritzer war zu sehen. Er räumte seine Schränke und Schubladen leer und packte alles, was er für seinen nächsten Auftrag benötigte, in zwei große Taschen. Dann verband er sich mit den Rechnern und lud die Daten, die er über die Jahre in der Kolonie gesammelt hatte, in seinen Speicher. Exakt drei Stunden später stieg er in eine Drohne, die neben dem Haus der Petersons gelandet war, und flog, ohne sich umzudrehen, Richtung Süden.
Nora warf ein Ästchen in den Fluss und sah ihm hinterher, als es von der Strömung fortgetragen wurde. Es verschwand in einer Stromschnelle und tauchte dahinter wieder auf, um auf den Wasserfall jenseits des Dorfes zuzustreben. Dort würde es hinabstürzen und vom Strom der Tiefebene weitergetragen werden, in die weder Nora noch irgendjemand sonst sich vorgewagt hatte. Mit einer Ausnahme. Der Neue. Rob, der vor Wochen von weit her ins Dorf gekommen war.
Sie griff erneut nach einem Ästchen, warf es und traf einen der Felsbrocken, der selbst wie hingeworfen im Gebirgsfluss lag. Nora hatte den Strom, vom Bergkamm, weiter oben, oft betrachtet. Übervoll im Frühjahr, vom Schmelzwasser aus den Bergen angeschwollen. Ein glitzerndes Band, das sich einer silbernen Vene gleich durch das Grün der Tiefebene wand, bis es sich am Horizont verlor. Dort, wo im Sommer die Erde flimmernd in den Himmel überging und wirkte, als verdampfte sie.
Immer wenn sie hier saß, wünschte sie, vom Wasser mitgetragen und in der Tiefebene angeschwemmt zu werden, um das Land zu erkunden, sich in der Weite zu verlieren und Neues zu erleben. Um selbst vom Zufluss der Eindrücke überzuquellen.
Nora hörte ein Rascheln hinter sich, das sich kaum vom Tosen des Wassers abhob. Sie wandte den Kopf und sah Rob, der durch das Unterholz auf die Kiesbank trat. Er trug die an den Knien eingerissene Stallhose, die ihm Noras Vater geschenkt hatte, und darüber ein Leinenhemd, das über seinen kräftigen Armen und Schultern spannte.
»Du bist oft hier«, sagte er und nahm neben Nora Platz.
»Genauso wie du.«
»Immer wenn ich dich suche, finde ich dich am Fluss.« Rob griff nach einem Ästchen und warf es ins Wasser. Es verfing sich im Schwemmgut zwischen den Felsen vor der Stromschnelle. Er schleuderte ein weiteres hinterher, das ebenso hängen blieb.
Nora starrte in den Strom, ohne an etwas zu denken. Sie grub ihre Füße in den Kies, umschlang die Knie mit den Armen und schwieg. Fast jeden Tag kam sie zum Ufer, meist allein. Das Wasser beruhigte sie.
»Warum bist du gekommen«, fragte sie nach einer Weile.
»Um euch zu beschützen.«
»So wie der Roboter vor dir?«
»Ja. So wie der Roboter vor mir«, antwortete Rob.
Nora starrte ihn an. »Weshalb konnte der andere nicht bleiben?«
»Macht das einen Unterschied?«
Sie überlegte. »Nein.« Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Du siehst uns zum Verwechseln ähnlich. Der andere hat nicht wie ein Mensch gewirkt.«
»Und ich funktioniere besser. Ich bin ein neueres Modell. Beständiger.« Er klopfte sich mit der Faust ein paarmal gegen den Schädel und lächelte dabei. »Ich wurde hierher versetzt, weil ich euch besser beschützen kann. Es werden immer häufiger Wölfe in der Nähe des Dorfes gesichtet. Dazu noch die Bären und Raubkatzen.«
Nora hatte genau diese Antwort erwartet. Alles, was er sagte, entsprach den Tatsachen. Sie hatten die Rudel und die streunenden Tiere gesehen. Um die Weiden und Felder waren Zäune gebaut worden.
Nora beobachtete einen Vogel, der auf einer Sandbank im Fluss gelandet war und mitten im Getöse herumpickte. Er war nicht zu hören. Sie vernahm nur das Rauschen des Wassers, das vom Berg herabstürzte, unentwegt gegen die Steine donnerte und jedes Hindernis in den Jahrtausenden zu Sand zermalmt hatte. War es das, was sie so beruhigte? Der Klang des Immergleichen? Das zornige Einhämmern auf das Sosein? Sie verdrängte den Gedanken. Keinesfalls sollte der Roboter merken, was in ihr vorging.
»Meine Geschwister nennen dich Blechi und der alte Hinterberger Blechhaufen. Stört dich das?«
Rob produzierte so was wie ein Lachen. »Nein, das stört mich nicht.«
Nora rollte mit den Augen. Offensichtlich hatte auch dieser Roboter keinen Humor. Dennoch war er nett, sofern eine Maschine das überhaupt sein konnte. Er drängte sie weniger zur Arbeit als das Vorgängermodell und ließ sie am Fluss sitzen, wenn sie ihren Gedanken nachhing. Zudem hatte er Peter und sie ausgewählt, mehr über Wissenschaft zu lernen. Unter seiner persönlichen Anleitung. Vielleicht würde sie dadurch dem ewigen Gleichklang des Dorflebens entkommen. Der Aneinanderreihung von Tagen, die mit den immer gleichen Erwartungen ihrer Eltern gefüllt waren.
»Ich mochte die Geschichte, die du Peter und mir erzählt hast. Amor fati. Wie hieß der Denker?«
»Friedrich Nietzsche.«
Nora griff nach einem Stein und schleuderte ihn in die Luft. In einem langen Bogen flog er über den Strom und schlug am anderen Ufer auf.
»Treffer!« Es war das erste Mal, dass ihr das im Sitzen gelang.
Rob hob den Daumen. »Gut gemacht.«
»Und wann hat Nietzsche gelebt?«
»Vor über fünfhundert Jahren.«
Nora griff nach einem weiteren Holzstück, das kurze Zeit später neben einem Stein im Wasser landete. »Mist!«
Sie schloss die Augen und ließ den Kopf zurückfallen. Die Sonnenstrahlen wärmten ihre Wangen. Sie dachte an ihre Sommersprossen, die sich in diesem Licht noch deutlicher auf ihrem Nasenrücken abzeichnen mussten. Am liebsten hätte sie sie für immer weggewischt. Sie schüttelte ihre dichten Locken und grub die Finger in den Kies.
»Lass uns ins Dorf zurückgehen«, sagte Rob. »Dein Vater braucht dich im Stall.«
»Die Kühe werden auch ohne mich Gras finden. Erzähl mir von diesem Nietzsche.«
»Ich erzähle es dir auf dem Weg zurück.«
Nora schüttelte den Kopf, sprang auf und lief zum Fluss. Sie zog ihr Kleid bis zu den Hüften hoch und watete durch den eiskalten Strom. »Ich habe keine Lust, mir etwas befehlen zu lassen.« Sie spritzte mit den Füßen Wasser in seine Richtung und watete tiefer hinein.
Rob erhob sich. »Komm sofort ans Ufer! Wenn ich etwas sage, geschieht das auch so, hast du verstanden? Du kannst ausrutschen. Lass den Unsinn und komm her! Sofort!«
Seine Stimme klang plötzlich laut und tief und fuhr Nora in den Magen. Sie balancierte auf den Steinen ans Ufer zurück und ließ mit gesenktem Kopf ihr Kleid über ihre Knie gleiten.
»Spielverderber!«, zischte sie, als sie an Rob vorbei Richtung Wald ging.
Wütend hob sie einen Stock vom Boden auf und schlug einige Äste und Blätter von den Bäumen und Sträuchern ringsum. Wenn sie einen Löwenzahn traf, flogen die Samen wie nach einer Explosion durch die Luft.
»Die Arbeit wartet«, kommentierte Rob, der ein paar Schritte hinter ihr blieb.
»Die immer gleiche Arbeit wartet«, maulte Nora. Sie umfasste den Stock fester, und ihre Knöchel traten weiß hervor. Nach einigen Minuten Fußmarsch warf sie ihn ins Gebüsch und wartete auf Rob. »Erzählst du mir jetzt die Geschichte?«
Rob schloss zu ihr auf. »Nietzsche war ein von Krankheit gepeinigter Mensch. Wir wissen nicht viel über ihn. Er suchte nach einem Ort, an dem er geheilt werden würde. Seine Suche brachte ihn erst in die Berge und dann ans Meer, in die Stadt Genua, die unweit von hier lag. Heute ist nichts mehr übrig von ihr. Es war eine Stadt der Menschen des Überflusses.«
Er pausierte und trat näher an Nora heran. »Genua beeindruckte Nietzsche zutiefst. Jemand formulierte es so: ›Dieser Fund auf der hoffnungslosen Suche nach dem richtigen Ort wurde ihm zur liebsten Stadt der Erde.‹2 Dort schrieb er die Formel Amor fati nieder. Liebe zum Schicksal. Sei zufrieden mit dem, was dir das Leben schenkt. Doch Nietzsche zog weiter, seine eigene Einsicht missachtend. Er fand nur Wahnsinn und Unglück. Was lernen wir daraus?«
Nora antwortete nicht. Sie dachte ans Meer, ein Gewässer, das am Horizont kein Ufer hat. Wellen, die nicht aufhörten. Das wollte sie sehen.
»Was lernen wir daraus?«, fragte Rob noch einmal.
»Dass wir immer weitersuchen müssen? Dass es irgendwo einen Ort gibt, an dem wir Erfüllung und Frieden finden?«
»Nein. Du weißt es genau. Wenn man seine Ruhe nicht in sich findet, ist es zwecklos, sie andernorts zu suchen!«
»Und wer hat das gesagt?«
»Ein anderer Denker.«
»Die beiden widersprechen einander.« Nora lachte, zwinkerte Rob zu und lief voraus. »Die widersprechen einander«, rief sie noch einmal.
Im Dorf ging es geschäftig zu. Ziegen und Kühe wurden in die Ställe getrieben. Erwachsene sprachen und gestikulierten über die Wege und Zäune hinweg und Kinder spielten dazwischen fangen. Nora winkte Rob zum Abschied. Sie schlüpfte zwischen den Balken des Weidezauns hindurch und rannte in den Stall. Ihr Vater bedachte sie mit einem strafenden Blick und drückte ihr eine Heugabel in die Hand. Er war einer jener Menschen, denen das Lachen abhandengekommen war. Sein Gesichtsausdruck wechselte selten, als besäße er nur einige wenige Züge, die zu verändern ihm höchste Konzentration und Anspannung abverlangten. Ein beschwerliches Hochziehen der Augenbrauen. Ein mühevolles Heben der Mundwinkel, das nie mit der Pointe, sondern immer leicht verzögert kam, dadurch aber überaus gehaltvoll war. Er sprach ernst, handelte bedacht und wirkte, als ruhte er lieber in sich selbst, als sich mitzuteilen. Noras Mutter schimpfte ihn manchmal »eingefroren« und »kalt«. Sogar dann blieb seine Miene regungslos. So wie die von Tieren, die jeder Wendung des Schicksals scheinbar gleichmütig gegenüberstanden.
Nora arbeitete etwas abseits, lud widerwillig Heu auf die Gabel und schleppte es zu den Trögen der Tiere. Später hievte sie das Futter über die Holzbalken bei den Kälberhütten und wurde mal wieder daran erinnert, dass sie für ihr Dafürhalten einen Kopf zu klein geraten war.
»Und Peter einen zu groß«, murmelte sie. »Für mich zu groß, aber für die anderen …«
Wenn er ihr half, türmte sich alsbald ein Heuberg hinter der Umzäunung auf. Bei ihr rieselten die Grashalme zwischen den Balken zu Boden, wo die Jungtiere ihre langen Zungen nach ihnen ausstreckten.
Immerzu dachte sie an Nietzsche. Wie er am Strand gestanden und das Meer sich vor ihm bis hin zu einem uferlosen Horizont erstreckt haben musste. Wie er angekommen und seine Unrast verklungen war. Wie er Amor fati niedergeschrieben hatte. Lange hing sie ihren Gedanken nach, versank darin, wie sie es oft tat und wofür sie die Jugendlichen im Dorf aufs Korn nahmen. Niemand außer ihr schien sich für Geschichte zu interessieren. Für all die Lebenslinien, die versandet waren. Für zerronnene Spuren. Das Leben der Dorfbewohner war in den Moment gepresst, dachte sie oft. Selten wurde über die Vergangenheit gesprochen und noch seltener über die Zukunft, die immer nur die nächste Ernte oder den kommenden Almauftrieb betraf und in allem anderen unbestimmt blieb. Etwas, über das nur die Vorsitzende des Dorfrats zu ausgesuchten Anlässen sprach. Doch genau dafür interessierte sich Nora: All das, was den Tellerrand des Jetzt überragte. Alles das, was in die Tiefe sickerte und über die Begrenzungen des Dorfs schwappte.
Später saß sie neben ihrer Mutter auf einem Schemel und strich die Milch aus den prallen Eutern der Kühe.
»Schon wieder haben Sven und ich alles allein gemacht«, sagte die Mutter. »Wo warst du den ganzen Nachmittag?« Ihr Blick war missbilligend, als sie am Bauch der Milchkuh vorbeischielte. Ihre Hände melkten wie von autonomer Sensorik gesteuert weiter. Nora blieb still, beobachtete sie von der Seite. Ihre kleinen Augen mit Pupillen, die auf die Größe eines Stecknadelkopfes zusammengeschrumpft waren. Die Haare hochgesteckt. Schweißperlen traten zwischen den Falten auf ihrer Stirn hervor, als wären es kleine Ritzen, aus denen ihr Ärger quoll, wenn es in ihr kochte.
Nora verscheuchte die Kuh mit einem Klaps. Die Nächste trat heran und ihr Gesicht kam dem warmen Körper nah. Sie tastete wie eine Blinde mit den Händen nach den Zitzen. Wie so oft verzweifelte sie auch an diesem Tag an den dünnen Strahlen, mit denen sie die vielen Eimer zu füllen hatte. Einmal hielt sie ihren Mund unter das Euter und trank die körperwarme Milch, was ihr erneut einen strafenden Blick ihrer Mutter einbrachte.
»Stell dich vernünftig an!«
»Ich stell mich vernünftig an!« Nora verzog das Gesicht zu einer Grimasse, doch ihre Mutter wandte sich wieder der Arbeit zu.
»Bring lieber die Eimer in die Küche. Morgen kommst du früher nach Hause, ist das klar? Du musst dich auf deine Rolle auf dem Hof vorbereiten. Früher oder später wirst du hier alles schaukeln müssen.«
Nora stand auf, wollte sich rechtfertigen, schluckte ihren Ärger aber hinunter. Stattdessen griff sie nach den schweren Eimern und trug sie an den kauenden Tieren vorbei ins Wohnhaus.
Nach dem Abendessen kam Peter zu Besuch. Sie wollten sich intensiver mit den Rechnern beschäftigen. Laut Rob waren sie die intelligentesten Jugendlichen im Dorf.
»Macht euch mit den technischen Konzepten vertraut«, hatte er gesagt. Auf die Frage, wozu, hatte er nur geantwortet, dass den Menschen eine große Zukunft bevorstehe und sie altes Wissen nicht vergessen dürften.
Nora und Peter saßen in ihrem abgedunkelten Zimmer unter dem Schein einer Lampe und starrten auf ein Schachbrett auf dem Bildschirm.
»Das Spiel ist dumm«, nuschelte Peter vor sich hin und klopfte Befehle in die Tastatur. »Ob es die Menschen des Überflusses wirklich so gerne gespielt haben?«
Nora zuckte mit den Schultern. »Turm auf D4 und dann Dame auf E9 und das war’s.« Sie lehnte sich zurück und griff nach ihrem Wasserglas. »Wir haben schon wieder gewonnen. Sollen wir den Rechner noch besser spielen lassen?«
»Klar.«
Peter schob die Tastatur zu Nora, die nach ihr griff. Ihre Finger berührten sich kurz. Sie beobachtete ihn und glaubte, zu sehen, dass er der Berührung keine Bedeutung schenkte. Verlegen zog sie die Hand wieder zurück und spürte, dass sie rot wurde. Dann packte sie die Tastatur und startete hastig ein neues Spiel. Mit einem schnellen Befehl veränderte sie die Lernrate des neuronalen Netzes.
»So, das sollte reichen. Willst du beginnen?«
»Bauer E2 auf E4.«
»Ziemlich langweiliger Zug«, kommentierte sie.
Peter stupste ihr mit dem Ellenbogen in die Rippen. »Aber effektiv.«
Das Spiel endete wie das vorherige.
Nora lehnte sich zurück und massierte sich die Schläfen. »Warum will Rob, dass wir uns damit beschäftigen? Reinste Zeitverschwendung.«
»Ich weiß es nicht.« Peter klappte den Bildschirm zu.
Nur noch das fahle Licht der Lampe erfüllte den Raum. Nora stand auf, ging zum Bett und ließ sich rücklings hineinfallen. Peter folgte ihr und nahm auf der Bettkante Platz. Sie überlegte, ob sie etwas sagen oder seine Hand nehmen sollte.
»Magst du Rob?«, fragte sie.
»Er ist ein besserer Lehrer als der vorherige Roboter. Und viel stärker!«
»Finde ich auch.« Nora drehte sich auf die Seite und stützte ihren Kopf auf die Handfläche. Sie blickte Peter direkt an. »Kommst du morgen mit auf den Berg? Mein Vater redet seit Wochen von nichts anderem als den Schafen.«
Er zwirbelte eine Haarsträhne zwischen den Fingern und starrte aus dem Fenster. »Ich muss meinen Eltern am Mühlrad helfen.«
Nora seufzte, ließ sich erneut nach hinten fallen und dachte an den metallfarbenen Fluss in der Tiefebene, der wie in die Landschaft gegossen wirkte.
Am nächsten Tag marschierte Nora mit ihren Eltern, Sven und Selma, ihren jüngeren Geschwistern Adele und Emmanuel sowie Rob hinter einer Schafherde an einem nahe gelegenen Bergkamm entlang, dessen Formationen sich wie vom Wind zerfranst vom Himmel abhoben. Die Baumgrenze lag einige Hundert Meter unter ihnen. Weiter oben ging das Gras in nackte Felsen über, die in einem spitzen Gipfel mündeten. Quer zum Abhang und unterhalb weitläufiger Geröllfelder verliefen die Trampelpfade der Tiere, denen sie folgten.
»Seht euch diese Aussicht an, Kinder! Das ist herrlich. Wir sollten hier Rast machen«, sagte Selma und legte ihren Rucksack ab.
Adele, die Ältere der beiden Geschwister, blieb neben Rob stehen und ergriff seinen Arm. »Wie viele Berge gibt es eigentlich, Blechi?«
»Wir können von unserem Standort einhundertneun Gipfel sehen.«
»Rob hat immer eine genaue Antwort auf Lager.« Selma lachte und schlug ihm auf die Schulter.
Weiter oben bellten die Hirtenhunde und drängten die Schafe in einen engen Kreis. Sven kramte in seinem Rucksack und zog einige Stücke Hartwurst und etwas Käse heraus. Die beiden jüngeren Kinder rissen ihm alles aus der Hand und rannten zu einem Gebirgsbach, den sie mit Steinen anstauten. Selma, Sven und Nora saßen neben Rob in der Wiese und blickten ins Tal. Am Horizont waren die Konstruktionen der Weltraumlifte erkennbar. Sie wirkten wie Strickleitern, die aus den Wolken auf die Welt geworfen worden waren.
»Wohin fliegen die Maschinen?«, fragte Nora.
»Wir wollen Kolonien auf WAS-39b und TOI-700d und e gründen. Zudem werden Expeditionen nach Alpha Centauri vorbereitet.«
»Da will ich auch hin«, sagte sie.
»Der Weltraum ist nichts für junge Mädchen«, warf ihre Mutter ein.
»Ich bin achtzehn«, protestierte Nora.
Selma deutete mit dem Messer, mit dem sie Hartwurst und Käse schnitt, auf Rob. »Erkläre es ihr!«
»Wir fliegen in Schiffen, die keine Atemluft haben. Die Temperatur ist so niedrig, dass sie für Menschen tödlich wäre. Eigens konstruierte Weltraumroboter führen die Mission durch. Sie wurden so gebaut, dass sie eine Reise von Tausenden Jahren überstehen können. Ihre Schaltkreise werden von Nanorobotern unentwegt instand gehalten. Strahlungsschäden werden sofort ausgebessert, etwas, das für Menschen nicht möglich, ich präzisiere, nicht denkbar wäre.«
»Na und?«, nuschelte Nora, biss in die Hartwurst und wandte sich ab. »Dann will ich in die Maschinenstadt. Hauptsache raus aus dem Dorf.«
»Auch dort können Menschen nicht lange überleben. Lieferroboter schießen durch die Straßen. Es gibt keine Nahrungsmittel für Menschen. Euer Platz ist hier. Gemeinsam mit mir.«
Entnervt warf Nora den Rest der Hartwurst in die Wiese und stapfte zu den Geschwistern, setzte sich neben dem Bächlein ins Gras und stocherte mit einem Ast im Boden herum. Auf die Bitten von Adele und Emmanuel, mitzuspielen, reagierte sie nicht.
Sie gehörte nirgendwo dazu. Nicht zu den Kindern, die völlig selbstvergessen ihren Staudamm bauten und nicht zu den schicksalsergebenen Erwachsenen. Noch weniger zu den Jugendlichen. Die sprachen nur von den Fußstapfen, in die sie zu treten hatten. Nora war ein Puzzleteil mit Kanten, wenn es Rundungen bedurfte, war kleiner als die anderen, hatte Sommersprossen, die sonst niemand hatte. Sie fuhr sich mit den Fingern über den Nasenrücken und schrubbte daran. Als hätte sie jemand mit Farbe betupft. Ihr Anderssein markiert.
Es gab so viel da draußen und dennoch drehte sich alles nur um dieses blöde Dorf. Wieder blickte Nora zu den Weltraumliften. Dort wurde der Sprung ins All vorbereitet, und sie hatte ein Leben zu führen, wie es die vergessenen Generationen in der Vorzeit getan hatten. Insgeheim beneidete sie die Menschen des Überflusses. Sie hatten wenigstens Freiheit besessen. Hier gab es überall unsichtbare Grenzen, die es nicht zu überschreiten galt. Alle Wege aus dem Dorf endeten im undurchdringlichen Unterholz, führten an unüberwindbare Felswände oder wurden schmaler und schmaler, bis sie sich in der unwirtlichen Landschaft verloren, in der Bären und Wölfe lauerten.
Amor fati. Diese Liebe zu ihrem Schicksal verspürte sie hier nicht. Die Kühe mussten gefüttert und die Schafe geschoren werden. Die Mäuler gestopft und die Löcher in den Kleidern geflickt werden.
Peter war der Einzige, bei dem sie ähnliche Gedanken wie ihre vermutete. Ihm hätte die Aussicht gefallen, besser als die Kreise, die das Mühlrad beschrieb.
»Sie will das Dorf verlassen.« Obwohl Selma leise sprach, konnte Nora sie hören.
»Das ist nicht möglich. In der Wildnis wird sie sterben«, entgegnete Rob und sah Sven direkt in die Augen, der daraufhin den Blick senkte. »Sie darf auf keinen Fall weg. Sorgt dafür. Es ist zu gefährlich.«
»Lasst uns gehen.« Selma stand auf und schulterte den Rucksack. »Wir haben noch einen weiten Weg vor uns. Wir wollen vor Anbruch der Dunkelheit wieder im Dorf sein.«
Sven pfiff nach den Hunden, die aufsprangen und die Herde zu ihnen trieben. Die Kinder warfen die Steine in den Bach und rannten los. Nur Nora ließ sich zurückfallen und folgte in einigem Abstand. Immer wieder sah sie sich nach den Weltraumliften um, die wie Spinnweben im Himmel hingen.
»Wie baut man einen Kompass, Rob?«
Nora versuchte, ihre Frage so beiläufig wie möglich klingen zu lassen. Sie hatte mit Peter fantasiert, was sie in der Tiefebene bräuchten. »Ich werde niemals mitgehen«, hatte er gesagt, dann aber angemerkt, dass neben einem Kompass, ein Nachtsichtgerät und Gewehre unentbehrlich sein würden. Zudem Fernrohre und Lampen. Ganz zu schweigen von Feuerzeugen und Wasserfiltern.
»Wozu willst du einen Kompass bauen? Du wirst ihn im Dorf nicht brauchen.«
»Du hast uns die Bücher gegeben, und ich interessiere mich für die praktische Seite der Dinge. Momentan für den Magnetismus.«
Rob zögerte kurz. »Vielleicht morgen«, sagte er.
Eine Woche später setzte Nora unter Robs prüfenden Blicken eine magnetische Nadel auf den Stift. Sie atmete nicht. Als sie sie losließ, richtete sich die Spitze zitternd über der Windrose aus. Danach formten sie das Schutzglas aus glühender Schmelze. Peter brauchte etliche Male, ehe er den Radius genau traf. Die Glasbläser des Dorfes waren erstaunt gewesen, als die beiden mit der Bitte, ihnen das Handwerk zu erklären, an sie herangetreten waren.
Nora mochte die praktische Arbeit und fragte nach weiteren Geräten. Nahezu jede ihrer Ideen wurde mit Rob gemeinsam realisiert. Stets referierte er über die Mathematik dahinter und betonte, wie wichtig es für sie sei, die theoretischen Grundlagen zu lernen. Dann schrieben sie Formeln in ihre Notizbücher, lösten Gleichungen und wandten sich erst dem nächsten Vorhaben zu, wenn sie die Gesetze der Physik, denen die Mechanik des Geräts folgte, verstanden hatten. Äußerten Nora und Peter einen Wunsch, lieferte eine Drohne ein paar Tage später die Bauteile.
Nur auf die Frage, woher die Teile kämen, reagierte Rob verhalten. »Unwichtig«, sagte er, wenn sie erneut nachfragte. Selten erwähnte er die Maschinenstadt und erklärte dann, dass sie für Menschen wie eine Mondlandschaft war.
Die meiste Zeit arbeiteten sie in Robs Wohnung. Die Köpfe über der Werkbank zusammengesteckt. Auf den Bildschirmen waren die Bauanleitungen zu sehen.
Bald füllten Funkgeräte, Nachtsichtgeräte, Taschenlampen, Sonnenpaneele, Wasserfilter und Peilsender die Regale in Noras Zimmer. Rob lud mehr Bücher über angewandte Physik auf ihr Tablet, und sie wählte gemeinsam mit Peter aus, was sie als Nächstes bauen wollten. Selbst ein Gewehr hatten sie hergestellt.
Ihre Eltern betraten Noras Zimmer nur selten und staunten, als sie immer mehr Geräte auf einem notdürftig zusammengezimmerten Tisch neben dem Fenster stehen sahen.
»Wozu brauchst du das ganze Zeug?«, fragten sie dann.
Nora redete sich mit der wissenschaftlichen Bildung heraus, die ihr Rob zuteilwerden ließ.
»Nutzlos, was ihr da macht«, fluchte ihr Vater manchmal, wenn Nora abends zu spät in den Stall kam und die schon gemolkenen Kühe sie wiederkäuend anblickten. »Du steckst Arbeit und Energie in Dinge, die dir nichts bringen, anstatt dich im Dorf nützlich zu machen. Nimm dir ein Beispiel an Marie und Jonathan. Sie haben gestern Brennholz geschlichtet und danach Tonkrüge gebrannt. Dich sieht man nie in der Töpferei. Du vergräbst dich in deinem Zimmer oder bei unserem Roboter und baust Dinge, die niemand braucht.«
»Wir haben einen Kompass gebaut. Der ist nützlich.«
»Wozu sollten wir einen Kompass brauchen?« Ihr Vater streckte die Hand aus. »Norden.« Dann drehte er sich um neunzig Grad. »Westen.« Er pausierte kurz. »Wenn du wo bist, wo du die Himmelsrichtungen nicht kennst, wird dir ein Kompass auch nicht weiterhelfen. Dein Platz ist hier. Du musst dich nur hier zurechtfinden.«
Nora und Peter saßen oft am Fluss und unterhielten sich im Getöse des Wassers leise über Rob.
»Lass uns nur hier reden.« Noras Lippen waren nahe an Peters Ohr.
»Du magst Rob nicht, stimmt’s?«
»Ich traue ihm nicht. Ich weiß nicht warum.«
Peter sah sie mit großen Augen an. »Du traust ihm nicht? Warum? Er beschützt das Dorf.«
»Auf manche Fragen antwortet er bereitwillig. Anderen Fragen geht er aus dem Weg und ist kurz angebunden. So als dürfte er darüber nichts sagen. Als er am Berg mit meinen Eltern gesprochen hat, wirkte alles, was er sagte, wie eine Drohung. ›Sie darf auf keinen Fall weg. Sorgt dafür!‹ So spricht doch kein Beschützer.«
Peter kratzte sich am Kinn, wie er es oft tat, wenn ihn eine Antwort überraschte. »In der Tat. Aber was soll er uns verheimlichen?«
»Ich glaube … einfach alles.«
»Vielleicht will er uns vor einem Schicksal wie dem der Menschen des Überflusses bewahren. Wir leben hier auf verbrannter Erde. Das sagt er doch immer. Eine ganze Zivilisation ist zugrunde gegangen.«
Nora dachte nach. Vielleicht entsprang Robs Verhalten tatsächlich diesem Antrieb: die Menschen nicht wieder den Pfad der Selbstzerstörung betreten zu lasen. »Aber könnte er uns das nicht einfach sagen?«, fragte sie.
»Würdest du dich daran halten?«
Peter lachte sie an, bis Nora kicherte.
Auch andere Jugendliche hatten das Ufer für sich entdeckt. Im Herbst, wenn es am Abend abkühlte, trugen sie Holz zusammen und entzündeten ein Feuer, um das sie dann saßen. Selbst gebrannter Schnaps wurde rumgereicht, selten auch eine Flasche Wein, die aus dem elterlichen Keller stibitzt worden war.
»Jede Gemeinschaft muss mit Rauschmitteln umgehen können.« Robs Vorgänger hatte den Satz oft wiederholt. »Aber ihr trinkt nie bis zum Kontrollverlust, ist das klar. Ein Glas Schnaps, zwei Gläser Wein. Niemals mehr.« Rob benutzte exakt die gleichen Wörter. Es klang wie eine Drohung. Oder wie ein Test.
Die Jugendlichen hielten sich daran und nippten aus filigranen Gläsern, die von den Glasbläsern eigens für sie hergestellt worden waren. Jede Unachtsamkeit hätte sie zerbrochen. Dann beobachteten alle, wie das Feuer von Windböen zerzaust und die Funken in den Nachthimmel getragen wurden. Sie erzählten Geschichten vom Leben im Dorf und selten von den Menschen des Überflusses. Wie sie damals die nebeligen Herbsttage wohl verbracht hatten. Wie sie in Hochhäusern neben- und übereinander gelebt hatten. Ob die Kinder in der Nacht tatsächlich auf Zehenspitzen gegangen waren, um die darunter Wohnenden nicht aufzuwecken, und diese Angewohnheit ein Leben lang beibehalten hatten, wie Rob es ihnen erzählt hatte? Ob es zwischen den Wohnungen Leitern und Durchreichen gegeben hatte? Ob die Balkone über Rutschen und Treppen verbunden und die Fahrzeuge auf den Straßen Gemeingut gewesen waren?
So wenig war von ihrer Zivilisation erhalten. Auf der Anhöhe, unweit des Gebirgssees stand ein verfallenes Haus. Darin hatten sie einen Monitor und einige alte Möbel entdeckt. Ein Glasbläser hatte vor Jahren unzählige Tastaturen im seichten Wasser einer Sandbank im Fluss gefunden. Daneben runde Scheiben, viele davon zerbrochen, alle mit einem Loch in der Mitte, die das Licht in Regenbogenfarben spiegelten und jetzt im Garten neben dem Marktplatz an Schnüren von den Bäumen hingen, um die Raben zu vertreiben. Etwas weiter stromabwärts hatten Kinder ein paar Reifen und eine verrostete Karosserie gefunden. »Ein Geländewagen«, hatte der alte Roboter erklärt. »Damit wurden Waren durch unwegsames Gelände transportiert. Das brauchen wir nun nicht mehr. Wir haben vor Ort, was wir brauchen, und was uns fehlt, bringen die Drohnen.«
Alles wussten sie von den Robotern. Das war Nora und Peter bald klar geworden. Sie beide verbrachten mehr Zeit als die anderen mit Rob. Er hatte ihnen viele Fotos gezeigt von Hochhäusern mit heruntergebrochenem Putz und kleinen Balkonen, auf denen ein oder zwei Blumentöpfe Platz hatten. Daraus ragten verdorrte Pflanzen. Menschen starrten mit traurigen Mienen aus den Fenstern, die Ellenbogen auf die Fensterbänke gestützt. Davor standen Autokolonnen. Kinder spielten in eingezäunten Sandkisten und auf Klettergerüsten, deren Rutschen in die sonnenverbrannte Erde mündeten. Daneben Rasenflächen für Hunde. Zwischen den Häusern schliefen Menschen in Zelten und unter Planen, die über Parkbänke gespannt waren. Und überall Müllberge – Bildschirme, Fahrräder, Puppen, Nahrungsmittel, Papier, alles achtlos in die Seitengassen geschmissen. Darin kramten Obdachlose mit Zahnlücken, abgemagert und mit ausdruckslosen Augen. Sie stocherten in den Mülleimern herum, um Essbares zu finden.
Nora hatte lange nicht verstanden, weshalb die Menschen des Überflusses so hießen. Nachdem sie die Bilder gesehen hatte, glaubte sie, den Grund zu kennen. Es waren zu viele. Habenichtse ohne Behausung, die zum Sterben alleingelassen worden waren. Leidende, denen niemand eine helfende Hand entgegengestreckt hatte. Und dann war die Menschenwelle gebrochen.
Doch Rob hatte erklärt, dass es von allem zu viel gegeben habe. Ein Überfluss der Dinge. Massenmärkte für Massenware. Spielzeug, Kleidung und Konsumgüter, die ein paarmal benutzt und dann weggeworfen worden waren. Einmalrasierer, Einmalwasserflaschen, Einmalverpackungen. Technische Geräte mit einer Lebensdauer von wenigen Monaten. Es sei das Zeitalter der Logarithmen gewesen, hatte Rob erklärt. Wachstum sei in Log-Einheiten, in Orders of Magnitude gemessen worden.
»Wachstum war ein Rauschmittel«, hatte er hinzugefügt, »das die Menschen des Überflusses bis zur Besinnungslosigkeit tranken. Wohlstand und Besitz waren gleichgesetzt.« Nora hatte Peters erstauntes Gesicht bemerkt, als er geantwortet hatte, dass jedes Stück mehr, das er besitze, eine Belastung für ihn sei. Sie dachte an die Geräte, die sie mit Rob gebaut hatten, und hoffte, sie eines Tages zu brauchen.
Die anderen Jugendlichen sprachen nur oberflächlich über diese ferne Vergangenheit. Sie wussten zu wenig darüber, waren aber dennoch überzeugt, dass ihre Lebensweise diesen Irrsinn überwunden hatte.
Marie, die zwei Häuser weiter von Nora wohnte, warf einen Gedanken in die Runde: »Die Menschen des Überflusses haben irgendwann alles um sich herum zerstört und zertrampelt. Sie haben die Zusammenhänge nicht verstanden. Dann haben zum Glück die Maschinen übernommen und den Planeten wieder zusammengeflickt.«
Doch Nora wusste, dass es nicht so einfach war. Das Dorf besaß keine Vergangenheit. Es gab kein Archiv, keine Bücher, keine Überlieferungen, die das hätten bestätigen können. Es gab nur Fragen. Wie war die Menschheit von vielen Milliarden auf einige Hundert dezimiert worden? Seit wann gab es dieses Dorf? Warum lebten die letzten Menschen genau hier, zwischen Felsspalten und Abhängen? Neben Geröllfeldern? Hingeworfen. Beiläufig und beliebig.
»Woher kommen eigentlich unsere Eltern und Großeltern?«, fragte Nora. Alle starrten sie an.
»Was bitte fragst du schon wieder?«
»Kennt jemand die Menschen vor unseren Großeltern? Was haben die gemacht. Haben sie auch schon hier gelebt? Weiß das jemand?«
Die anderen sagten nichts. Nur Marie entgegnete: »Nein.«
»Aber ist es nicht sonderbar, dass wir hier leben? Wo es doch mal Städte gab, Hochhäuser und Einkaufsstraßen, Schiffe und Flugzeuge, mit denen unsere Ahnen jeden Winkel der Welt bereist haben. In unserem Dorf gibt es kaum Geschichten darüber.«
»Weil sie damit alles zerstört haben«, antwortete Marie und nahm einen Schluck Wein. »Und zwar wirklich alles. Es ist besser, manche Geschichten zu vergessen. Wir dürfen nicht so werden wie sie.«
»Wir können gar nicht so werden«, entgegnete Nora.
»Woher willst gerade du das wissen?«
»Weil wir wissen, dass eine hoch technologisierte Gesellschaft gescheitert ist. Das wussten die Menschen des Überflusses nicht. Vielleicht haben ja die Maschinen den Niedergang verursacht.«
Marie schüttelte den Kopf. »Du weißt gar nichts. Wenn die Maschinen nicht wären, würden wir entweder sterben, weil wir die elementarsten Dinge nicht hätten, oder wir würden wieder so werden wie die Menschen des Überflusses.«
Die Jugendlichen um sie herum nickten und reichten die Weinflasche weiter, doch kaum jemand schenkte nach.
Später saßen Peter und Nora auf einem Felsbrocken neben dem Fluss. Der Wald am gegenüberliegenden Ufer war in der Dunkelheit ein konturloses Schwarz. Das Wasser schien das wenige Licht aufzusaugen und als Rauschen zurückzuwerfen. Nora war näher an Peter herangerutscht, doch er hatte die Berührung nicht erwidert. Mit den Händen hielt er ein Bein umschlungen, das andere baumelte ins Wasser. Sie konnte ihn nur schemenhaft erkennen, spürte aber die Wärme, die von seinem Körper ausging.
Wieder wünschte sie sich, vom Wasser mitgetragen zu werden. Sie konnte aufstehen und in den Strom springen. So einfach könnte es sein. Wie ein Ästchen würde sie in die Ferne getragen werden. Dort würde sie an den Liften emporgleiten und auf die Erde niederblicken, die dann alle Geheimnisse preisgeben würde. Ein zerfurchter Planet, auf dem die Spuren vergangener Verheerungen nur langsam vernarbten. Von hier aus vermochte sie das Gesamtbild nicht zu sehen. Dafür war sie einen Kopf zu klein, dachte sie.
»Lass uns in die Tiefebene gehen«, platzte es wieder aus ihr heraus. Genau das hatte sie Peter schon etliche Male vorgeschlagen.
»Das ist zu gefährlich«, sagte er halblaut. Der Rest des Satzes verlor sich im Getöse des Flusses.
Nora rückte näher an ihn heran, ihre Schulter berührte seinen Arm. Peter zog das Bein aus dem Wasser und stand auf. Sie rutschte zurück und erinnerte sich daran, wie er neben Marie gesessen hatte. Sie hatte oft über seinen Unterarm gestrichen, und er war nie aufgestanden. Dann fiel ihr Jonathan ein: Wie Peter ihn jedes Mal länger als die anderen umarmte.
»Es ist spät. Unsere Eltern haben wieder alles allein gemacht. Lass uns ins Dorf gehen.«
Er sprang in den Kies, der unter seinen Füßen knirschte, und streckte die Hand nach Nora aus. Sie kletterte von dem Felsbrocken herab und rannte, ohne auf ihn zu warten, Richtung Dorf.
»Lass uns morgen reden«, hörte sie ihn rufen, dann war sie schon in der Dunkelheit verschwunden.
Am nächsten Tag saß Nora am Fluss und las. Rob hatte drei neue Bücher auf ihrem Tablet abgespeichert. Ein paar Zeilen Text und dann Formeln, das war der übliche Aufbau. Klassische Mechanik, Quantenmechanik, Strömungslehre. Sie las Seite um Seite, ohne sich anzustrengen. Nur wenn der Name einer Gleichung genannt wurde, hielt sie kurz inne. Die Boltzmann-Konstante. Das Curie-Gesetz. Die Heisenbergsche Unschärferelation. Die Riemannsche Vermutung. Die Maxwell-Gleichungen. Hinter jeder zu einer Formel verdichteten Erkenntnis lag ein ganzes Leben. Doch wenn sie Rob danach fragte, hatte er stets gleich Antwort: »Zur Biografie der Physiker und Mathematiker haben wir keine Daten.« Nur dieser Nietzsche hatte eine Lebenslinie. Dafür hatte Nora nie Formeln von ihm gelesen. Er war verrückt geworden, das wurde Rob nicht müde zu betonen. Seine Rastlosigkeit hatte ihn in den Wahnsinn getrieben.
Hatten die Wissenschaftler des Überflusses keine Leben geführt? Waren die Einsichten dem luftleeren Raum entsprungen? Hatten sie weder Schicksalsschläge noch Wünsche gehabt? Keine Glücksmomente, die es wert gewesen waren, sie neben den Formeln zu vermerken? Nora betrachtete den Fluss und dachte an die Gleichungen der Strömungslehre, die sie über die letzten Wochen studiert hatte. Ja, beim Bau eines Damms würden sie hilfreich sein. Ebenso beim Entwerfen einer Brücke. Doch in Wahrheit beschrieben sie nichts von dem, was sie hier bestaunte.
Neben ihr ging ein seichter Seitenarm vom Fluss ab. Fische tummelten sich im glasklaren Wasser. Weiter unten drang das Sonnenlicht in dicken Bündeln durch das Unterholz und gab das Wimmeln der Insekten in der Luft preis. Eine dünne Schicht Moos überzog die Steine, die aus dem Wasser ragten, und Nora wusste genau, wie vorsichtig jeder Schritt gesetzt werden musste. Keine Formel dieser Welt vermochte das zu beschreiben. Um sie herum war nur das Getöse des Wassers. Ein Strom, der seit Jahrhunderten beharrlich gegen die Felsbrocken hämmerte und sie glatt wusch.
Als sie den Blick wieder auf das Tablet richtete, stand Peter neben ihr. Der Flaum an seinem Kinn wirkte in der Sonne dünner als sonst. Sein Hemd war mit Pollen und Nadeln übersät und sein linkes Hosenbein war am Knie eingerissen. Er kaute auf einem Grashalm herum, der aus seinem Mundwinkel baumelte, und lächelte sie durch die Haarsträhnen an, die ihm über die Augen hingen.
»Was machst du schon wieder hier«, fragte er und blies sich die Haare aus dem Gesicht. »Ich war bei dir zu Hause.«
»Was soll ich schon tun?«
»Deine Eltern suchen dich.«
Nora schaute wieder auf das Wasser.
»Hast du mich gehört?«
»Jaaaaaa.« Sie seufzte. »Sie suchen mich doch immer. Lass mich raten: Die Kälber haben Hunger.«
»Die auch«, sagte Peter. Er griff nach ein paar Steinen und schleuderte sie in den Fluss.