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Julie von Voß, spätere Gräfin von Ingenheim war die Frau zur linken Hand des Königs Friedrich Wilhelm und gebar ihm 1789 einen Sohn. Durch eine schwere Tuberkulose wurde sie nur 22 Jahre alt. Jeder geschichtsbewusste Bucher Bürger weiß, dass Theodor Fontane in seinen Wanderungen auf ihren namenlosen Gedenkstein im Bucher Schlosspark hinwies. Die Geschichte dieser heftigen, kurzen Liebe hat Annemarie von Nathusius in den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts aufgeschrieben.
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Seitenzahl: 333
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Julie Amalie Elisabeth von Voß Gräfin von Ingenheim
4. Juli 1766 bis 25. März 1789
Vorbemerkungen
Über Annemarie von Nathusius
Spurensuche
Kapitel
Handelt von der Not vieler Seelen
Kapitel
Abschied von Glück und Glanz
Kapitel
Wie die Krone der Fliehenden noch einmal winkt
Kapitel
Vom Sehnen nach Frieden und den Versuchungen der Welt
Kapitel
Vom Sieg der Liebe
Kapitel
Die Rivalin
Kapitel
Vom Triumph des Lebens
Kapitel
Wie Julie die Not der Seele wiederfand
Kapitel
Vom Kämpfen und Unterliegen
Kapitel
Vom letzten Leuchten und Erlöstwerden
Eine pikante historische Person
Betrachtet von Gotthard Erler
Die Schöne auf dem Titelbild zeigt die Schriftstellerin Annemarie von Nathusius, die doch auch so gut in die Rolle der Gräfin Ingenheim alias Julie von Voß passen könnte.
Mit dem vorliegenden kleinen Band wollen wir in der Erinnerungskiste von Berlin-Buch kramen, Frau von Nathusius etwas entstauben und diesen historischen Roman, der auch im damals abgelegenen Nordosten Berlins spielt, dem Vergessen entreißen.
Bevor Sie also gleich loslesen können, hier noch ein paar Worte zur Autorin
Annemarie von Nathusius wurde am 28. August 1874 bei Posen geboren. Sie war die Enkelin der Schriftstellerin Marie Nathusius und des Publizisten Philipp von Nathusius. Von 1882 bis 1884 lebte sie auf dem Rittergut Nothwendig bei Filehne. Von 1885 bis 1891 lebte sie in Rudolstadt. Ab 1887 war sie Schülerin im Magdalenenstift in Altenburg, das sie 1890 nach ihrer Konfirmation verließ.
1896 heiratete sie ihren Onkel zweiten Grades Thomas von Nathusius. Mit ihm lebte sie in Berlin. 1904 wurde die Ehe kinderlos geschieden. Bereits im Jahr 1901 begannen erste schriftstellerische Arbeiten. Annemarie von Nathusius lernte den Schriftsteller Paul Ilg kennen, mit dem sie zahlreiche Reisen unternahm.
1904 konnte sie ihren ersten Roman „Glückssucher“ an die Berliner Illustrierte Zeitung verkaufen. 1905 erschien der zweite Roman, „Die Herrin von Bronkow“. Danach lernte sie ihren Mäzen kennen, der sie bis zu seinem Tod unterstützte: Christian Kraft zu Hohenlohe-Öhringen. Trotz ihrer literarischen Erfolge und trotz allen Arbeitsfleißes konnte sie ihre Existenz nur mühsam sichern. 1910 veröffentlichte sie „Der stolze Lumpenkram“. In diesem Buch verarbeitete sie ihre familiären Verhältnisse und distanzierte sich von den Lebensformen und den politischen Ansichten des preußischen Adels. Die Veröffentlichung des Romans wurde als Kampfansage verstanden. Heftige Kontroversen waren die Folge, denn in diesem Roman forderte Annemarie von Nathusius die ökonomische und politische Emanzipation der Frau.
Nach anfänglicher Kriegsbegeisterung bekam sie 1914 Kontakt mit der pazifistischen und antimilitaristischen Bewegung in Berlin. Sie kam zum Bund Neues Deutschland und lernte dort wichtige Vertreter kennen wie Graf von Arco, Stefan Zweig, Albert Einstein und Clara Zetkin. Enge Freunde in diesem Kreis wurden der Publizist und Politiker Hellmuth von Gerlach sowie der Marineoffizier, Pazifist und Schriftsteller Hans Paasche.
Ab 1918 rückten historische Stoffe immer mehr in den Vordergrund ihres literarischen Schaffens. Das hier vorliegende Buch „Das törichte Herz der Julie von Voß. Eine Hofgeschichte aus der Zopfzeit“ sei hier als erstes genannt. Der Roman wurde bis 1937 mehrfach nachaufgelegt. Als Gegenstücke zu den historischen Romanen schrieb sie Zeitromane. Hier thematisierte sie den gesellschaftlichen Wandel und Umbruch im Nachkriegsdeutschland. Die Veröffentlichungen wurden Bestseller und Annemarie von Nathusius endlich Erfolgsautorin. Daneben besuchte sie häufig den „Reformistenstammtisch“. Dort empörte sie sich über die Aufstände der rechtsradikalen Freikorps. Ihr Freund Hans Paasche wurde 1920 von ihnen erschossen.
Demonstrativ nahm sie an den Trauerfeierlichkeiten für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht teil, obwohl sie nicht zum linken Parteienspektrum zählte.
1925, während einer Persienreise, verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand. Deshalb begab sie sich zur Diabetes-Behandlung nach Baden-Baden. In dieser Zeit arbeitete sie an ihrem persischen Reisetagebuch. Am 15. Oktober 1926 reiste sie nach Berlin, um im Verlag entsprechende Einzelheiten zu klären. Am 17. Oktober starb Annemarie von Nathusius in Berlin. Sie wurde auf dem Friedhof Grunewald beigesetzt.
Michael Kowarsch und Reinhardt Prüfert
Als Fontane auf seinen Wanderungen durch die Mark nach Buch kam, wo er das verschollene Grab der Gräfin Ingenheim entdeckte, ging ihm in Erinnerung ihres ergreifenden Schicksals ein Schauer durch die Seele, und gerührt schrieb er:
„Überall in Buch begegnet man den Spuren der schönen Gräfin, aber nirgends ihrem Namen. Wie in Familien, wo das Lieblingskind starb, Eltern und Geschwister übereinkommen, den Namen desselben nie mehr auszusprechen, so auch hier. Eine Gruft ist da, aber es fehlt der Stein, aus reichem goldenen Rahmen heraus blickt ein Frauenbild, aber die Kastellanin nennt den Namen nicht, und nur das Wappen zu Füßen des Bildes gibt einen Aufschluß. Und nun treten wir von dem Bild hinweg noch einmal in den Park hinaus.
Eine seiner dunklen Alleen führt an einen abgeschiedenen Platz, auf dem Edeltannen ein Oval bilden. Inmitten desselben erhebt sich ein Monument mit einem Reliefbild in Front: der Engel des Todes hüllt eine Sterbende in sein Gewand, und ihr Antlitz lächelt, während ein Kranz von Rosen ihrer Hand entsinkt.
‚Soror optima, amica patriae’, so lautet die Inschrift. Aber der Name der geliebten Schwester fehlt.“
Diese Worte folgten mir nach, sie bewogen mich, dem mir verborgenen Leben nachzuforschen, und schon die ersten dürftigen Berichte über Julie von Voß‘ kurzes, stürmisches Erdenwallen erfüllten mich mit nicht endender Teilnahme. Aber erst durch die Auszeichnungen ihrer Tante Sophie von Voß, der berühmten Oberhofmeisterin des preußischen Hofes, sah ich mit offenen Augen in jene so sehr bewegte, so sehr bedeutsame Welt, darin der traurig schöne Roman der jungen Hofdame spielte. Wenige Seiten nur nimmt er ein in dem großen Tagebuch der Frau, die vier Preußenkönige kannte, in ihrer Kindheit des Reiches Gründer sah und im Alter mit dem „großen Bösewicht“ Napoleon an einem Tische sitzen mußte. Sie kniete am Sterbebett ihrer geliebten Königin Luise, mit ihr hat sie über die Schmach des Vaterlandes geweint und was dieser nicht mehr zu sehen vergönnt war - die siegreiche Erhebung der deutschen Söhne erlebte die achtzigjährige Voß mit verjüngter, dankvoller Seele. Am 10. April 1814 verzeichnet ihr Tagebuch die Nachricht vom Einzug der Alliierten in Paris. „Wir waren alle ganz außer uns vor Freude, Wonne und Entzücken, die lieben Prinzessinnen kamen zu mir herunter, alles fiel sich um den Hals und weinte vor Freude!“
So reich an welterschütternden Ereignissen war ihr Leben, daß ihr nicht viel Zeit blieb, jener bedauernswerten Nichte zu gedenken, die sie im Jahre 1789 zu Grabe tragen mußte, nachdem sie vergeblich die Hände gerungen. hatte, das Unheil von deren Haupt abzuwenden.
Julie von Voß ist in Wahrheit vergessen. Wer weiß noch von ihr? Nur ihre gefürchtete Rivalin Rietz, die spätere Gräfin Lichtenau, lebt noch fort im Gedächtnis unserer Zeit und triumphiert noch im Grabe über die edlere Seele der Feindin. „Gott sei Dank, die Voß ist tot!“ rief jene unbarmherzig, wie nur eine Frau sein kann, die in Gefahr war, ihr Liebstes zu verlieren.
Soll dieses häßliche Wort immer gelten?
Ich wundere mich darüber, daß es noch nie einen Dichter lockte, die rührende Gestalt zu neuem Leben aufzuwecken. Mir schienen in ihrem Los und Wesen, namentlich auch in dem glanzvollen Kreis und der Zeit, welcher sie angehörte, alle Voraussetzungen für eine fesselnde Erzählung gegeben, so habe ich mich denn an die Aufgabe herangewagt, mehr darauf bedacht, eine Seelenstudie als ein Sittenbild zu schaffen. Sicher liegt es nicht am Gegenstand, wenn es mir nicht gelingen sollte, für meine stille Heldin Liebe und Anteil zu erregen. Ich selbst fühle mich belohnt genug durch die vielen Stunden, in denen die Schimmer einer großen Vergangenheit meine Sinne entzückten - in denen ich, dem alles verzehrenden, heißen Daseinskampf unserer Tage entrückt - einer fernen Musik herrlicher Leidenschaften lauschte. Immer wieder bauen sich goldene Brücken in alte Zeiten hinüber, und wenn das Bild der Gegenwart eine Seele verfinstert, findet sie am ehesten Trost und Erhebung in dem verklärenden Licht der Geschichte.
Grunewald
Annemarie von Nathusius
Was sonst in Ehren stünde,
Nun ist es worden Sünde,
Was fang ich an!
Theodor Storm
Durch eine der dichtbelaubten Alleen, die in weitem Bogen auf Schloß Schönhausen zuführen, bewegte sich im Mai 1786 eine saumselige, frühlingsfrohe Gesellschaft. Die Mitte hielt eine von breitschultrigen Lakaien getragene Sänfte, in welcher Elisabeth Christine, die Königin harmloser Feste und Lustbarkeiten, ins Grüne getragen wurde. Entgegen der düsteren Altersgewohnheit ihres einsamen Gemahls in Sanssouci mochte sie die Spiele, Kabalen und sonstigen Leidenschaften der höfischen Menschen nicht missen; ihre tägliche Sorge war und blieb, einen interessanten, unterhaltsamen Kreis zu bilden, sich immer noch als Mittelpunkt der hohen Welt zu fühlen.
Für diesen Nachmittag waren die Einladungen besonders zahlreich ergangen, und sicherlich lag es nicht zuletzt an der Licht- und Blütenfreude, daß so viele Gäste sich eingefunden hatten. Die Allee, deren wechselweise, aber nach Rokokomanier allzu eng gepflanzten Linden und Kastanien ihre Kronen schmerzhaft ineinander trieben, war nur mehr eine Wandelhalle, eine schattengrüne, dufterfüllte Finsternis, darin die mannigfachen Farben der schweren Seidenkleider und gestickten Samtfracks wunderbare Leuchtkraft bekamen. Zwischen den Stämmen fiel im Zickzack zuweilen ein Sonnenstrahl über den Wiesenrand, und wenn ein Windstoß die Blätterwölbung zerriß, huschten die Lichter phantastisch über die langsam wandelnden Gestalten oder spielten auf dem welligen Kies der Wege.
Ein bunter, märchenhafter Zug! Dicht hinter der Sänfte, aus der die alte Königin sich lebhaft mit den zur Seite gehenden Damen und Kavalieren unterhielt, spazierte ein in scharlachrotes Wams gekleideter Mohr, der zwei Papageien und einen Affen trug, die Lieblingstiere seiner hohen Herrin. Rotgekleidete, goldbetreßte Lakaien mit großen weißen Perücken schleppten seitwärts Teppiche und Tücher, gefüllte Körbe, Flaschen und Gläser. Pagen in lichtem Gelb bückten sich nach den Pfauenfederfächern der Damen, und diese selbst glichen in ihrer bunten Pracht jenen stolzen Vögeln, die auf den weiten Rasenflächen ihr schillerndes Rad schlugen.
An Marmorgöttern und Nymphen, an kleinen Grotten, Borkenhäuschen und chinesischen Zelten ging es vorüber, dem wilden Rosenhag zu, hinter dem auf blumiger Wiese das Picknick stattfinden sollte. Da ging Minister Graf Finckenstein in brauner reichgestickter Seide neben der alten Oberhofmeisterin Kannenberg, deren schwarzer Moiré mit gelben Lilien durchwirkt war. General von Bischoffwerder in der Uniform der Gardedukorps führte die noch immer schlanke, reizvolle Prinzessin Heinrich, die einstmalige „belle fée“ an·diesem Hofe der Feste.
Ihr hochtoupiertes, weißgepudertes Haar war von langen Perlenreihen durchflochten und gekrönt von einem Busch weißer Reiher, die zu dem Weiß des kostbaren Paniers stimmten, über dem sich der Manteau von malvenfarbener Seide bauschte und in majestätischer Schleppe nachrauschte. Um die freien Arme wanden sich Perlenschnüre, und das spitze Mieder funkelte von Edelsteinen. Sie trug auf der linken zartgeschminkten Wange eine kleine Mouche und sah ihrem großen, massigen Kavalier mit galantem·Lächeln in die Augen. Ihre stolzen Züge mit den Spuren großer Schönheit waren von Geist und Güte beseelt.
Da sah man Prinzessin Friederike, die junge Tochter des Prinzen von Preußen, zwischen dem Oberhofmarschall von Voß und dem Grafen Rhedern vom Regiment Gensdarmes. Die jungen Gräfinnen Reuß und Eickstedt, im Gefolge junger Offiziere, waren in lichte Farben gekleidet, Blumenkränze im aufgelösten Haar. Unter kurzen, weiten Röcken sah man durchbrochene Strümpfe in hochhackigen Seidenschuhen.
Die vier Personen der letzten Gruppe hatten zwar das entzückende Bild des Zuges unter dem grünen Baldachin immerfort vor Augen, allein man sah ihnen an, daß sie keineswegs als Genießer und säumige Betrachter zurückgeblieben waren. Ein junges Paar ging wortkarg befangen voran, während ein zweites von ungleichem Alter in einigem wie durch Vorsicht gebotenen Abstand folgte. Der Mann, eine überragende Erscheinung in den vierziger Jahren, der den Eindruck angeborener Stärke und wählerischer Lebensart erweckte, trug die Interimsuniform des Königs-Regiments Nr. 15: blauen Rock mit roten Aufschlägen, silbernen Knöpfen, weißer Weste, weißen kurzen Beinkleidern und hohen Stiefeln, die bis über die Knie reichten. Das war der Prinz von Preußen, Friedrich Wilhelm, dem die bejahrte, doch allezeit rege Oberhofmeisterin Frau von Voß zur Seite schritt. Sie hatte dem Prinzen soeben die bedeutsame Eröffnung gemacht, daß ihre Nichte Julie entschlossen sei, den Hof zu verlassen und dem Grafen Dohna, Herrn auf Eilau, die Hand zu reichen. Der bedeutsame Ton, in dem es geschah, glich vollkommen der Schonung, die man einer getäuschten Seele zuteil werden läßt, aber die Wirkung war gleichwohl schlimmer, als die Sprecherin erwartet haben mochte. Den Prinzen befiel augenblicklich eine tödliche Blässe und Starrheit, aus der dann schnell ein fesselloser Zorn entsprang.
Er stieß den Degen zu Boden, daß die Kiesel stoben; er sah die alte Dame, der er wie einer Mutter zugetan war, durchdringend an und dies um so mehr erbittert, da sie seinem Blick mit einem innigen Flehen um Fassung standhielt.
„Sagen Sie mir, wie das gekommen ist! Das kann nicht der freie Wille Ihrer Nichte sein! Ich verlange Aufrichtigkeit, Madame!“ forderte der aufgebrachte Mann mit mühsam unterdrückter Stimme.
„Die bin ich Eurer Königlichen Hoheit wohl niemals schuldig geblieben!“ entgegnete die alte Dame traurig und besorgt zugleich, denn eben hatte die noch in Hörweite gehende Julie sich ahnungsvoll umgewandt und beim Anblick des erregten Prinzen ihre Schritte schweraufatmend beschleunigt, was beinah einer Flucht ähnlich sah.
Friedrich Wilhelm blieb eine Weile wie vernichtet stehen, nahm den Dreimaster ab und wischte die Stirn mit einem seidenen Tuch. Sein Blick schien gebannt von den Bewegungen der mädchenhaften Hofdame, die nicht ihresgleichen hatte an frühreifer Fülle und Schönheit. Ihr üppiges Haar, nur lose gebunden mit grüner Samtschleife, floß wie Sonnenschein über den freien Nacken, und aus dem Scheitel quoll es in Krausen unter dem Bande hervor. Sie trug ein blütenweißes Unterkleid aus neumodischem Musselin, darüber ein Caraco aus gleichem zartem Gewebe mit breiten hellgrünen Streifen, der in einer kurzen Schleppe endete. Den Ausschnitt der Taille schmückte ein Spitzenfichu, das, kreuzweise um die Taille gebunden, in Enden hinunterfiel und vorn in seinen Falten eine gelbe Rose trug. Die Ärmel endeten nicht mehr in übereinanderfallenden weiten Manschetten, sondern waren nach der englischen Mode eng anschließend, den Arm über dem Ellbogen bedeckend. Ohne Puder, Schminke und Mouche erschien ihr marmorblasses Gesicht von stolzem, jugendlichem Liebreiz.
All das umfing der Prinz mit dem Auge dessen, der - gewohnt zu fordern und zu besitzen - zum erstenmal den Schmerz eines ungestillten Verlangens empfindet. Zwei Jahre hatte er schon um die Liebe der stillen Julie geworben, und in dieser Zeit war ihm zwischen großmütiger Entsagung und heißblütiger Begierde kein Gefühl für das Mädchen unbekannt geblieben.
Aber jetzt, wo sie ihm plötzlich entrissen werden sollte, fühlte er nichts von den demütigen Wonnen der Resignation, und sein beleidigter Stolz verschmähte den Zuspruch der mütterlichen Freundin. Hochmütig begann er französisch zu sprechen:
„C’est une mauvaise intrigue! Nicht Julie hat gewählt, aber die Familie. Ich kenne sie. Ihr Herz ist opferwillig, ihre Schwärmerei verleitet sie, an das Glück der Entsagung zu glauben. Und Sie, Madame, haben das Kind seit Jahren bestärkt. Une masquerade des sentiments! Steht Ihre Vergangenheit, Ihr schmerzliches Schicksal nicht wie ein schlimmes Omen vor Juliens Augen, muß da nicht ein verzweifeltes Vorurteil entstehen? Ich will nicht fragen, ob Sie ein Recht haben, ihr vom Segen der Selbstverleugnung zu sprechen. Über Ihnen stand eine härtere Notwendigkeit, der Sie sich endlich beugen mußten. Aber zwischen mir und Julie kann kein fremder Wille gebieten. Man lasse ihr die freie Wahl ihres Schicksals, man bestürme sie nicht mit Vorstellungen und führe ihr keine Bewerber zu, von denen sie als leichte Beute genommen wird. Ich will nicht dulden, daß sie aus übertriebener Pflicht und Sittsamkeit gegen ihr Gefühl und Gewissen handelt.“
Eingeschüchtert, ratlos vor solcher Willkür hörte ihm die mütterliche Freundin zu, fast gewiß, daß er all seine Macht, seinen unseligen Einfluß aufbieten werde, um ihre Nichte zurückzuhalten. Hatte er sich doch nicht gescheut, den unüberwindlichen Schmerz ihrer Jugend anzurühren, um ihr vor die Augen zu rücken, daß zwischen damals und heute ein Unterschied sei. Aber sie sah keinen. Sie sah nur dasselbe unglückliche Liebesspiel, das vor nunmehr dreißig Jahren in Oranienburg seinen Anfang nahm zwischen dem Hoffräulein von Pannwitz und dem ritterlichen Prinzen Wilhelm August, dem Vater dieses stürmischen Liebhabers ihrer Nichte. Was sie gelitten, bis sie, von Pflichtgefühl getrieben, dem Herrn von Voß ihre Hand zum Ehebund reichte, das sollte sich an ihrer armen Nichte wiederholen, denn wie damals der Vater, so vergaß heute der Sohn, was er seinem Range schuldig war, und den schwachen Frauen sollte es allein überlassen sein, den Weg der Pflicht und Entsagung zu finden. Wie sehr der Prinz gewillt war, nicht von Julie zu lassen, sondern alles, was sich ihm hindernd entgegenwarf, niederzutreten, das zeigte ihr sein heutiger Ton, der so verschieden war von der Sohnesliebe und - rücksicht, die er sonst stets für die einstige Geliebte seines lang verstorbenen Vaters übrig hatte.
So sehr überwältigte sie die schmerzliche Erinnerung, daß sie einen Augenblick aufatmend stehenblieb. Auch sie war noch gepudert und geschminkt. Auf dem weißen Haar lag ein Spitzenhäubchen, um die Hüften bauschte sich der Überwurf aus geblümter schwerer Seide, den Ausschnitt der spitzen, steifen Taille schmückte eine große Schleife, und die Ärmel endeten in weiten Volants unter dem Ellbogen. In gerader Haltung, zierlich und graziös den Fächer haltend, stand sie da wie die Verkörperung höfischen Zeremoniells, und nur der dunklere Glanz der Augen verriet die große innere Erregung.
„Sire,“ sagte sie plötzlich fest und sicher, „Julie weiß ohne meinen Zuspruch, was sie zu tun hat. Gerade ihr Gewissen wird es ihr diktieren. Wenn sie nach Buch fährt, versinkt die laute Welt des Hofes, die sie verwirrt. Dann kann sie ihr Herz prüfen.“
Der Prinz unterbrach sie: „Und ich? Denken Sie, Madame, ich lasse mich beiseite schieben?“
Weich und leise gab sie zurück: „Nein, gnädiger Herr! Alles sieht auf Sie. Sie werden Ihr Land mit Güte regieren und alle Herzen gewinnen. Machen Sie Ihr Haus und das meine nicht unglücklich!“
Der Prinz achtete nicht auf diese beschwörenden Worte.
„Sie verbinden mich, wenn Sie unterlassen, die Vorsehung zu spielen. Bei meinem fürstlichen Wort, ich werde nicht zugeben, daß man Julie den freien Willen nimmt.“
Er ließ die alte Dame stehen und wandte sich einem Herrn entgegen, der zögernd aus einem sonnigen Wiesenweg in den Schatten der Allee, getreten war und in höflicher Entfernung zu warten schien.
„Wie gut, daß ich Sie heute sehe, Graf!“ Mit diesen Worten trat Friedrich Wilhelm rasch und lebhaft auf den sich tief verneigenden alten Mann zu und gab ihm ohne alle Umstände die Hand. Graf Hertzberg reichte ihm kaum an die Schulter. Seine gedrungene Gestalt steckte in rotseidenem Rock, schwarzen kurzen Beinkleidern, schwarzseidenen Strümpfen und Schnallenschuhen. Seine kleinen Augen blickten klug, um den schmalen Mund lag harte Energie, und hinter der hohen Stirn schienen Gedanken zu thronen. Nur die dick angelaufene rote Nase zeugte von säumigen Stunden bei einem guten Glase Wein.
Hertzbergs Miene drückte Bekümmernis aus:
„Sire, ich bringe keine gute Nachricht. Es steht sehr schlecht mit Seiner Majestät. Die viele Arbeit muß den hohen Patienten angegriffen haben. Doktor Selle ließ zur Ader, aber eine Erleichterung ist nicht eingetreten.“
Der Prinz legte die Hand über die Augen. „Und Sie meinen, daß mich Seine Majestät nicht empfangen wird, noch immer nicht?“
Sie kamen an den Weinbergen vorüber. Große Obstplantagen breiteten sich aus. Der Zug der Königin war nicht mehr zu sehen. Nur das Lachen und Sprechen scholl gedämpft durch das Gebüsch und über die Wiesen.
„Königliche Hoheit kennen ja den strengen Befehl“, entgegnete Hertzberg kopfschüttelnd und drehte seinen Dreimaster nervös in den Händen. Wie oft hatte er auf diese Frage die gleiche trostlose Antwort gehabt! „Prinz Ferdinand ist gestern auch wieder abgewiesen worden."
„Sonderbar –“ Der Prinz sah ins Weite, als suche er etwas. Er schien heute nicht so enttäuscht und aufgebracht über diesen vergeblichen Versuch, seinen Onkel zu sehen, um mit ihm die Angelegenheiten des Staates zu besprechen. Hertzberg fühlte wohl, daß er heute nur ein halbes Interesse fand. Er wußte auch, wo die Gedanken des Prinzen weilten. Man sprach in Stadt und Land von seiner Liebe zu Julie von Voß. Doch konnte er diese Herzensangelegenheit seines künftigen Herrn weder tragisch noch ernst nehmen, so wenig wie seine Beziehung zu Madame Rietz. Ihm lag nur daran, diesen feurigen und wankelmütigen Charakter für die Sachen des Staates zu interessieren und ihn auf die Bahnen zu lenken, in denen er, Hertzberg, das Wohl des Landes sah.
Trotz des Verbots seines Königs ließ er den Thronerben in alle Staatsgeschäfte einweihen und ihm von den Kabinettsräten die Schriftstücke vorlegen, in denen Friedrich wichtige Entscheidungen getroffen hatte.
„Sie täten gut, von nun an in Sanssouci zu wohnen, Graf“, fuhr der Prinz heftig zu sprechen fort, „um mich sofort rufen zu können, wenn etwas vorfallen sollte. Ich siedle heute noch in das Neue Palais über, um Ihnen nahe zu sein.“
Sie näherten sich der Buchenhecke, an deren Ende eine von Friedrich Wilhelm I. gepflanzte Eiche stand, und schon leuchtete zur anderen Seite der eben im Knospen stehende wilde Rosenhag. An der Biegung des Weges bot sich ihnen wieder das bunte Bild der vorausgewanderten Gesellschaft. Wie farbige Schmetterlinge huschten die Damen über den sonnigen Rasen. Lachen und Rufen füllte die sommerliche Luft. Nur ein Kreis älterer Herren und Damen hatte sich um den Stuhl der Königin unter der Eiche gruppiert. Die alte Dame im malvenfarbigen Panier und kostbarer Spitzenhaube über dem lebhaften, rosig runden Gesicht streckte ihrem Neffen beide Hände entgegen. Sie sprach französisch, lebhaft und rasch. Ihre dunkle Stimme, die Üppigkeit und Größe ihrer Figur in noch immer aufrechter Haltung gaben ihr etwas Festes, natürlich Majestätisches.
Sie zog den Neffen auf ein Taburett an ihrer Seite, und auch Hertzberg wurde ein gnädiger Handkuß gewährt.
„Mon cher comte, vous avez des nouvelles de Sanssouci?“
Mit einem Blick, welcher Zufall und Wesen scheidet, umfaßte der in Kämpfen und Sorgen ergraute Staatsmann das blühende Feld der Freuden, das aussah, als dürfe kein Hauch von Frost darüber wehen. Die jungen Damen schwangen mit Bändern und Blumen gezierte Stöcke. Andere vergnügten sich auf bemalten Schaukeln, die zwischen den Stämmen angebracht waren, und auf einem freien Wiesenplatz übten sie sich mit der männlichen Gesellschaft im Federballspiel. Die roten, gelben und blauen Bälle verkündeten Liebe, Treue, Zu- oder Abneigung, und je nachdem sie aufeinander folgten, brachten sie dem Sieger Frage und Antwort, mancherlei Botschaft, wie sie kein Billetdoux deutlicher geben konnte.
Aber den gedankenvollen Zuschauer bestach jetzt weder das übermütige Lachen noch das sinnreiche Farbenspiel, der duftige, buntschillernde Hintergrund erweckte nur um so deutlicher das dürftige Bild des Einsiedlers von Sanssouci, bei dessen Anblick dem Minister vor einigen Stunden in tiefster Ergriffenheit die Augen übergingen. Wieder erschien ihm der Stärkste der Starken, der einstige Weltbezwinger in seiner grauenerregenden Altersschwäche bis zur Unkenntlichkeit entstellt von Schmerzen und Geschwülsten, fremd jeglicher Menschenfreude, fast nur noch seinen Hunden gesellt, von denen er sich nicht mehr trennte, ob er wachte oder schlief.
Einzig für diese hatte er noch Mitgefühl und Zärtlichkeit, und starb einer von ihnen, so ergriff es ihn mehr als der Tod eines alten Kriegsgefährten. Nun mußten ihm stumm wedelnde Tiere die einstige gesprächige Tafelrunde der Philosophen ersetzen, und die Geburtsstätte weltbewegender Ideen, das strahlende Heim erwählter Geister war nur noch eine Höhle bitterster Lebensverachtung.
Was begriff dieses übermütige Völkchen hier vom Verfall der königlichen Seele, den er, der pflichttreue Berater, täglich miterleben mußte? Weder sie, die im ganzen Land als des Königs Gefährtin galt, ohne es je in Wirklichkeit gewesen zu sein, noch irgendein Mitglied ihres Hofstaates hatten Herz und Sinn, jenes erschreckende Trauerspiel zu fassen, das sich in den herrlichen Gärten hinter Potsdam enthüllte. Wohl drang auch hierher zuweilen eine Kunde von den absonderlichen Gewohnheiten des Alten Fritz.
Aber das ganze Elend von Sanssouci konnte keine dieser Seelen umspannen. Nur wenige hatten den König seit Jahresfrist von Angesicht gesehen, und auch diese nur etwa bei Paraden, zu denen sich der alte Soldat mitunter noch einmal aufraffte.
Gleichwohl hingen jetzt viele Augen erwartungsvoll an Hertzbergs Lippen. Man versprach sich neue Einzelheiten, Schauerberichte über des Königs Launen und Wutausbrüche. Wie lange mochte er’s noch treiben?
Wie überall, wo eine Größe sich selbst überlebt, die Ehrfurcht der Umgebung schnell anderen Gefühlen weicht, so waren auch die Hofleute des furchtbaren Drucks, der seit dem langen Siechtum des Königs auf ihnen lag, endlich müde geworden. Ihren Festen und Feierlichkeiten mangelte nicht nur der fürstliche Hermelin, des Gebieters Geiz schlug sie in lästige Fesseln und raubte ihnen das leichte Gewissen. Sie trugen alle Verlangen nach einem neuen, heiteren Herrschersinn, denn ihnen war der große König schon lange gestorben.
„Schwerlich wird Seine Majestät diesen Sommer überleben, die völlige Auflösung kann nach Meinung Selles schon in Wochen geschehen. Wer da nicht zusehen muß, darf noch von Glück sagen. Und das schlimmste ist: kein Rat, keine Teilnahme findet mehr Gehör!“ erklärte der Minister mit finsterer Miene, und augenblicklich, wie von einem Sensenstreich, knickte alle Fröhlichkeit zusammen. Es war eine Anklage in seinem Ton. die alle anging, eine unausgesprochene Frage, ob der grenzenlose Menschenhaß seines Herrn und Meisters, die giftsprühende Abkehr von der „race méchante" nicht noch besonders durch den Leichtsinn, die Erbärmlichkeit seiner nächsten Umgebung verursacht worden sei.
Der Prinz von Preußen machte eine Gebärde des Unwillens und warf dem aufrichtigen Sprecher einen ungnädigen Blick zu. Dann entgegnete er, nur um die bestürzte Königin aufzurichten:
„Wie wenn man nicht mit gutem Gewissen behaupten dürfte, daß uns weder der eingefleischte Misanthrop noch der Anblick des Todkranken abhalten könnte, dem König stündlich nahe zu sein. Aber unser Gehorsam wird leider mit Füßen getreten. Man wittert schnöde Motive, Habsucht, Machthunger - was weiß ich! Aber genug davon!“ besann er sich rechtzeitig beim Anblick der vielen Lauscher. „Wir können an diesem Schicksal nichts ändern! Entschlagen wir uns der trüben Gedanken, ma chère tante!“
Indessen gelang es ihm selbst nur mit aller erdenklichen Mühe, seiner Bewegung Herr zu werden. Des Königs Kälte und Mißtrauen hatten seine tiefwurzelnde Liebe und Bewunderung nicht ertöten können. In seinen besten Augenblicken sah er in dem Abgewandten immer wieder den umjubelten Sieger, der nicht die Furcht des Todes, sondern nur mehr jene höhere kannte, sein stolzes Lebenswerk in andere Hände legen zu müssen. War das nicht die letzte, tiefste Not jedes großen Erfüllers?
Auch die Prinzessin Heinrich schien von Hertzbergs Worten furchtbar betroffen. Eine leidenschaftliche Verehrerin Friedrichs, dem sie einstmals von allen weiblichen Anverwandten am nächsten stand, konnte sie es am wenigsten ertragen, daß die Tore von Sanssouci für alle, ohne Ausnahme, geschlossen blieben.
„Ach, bester Graf, ich bitte und beschwöre Sie, verschaffen Sie mir Zutritt. Er wird sich meiner in Güte erinnern und vielleicht gestatten, daß ich ihn pflege, ihm auf dem Flügel vorspiele oder aus seinen Büchern vorlese. Wer möchte das lieber tun als ich? Wo sind denn jetzt seine in Gold gewickelten französischen Freunde? Sie ziehen es vor, ihn aus der Ferne zu loben und anzuschwärmen.“
„Aber ich habe keine Furcht vor seinen Launen und Schmerzensschreien“, fuhr die Prinzessin Heinrich fort. „Führen Sie mich heute noch zu meinem geliebten Herrn, ich will mich ihm zu Füßen werfen, und Sie, Graf, ich schwöre es bei Gott, sollen das Wagnis nicht zu bereuen haben.“
Sie vergaß sich so weit, den Minister wie einen Vater am Rocke festzuhalten; ihre Stimme war von Schmerzen zerrissen, und die Tränen zogen deutliche Spuren auf den geschminkten Wangen. Diese unerwartete Erschütterung übertrug sich schnell auf alle Gemüter, die eben noch so frühlingsfrohen Mienen verdüsterten sich in Trauer und Ergriffenheit, und nur ein scheues Flüstern wagte sich noch hervor. Der Leutnant von Arnim, ein Freund jenes Grafen Luchesini, welcher allein sich eines vertrauten Umgangs mit dem König rühmen durfte, erzählte von einer Begebenheit, die nicht mehr als alles andere die eigenwillige Verlassenheit dartat. Eines Nachts erwachte der Kranke aus flüchtigem Schlaf, und da er die zu seiner Obhut befohlenen Diener nicht erblickte, auch auf das Glockenzeichen niemand erschien, schleppte er sich mühselig zur Tür, von wo er eine wenig aufheiternde Szene beobachten konnte. Seine Hüter stritten sich gerade um den Besitz von Wachskerzen, die sie ihrem Herrn durch allerlei Listen entwendet hatten, und waren unvorsichtig genug, mit lauten Worten die Summen zu bezeichnen, auf welche sie aus dem Diebstahl Anspruch machten.
In dem nun erwachenden Eifer, diesen unheimlichen Schattenriß durch wahre oder erfundene Züge zu ergänzen, fiel es nicht auf, daß sich der Thronfolger dem Fräulein von Voß genähert hatte.
Und wer dennoch Zeuge war, wie die Blässe des Schreckens über das Gesicht des Mädchens huschte, suchte die Ursache kaum anderswo als in der allgemeinen Bewegung, von welcher der Prinz tief ergriffen schien.
Für die Damen in Juliens Gesellschaft blieb indessen kein Zweifel, daß ihr Verweilen nicht gewünscht wurde. Die kleine Viereck gab der zaudernden Freundin einen innig mahnenden Blick, ihr Herz in dieser Stunde nicht zu verleugnen, dann zog sie die andern wie am Schnürchen mit sich fort, und auch den peinlich berührten Dohna, dem der hohe Herr keine Beachtung schenkte, vermochte sie bald von seinen schwarzen Gedanken abzubringen. Zwar blieb am Hof ihre Helferschaft zugunsten des Prinzen kaum verborgen, doch konnte ihr deshalb nicht einmal die alte Frau von Voß böse sein, denn ihre kindliche Offenherzigkeit schützte sie vor dem Verdacht unedler Motive.
Während die Gesellschaft bemüht war, die geisterhafte Heimsuchung des sterbenden Königs zu vergessen und des blühenden, jubelreichen Frühlings aus Wiesen und Bäumen wieder froh zu werden, gelang es Friedrich Wilhelm, das vor diesem Alleinsein zitternde Mädchen auf einen Seitenpfad zu geleiten, wo er, jeglicher Neugier entrückt, Auge in Auge Wahrheit und Gewißheit fordern wollte. Der Weg, den die beiden nur zu gut kannten, führte sie an der still fließenden Panke entlang, dem Hirschgarten zu. Große Weiden und Haselbüsche bildeten zuweilen einen Baldachin über dem goldgetönten Wasser, auf dessen Grund die Fische schattenhaft hin und her schossen. Durch die Lichtungen des Parks erblickte man eine weite Ebene der Fruchtbarkeit.
Julie von Voß ging wie eine Schuldige neben dem mächtigen Freunde her, der fest entschlossen war, ohne jegliche Scheu und mit allen erdenklichen Mitteln um dieses teure Gut, das ihm entrissen werden sollte, zu kämpfen.
Hatte er schon aus dem fatalen Zuspruch der Oberhofmeisterin den Ernst der Wendung erkannt, so ließ ihn jetzt Juliens atemlose Befangenheit, die abgewandte Miene befürchten, daß er nahe daran sei, seinen besten Verbündeten, ihr liebendes Herz, für immer zu verlieren. Der starke, schöne Mann, der Frauengunst auf Schritt und Tritt in Höhen und Niederungen kennenlernte, erschrak zum erstenmal in seine zügellos begehrliche Seele hinein. Glühend vor Empörung unterbrach er eine Phrase der Teilnahme, die Julie ihm über das traurige Los des Oheims darbrachte.
„Rühren wir nicht an unveränderliche Dinge, mein Fräulein! Weit mehr brennt es mich zu hören, was sich zwischen uns verändert hat, seit wir uns sahen. Irre ich nicht, so sind wir vor fünf Tagen diesen nämlichen Weg gegangen. Ist es nicht so?“
Nur wie der Hauch einer Sterbenden kam es von Juliens Lippen:
„Gewiß, Königliche Hoheit.“
Aber unwillkürlich beschleunigte sie ihre Schritte, als hoffte sie so allen weiteren Fragen zu entrinnen.
„Und damals war doch nicht mit einer Silbe die Rede davon, daß Sie den Hof verlassen wollen, geschweige denn von anderen mir noch rätselhaften Absichten, an die ich nun und nimmer glauben kann“, fuhr der Prinz mit schneidender Härte fort, indem er den fliehenden Blick der Begleiterin zu bannen suchte.
So konnte ihm nicht entgehen, wie die Bedrängte dem heraufbeschworenen Gefühlssturm erlag und schwankte. Sorglich legte er einen Arm um ihre Hüfte und ergriff eine ihrer Hände, die das Gesicht bedeckten. Einige Schritte entfernt stand ein chinesisches Borkenhäuschen, in welchem sie zu zweien schon manche Stunde der Erhebung und schmerzlichen Melancholie durchlebt hatten. Mit leisem Widerstreben ließ sich das ermattete Mädchens zu dieser Ruhestatt führen. Aber kaum, daß sie saß und wieder etwas zu Atem kam, warf der Prinz sich ihr zu Füßen.
„Gelobe, aufrichtig zu sein, schenke mir volles Vertrauen, geliebtes Kind! Was ist mit dir vorgegangen? Wie kam das über dich, was mir fremd, unfaßlich ist? Fühle den Schutz, den ich dir gegen die ganze Welt leihen kann, und rede ohne Furcht die nackte Wahrheit.“
Sein beleidigtes Selbstgefühl fand keinen anderen Schluß, als daß ein furchtbarer Zwang auf ihrer Seele laste. Ja, der Gedanke an eine ausgebreitete Hofkabale lag ihm bereits näher als jede andere Möglichkeit. Es hatte sich irgendeine Clique gebildet zum Behufe, das Fräulein zu entfernen, man war nahe daran, sie einem hergelaufenen Bewerber in die Arme zu jagen.
Wer wagte es, hier die Vorsehung zu spielen? Umsonst drang er mit Bitten und Drohungen auf die entsetzte Julie ein.
„Schonen Sie mich, mein Prinz! Was geschieht, ist allein mein Wille. Die Wahrheit ist: ich kann und darf hier nicht länger leben!“ erwehrte sie sich unter Tränen seiner ungestümen Fragen und Beschwörungen, nur noch darauf bedacht, wie sie den gefährlichen Zorn des allzu mächtigen Verehrers beschwichtige. Sie konnte nicht fliehen, ohne ihn zur Raserei zu treiben. Eine Katastrophe schien unvermeidlich.
Allein wider Erwarten ließ der aufgebrachte Mann plötzlich von ihr ab, indem er in finsterer Nachdenklichkeit neben ihr Platz nahm. Während langer Minuten war Julies verhaltenes Schluchzen der einzige Laut in der kleinen Hütte, deren Dach nur einen schlicht gezimmerten Tisch sowie eine altersgraue Rundbank bedeckte.
Weit entfernt, den Beteuerungen des Mädchens Glauben zu schenken, überlegte der enttäuschte Liebhaber, wer die Macht und den Mut besitze, die Erwählte von ihm loszureißen. Eine Weile dachte der Prinz wohl an seine Gemahlin, die ihn nun schon bald zwanzig Jahre mit ihrer Eifersucht verfolgte und fast jeden seiner Schritte überwachte. Sie hatte die Pastoren zu Fürsprechern und pochte auf die geheiligten Gattenrechte; sowohl durch den König als durch ihre Verwandten ließ sie ihn oft genug an seine Pflichten gemahnen. Bis dahin war seine Mätresse Rietz die Zielscheibe ihrer spitzen Pfeile gewesen, und er selbst hatte freilich auch in vielen Stunden die Schwere des Unrechts empfunden, das er durch dieses längst öffentlich gewordene Verhältnis der Mutter seiner Kinder antat. Und dennoch bestand es auch heute noch so fest als je. Nichts lag ihm ferner als eine Trennung von derjenigen, die er gleichsam aus den Kinderschuhen zu seiner Geliebten erhoben hatte.
Von weit her kamen diese Erinnerungen.
Zwanzig Jahre trennten ihn nun schon von jenem Abend, als er im Hause einer Theaterschönen, die sich der Gunst des Prinzen von Preußen rühmen durfte, zum erstenmal seine Wilhelmine erblickte, damals ein armes, blasses Kind von kaum vierzehn Jahren, das der leichtsinnigen Schwester als Magd diente, nachdem es kurz vorher noch Unter den Linden Apfelsinen feilgeboten hatte. Laut weinend, mit zerrauften Haaren, nur notdürftig bekleidet, stürzte sie dem hohen Besucher auf der Treppe entgegen, um die Schwester der Untreue an ihrem Gönner anzuklagen und seinen Schutz gegen deren Mißhandlungen zu erflehen.
Da der Prinz alles, was die Kleine in Schmerz und Vertrauen vorbrachte, vollauf wahr empfand, drang ihm ihre rührende Unschuld inmitten schlimmster Verderbnis so warm ins Herz, daß er sich von Stund an unverbrüchlich mit ihr verbunden fühlte. An dem inneren und äußeren Wachstum des Kindes, das er von nun an hütete, hatte er die besten Wonnen der Menschlichkeit empfunden, denn ihr Werden war ihm köstlicher als ihr Sein, und die Erhebung der lichtverlangenden Seele aus der Armut ihrer Abkunft beschäftigte ihn mehr als die aufbrechende Knospe der irdischen Schönheit. Alle Nachstellungen des Königs und seiner Spione konnten das starke Band nicht zerreißen, nicht hindern, daß ein „ehrvergessener“ Prinz Nacht für Nacht zu Pferde von Potsdam nach Berlin jagte, um einem einfältigen Mädchen aus dem Volke zugleich Erzieher und Herzensfreund zu sein.
Ja, noch heute zog ihre Schönheit ungezählte Bewunderer an, Künstler und Philosophen erstaunten vor ihren hohen Geistesgaben! Selbst wenn er ihr nicht mit Blut geschworen hätte, sie niemals zu verlassen, wäre ihm die Trennung von ihr, die sein schrankenloses Vertrauen besaß, schwerer als alles andere aufs Herz gefallen. Seine zweite Frau - die erste hatte Friedrich wegen unwürdigen Betragens vom Hofe entfernt - hatte sich nur schwer nach langen vergeblichen Kämpfen darein gefügt, seine Liebe mit einer „tief unter ihr stehenden Weibsperson“ zu teilen, und überdies empörte sich der ganze Adel gegen die bürgerliche Mätresse, deren Einfluß von Jahr zu Jahr größer wurde.
Bei dieser Erwägung schien es dem Prinzen nicht mehr recht wahrscheinlich, daß die Hofleute seiner Neigung zu der sanften, anspruchslosen Julie von Voß entgegenwirken sollten. Der Haß auf Madame Rietz hatte bei jenen schon lange den Wunsch gezeugt, letztere durch eine adlige Geliebte zu verdrängen und unschädlich zu machen, was dem künftigen Herrscher nicht verborgen blieb. Seine Tante, die Königin, begünstigte ihn unverkennbar in dem Bestreben, Julies Herz zu gewinnen. Unter allen Bewohnern und Gästen Schönhausens war einzig die sittenstrenge Frau des Oberhofmeisters, welche diese Werbung offen heraus mißbilligte.
Woher kam also der hastige Umschwung? Was bedeuteten der plötzliche Abgang vom Hofe und der aus den Wolken gefallene Heiratsplan?
Eine Drossel, die aus dem Gebüsch vorbeihüpfte und behutsam durch die Türöffnung sah, flog mit schrillem Warnungspfiff davon. Es klang dem Prinzen wie ein Hohngelächter ins Ohr, er horchte beunruhigt, ob Schritte und Stimmen in der Nähe seien. Den Dreimaster hatte er auf den Tisch geworfen, seine Rechte spielte erregt mit dem breiten gelben Ordensband über der weißen Weste. Je mehr er sich von Julies freier Wahl und Selbstbestimmung überzeugte, um so schmerzlicher wurden jene Gefühle. Etwaige Widersacher, die frech nach dem Leitseil seines Lebens griffen, konnte er aus dem Felde schlagen, aber durch Julies innere Abkehr erlitt nicht nur seine Leidenschaft, auch sein Ansehen den stärksten Stoß.
Zwei Jahre hatte er sie vor aller Augen umworben, ihr empfängliches Herz bestrickt, um ihren Stolz, ihre Jugend zu besiegen. Er war ihr bereits so nahe gekommen, daß er von Stunde zu Stunde die Erfüllung feinen Wunsches erwarten durfte. Und jetzt, so nah am Ziel, sollte alles verloren sein? Er konnte das nicht fassen. In maßlosem Staunen umfing sein Blick die bitterlich weinende Freundin, die ihr Leid so stumm und doch so beredt vor ihm ausschüttete.
„Also Ihr Wille ist es, uns zu verlassen“, begann er nach langem Schweigen mit eindringlichen Worten sie näher zu prüfen. Sie können und dürfen hier nicht länger leben, sagten Sie mir. Demnach bin ich es, der Sie forttreibt. Gestehen Sie das?“
In seiner Frage war so viel Betrübnis zu spüren, daß Julie ihr Mitleid mit sich selbst bald auf ihn übertrug; sie schüttelte den Kopf, und ohne ihren Tränen zu gebieten, entgegnete sie leise: „Nicht so, mein Prinz, nur mein Unglück läßt mir keine Ruhe. Ich vermag es nicht länger zu tragen, verzeihen Sie mir.“
Mitten in seiner eigenen Hast und Bestürzung ahnte Friedrich Wilhelm ihre wunderliche Gemütslage, und die Hoffnung, seinen Unstern durch behutsamen Zuspruch ablenken zu können, lebte wieder auf. Aber er mußte frei zu Werke gehen, wenn er ihren Schmerz zähmen, den wahrhaftigen Konflikt ihres Herzens durch Gegenströme bekämpfen wollte.
„Ihr Unglück?“ fragte er wieder. „So sagen Sie mir seinen Namen. Nur ein verborgenes, vom Schicksal verhängtes, das der Mensch nicht begreift, muß er fürchten und beweinen. Ist so das Ihrige beschaffen? Sie, jung, gesund, schön, mit allen guten Gaben des Leibes und der Seele begnadet? Nein, kein Unglück von oben, sondern ein selbstgeschaffenes, das zu heilen ist, bedrückt Ihr Herz, liebe Freundin. Ich glaube es bis auf die Wurzel zu kennen, und ich weiß auch, daß die von Ihnen gewählten Mittel zu seiner Beseitigung das Übel nur verschlimmern. Das Leiden Ihrer Seele heißt Überempfindlichkeit, und die Kur, die Sie anwenden wollen - was ist sie anderes als eine Gefühlsschändung, ein Herzensverrat?“
An den Tisch gelehnt, die Arme über der Brust gekreuzt, sprach der Prinz auf die schwer Bedrängte ein, und es dauerte gar nicht lange, bis sie ihre Hände sinken ließ und die geröteten Augen groß auf den herben Sprecher richtete. Sie hatte leidenschaftliche Vorwürfe und Beschwörungen erwartet, ja selbst Furcht vor Gewaltsamkeiten empfunden, und nun fand sie den Beleidigten scheinbar ganz gefaßt, wie ein Arzt damit beschäftigt, ihren Zustand zu untersuchen.
„Wessen Gefühle und wessen Herz meinen Hoheit?“ stammelte sie aufgeschreckt und völlig wirr im Kopf: „Ich bin mir nicht bewußt, einen Verrat zu begehen."
Es kostete sie jedoch übermenschliche Kraft, seinen mild überlegenen Blick, der ihr ein mitleidiges: „Du bist erkannt!" entgegenhielt, einige Sekunden auszuhalten. Als sie unter ihm förmlich zusammenknickte, machte sie ganz außer sich einen schwachen Versuch, das Freie zu gewinnen. Aber der Prinz hielt sie an einem Handgelenk fest und zwang sie auf ihren Sitz zurück. Ihre Hand ließ er nicht mehr los.
„Wir sind noch nicht am Ende, Teuerste!“ verwies er ihre Bitte, zur Gesellschaft zurückkehren zu dürfen.