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Karl Olsberg

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Beschreibung

Die Zukunft der Menschheit ist in Gefahr!

Was wäre, wenn alle Computer der Welt plötzlich verrückt spielten? Als Mark Helius zwei Mitarbeiter seiner Softwarefirma tot auffindet, weiß er, dass im Internet etwas Mörderisches vorgehen muss. Stecken Cyber-Terroristen dahinter? Oder hat das Datennetz ein Eigenleben entwickelt? Eine Jagd auf Leben und Tod beginnt, während rund um den Globus das Chaos ausbricht ...

Dieser atemberaubende Thriller zeigt beklemmend realistisch, wie schnell unsere technisierte Welt aus den Fugen geraten kann. "Das System" wird Ihren Blick auf unsere Welt verändern!

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Karl Olsberg

Das System

Thriller

Impressum

ISBN E-Pub 978-3-8412-0115-7

ISBN PDF 978-3-8412-2115-5

ISBN Printausgabe 978-3-7466-2367-2

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, 2010

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die Erstausgabe erschien 2007 bei Aufbau Taschenbuch

Aufbau Taschenbuch ist eine Marke

der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

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Nachwort

Für Carolin

But I gave you life!

What else could you do?

To do what was right!

I’m perfect – are you?

Emerson, Lake & Palmer, »Karn Evil 9«

1.

Internationale Raumstation ISS,

Mittwoch 14:58 Uhr

Das schrille Pulsieren der Sirene gellte durch die Station. Der Ton signalisierte die zweithöchste Alarmstufe: einen schwerwiegenden Systemausfall, der einen sofortigen menschlichen Eingriff erforderlich machte.

Andrea Cantoni zuckte zusammen. Nicht schon wieder! Der Kugelschreiber, mit dem er gerade den aktuellen Zustand seiner Hefepilz-Kolonien notierte, glitt ihm aus der Hand. In einer langsamen Kreiselbewegung schwebte er davon. Cantoni griff hastig danach, versetzte dem Stift aber nur einen Stoß, so dass er umso schneller rotierte und wie eine taumelnde Minirakete davonjagte, gegen einen der Laptops prallte, die an der Wand des Labors befestigt waren, und irgendwo im Chaos aus Apparaturen, experimentellem Material, Werkzeug und Plastikschläuchen verschwand.

Zum Teufel mit dem Kugelschreiber. Es war bereits der dritte, den er an Bord der Internationalen Raumstation verloren hatte, aber Kulis waren eines der wenigen Dinge, von denen hier kein Mangel herrschte. Cantoni hatte immer geglaubt, normale Kugelschreiber könnten in der Schwerelosigkeit nicht funktionieren, und eines dieser teuren, druckbetriebenen Schreibgeräte mit an Bord genommen. Juri Orlov, der russische Kommandant der Station, hatte nur gelächelt und ihm eine billige Plastikvariante mit dem Werbeaufdruck einer russischen Fluggesellschaft in die Hand gedrückt, die tatsächlich tadellos schrieb. Das war vor einhundertvier Tagen gewesen. Bei Gott, er war schon viel zu lange hier!

Er stieß sich mit den Händen vorsichtig ab und versuchte, mit der Eleganz eines Fisches durch den Raum zu schwimmen, aber in all der Zeit hatte er es nicht geschafft, jene fließenden Bewegungen zu erlernen, mit denen sich Orlov in weniger als zwanzig Sekunden von einem Ende der fünfzig Meter langen Station zum anderen begeben konnte, ohne auch nur eines der engen Schotts zu berühren. Er stieß sich die Schulter an dem engen Durchlass, der vom Destiny-Labor in das Unity-Verbindungselement führte. Dann zog er sich durch das Zarya-Modul, das früher einmal das Herz der Station gewesen war, heute jedoch hauptsächlich als Lagerraum benutzt wurde. Es war so vollgestopft mit allen möglichen Dingen, die man zum Leben und Arbeiten an Bord brauchte, dass man sich darin vorkam wie in einem fliegenden Besenschrank.

Endlich erreichte er Zvezda. Der etwa zehn Meter lange und im Durchmesser drei Meter breite Raum war genauso angefüllt mit elektronischem Gerät und durch Klettband befestigten Utensilien wie der Rest der Station. Nur mit Hilfe des Computers war es noch möglich, die Position der mehr als zehntausend Gegenstände an Bord zu bestimmen.

Orlov war nicht da. Sein Schlafsack, befestigt an der Decke des Wohnmoduls, war leer. Verblüfft sah Cantoni sich um, bevor ihm klar wurde, dass der Russe gerade auf der Toilette sein musste, dem einzigen Ort, an dem man so etwas wie eine Privatsphäre hatte.

Sein Blick fiel auf den Bildschirm des Zentralcomputers. »System overload« stand dort. Eine Fehlermeldung, die er noch nie gesehen hatte. Er konnte sich auch nicht erinnern, dass sie jemals beim technischen Training erwähnt worden wäre. Er zog sich zu der Schaltkonsole herab und deaktivierte den blinkenden Alarmknopf. Die Sirene verstummte, aber dafür signalisierte ein mehrstimmiges Piepen, dass Mission Control dringend mit der Besatzung sprechen wollte.

Cantoni wollte gerade den Telefonhörer neben dem Schaltpult aufnehmen, als ein schlürfendes Geräusch ertönte. Kurz darauf öffnete sich die Tür zu der kleinen Toilettenkabine, und Orlov schwebte zu ihm. Sein zerzaustes schwarzes Haar stand in alle Richtungen ab und verlieh ihm einen wilden Ausdruck.

»Was hast du gemacht?«, fragte er mit schwerem Akzent. Seine braunen Augen unter den dicken Brauen funkelten böse.

»Gar nichts habe ich gemacht!«, antwortete Cantoni, eine Spur zu defensiv. Er mochte den grobschlächtigen Russen mit seiner oft unflätigen Art nicht besonders.

Orlov sagte nichts. Er ignorierte das Piepen der Kommunikationsleitungen, schubste Cantoni grob zur Seite, so dass dieser gegen den Klapptisch an der Wand stieß, und machte sich an der Tastatur des Computers zu schaffen. Unter einem Schwall russischer Flüche versuchte er vergeblich, die Fehlermeldung zum Verschwinden zu bringen und in das Hauptmenü zu kommen. Endlich gab er auf und nahm den Hörer ab. »Orlov hier … ja … keine Ahnung, warum … System overload … nein … weiß ich auch nicht … Ich mache jetzt System reset … okay.«

Er legte auf und drückte einen Moment lang einige Tasten gleichzeitig. Nichts geschah. Er fluchte noch einmal, dann öffnete er eine kleine Klappe an der Seite der Konsole und betätigte einen roten Knopf. Endlich verschwand die Fehlermeldung. Der Bildschirm wurde schwarz, und die Startsequenz des Systems erschien.

Orlov wandte sich zu Cantoni um. »Das ist jetzt das dritte Mal in den letzten zwei Wochen, dass der Computer abstürzt!« Seine Stimme klang zornig.

»Ich weiß«, sagte Cantoni. Es war ziemlich schwierig, einen Systemabsturz nicht zu bemerken, wenn man in einem gottverdammten Blechsarg dreihundert Kilometer über der Erde schwebte und das eigene Leben davon abhing, dass die Technik funktionierte.

»Mission Control kann sich die Fehlfunktion nicht erklären«, fuhr Orlov fort. »Die Hardware ist in Ordnung, sagen sie, und ein Softwarefehler kann es auch nicht sein. Die Fehlermeldung tritt nur auf, wenn der Computer mit komplizierten Rechenaufgaben überlastet ist. Das System ist auf die sechzehnfache Rechenkapazität dessen ausgelegt, was im schlimmsten Fall, bei gleichzeitiger Grenzfalloptimierung aller Systeme an Bord, gebraucht werden könnte. Es kann also eigentlich gar nicht überlastet sein.«

Cantoni zuckte mit den Schultern. »Computer …«

»Ich glaube nicht mehr an ein Computerproblem«, sagte Orlov langsam. »Ich denke an Sabotage.«

Cantoni glaubte einen Moment, nicht richtig verstanden zu haben. Aber der Blick des Russen verriet tiefes Misstrauen und kaum im Zaum gehaltene Wut.

»Sabotage? Was … was willst du damit sagen?«

»Was ich sagen will, ist, dass irgendjemand den Computer manipuliert haben muss.«

»Juri, außer uns beiden ist niemand hier.«

»Das stimmt.«

»Meinst du, jemand von außen hat sich irgendwie hier reingehackt? Du weißt, dass das unmöglich ist!«

»Keine Ahnung. Komisch ist nur: Ich war jedes Mal nicht da, als es passierte. Beim ersten Mal habe ich geschlafen. Beim zweiten Mal war ich in Destiny. Und jetzt auf der Toilette. Ist vielleicht Zufall. Aber ich glaube nicht an Zufälle. Nicht mehr!«

Cantoni spürte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich. Er ballte seine Hände zu Fäusten und schloss für einen Moment die Augen. Ruhig bleiben. Er atmete tief aus. Dann sagte er: »Juri, warum in Gottes Namen hätte ich absichtlich den Computer zum Absturz bringen sollen?«

Orlov grinste, was sein Gesicht mit dem struppigen schwarzen Bart nur noch wilder wirken ließ. »Du bist Italiener. Schlau, aber feige. Du hast Angst hier oben. Angst vor dem Versagen der Technik. Du willst nach Hause. Du weißt, die Vorschrift sagt, wenn die Technik nicht funktioniert, müssen wir die Station evakuieren und mit der Sojus-Rettungskapsel zur Erde zurückkehren. Mission Control ist kurz davor, den Befehl zu geben. Du hast erreicht, was du wolltest.« Seine Hand schoss vor, packte den Kragen von Cantonis blauem Overall und zog ihn zu sich heran. Cantoni roch Orlovs schlechten Atem und die Ausdünstungen seines ungewaschenen Körpers. »Aber ich bin der Kommandant, und ich sage dir, diese Station wird nicht aufgegeben! Wir bleiben hier, bis die nächste Besatzung uns abholt! Kapiert!«

Cantoni rang mit der Fassung. Er unterdrückte den Impuls, Orlov in sein bärtiges Gesicht zu schlagen. Er durfte sich nicht provozieren lassen. Ein ernsthafter Streit zwischen den einzigen beiden Besatzungsmitgliedern der Station konnte katastrophale Folgen haben.

»Juri, ich habe den Computer nicht sabotiert«, sagte er und konnte das Zittern der Wut über die ungeheure Anschuldigung nicht ganz unterdrücken. »Ich weiß nicht, was schiefgegangen ist, aber ich war es nicht. Das musst du mir glauben!« Er blickte in Orlovs dunkle Augen. »Ja, ich will nach Hause, zu meiner Frau und meinen Kindern. Ich bin schon viel zu lange hier. Aber deshalb riskiere ich doch nicht unser Leben und die Zukunft der Station! Das kannst du mir doch nicht ernsthaft zutrauen!«

Dass er schon viel länger als die ursprünglich geplanten dreizehn Tage an Bord ausharrte, hatte Cantoni dem Umstand zu verdanken, dass das zweite ständige Besatzungsmitglied der Station, der Amerikaner Nick Fletcher, krank geworden und mit Cantonis Shuttle-Mission zur Erde zurückgekehrt war. Bei der Frage, wer stattdessen bis zur nächsten Mission an Bord bleiben sollte, war die Wahl von Mission Control auf ihn gefallen, weil er die Europäische Raumfahrtagentur ESA vertrat, die dank einer Budgetkürzung der Amerikaner nun der wichtigste Geldgeber der Station war.

Alle gingen sie davon aus, er sei begeistert, länger an Bord bleiben zu dürfen. Selbst Cilia hatte sich gefreut und war stolz auf ihn gewesen. Er hatte geschluckt, versucht, fröhlich zu grinsen, und sich dabei mit dem Gedanken getröstet, dass die nächste Shuttle-Mission außerplanmäßig schon nach zwei Monaten starten würde, um ihn abzuholen. Doch die Amerikaner hatten das Shuttle wieder einmal nicht in die Luft gekriegt, und aus den geplanten vierundsechzig Tagen waren inzwischen über hundert geworden. Der nächste Start war in zwei Wochen geplant. Cantoni betete jeden Tag dafür, dass es diesmal klappen würde.

Er hasste die Enge der Station, den Geruch nach Gummi, Desinfektionsmittel, und menschlichen Ausdünstungen. Er hasste die Schwerelosigkeit, die einem hin und wieder die Orientierung raubte und immer noch Übelkeitsschübe bei ihm auslöste. Er hasste die langweiligen Workouts, die seine degenerierten Muskeln straffen sollten, den eintönigen Tagesablauf, die Experimente, die ihm oft wie reine Beschäftigungstherapie vorkamen.

Er hasste das Gefühl, nur durch eine wenige Millimeter dünne Metallschicht von einer absolut tödlichen Umgebung getrennt zu sein. Den meisten Menschen auf der Erde war kaum bewusst, dass Raumfahrt immer noch ein gefährliches Abenteuer war, bei dem man sich ständig an der Grenze des technisch Machbaren bewegte. Dabei genügte schon ein daumennagelgroßer Meteorit oder ein Stück Weltraumschrott, um ein faustgroßes Loch in diese Hülle zu reißen und ihn auf der Stelle zu töten.

Am meisten jedoch hasste er es, mit diesem ungehobelten Grobian Juri Orlov hier eingesperrt zu sein. Der Kommandant war einer der erfahrensten Astronauten der Welt. Er war sogar schon an Bord der MIR gewesen. Aber er war launisch und machte aus seiner Abneigung gegen Cantoni keinen Hehl. Nun wurde er auch noch paranoid und stieß abenteuerliche Verdächtigungen aus, und von Cantoni wurde erwartet, in dieser Situation die Nerven zu behalten. Dabei war er Biologe und kein professioneller Astronaut.

»Verschwinde!«, zischte Orlov.

»Juri, ich …«

»Verschwinde!«, brüllte der Russe. »Ich will dich hier nicht mehr sehen!«

Jetzt reichte es! »Du dämlicher russischer Idiot!«, schrie Cantoni zurück. »Du gehst mir schon lange auf den Geist mit deiner rechthaberischen Art, und jetzt fängst du auch noch an durchzudrehen! Reiß dich zusammen, verdammt noch mal! Nur, weil du der Kommandant bist, heißt das nicht, dass du …«

Orlov stieß einen langen russischen Fluch aus. Dann nahm er eines der Bordhandbücher aus einem Wandschrank und warf es in Cantonis Richtung. »Verschwinde, Saboteur!«, brüllte er, außer sich vor Wut. »Wenn ich dich noch einmal in der Nähe des Zentralcomputers erwische, breche ich dir eigenhändig das Genick!«

Cantoni versuchte, dem schweren Gegenstand auszuweichen, doch da er frei im Raum schwebte, konnte er nur hilflos mit den Armen rudern. Das Plastikbuch traf ihn hart an der Stirn und ließ ihn zurücktaumeln. Ein paar winzige rote Kügelchen schwebten zitternd davon.

Cantoni fasste sich an den Kopf und starrte ungläubig auf seine blutverschmierten Finger. Er warf Orlov einen hasserfüllten Blick zu, doch der hatte sich wieder dem Computer zugewandt und ignorierte ihn. Cantoni unterdrückte den Impuls, das Buch zurückzuwerfen. Langsam zog er sich durch das Schott in das Zarya-Modul, suchte eine Weile nach dem Verbandskasten, fand ihn schließlich unter einem transparenten Wäschesack aus Plastik und klebte sich ein Pflaster auf. Es war nur eine kleine Platzwunde, aber doch ein schwerwiegender Vorfall.

Cantoni wusste, dass er Orlovs Verhalten zu melden hatte, aber er entschied sich dagegen. Hier oben war er den Launen des Kommandanten hilflos ausgeliefert. Die Sesselfurzer von Mission Control konnten rein gar nichts für ihn tun, und eine Meldung würde Orlovs Laune nur noch verschlimmern. Wenn der Shuttle-Start diesmal klappte, würde er bald zu Hause sein. Die letzten Tage würde er schon noch irgendwie überstehen.

Die meisten seiner Kollegen auf der Erde hätten ihr gesamtes Hab und Gut hergegeben, um an seiner Stelle sein zu dürfen. Doch er sehnte sich nur noch nach Cilia und den Kindern, nach seinem kleinen Haus in der Nähe von Lucca in den Hügeln der Toskana, nach einem einfachen Ciabatta, getunkt in kalt gepresstes Olivenöl, und einem von der Abendsonne gewärmten Glas Chianti. Er sehnte sich so sehr danach, dass es weh tat.

Das Einzige, was ihn nach all der Zeit hier oben immer noch begeistern konnte, war der Blick aus dem Fenster. Als er das Destiny-Labor erreichte, ignorierte er seine Experimente für einen Augenblick und warf einen langen, sehnsüchtigen Blick auf die Erde, die so nah erschien und doch so unerreichbar fern war.

Von hier oben sah man deutlich, wie dünn die Atmosphäre war, kaum mehr als die Schale eines riesigen, türkisblauen Apfels. Man konnte die Schönheit dieses einzigartigen Ortes im Universum erst im Vergleich zur bitterschwarzen Kälte und Leere des Weltraums ermessen. Doch die Menschen dort unten interessierten sich kaum für diese Perspektive und führten sich auf, als könnten sie jederzeit auf den Mars umziehen, wenn die Lebensbedingungen auf der Erde endgültig ruiniert waren.

Unter einer Ansammlung von Wölkchen, die aus dieser Höhe tatsächlich wie weidende Schafe aussahen, erkannte er die dänische Halbinsel und die deutsche Nordseeküste, die lautlos unter ihm dahinglitten. Hamburg zeichnete sich als schmutziggrauer Fleck auf dem satten Grün der norddeutschen Tiefebene ab, ein Häufchen Zigarettenasche neben dem dünnen, krakeligen Strich der Elbe.

Was würde er dafür geben, jetzt dort unten zu sein.

2.

Hamburg-Hafencity,

Mittwoch 16:12 Uhr

»Was Sie jetzt sehen, ist eine echte Weltpremiere«, sagte Mark Helius. Er unterdrückte den Impuls, sich durch sein kurzes schwarzes Haar zu fahren, in dem sich, trotz seiner erst dreiunddreißig Jahre, bereits graue Strähnen zeigten. Er durfte sich seine Nervosität nicht anmerken lassen. Mit einem kurzen Blick vergewisserte er sich noch einmal, dass sein graphitfarbener Anzug von Gucci perfekt saß und man den Kaffeefleck auf dem hellblauen Manschettenhemd nicht sah. Die Show heute musste perfekt laufen, sonst war seine Firma Distributed Intelligence AG, kurz D. I., am Ende. Was das für die Mitarbeiter, die ihm jahrelang die Treue gehalten hatten, und für seine eigene Zukunft bedeuten würde, darüber durfte er jetzt auf keinen Fall nachdenken.

Seine Hand zitterte leicht, als er die Enter-Taste drückte, um das Programm zu starten. Das große, helle Rechteck, das der Beamer an die Wand des Konferenzraums warf, beleuchtete die Gesichter der Aufsichtsratsmitglieder. Ihre Skepsis war deutlich zu sehen. Besonders die buschigen Augenbrauen von John Grimes, Vertreter des wichtigsten Investors Change Capital Corporation, waren zusammengezogen. Seine wässrigen Augen unter ihren herabhängenden Lidern blickten auf die Projektion des Computerbildschirms, als erwarte er, dass dort im nächsten Moment ein Systemfehler angezeigt würde.

Mark wandte sich der kabellosen Tastatur zu. »Hallo DINA«, tippte er in ein Eingabefeld. Die Abkürzung stand für »Distributed Intelligence Network Agent«. Es war die Bezeichnung für die Software, die Marks Firma entwickelt hatte.

»Hallo Mark«, erschien im Ausgabefeld von DINA. »Wie geht es dir heute?« Die Worte wurden groß auf die Wand projiziert. Gleichzeitig wurden sie von einer ruhigen, weiblichen Stimme gesprochen, die aus dem Lautsprechersystem des Konferenzraums erklang und der man kaum anmerkte, dass sie von einem Computer erzeugt wurde. Lediglich die Betonung war an einigen Stellen unnatürlich.

»Ich bin etwas nervös«, schrieb Mark. »Wir haben gerade unseren großen Auftritt vor dem Aufsichtsrat.«

»Oh, dann muss ich mir wohl besondere Mühe geben«, sagte DINA.

Mark blickte auf. Andreas Heider, Portfolio-Manager bei der Risikokapital-Gesellschaft Earlystage Venture Capital, schmunzelte. Auch der Aufsichtsratsvorsitzende Helmut Weseling gönnte ihm ein Lächeln, wenn auch ein eher herablassendes.

John Grimes lächelte nicht. »Was soll das?«, fragte er mit seiner tiefen Stimme, die von einem starken britischen Akzent geprägt war.

»Was ich Ihnen heute präsentiere«, sagte Mark und legte den Rest seines Stolzes in die Stimme, »ist eine neuartige Benutzerschnittstelle für DINA. Unsere Kunden brauchen jetzt für ihre Informationsabfragen keine komplizierte Syntax mehr zu lernen. Sie können ihre Fragen ganz einfach in natürlicher Umgangssprache stellen. Ich werde es Ihnen zeigen.« Er tippte: »Wie ist der Luftdruck in Heidelberg?«

»Der Luftdruck in Heidelberg beträgt zurzeit 1009 Hektopascal«, sagte DINAs synthetische Stimme.

»Wie wird der Luftdruck dort morgen um 15:00 Uhr sein?«

»Der Luftdruck in Heidelberg wird morgen um 15:00 Uhr zwischen 1021 und 1025 Hektopascal betragen.«

»Wie Sie sehen, berechnet DINA gerade ein komplexes Klima-Simulationsmodell«, sagte Mark. »Sie können jede beliebige Frage zum Wetter in Deutschland stellen, und DINA wird versuchen, sie anhand der Simulationsergebnisse zu beantworten.«

Grimes starrte Mark mit seinem Froschgesicht an, als halte er ihn für eine appetitliche Fliege. Er führte die Fingerspitzen zusammen und klappte die Unterlippe nach unten, wie er es immer tat, bevor er eine seiner gefürchteten Fragen stellte. Mark ahnte schon, was jetzt kommen würde: Die Frage danach, wie viel zusätzlichen Umsatz diese neue Technologie in den nächsten sechs Monaten bringen würde.

Grimes beugte sich vor. »Darf ich die Tastatur haben, bitte?«

Überrascht schob Mark Tastatur und Maus auf die andere Seite des Tisches. Bisher hatte sich Grimes noch nie aktiv mit den Produkten von D. I. auseinandergesetzt.

»Wie ist das Wetter in Rio de Janeiro?«, tippte er.

»Dieses Simulationsmodell generiert nur Wetterdaten für Deutschland«, sagte DINA.

Mark lächelte und nickte seinem Mitgründer und Technik-Vorstand Ludger Hamacher zu, der zwischen Grimes und Heider saß. Ludger wirkte blass und angespannt. Auch Mary Andresen, Vorstand für Finanzen, war die Nervosität anzusehen. Sie wusste besser als alle anderen, wann der Firma das Geld ausgehen würde. Es waren wahrscheinlich weniger als acht Wochen bis zu dem Zeitpunkt, an dem Mark den Insolvenzantrag stellen musste. Wenn nicht noch ein Wunder geschah.

»Wie ist das Wetter am 30. Februar 2012?«, tippte Grimes.

»Der Monat Februar hat im Jahr 2012 nur 29 Tage.«

Zustimmendes Nicken von Andreas Heider. Helmut Weseling kritzelte auf seinem Notizblock herum. Wahrscheinlich versuchte er auszurechnen, ob 2012 ein Schaltjahr war.

»Also gut, wie ist das Wetter am 29. Februar 2012?«

»Die Prognosegenauigkeit dieses Simulationsmodells reicht für langfristige Betrachtungen nicht aus. Bitte beschränken Sie den Zeitraum auf die nächsten zehn Tage.«

»Wie ist das Wetter nächsten Donnerstag?«

»Für welchen Ort wünschen Sie eine Prognose?«

»Hamburg.«

»In Hamburg wird es am Donnerstag leicht bewölkt sein, mit gelegentlichen Auflockerungen. Die zu erwartende Niederschlagsmenge liegt zwischen 0,00 und 0,05 Liter pro Quadratmeter.«

Die Mienen der Aufsichtsratsmitglieder hellten sich auf. Mark jubelte innerlich. Dass John Grimes selbst mit DINA kommunizierte, war das Beste, was passieren konnte. Und DINA schlug sich wirklich brillant. Er nahm sich vor, Ludger und sein Team nach der Sitzung zu beglückwünschen.

»Wie ist der Luftdruck in Heidelberg?«, tippte Grimes.

»Der Luftdruck in Heidelberg beträgt zurzeit 1008 Hektopascal.«

»Wie wird der Luftdruck dort morgen um 15:00 Uhr sein?«

»Der Luftdruck in Heidelberg beträgt morgen um 15:00 Uhr zwischen 1087 und 1112 Hektopascal.«

Mark stutzte. Das waren nicht die Zahlen, die DINA vorhin ausgegeben hatte. Er kannte sich nicht besonders gut mit Meteorologie aus, aber die Werte erschienen ihm recht hoch.

»Wie hoch wird der Luftdruck in Heidelberg morgen um 15:00 Uhr sein?«, tippte Grimes noch einmal.

»Der Luftdruck in Heidelberg beträgt morgen um 15:00 Uhr zwischen 212 und 231 Hektopascal«, sagte DINA mit ihrer ruhigen, emotionslosen Stimme.

Mark wurde kalt.

»Ganz schöne Luftdruckschwankungen in Heidelberg«, sagte Grimes. Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen. »Vielleicht sollten wir den Deutschen Wetterdienst anrufen und eine Sturmwarnung herausgeben lassen. Oder besser, wir empfehlen, die Stadt zu evakuieren. 230 Hektopascal, da braucht man schon ein Sauerstoffgerät.«

»Da ist wohl etwas nicht in Ordnung mit eurem Simulationsmodell«, sagte Helmut Weseling, der eine große Begabung dafür hatte, offensichtliche Dinge festzustellen. Andreas Heider schüttelte nur traurig den Kopf.

Mark wandte sich hilfesuchend an Ludger, der schweigend dasaß, den Kopf auf die Hände gestützt. Eine peinliche Pause entstand. »Der Schmetterlingsflügel-Effekt«, improvisierte er. Er hatte einmal in einer Wirtschaftszeitung einen Artikel über Chaosforschung gelesen. »Manchmal kommt es in komplexen Systemen zu merkwürdigen Effekten, wenn sich Rahmenbedingungen nur um eine Kleinigkeit ändern. Die Wissenschaftler nennen das den Schmetterlingsflügel-Effekt. Wenn ein Schmetterling in Tokio mit den Flügeln schlägt, kann das theoretisch in Frankfurt einen Sturm auslösen.«

»Einen Sturm vielleicht, aber kein Vakuum«, sagte Grimes. »Außerdem, ich habe heute mit Herrn Martens von der Universia-Versicherung telefoniert. Er hat mir erzählt, dass DINA häufig Fehler macht und dass die Universia deshalb den Vertrag nicht verlängern wird.« Er machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen. Sie klangen wie ein Todesurteil.

Mark hatte John Grimes wieder einmal unterschätzt. Er hatte gehofft, die Schwierigkeiten mit der Universia noch lösen zu können. Auf jeden Fall hatte er die Nachricht, dass der letzte große Kunde von D. I. absprang, so lange wie möglich zurückhalten wollen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Grimes selbst einen D.-I.-Kunden anrufen würde. So etwas gehörte sich einfach nicht. Andererseits hatte er als Mitglied des Aufsichtsrats durchaus das Recht, so etwas zu tun.

Mark brauchte nicht in die Runde zu blicken, um zu wissen, dass er den Aufsichtsrat verloren hatte. Es war undenkbar, dass jemand in dieser Situation weiteres Geld in die Firma investierte, nachdem D. I. in den vergangenen fünf Jahren regelmäßig die Umsatzpläne weit verfehlt hatte. Er konnte die Investoren sogar verstehen – sie hatten nur ihre Zahlen im Kopf und begriffen nichts von der Technik, die hinter den Zahlen stand, von der Brillanz der Programmierer, von der Mühe und Kreativität, die in DINA geflossen waren.

Es sah verdammt schlecht aus für D. I. Aber es hatte schon öfter schlecht ausgesehen, und Mark hatte nie aufgehört zu kämpfen. Er würde sich auch jetzt nicht geschlagen geben. »Ich bin mit Herrn Martens im Gespräch«, sagte er und versuchte, seiner Stimme den Optimismus und die Begeisterung zu verleihen, mit denen er schon früher schwierige Situationen herumgerissen hatte. Doch die Worte klangen selbst in seinen Ohren hohl. »Wir werden die Schwierigkeiten lösen, das verspreche ich Ihnen.«

»Das versprechen Sie!« Grimes schüttelte den Kopf, als könne er diese Aussage nicht fassen. »Sie haben schon so viel versprochen, Herr Helius. Nur gehalten haben Sie es nicht. Ihre Software hat nie richtig funktioniert, und wenn es so weitergeht, wird sie auch niemals funktionieren. Es hat nur zu lange gedauert, bis wir das gemerkt haben.«

»Mark, wie sieht denn die Auftrags-Pipeline aus?«, fragte Andreas Heider. »Steht vielleicht ein großer Kunde vor der Tür, mit dem ihr den Wegfall der Universia ausgleichen könntet?« Wieder einmal versuchte er, einer festgefahrenen Diskussion durch einen konstruktiven Beitrag eine neue Richtung zu geben. Mark liebte ihn dafür.

»Wir haben ein mündliches Okay von Xtragene für eine Simulation komplexer chemischer Reaktionen auf zellularer Ebene«, sagte er. »Das ist zwar nur ein kleiner Auftrag, aber ich bin sicher, dass …«

»Selbst wenn die Universia nicht abspringt«, unterbrach Grimes, »hat die Firma nur noch Geld für, Moment …« Er kramte einen Zettel aus seinem Aktenkoffer hervor. »… für höchstens zehn Wochen. Ich sehe nicht, wie D. I. in dieser Zeit noch auf einen positiven Cashflow kommen will.«

»Heißt das, dass Change Capital nicht bereit ist, einer Kapitalerhöhung zuzustimmen, wie sie das Management vorschlägt?«, fragte Helmut Weseling. Mark hätte ihn würgen können. Es war taktisch äußerst ungeschickt, ausgerechnet jetzt so eine Frage zu stellen und Grimes damit zu einer Festlegung zu zwingen.

»Das heißt es nicht«, sagte Grimes.

Mark blickte überrascht auf. Die Hoffnung ließ sein Herz schneller schlagen.

Grimes sah ihn direkt an, und ein süffisantes Lächeln umspielte seinen breiten Mund. »Aber wenn Change Capital noch einmal in diese Firma investieren soll, dann muss sich etwas Grundlegendes ändern.«

»Ändern?«, fragte Heider. »Was soll sich denn nach Ihrer Meinung ändern?«

»Nach meiner Meinung«, sagte Grimes ruhig, »braucht Distributed Intelligence ein neues Management.«

3.

Hamburg-Hafencity,

Mittwoch 17:15 Uhr

»Das kann er doch nicht machen! Dieses fette Schwein!« Marys sommersprossiges Gesicht, das von einem kaum gebändigten Kranz roter Locken umrahmt war, glühte vor Wut.

»Er kann, verlass dich drauf!« Mark barg das Gesicht in den Händen. Sie saßen zu dritt im Konferenzraum, den die Aufsichtsratsmitglieder längst verlassen hatten. Leere Kaffeetassen, Kekskrümel und zerknüllte Zuckerpäckchen bedeckten den Tisch, die Trümmer einer Schlacht. Alle Rollos waren inzwischen wieder hochgezogen und gaben eine atemberaubende Aussicht auf den Hamburger Hafen und die Elbe frei, die tief unter ihnen träge der Nordsee zufloss. Früher war Mark stolz gewesen auf diesen Blick und auf die Tatsache, dass D. I. sich eines der schönsten Büros Hamburgs im elften Stock des Hanseatic Trade Center leisten konnte. Heute empfand er die teuren Räume nur noch als Klotz am Bein.

Er seufzte. »Er wird sich die Firma endgültig unter den Nagel reißen. Und ich bin raus.« Und ruiniert, fügte er in Gedanken hinzu. Sie werden mir das Haus wegnehmen. Julia wird mir das nie verzeihen.

»Aber du bist der Gründer! Du hast die Firma aufgebaut!«, sagte Mary.

»Na und?«

»Ohne dich fehlt die strategische Linie! Die Vision!«

»Grimes will keine Vision, er will Umsatz.«

»Das ist doch kurzsichtig! Wir haben die weltbeste Software, um …«

»Die weltbeste Software? Dass ich nicht lache!« Wut und Enttäuschung schnürten Mark die Kehle zu. »Einen Scheiß haben wir! Du hast doch gesehen, was DINA für einen Mist gerechnet hat!«

»Ein kleiner Fehler, das kann doch mal passieren …«

»Das passiert aber in letzter Zeit andauernd! Ich kann die Universia verstehen. Was nützen Simulationsergebnisse, denen man nicht trauen kann? Im Grunde hat Grimes recht. DINA funktioniert einfach nicht!«

Stille trat ein. Beide wandten sich Ludger zu, der die ganze Zeit kreidebleich und mit zusammengepressten Lippen dagesessen hatte.

»Sag du doch auch mal was!«, fuhr ihn Mark an.

Ludger schüttelte nur den Kopf.

»Was ist denn los, verdammt noch mal? DINA hat doch früher nie Probleme gemacht. Es kann doch nicht so schwer sein, eine Software zu schreiben, die funktioniert!«

Ludger sah Mark an, und sein schmales Gesicht, das immer so ruhig und beherrscht war, der Inbegriff kühler Vernunft, verzerrte sich plötzlich.

»Nicht so schwer?« Seine Stimme bebte. »Du hast ja überhaupt keine Ahnung!«

»Stimmt, ich hab keine Ahnung.« Mark umklammerte mit beiden Händen die Tischkante, um sich selbst daran zu hindern loszubrüllen. »Ich bin schließlich nur Diplomkaufmann und kein gottverdammtes Informatik-Genie wie du. Ich weiß nur, dass die Firma den Bach runtergeht, weil du und deine Programmierer euren Job nicht hinkriegt!«

»Das reicht!« Ohne ein weiteres Wort stand Ludger auf und verließ den Konferenzraum. Die Tür krachte hinter ihm ins Schloss. Es war ein Gefühlsausbruch, wie er ihn nur sehr selten zeigte.

Mark warf Mary einen betretenen Blick zu. Er wusste, dass er ungerecht gewesen war – Ludgers Team hatte etliche Spätschichten eingelegt, um rechtzeitig zur Aufsichtsratssitzung die neue Version der natürlichsprachlichen Schnittstelle fertigzustellen. Dass unter derartigem Zeitdruck Fehler passierten, war ganz normal. Aber sie konnten sich solche Fehler einfach nicht leisten, gerade jetzt, wo es um ihre Existenz ging!

»Ich werde mich wohl bei Ludger entschuldigen müssen«, sagte er.

»Mach dir keine Gedanken«, sagte Mary. »Ludger weiß, dass du es nicht so meinst. Jetzt geh erst mal nach Hause und ruh dich aus! War ein harter Tag heute. Morgen redest du noch mal in aller Ruhe mit ihm, dann sieht die Welt schon wieder anders aus.«

Mark sah auf seine Uhr – eine goldene Audemars Piguet mit schwarzem Zifferblatt, die er sich vor ein paar Jahren im Überschwang der Begeisterung über die erste große Finanzierungszusage gegönnt hatte. Er nickte. Es war zwar erst halb sechs, aber enttäuscht, müde und abgekämpft, wie er war, würde er vielleicht nur wieder etwas Dummes sagen, wenn er jetzt mit Ludger weiterdiskutierte.

Als er den Konferenzraum verließ, sahen ihn die Mitarbeiter im Großraumbüro mit fragenden Mienen an. Nachdem Ludger kurz zuvor wütend vorbeigestürmt war, war es für sie offensichtlich, dass die Aufsichtsratssitzung schlecht gelaufen sein musste und sie sich gestritten hatten.

Verdammt, Ludger war zu Recht sauer. Dieses Team war einfach großartig. Es zerriss ihm fast das Herz, zu wissen, dass er bald kein Teil mehr davon sein würde. Wenigstens behielten ein paar von ihnen ihre Arbeitsplätze.

Mark suchte nach beruhigenden Worten, einem Scherz, irgendetwas, um den Leuten die Angst zu nehmen. Doch ihm fiel nichts ein, was nicht schrecklich hohl geklungen hätte. Die Kehle schnürte sich ihm zu. Er senkte den Blick und verließ das Büro ohne ein Wort.

4.

Hamburg-Poppenbüttel,

Mittwoch 18:02 Uhr

Mark zögerte einen Moment, die elegante, weiße Haustür seiner modernen Villa in Poppenbüttel im Hamburger Norden aufzuschließen. Er hatte keine Ahnung, wie er seiner Frau klarmachen sollte, dass er im Begriff war, seinen Job zu verlieren. Julia stammte aus einer angesehenen Hamburger Familie und war sehr auf ihren guten Ruf in der Nachbarschaft bedacht. Sie würde die Schmach kaum ertragen, dass ihr Mann plötzlich auf der Straße saß.

Er verdrängte den Gedanken mit aller Macht und versuchte, sich auf die kleinen, angenehmen Dinge zu konzentrieren, die ihm bevorstanden: ein kühles Bier, eine herzliche Umarmung von Julia, die ihn später im Bett vielleicht auf andere Gedanken bringen würde. Er atmete tief durch und drehte den Schlüssel im Schloss.

Julia saß vor dem Fernseher und sah irgendeine geistlose Spielshow im Vorabendprogramm. Als sie ihn hörte, stellte sie den Fernseher ab und posierte kokett vor ihm. »Na?«

Mark sah sie verständnislos an. »Na, was?«

»Fällt dir nichts an mir auf?«

Mark blinzelte. »Du warst beim Friseur. Sieht toll aus!«

Julia zog eine Schnute. »Quatsch! Ich meine das Kleid! Gefällt es dir nicht? Tina sagt, es steht mir irre gut!«

Es war ein elegantes, eng geschnittenes Cocktailkleid aus dunkelroter Baumwolle. Sie hatte recht, es betonte ihre schlanke Figur und harmonierte gut mit ihren blonden, schulterlangen Haaren. »Oh, ja, sehr hübsch.«

»Es war runtergesetzt! Von 1200 auf unter 800 Euro!«

Mark wurde kalt. 800 Euro für ein Kleid, einfach so. Wo sie sowieso schon ein dickes Minus auf dem Konto hatten und hoch verschuldet waren wegen des Hauses. Er schluckte. »Hast du noch mehr gekauft?«

Julia senkte den Blick. Sie sah hinreißend aus, wenn sie sich ertappt fühlte.

»Nur eine Kleinigkeit …« Sie lächelte schuldbewusst. »Eine Tasche. Die musste ich einfach haben! Passt absolut perfekt dazu! Und Schuhe natürlich, ich hab ja keine dunkelroten. Mehr nicht, ehrlich.«

»Wie viel?«, fragte Mark.

Julia erschrak über seinen Tonfall. »Fünfhundert, ungefähr. Und dann noch die Schuhe, aber die waren auch runtergesetzt. Nicht böse sein, ja?«

Mark konnte es nicht fassen. Früher hatte es ihm gefallen, dass sie es verstand, sich gut zu kleiden und elegant aufzutreten. Wenn er mit ihr in der Öffentlichkeit auftrat, erntete er immer bewundernde Blicke und war stolz auf sie. Doch in letzter Zeit hatte das Minus auf ihrem Konto immer bedrohlichere Dimensionen angenommen. Er hatte sogar schon einen Anruf von der Bank erhalten. Daraufhin hatte er Julia mindestens ein Dutzend Mal gebeten, sparsamer zu sein. Aber sie kam aus einer wohlhabenden Familie und hatte nie gelernt, was es hieß, für Geld hart arbeiten zu müssen.

Er atmete tief ein und aus. »Schatz, ich hab es dir schon mehrfach gesagt. So geht es nicht weiter! Wir müssen mit dem Geld haushalten! Ich bin doch kein Millionär!«

»Aber du hast doch die Firma! Du hast immer gesagt, wenn ihr an die Börse geht, dann …«

»Wir gehen aber nicht an die Börse, verdammt!« Seine Stimme wurde schneidend, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Der Frust des heutigen Tages brach sich erneut Bahn. »Niemand geht mehr an die Börse! Du solltest mal hin und wieder Zeitung lesen, statt nur deine dämlichen Shows zu glotzen, dann wüsstest du das! Ich bin nicht reich, und ich werde es auch nicht.« Er seufzte. »Im Gegenteil. So, wie es aussieht, werde ich bald arbeitslos.«

Julia sah ihn mit großen Augen an. »Was?«

»John Grimes will mich als Vorstand ablösen!«

»Aber das kann er doch nicht machen! Die Firma gehört doch dir!«

»Mir gehören ein paar Anteile, ja, aber die Firma ist abhängig vom Geld der Investoren. Sie können mit mir machen, was sie wollen.«

Julia schluckte. Tränen liefen über ihre hübschen Wangen. Ihre Unterlippe zitterte leicht. Sie machte ein paar Mal den Mund auf, brachte aber nichts heraus.

Mark wollte sie in den Arm nehmen, sie trösten, ihr sagen, dass alles gut würde, dass er schon irgendwie auf die Füße fallen würde. Doch in diesem Moment zischte sie: »Ich hätte auf meinen Vater hören sollen! Er hat immer gesagt, dass die Firma nur eine Luftnummer ist. Ich habe dich verteidigt. Ich habe dir vertraut.« Sie schluchzte. »Aber er hatte die ganze Zeit recht. Er hat mich von Anfang an gewarnt, dass ich einen Versager geheiratet habe.«

Mark erstarrte.

Versager. Vor ein paar Tagen noch hätte er über das Wort gelacht. Er war vielleicht noch nicht reich geworden, aber er hatte eine funktionierende Firma aufgebaut und durch schwierige Zeiten gebracht. Er hatte zwei Dutzend Menschen einen Arbeitsplatz gegeben. Da konnte er wohl kaum ein Versager sein.

Doch heute war alles anders. Heute tat dieses Wort weh, wie nur ein Wort weh tun kann, in dem Wahrheit steckt. Jetzt, wo er Unterstützung am dringendsten brauchte, fiel ihm Julia in den Rücken. Er spürte, dass jedes weitere Wort, das er jetzt sagte, irreparablen Schaden anrichten würde, aber er konnte sich nicht zurückhalten.

»Dann geh doch zu deinem Vater und heul dich bei ihm aus!«, brüllte er. »Ich bin sicher, er kauft dir auch noch ein paar schicke Kleider!«

Julias Augen blitzten vor Wut. Eine drückende Stille trat ein. Langsam nickte sie. »Gut. Ich gehe!«

Ihre Eltern wohnten in Fußnähe, in einer schönen Jugendstil-Villa mit zwei großen Gästezimmern. Julia übernachtete manchmal noch dort, wenn Mark beruflich unterwegs war. Hoch erhobenen Hauptes nahm sie den Schlüssel und ging. Als das Krachen der Haustür verhallt war, blieb nur Stille zurück.

5.

Palo Alto/Kalifornien,

Mittwoch 13:03 Uhr

Norman Reed sah auf die Uhr. Kurz nach eins. Nur noch eine knappe Stunde, dann war die Frühschicht zu Ende. Er würde bei Carl’s Jr. ein paar Hamburger essen, nach Hause fahren und sich aufs Ohr hauen, und dann, am Abend, würde er sich wie immer mit seinen Freunden in Eternia treffen.

Er sah kurz aus dem Fenster. Der Himmel war klar, nur ein paar vereinzelte Zirruswolken deuteten an, dass ein stetiger Wind vom Pazifik hereinwehte, der für schöne, gleichmäßige Brandung sorgen würde. Ideale Bedingungen zum Surfen. Doch Norman hatte schon lange nicht mehr auf einem Surfbrett gestanden. Er musste damals sechzehn gewesen sein, und er hatte den Körper eines Athleten gehabt. Mit der enormen Wampe, die er heute mit sich herumschleppte, traute er sich nicht mehr an den Strand. Aber das war egal. Er war längst über den Punkt hinaus, an dem er sich seines Dickseins schämte.

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