Das Trainingsraumprogramm. Ein Modell zur Förderung der Eigenverantwortlichkeit der Schüler oder ein Disziplinierungsinstrument der Lehrer? - Nadja Kamlage - E-Book

Das Trainingsraumprogramm. Ein Modell zur Förderung der Eigenverantwortlichkeit der Schüler oder ein Disziplinierungsinstrument der Lehrer? E-Book

Nadja Kamlage

0,0
39,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Examensarbeit aus dem Jahr 2008 im Fachbereich Pädagogik - Schulpädagogik, Note: 1,0, Universität Osnabrück, Sprache: Deutsch, Abstract: Das Trainingsraumprogramm ist ein Konzept für Schulen, das den Umgang mit Unterrichtsstörungen und Disziplinproblemen erleichtern will und die Schülerinnen und Schüler Schritt für Schritt zu mehr Eigenverantwortung und Respekt gegenüber anderen bringen soll. Dieses Konzept findet in deutschen Schulen immer mehr Anhänger, sodass mittlerweile deutschlandweit über 100 Schulen mit diesem Programm arbeiten und ein Ende dieses Trends nicht absehbar ist. In der hier vorliegenden Arbeit möchte ich mich der kontrovers geführten Diskussion um das Trainingsraumprogramm zuwenden. Zuerst werde ich die für die Debatte um das Trainingsraumprogramm grundlegenden Begriffe Eigenverantwortung und Disziplin erläutern. Im dritten Kapitel werde ich auf die amerikanischen Wurzeln des Konzepts eingehen, um dann im nächsten Kapitel den Blick auf Deutschland zu richten. Hier geht es um die Konzepte von Stefan Balke und Heidrun Bründel und Erika Simon, mit denen an deutschen Schulen hauptsächlich gearbeitet wird. In diesem vierten Teil möchte ich auch die Ergebnisse empirischer Studien zum Trainingsraum darstellen, um einen Einblick in die Wirksamkeit dieses Programms zu geben. Im fünften Kapitel werden die möglichen Chancen und Stolpersteine des Trainingsraumprogramms fokussiert. Die leitenden Fragen hier sind: Inwieweit ist das Trainingsraumprogramm geeignet, um eigenverantwortliches Denken und Handeln zu fördern? Oder: Ist das Trainingsraumprogramm nur ein Disziplinierungsinstrument, das die Schüler zu Anpassung und Gehorsam zwingt, um damit den Lehrern den Schulalltag zu erleichtern? Im empirischen Teil der Arbeit möchte ich von der Theorie zur Praxis, indem ich mir den Trainingsraum an zwei Schulen anschaue und mit Schülern und Lehrern dieser Schulen über das Programm und dessen Umsetzung spreche. Das Hauptaugenmerk liegt hier in der Erforschung der Einstellungen von Schülern zu diesem Programm. Um dies zu erreichen, werde ich in Gruppendiskussionen einige Schüler zu Wort kommen lassen, die Erfahrungen mit diesem Programm an ihrer Schule sammeln konnten. Die Ergebnisse dieser qualitativen Interviews sind nicht repräsentativ, sie stellen vielmehr mögliche Sichtweisen der Adressaten dieses Programms dar, die bisher zu wenig zu Wort gekommen sind und die der Diskussion um das Trainingsraumprogramm neue Impulse geben könnten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum:

Copyright (c) 2013 GRIN Verlag GmbH, alle Inhalte urheberrechtlich geschützt. Kopieren und verbreiten nur mit Genehmigung des Verlags.

Bei GRIN macht sich Ihr Wissen bezahlt! Wir veröffentlichen kostenlos Ihre Haus-, Bachelor- und Masterarbeiten.

Jetzt bei www.grin.com

1 Einleitung

2 Definitionen

2.1 Eigenverantwortung

2.2 Disziplin

3 Die Grundlagen des Trainingsraumkonzepts

3.1 Die „Perceptual Control Theory" nach William T. Powers

3.2 Das „Responsible Thinking Program" nach Edward E. Ford

4 Das Trainingsraumprogramm in Deutschland

4.1 Das Trainingsraumprogramm nach Stefan Balke

4.1.1 Die Problemlage: Unterrichtstörungen und Disziplinprobleme

4.1.2 Ziele und Prinzipien

4.1.3 Ablauf

4.2 Die Trainingsraum- Methode nach Heidrun Bründel und Erika Simon

4.2.1 Grundgedanken

4.2.2 Ablauf

4.3 Kritischer Vergleich

4.4 Ergebnisse empirischer Untersuchungen

5 Geeignetes Mittel zur Förderung von Eigenverantwortung oder Disziplinierungsinstrument? Zur aktuellen Diskussion über das Trainingsraumprogramms

5.1 Die Förderung von eigenverantwortlichem Denken und Handeln

5.1.1 Die Regeln im Klassenraum

5.1.2 Die Reflexion im Trainingsraum

5.1.3 Das Rückkehrgespräch

5.1.4 Die Kooperation mit Eltern und außerschulischen Institutionen

5.2 Das Trainingsraumprogramm als Disziplinierungsinstrument

5.2.1 Die „freiwillige" Entscheidung und die Verantwortung des Schülers

5.2.2 Anpassung und Konformität als Erziehungsziel

5.3 Zwischenfazit

6 Empirische Untersuchung: Das Trainingsraumprogramm im Schülerurteil

6.1 Die Vorgehensweise bei der Datenerhebung

6.1.1 Untersuchungsmethode und Konzeption der Interviews

6.1.2 Auswahl der Interviewpartner und Zugang zum Forschungsfeld

6.1.3 Vorgehensweise bei der Interpretation der Interviews

6.2 Die Interviews an einer Gesamtschule

6.2.1 Gruppe 1: „Provozieren tut jeder"

6.2.2 Gruppe 2: „Wenn ein Lehrer individuell ist, das kommt auch gut an"

6.3 Die Interviews an einer Haupt- und Realschule

6.3.1 Gruppe 3: „Ja, die reden zu viel"

6.3.2 Gruppe 4: „Die hören einem wenigstens auch zu"

6.4 Vergleich und Diskussion der Ergebnisse

7 Fazit

8 Literaturverzeichnis

9 Anhang

 

1 Einleitung

 

Das Trainingsraumprogramm ist ein Konzept für Schulen, das den Umgang mit Unterrichtsstörungen und Disziplinproblemen erleichtern will und die Schülerinnen und Schüler[1] Schritt für Schritt zu mehr Eigenverantwortung und Respekt gegenüber anderen bringen soll. Dieses Konzept findet in deutschen Schulen immer mehr Anhänger, sodass mittlerweile deutschlandweit über 100 Schulen mit diesem Programm arbeiten und ein Ende dieses Trends nicht absehbar ist. Auch in Osnabrück arbeiten bereits drei weiterführende Schulen mit dem Trainingsraum.[2]

 

Die Befürworter dieser Methode behaupten, dass das Trainingsraumprogramm sowohl aus psychologisch- pädagogischen als auch praktischen Gründen die Lösung für den Umgang mit Unterrichtsstörungen darstellt, und sowohl für Lehrerinnen und Lehrer[3] als auch für Schüler der Schulalltag damit erleichtert werden würde. Zudem würden Schüler durch das Programm soziale Kompetenzen erwerben, demokratische Grundprinzipien kennenlernen und nicht zuletzt zu eigenverantwortlich denkenden und handelnden Menschen werden, die die Rechte anderer respektieren. Kurz, sowohl die Persönlichkeit des Schülers verändere sich positiv, als auch der Umgang untereinander und damit das gesamte Schulklima. Dieser Prozess soll funktionieren, ohne dass mit Ermahnungen, Drohungen und Strafen gearbeitet wird. Soweit die befürwortende Perspektive auf das Programm.

 

Kritiker hingegen sehen in dem Trainingsraumprogramm ein Disziplinierungsinstrument unter dem Deckmantel humanistischer Zielsetzung. Sie bezweifeln die positiven Auswirkungen des Programms auf Schülerpersönlichkeit und Schulklima und betrachten das Programm eher als Zeichen zunehmender Hilflosigkeit der Lehrkräfte. Ein Beleg dafür sei die Tatsache, dass das Programm hauptsächlich an Hauptschulen eingeführt wird, in denen bekanntlich die Disziplinschwierigkeiten am größten sind. In Österreich forderten die Grünen im Jahr 2006 sogar das sofortige Aus für den Trainingsraum in Schulen, denn sie fürchten ein „Comeback für veraltete Erziehungsmaßnahmen"[4]. Es gibt in dieser Diskussion hauptsächlich absolute Befürworter oder totale Gegner, einen Mittelweg scheint es nicht zu geben. Stefan Balke, der als der deutsche Erfinder des Trainingsraums gilt, kommentiert die kritische Sicht auf das Programm mit dem Hinweis auf eine teilweise unangemessene Anwendung des Trainingsraumprogramms in der Praxis. So kann das Trainingsraumprogramm leicht zum „Rauswerfprogramm" werden. Außerdem merkt Balke an, dass in Evaluationen die Schülersicht auf dieses Programm bisher zu kurz gekommen und eine Beteiligung der Schüler am Trainingsraumprogramm ein wichtiger Aspekt der Weiterentwicklung sei, besonders vor dem Hintergrund, dass das Programm nicht jeden Schüler erreicht. Denn wie Untersuchungen belegen scheinen manche Schüler „trainingsraumresistent" zu sein und je älter die Schüler, desto größer wird diese Gruppe der sogenannten „frequent fliers"[5].

 

In der hier vorliegenden Arbeit möchte ich mich der kontrovers geführten Diskussion um das Trainingsraumprogramm zuwenden. Ich habe den Titel dieser Arbeit angelehnt an den Titel eines Aufsatzes des Kritikers Rolf Göppel, da der Titel treffend die beiden Pole: Förderung von eigenverantwortlichem Denken und Handeln und die Funktion als Disziplinierungsinstrument gegenüberstellt[6]. Innerhalb dieses Spannungsbogens möchte ich die theoretischen Ansätze des Trainingsraumprogramms diskutieren. Im empirischen Teil sollen einige „Betroffene" also Schüler zu Wort kommen, die in von mir geführten Gruppendiskussionen einen Einblick in ihre Sicht auf das Trainingsraumprogramm geben. Damit möchte ich der Forderung von Stefan Balke zur Einbeziehung der Schülersicht nachkommen.

 

Zuerst werde ich die für die Debatte um das Trainingsraumprogramm grundlegenden Begriffe Eigenverantwortung und Disziplin erläutern. Im dritten Kapitel werde ich auf die amerikanischen Wurzeln des Konzepts eingehen, um dann im nächsten Kapitel den Blick auf Deutschland zu richten. Hier geht es um die Konzepte von Stefan Balke[7] und Heidrun Bründel und Erika Simon[8] , mit denen an deutschen Schulen hauptsächlich gearbeitet wird. In diesem vierten Teil möchte ich auch die Ergebnisse empirischer Studien zum Trainingsraum darstellen, um einen Einblick in die Wirksamkeit dieses Programms zu geben. Im fünften Kapitel werden die möglichen Chancen und Stolpersteine des Trainingsraumprogramms fokussiert. Die leitenden Fragen hier sind:

 

Inwieweit ist das Trainingsraumprogramm geeignet, um eigenverantwortliches Denken und Handeln zu fördern?

 

Oder:

 

Ist das Trainingsraumprogramm nur ein Disziplinierungsinstrument, das die Schüler zu Anpassung und Gehorsam zwingt, um damit den Lehrern den Schulalltag zu erleichtern?

 

Im empirischen Teil der Arbeit möchte ich von der Theorie zur Praxis, indem ich mir den Trainingsraum an zwei Schulen anschaue und mit Schülern und Lehrern dieser Schulen über das Programm und dessen Umsetzung spreche. Das Hauptaugenmerk liegt hier in der Erforschung der Einstellungen von Schülern zu diesem Programm. Um dies zu erreichen, werde ich in Gruppendiskussionen einige Schüler zu Wort kommen lassen, die Erfahrungen mit diesem Programm an ihrer Schule sammeln konnten. Die Ergebnisse dieser qualitativen Interviews sind nicht repräsentativ, sie stellen vielmehr mögliche Sichtweisen der Adressaten dieses Programms dar, die bisher zu wenig zu Wort gekommen sind und die der Diskussion um das Trainingsraumprogramm neue Impulse geben könnten.

 

2 Definitionen

 

2.1 Eigenverantwortung

 

Der Begriff Eigenverantwortung lässt sich in Nachschlagewerken der Pädagogik und der Psychologie ebenso wenig finden wie im Brockhaus oder in der Internet- Enzyklopädie „Wikipedia". Deshalb möchte ich an dieser Stelle darstellen, was verschiedene Autoren- insbesondere Balke und Bründel/Simon über diesen Begriff schreiben, um eine Definition zu finden.

 

Balke versteht unter Eigenverantwortlichkeit: „(...)dass ein Schüler unter verschiedenen äußeren Vorbildern und eigenen Ideen seine Vorlieben und Ziele selbst auswählt und dann aktiv versucht, diese Ziele zu erreichen."[9] In diesem Prozess ist der Schüler selbstbestimmt, er wählt nur die Ziele aus, die er selbst als passend für sich bewertet, diese Aufgabe kann keine andere Person für ihn übernehmen.[10] Diese Definition der Eigenverantwortlichkeit erinnert an die Definition der Selbsterziehung, wie man sie beispielsweise bei Böhm findet. Hier wird Selbsterziehung beschrieben als der Sachverhalt, „(...)daß [sic.] der educandus[11] aus eigener Einsicht und aus eigenem Entschluß[sic.] Erziehungsziele übernimmt, bejaht oder sich selber setzt sowie nach Kräften und Möglichkeiten an ihrer Realisierung arbeitet."[12] Somit scheint Eigenverantwortlichkeit eine Kompetenz zu sein, die den Schüler dazu befähigt, sein Verhalten selbst zu steuern, selbstständig zu entscheiden, wie er sein möchte, und diese Ziele dann ohne Fremdeinwirkung zu erreichen. Somit würde das Erreichen von Eigenverantwortung weitere Erziehungsmaßnahmen überflüssig machen, da der Schüler in der Lage ist sich selbst zu erziehen.

 

Diese Kompetenz lässt sich nach Balke darüber erreichen, dass die Schüler dazu angeleitet werden, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Den Schülern wird dabei geholfen, indem sie über absehbare Folgen ihrer eigenen Entscheidungen und Handlungen im vor hinein und rückblickend informiert werden. Sie werden aufgefordert, sich zwischen den verschiedenen Wahlmöglichkeiten und den damit verbundenen Konsequenzen bewusst zu entscheiden und lernen so, ihre eigenen Verhaltenswünsche gegenüber denen anderer abzuwägen und z.B. innerhalb der Klassenregeln zu verwirklichen. Damit wird Eigenverantwortlichkeit als Schlüsselfähigkeit verstanden, die mit selbstverantwortlichem und kooperativem Denken und Handeln gleichgesetzt werden kann.[13]

 

Nach Bründel und Simon heißt Eigenverantwortung, mit inneren Wünschen und Antrieben und den daraus erfolgenden Reaktionen angemessen um zugehen.[14] Diese Definition erinnert an den Begriff der Selbstdisziplin, der in Kapitel 2.2 noch mal Erwähnung finden wird. Hier scheint auch die Selbstkontrolle eine wichtige Rolle zu spielen.

 

Juul und Jensen beschreiben Eigenverantwortung mit dem Begriff der persönlichen Verantwortung und meinen damit die Fähigkeit und den Willen des einzelnen Menschen, die Verantwortung für seine eigene Integrität, sein Handeln und die kleinen und großen Lebensentscheidungen zu übernehmen, die daraus folgen. Verantwortlichkeit wird hier als Mittel und als wichtiger Bestandteil des Ziels in der Kindererziehung und Pädagogik beschrieben. Sie sehen Verantwortlichkeit als „(...) die fruchtbarste Alternative zu Unterdrückung und Erniedrigung, eine wesentliche Qualität in Beziehungen und der zuverlässigste Garant für verantwortungsbewusste Gemeinschaften."[15] Eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Verantwortlichkeit kommt hier den Eltern zu, die erkennen müssen, wann die Eigenverantwortlichkeit des Kindes zum Ausdruck kommt. Diese anzuerkennen und zuzulassen bedeutet meist auch das Abgeben von Macht. Juul und Jensen betonen, wie wichtig es sei, dass Eltern ihre Verantwortung gemeinsam mit den Kindern ausüben, sie in Entscheidungen mit einbeziehen, so dass die Kinder allmählich lernen andere Faktoren als die eigene Lust und eigene Bedürfnisse in die persönliche Entscheidung einzubeziehen. Anders als Balke und Bründel/Simon sind Juul und Jensen der Meinung, dass Regeln und Konsequenzen nicht das richtige Mittel seien, um Kindern persönliche Verantwortlichkeit zu vermitteln, da sie Kindern nur beibrächten gehorsam oder ungehorsam zu sein, wobei weder persönliche Verantwortlichkeit noch die Fähigkeit, qualifizierte Entscheidungen zu treffen, entwickelt werden würden.[16]

 

Hier wird deutlich, dass Eigenverantwortung kein klar abzugrenzender Begriff ist. Es scheint sich hier eher um ein ganzes Bündel an Kompetenzen zu handeln und es ist nicht ganz klar, welches nun wirklich kennzeichnend ist, da die Ansichten dazu auseinandergehen. Geht man von den Aussagen des Familientherapeuten Juul aus, bedeutet Eigenverantwortung mehr als Selbstkontrolle oder Selbstdisziplin. Denn um die Verantwortung für sich selbst (und auch für andere) zu übernehmen muss Kindern möglichst früh die Möglichkeit gegeben werden in Entscheidungen einbezogen zu sein, um dann eigene Entscheidungen treffen zu können. Das erfordert ein hohes Maß an Erziehungskompetenz und die Einsicht von Erziehenden, dass es notwendig ist Kontrolle an ihre Kinder abzugeben. Dieses hohe Maß an Offenheit und Vertrauen in die Fähigkeit von Kindern ist demnach Vorraussetzung für die Entwicklung von eigenverantwortlichem Denken und Handeln.

 

Vergleicht man nun diese Vorstellung mit der Sicht der Autoren des Trainingsraumprogramms, kann der Verdacht entstehen, hier würde mit dem Begriff Eigenverantwortung etwas impliziert, was gar nicht im Sinne dieses Programms ist. Denn die Möglichkeit Entscheidungen zu treffen ist hier eher gering und nur in sehr engen Spielräumen möglich. Auch das Abgeben von Macht oder Kontrolle kann hier nicht wirklich beobachtet werden. Eigenverantwortung im Trainingsraumprogramm hat somit mehr mit Selbstkontrolle und Selbstdisziplin zu tun, als mit dem oben genannten Verständnis von Verantwortlichkeit. Damit rückt dieser Begriff dem der Disziplin näher, auf die im nächsten Abschnitt eingegangen wird.

 

2.2 Disziplin

 

Der Begriff Disziplin hat im heutigen Sprachgebrauch drei Bedeutungen. Disziplin bezeichnet zum einen ein Sachgebiet, einen Wissenschaftszweig oder ein Lernfach. Zum anderen wird Disziplin verstanden als geordnetes Verhalten innerhalb von Organisationen (Beamtentum, Heer, Schule) und als Folge allgemeiner Regelungen (Straßenverkehr).Eine dritte Bedeutung, die dieser Begriff heute hat, ist die Disziplin als eine durch Selbstbeherrschung bestimmte selbstgewollte Haltung, die als Selbstdisziplin bezeichnet wird.[17]

 

Erich E. Geissler merkt in seinem Artikel an, dass in jüngerer Zeit im pädagogischen Verständnis dieses Bedeutungsfeld geschrumpft sei und dass unter Disziplin abgesehen von der erstgenannten Bedeutung hauptsächlich ein durch Disziplinierungsmittel, also Druck, Macht und Gewalt, erzwungenes äußeres Verhalten gemeint sei.[18]

 

Im Wörterbuch Schulpädagogik wird darauf hingewiesen, dass Disziplinierung durchaus ihre Berechtigung habe, dies allerdings nur in dem Maße, in dem sie zum Ziel der Selbstdisziplin führe.[19] Disziplinierung so wird es hier definiert ist die: „[...] Gewöhnung an und die Einhaltung von in einer Gruppe geltenden Verhaltensvorschriften durch ständige Übungen und das Vorbild der Erzieherperson."[20] Diese positive Sicht von Disziplin und Disziplinierung entspricht aber nicht dem allgemeinen Konsens, denn Disziplinierung wird häufig mit Disziplinierungsmitteln in Verbindung gebracht, die bezüglich moderner Auffassungen von der Würde junger Menschen eher negativ beurteilt werden und mit Machtausübung, Herrschaft und Strafen in Verbindung gebracht werden.[21]

 

Böhm weist darauf hin, dass die Disziplin „[...] niemals Selbstzweck, sondern ein (durchaus problematisches) Mittel zur Ermöglichung pädagogischer Maßnahmen [...]"sei[22]. Auf der anderen Seite wird als Aufgabe der Disziplinierung auch genannt, dass sie zur Fähigkeit und Bereitschaft führe, ein auf eigene Einsicht in die Notwendigkeit und Begründetheit überpersonaler Ordnungen beruhendes Verhalten zu realisieren.[23]

 

In dieser Arbeit spielen beide Pole der Disziplin bzw. Disziplinierung eine Rolle. Die negative Sicht ist angesprochen in Kapitel 5, in dem das Trainingsraumprogramm in seiner Rolle als Disziplinierungsinstrument untersucht werden soll. Disziplinierungsinstrument soll hier als Instrument verstanden werden, mit dem Schüler durch verschiedene Mittel zu Anpassung an und zur Einhaltung von Regeln gebracht werden, womit Disziplin hier als ein Mittel zur Ermöglichung pädagogischer Maßnahmen betrachtet wird. Damit bleibt die Frage vorerst offen, ob Disziplin im Trainingsraum also zum Selbstzweck verkümmert oder ob tatsächlich darüber hinaus als Endziel Selbstdisziplin und Eigenverantwortung gefördert werden, was ebenfalls in Kapitel 5 thematisiert wird.

 

3 Die Grundlagen des Trainingsraumkonzepts

 

3.1 Die „Perceptual Control Theory" nach William T. Powers

 

Das Trainingsraumkonzept beruht auf den Erkenntnissen der „Perceptual Control Theory" wie sie William T. Powers formuliert hat. William T. Powers, Physiker und Psychologe an der Northwestern University, war im Fachbereich Astronomie tätig und stand dort außerdem dem Zentrum für Lehrerbildung beratend zur Seite. Seine Arbeit im Bereich der medizinischen Physik legte den Grundstein für seine langjährigen Forschungen im Bereich der Kontrolltheorie. Er veröffentlichte zahlreiche Artikel zu den Themen Künstliche Intelligenz, Kontrollsysteme und Verhaltenstheorie. 1973 erschien sein erstes Buch mit dem Titel: „Behavior, the control of perception", in dem er eine Alternative zu behavioristischer und psychoanalytischer Verhaltenstheorie darlegt, die er später „Perceptual Control Theory", also Wahrnehmungskontrolltheorie nannte.[24] Seine Theorie basiert auf den Prinzipien der allgemeinen Kontrolltheorie, die die Kybernetiker[25] Wiener und Ashby in den 50er Jahren in ihren Arbeiten darstellten.[26] Powers ist seit den 80er Jahren Mitglied der Control Systems Group, in der sich verschiedene Akademiker zusammengefunden haben, um sich mit der Kontrolltheorie auseinanderzusetzen, zu forschen und sie weiterzuentwickeln. Powers veröffentlichte 1998 sein fünftes Buch mit dem Titel: „Making sense of behavior. The Meaning of control".[27]

 

Die Wahrnehmungskontrolltheorie beschreibt die Kontrollfunktion des Verhaltens. Verhalten wird nicht verstanden als Reaktion auf äußere Ereignisse und Zustände, wie es in den Lerntheorien[28] der Fall ist und auch nicht als Folge von inneren, kognitiven Plänen und Berechnungen, wie das die kognitiven Theorien[29] beschreiben. Nach Powers kontrolliert das Verhalten die Wahrnehmung, so die Grundannahme dieser Theorie, mit der Powers die Lücke zwischen den genannten Verhaltenstheorien schließen will.[30]

 

Der Begriff der Kontrolle ist hier so zu verstehen, dass für jeden störenden Einfluss eine Handlung ausgeführt wird, die dieser Störung entgegenwirkt. In der deutschen Übersetzung würden die Begriffe „auf etwas aufpassen" oder „auf etwas achten" den Sachverhalt am besten beschreiben. Dabei wird nicht nur Störungen entgegengewirkt, sondern es wird ein bestimmtes Ergebnis angestrebt und zwar unabhängig von Störungen in der Umgebung, die die Handlung beeinflussen. Die Theorie über Kontrollsysteme zeigt, wie ein Verhaltenssystem es schafft, zuverlässige und wiederholbare Ergebnisse zu erreichen, in einer Umgebung, die ein großes Ausmaß an Unvorhersehbarkeit hat, in der wirklichen Welt.[31] Die Idee hinter dieser Theorie ist „[...]dass ein Verhaltenssystem Ergebnisse kontrolliert und nicht die Handlungen, die zu den Ereignissen führen [.. .][32]".

 

Das Gehirn erfasst eine Situation bzw. ein Ergebnis (kontrollierte Variable) der Umwelt über die Wahrnehmung und vergleicht dieses mit dem inneren Bild (Referenzsignal), das es von dem Ergebnis hat. Wahrnehmung und Vorstellung werden verglichen und so kann die Abweichung festgestellt und durch das entsprechende Handeln eine Übereinstimmung von äußerem Zustand und innerer Vorstellung erreicht werden. Das Gehirn plant also, welche Wahrnehmung es erreichen möchte und nicht, welche Handlungen ausgeführt werden sollen. Beim Auto fahren plant das Gehirn nicht welche Lenkbewegungen der Fahrer ausführen muss, um seine Einfahrt zu erreichen, es gibt nur das Signal, wie der Endzustand aussehen soll und der Fahrer richtet seine Handlung dementsprechend aus. Dabei kann die entsprechende Lenkbewegung immer ein wenig anders ausfallen, je nach dem, welche Störbedingungen, z.B. Seitenwind, von der Umwelt ausgehen. Das Ergebnis wird aber trotzdem so ausfallen, dass es mit dem Referenzsignal übereinstimmt, insofern es dem Fahrer möglich ist die Störbedingungen durch sein Handeln auszugleichen.[33]

 

Auf das alltägliche menschliche Verhalten bezogen sieht die beschriebene Kontrollfunktion so aus. Die Umwelt, in der wir leben verändert sich ständig, Bereiche dieser Veränderungen können zum Beispiel das Hungergefühl, Nähe oder Distanz zu Sachen und Personen, das Sozialverhalten eines Schülers und vieles mehr sein. Ist eine dieser Variablen für einen Menschen von Bedeutung, wählt er für diese einen seinen Kriterien entsprechenden optimalen Bereich oder einen besten Zustand aus (z.B. der Schüler sollte kooperativ sein). Diese Auswahl kann unbewusst erfolgen. Im nächsten Schritt wirkt der Mensch in geeigneter Weise auf sich und seine Umwelt ein, um eine Wahrnehmung zu erzeugen, die mit diesem optimalen Bereich übereinstimmt. Werden Störungen wahrgenommen, die die Zielerreichung negativ beeinflussen, wird der Mensch versuchen Handlungen durchzuführen, die diese störenden Einflüsse ausgleichen.[34]

 

Menschliches Verhalten ist somit zielstrebig, wobei mit dem Begriff Ziel, Überzeugungen, Einstellungen und konkrete Absichten bezeichnet werden. Überzeugungen und Einstellungen sind allgemeine Ziele, die konkrete Ziele festlegen, die, je konkreter sie sind umso leichter zu verändern sind. Sie werden dann verändert, wenn es zur Erreichung eines allgemeineren Ziels notwendig ist. Der Mensch kontrolliert also die Zielerreichung auf verschiedenen Ebenen mit Hilfe der Wahrnehmung und handelt so, dass der erwünschte Zustand auf den verschiedenen Ebenen erzeugt wird, möglichst bestehen bleibt oder wiederhergestellt wird.[35] Der Trainingsraum arbeitet mit dieser Zielstrebigkeit des Menschen, sie wird an den verschiedenen Entscheidungspunkten des Programms genutzt. Hier soll durch das Programm bei den Schülern das Ziel im Klassenraum zu bleiben und sich an die Regeln zu halten, über ihren anderen Zielen stehen, so dass sich ihr Verhalten danach orientiert, dass sie diesen Zustand erreichen.

 

3.2 Das „Responsible Thinking Program" nach Edward E. Ford

 

Der Ursprung des Trainingsraumprogramms liegt in Phoenix, Arizona. Dort wurde es 1994 von dem Sozialarbeiter Edward E. Ford auf der Grundlage der Wahrnehmungskontrolltheorie entwickelt und an einer Schule in Arizona erstmals eingeführt. Mittlerweile hat sich das Programm sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in anderen Ländern verbreitet.[36]

 

Edward Ford war in der US Navy, arbeitete dann als Journalist und später in einem Büro einer Stahlfirma. Schließlich unterrichtete er sechs Jahre an einer Highshool, machte seinen Abschluss in Sozialarbeit und war beratend für verschiedene Einrichtungen tätig. Während dieser Zeit ließ er sich in „Reality Therapie[37]" ausbilden und war als Trainer und Berater an Schulen und anderen Institutionen in Ohio tätig. In den letzten dreißig Jahren war Ford in der Alkohol- und Drogentherapie, psychiatrischen Einrichtungen, in zahlreichen Schulbezirken und an der Fakultät für Sozialarbeit der Arizona State University's School als Lehrer und Berater tätig. Außerdem ist er Leiter der „Control System Group" die für die Entwicklung und Verbreitung der „Perceptual Control Theory" zuständig ist, und hat bisher 13 Bücher veröffentlicht. Nicht zuletzt berät und trainiert er Schulen, die den „Responsible Thinking Process" an ihren Schulen einführen möchten.[38]

 

Das „Responsible Thinking Program" entwickelte Ford für den Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die Probleme haben, sich angemessen zu verhalten. Angemessen meint hier, sich an die in den entsprechenden Umgebungen geltenden Verhaltensregeln zu halten und anderen Menschen respektvoll zu begegnen. Voraussetzung für ein angemessenes, nicht störendes Verhalten ist, so die Grundidee, die Fähigkeit verantwortungsvoll (eigenverantwortlich) zu denken und zu handeln, also sein Handeln im Kontext der jeweiligen Umwelt und der jeweiligen Rechte und Bedürfnisse anderer Menschen zu reflektieren und so zu handeln, das eigene Ziele erreicht werden, ohne die Rechte anderer zu verletzen. Eigenverantwortliches Denken, so Ford, bildet die Grundlage für ein zufriedenes Leben und ist die Voraussetzung für ein angenehmes Miteinander in Familie, Schule und anderen Institutionen, in denen Menschen miteinander umgehen und leben.[39]

 

Die Grundgedanken und Umsetzungsmöglichkeiten seines Programms beschreibt Ford in drei Büchern, die den Titel „Discipline for home and shool" tragen. Wie im Titel deutlich wird, ist der „Responsible Thinking Process" nicht nur für die Schule anwendbar, sondern auch als Elterntrainingsprogramm gedacht. Ich möchte hier aber in erster Linie auf das Konzept für Schulen eingehen, da dies die Grundlage für das deutsche Trainingsraumprogramms darstellt.

 

Ford ist ein Anhänger der Reality Therapie, die auf der Grundlage der Wahltheorie davon ausgeht, dass Menschen ihre psychologischen Bedürfnisse nach Liebe, Geborgenheit, Stärke, Freude und Freiheit auch als ein physiologisches Bedürfnis nach Überleben oder Arterhaltung erfüllen wollen. Das Verhalten würde nicht von der Außenwelt oder der Vergangenheit determiniert, so die Grundidee, sondern das Verhalten wird als Wahl oder Entscheidung des Menschen betrachtet. Ein Mensch wählt entsprechend dieser Theorie funktionales oder disfunktionales Verhalten, um ein zur Zeit nicht erfülltes Bedürfnis zu erfüllen. Im Gegensatz zu Glassers Wahltheorie, die die Bedeutung der Bedürfnisse des Menschen betont, misst Powers, der für Ford die entscheidende Instanz im Bezug auf die theoretische Basis darstellt, der Wahrnehmung die größere Bedeutung bei, wenn es darum geht, was eine Handlung in Gang setzt.[40] Inzwischen distanziert Ford sich von der Kontrolltheorie Glassers, in dem er die Unterschiede dieser Theorie zu der von Powers betont. Glassers

 

Theorie zufolge läge die Ursache von Disziplinproblemen darin, dass die Bedürfnisse der Schüler nicht erfüllt werden, und würde man die Schulumwelt ändern, würden demnach die Störungen der Schüler verschwinden. Das ist nicht die Grundannahme des „Responsible Thinking Process", denn hier geht es um Veränderungen im Menschen selbst, die angeregt werden sollen.[41]

 

Trotzdem lassen sich Parallelen zwischen beiden Theorien erkennen, wenn man Fords Sicht auf störendes Verhalten im Unterricht und in der Schule betrachtet. Er wehrt sich, ebenso wie es Vertreter der Reality Therapie tun, dagegen, die Gründe für störendes Verhalten in der Umwelt der Kinder, in ihren Familienverhältnissen und peergroups zu suchen. Dies hält er zum einen für ein „sich aus der Verantwortung stehlen" der Lehrpersonen, zum anderen hält er es für uneffektiv und somit überflüssig. Er führt zur Begründung an, dass es Schüler gibt, die trotz schlechter Bedingungen erfolgreich sind, wohingegen andere die in den gleichen Verhältnissen, vielleicht sogar der gleichen Familie leben, es nicht schaffen, erfolgreich zu sein. Er folgert daraus, dass jeder Mensch selbst entscheidet, wie er sein möchte, unabhängig von den Umständen, in denen er lebt.[42] „They are the captains of their own ships and are responsible for how they create their own lives."[43] Mit diesem Satz macht Ford deutlich, welche Idee den gesamten Prozess durchzieht und auch welche Zielsetzung dahinter steht. Die Schüler sollen Verantwortlichkeit lernen, indem sie zur Verantwortung gezogen werden. Es gibt in diesem Prozess keine Ausflüchte, hier geht es immer nur um das, was der Schüler selbst tut, nicht darum was andere tun. Den Schülern soll bewusst werden, dass sie selbst die Verantwortung tragen, die Entscheidung treffen, um so in Zukunft „Kapitän auf ihrem eigenen Schiff" in ihrem eigenen Leben zu werden.

 

Um dieses Ziel zu erreichen, ist es wichtig, nicht das äußerlich beobachtbare Verhalten ändern zu wollen, wie es in anderen Programmen zur Behebung von Disziplinproblemen versucht wird, sondern der Schüler selbst muss seine Ziele, Einstellungen und Werte ändern, damit er in Harmonie mit sich und anderen leben kann. Dies kann nicht mit Ermahnungen, Bestrafungen und anderen in Schulen üblichen Disziplinierungsmaßnahmen erreicht werden, die eine reine Verhaltensanpassung zum Ziel haben und daher, so Fords Meinung, sinnlos sind. Um Schülern zu helfen, brauchen sie Hilfe, ähnlich einem Schüler, der Probleme mit dem Lesenlernen hat und Förderunterricht bekommt, sollte es speziell ausgebildete Lehrer geben, die Schülern helfen verantwortlich denken zu lernen und damit erfolgreich zu sein. Dazu müssen sie im ersten Schritt die Möglichkeit bekommen, in sich zu gehen, um zu reflektieren, was sie tun, um dann im zweiten Schritt, und dabei brauchen sie Unterstützung, daran zu arbeiten, wie sie ihr Leben so verändern können, dass sie Wege finden, mit anderen Menschen und den sie umgebenden Regeln umzugehen. Dieser Lernprozess findet in der Schule im so genannten „Responsible Thinking Classroom" statt, der unterstützende Lehrer wird als „Responsible Thinking Classroom Teacher", kurz RTT, bezeichnet.[44]

 

In den RTC kommen Schüler, die sich nicht an die Regeln im Klassenraum oder in anderen Räumen der Schule halten. Stört ein Schüler den Unterricht, gibt es einen festgelegten Kanon an Fragen, die der Lehrer in einem ruhigen, ernsten Ton den Schüler fragen soll. Die erste Frage lautet: „Was tust du gerade?", und soll den Schüler dazu bringen sich seines Verhaltens bewusst zu werden. Die zweite Frage soll den Schüler dazu anhalten, sich die geltenden Regeln ins Bewusstsein zu rufen und sein Verhalten mit diesen in Relation zu setzen. Dies geschieht, in dem der Lehrer ihn fragt: „Was sind die Regeln?". Die nächste Frage:„Was passiert, wenn du die Regeln brichst?" soll den Schüler dazu ermutigen darüber nachzudenken, was sein Handeln für Konsequenzen für ihn und andere hat. Dann fragt der Lehrer: „Möchtest du, dass das passiert?", was den Schüler dazu anleitet, in sich zu gehen und sich zu entscheiden, wie er sich sehen und wie er leben möchte. Darauf folgt die Frage „Wo möchtest du sein?" oder „Was möchtest du tun?", die dem Schüler die Chance geben soll einen Weg zu finden den Konflikt zwischen seinem Verhalten und den Rechten der anderen selbst zu lösen. Die letzte Frage ist: „Was passiert, wenn du das nächste Mal störst?". Diese Frage erinnert den Schüler an den Ablauf, der so aussieht, dass Schüler, die sich entscheiden ein zweites Mal die Regeln zu brechen, in den RTC gehen müssen. Diese Fragen sollen die Schüler dazu führen, in sich zu gehen, ihr Verhalten mit den geltenden Regeln zu vergleichen und sich dann zu entscheiden, wie sie sein möchten. Der Schüler trifft dann seine Entscheidung, sich entweder an die gegebenen Regeln zu halten und weiter am Unterricht teilzunehmen oder die Störung fortzusetzen. Laut Ford entscheiden sich die meisten Schüler zu bleiben, wer aber weiter oder erneut stört, dem werden folgende Fragen vom Lehrer gestellt: „Was tust du?", „Was hast du gesagt, wird das nächste Mal passieren, wenn du störst?" und „Wo musst du nun hingehen?". Dieser Schüler hat das Recht darauf verloren, im Klassenraum (oder in einem anderen Bereich der Schule) zu bleiben, bis er bereit ist sich an die Regeln, die dort gelten, zu halten. Manche Schüler reagieren nicht angemessen auf die Fragen, sie antworten nicht oder versuchen darüber zu diskutieren in dem sie Entschuldigungen vorbringen. Diesen Schülern soll die Frage gestellt werden: „Willst du mitarbeiten, oder nicht?". Ändern die Schüler ihr Verhalten daraufhin nicht, müssen sie in den RTC gehen um einen Plan zu erstellen, der es ihnen ermöglicht sich in Zukunft an die Regeln zu halten.[45]

 

Im RTC braucht der Schüler erst einmal Zeit um sich zu beruhigen, er sollte dabei nicht gestört werden, dadurch wird es ihm erst möglich zu sich zu kommen und darüber nachzudenken, was er getan hat und was er ändern kann, um das zu bekommen, was er will ohne die Regeln zu verletzen. Diese Zeit ist die wichtigste im RTC, denn nur, wenn der Schüler zur Ruhe kommt und mit sich und seinem inneren Konflikt allein ist, kann es zu einer „Reorganization", also einer Umorganisation, einer Veränderung in seinem Inneren kommen, so die Idee. Erst danach kann der RTT dem Schüler helfen einen Plan zu erstellen, denn erst, wenn dem Schüler der innere Konflikt bewusst geworden ist, kann er den Lehrer als eine Person sehen, die ihm helfen möchte, und er ist bereit diese um Hilfe bei der Planerstellung zu bitten.[46]

 

In dem Plan formuliert der Schüler, was er ändern möchte, um in Zukunft nicht mehr mit den Regeln in Konflikt zu geraten. Die Aufgabe des RTT ist es, Fragen zu stellen, die es dem Schüler erleichtern, seinem Innersten Ausdruck zu verleihen, sich bewusst zu werden über die eigenen Ziele, Einstellungen und Werte, um diese so zu verändern, dass sie mit der Umwelt im Einklang stehen. Dabei kommt es zum einen darauf an, dass der RTT darauf wartet, dass der Schüler bereit ist mit ihm zu sprechen, und zum anderen, dass er seine Hilfe als Einladung formuliert und nicht den Eindruck von Kontrolle vermittelt. Ford formuliert die Haltung des RTT so: „ She is always there, always inviting, but she is not introducing or controlling".[47] Denn die Schüler sollen im RTC lernen, sich selbst zu kontrollieren, in dem sie Selbstreflexion üben, die sie später auch in anderen Lebenssituationen brauchen. Sie sollen merken, dass sie selbst etwas schaffen können, denn das ist, so Ford, ein Weg zu Selbstbewusstsein und innerer Zufriedenheit.

 

Dazu ist es nötig, dass die Schüler die Zeit bekommen, die sie brauchen, und dass sie den RTT als eine Person erleben, die Geduld mit ihnen hat und die an sie glaubt. Eine zusätzliche Hilfe kann es sein, dass der RTT alle Pläne des Schülers im Auge hat, um bei einer Wiederholung eines gleichen Plans zum Beispiel zu fragen: „Wenn dein Plan bisher nicht funktioniert, wie kann er dann in Zukunft funktionieren?"[48]. Auch andere Hilfsmittel wie z.B. Selbstbeobachtungsbögen können hilfreich sein, damit der Schüler es schafft seine Ziele zu erreichen. Hat der Schüler mit der Unterstützung des RTT seinen Rückkehrplan erstellt, bereitet er ihn auf die Verhandlung mit dem Lehrer vor, der ihn geschickt hat. Dies kann bei Bedarf z.B. wenn es das erste Gespräch dieser Art für den Schüler ist, in Form eines Rollenspiels stattfinden.[49]

 

Die Verhandlung mit dem Lehrer sieht so aus, dass der Schüler dem Lehrer zuerst seinen Plan erklärt. Der Schüler soll dabei erläutern, wie er in Zukunft mit dem vorhandenen Problem und ähnlichen Problemen umgehen möchte, wie er damit umgeht, wenn es unerwartete Schwierigkeiten gibt, und wie er seine Ziele erreichen will, ohne den Plan zu gefährden. Sollte der Lehrer Einwände haben, teilt er sie dem Schüler mit und beide erarbeiten gemeinsam einen Kompromiss. Diese Verhandlung sollte nicht länger als 5-10 Minuten dauern, sie soll aber die Funktion haben, dass der Schüler merkt, jemand hört ihm zu, nimmt sich Zeit und hilft dem Schüler einen effektiven Plan zu entwickeln. Deshalb darf der Plan auch nicht ignoriert oder abgelehnt werden.[50]

 

Die nächste Phase im Programm nennt Ford die Phase in der „the rubber meets the road"[51]. Nun muss sich der Plan in der Realität bewähren. Hier ist es wichtig, dass der Schüler das Gefühl hat, man glaubt an ihn, auch wenn nicht jeder Plan umgehend funktioniert. Es sind die kleinen Schritte, die dem Schüler Vertrauen in den Erfolg geben können und auch wenn es Monate oder sogar Jahre dauern kann, bis der Schüler sein Ziel eigenverantwortlich denken und handeln zu können also im Einklang mit der ihn umgebenen Welt leben zu können, ist jeder Schritt in diese Richtung ein Hoffnungszeichen für ihn selbst. Es ist wichtig diese innere Arbeit ernst zu nehmen und anzuerkennen, dass nicht die Lehrer den Schüler verändern können, sondern nur der Schüler sich selbst. Das „Responsible Thinking Program" gibt den Schülern die beste Chance dafür, davon ist Ford überzeugt.[52]

 

Weitere Maßnahmen, die innerhalb des Programms ergriffen werden, sind zum Beispiel Gespräche mit den Eltern. Sie finden statt, wenn Schüler so häufig im RTC sind, dass sie besondere Unterstützung benötigen oder wenn Schüler die Mitarbeit verweigern und deshalb nach Hause gehen mussten. In diesem Fall dürfen die Schüler erst in die Schule zurückkehren, wenn sie mit einem Elternteil zum Gespräch in die Schule kommen und bereit sind mitzuarbeiten. Der Sinn dieser Gespräche liegt darin, die Schüler dabei zu unterstützen Lösungen für ihre Probleme zu finden, eventuell kann es sinnvoll sein einen Sozialarbeiter hinzuzuziehen. Um in die Schule zurückzukehren, müssen die Schüler einen neuen Plan ausarbeiten.[53]

 

In schwierigen Fällen in denen intensivere Methoden angezeigt sind, wird ein besonderer Plan ausgearbeitet, der „earn-all". Diesem Plan zufolge besucht der Schüler in der folgenden Zeit nur noch bestimmte Unterrichtstunden. Er beginnt mit den Stunden, in denen es ihm am leichtesten fällt sich an die Regeln zu halten. Ist er in diesen Stunden erfolgreich, kommen weitere hinzu, bis er es schließlich schafft, auch in den für ihn schwierigsten Stunden am Unterricht teilzunehmen. Während dieser Zeit bekommt der Schüler einen Beobachtungsbogen, den er bei jedem Lehrer und bei jeder Aufsichtsperson abgibt, damit diese jeweils ihre Beobachtungen eintragen können. Diese Beobachtungsbögen werden am Ende jedes Schultages mit dem zuständigen Lehrer besprochen.[54] Diese „monitor sheets" sollen dem Schüler helfen, sich seine Erfolge vor Augen zu führen und den Lehrern Informationen darüber geben, welche Situationen besonders problematisch für den Schüler sind, um erkennen zu können, wo der Schüler noch besondere Unterstützung braucht.[55]

 

Eine weitere Methode, die Ford als sehr wichtig einschätzt, ist der Einsatz von „quality time" durch Lehrer oder andere Freiwillige. In vielen Schulen, die mit Fords Programm arbeiten, werden Freiwillige, also ehemalige Lehrer, Professoren etc., eingesetzt, die mit Schülern, die besondere Schwierigkeiten haben, regelmäßig innerhalb oder auch außerhalb der Schule Zeit verbringen. Sie helfen den Schülern bei ihren Hausaufgaben, üben mit ihnen spielerisch lesen, schreiben oder rechnen oder gehen gemeinsam Freizeitaktivitäten nach. Wichtig ist dabei, dass jemand für die Schüler Zeit hat, ihnen zuhört und mit ihnen ihre Probleme bespricht, so soll eine Beziehung zwischen Schüler und Bezugsperson aufgebaut werden. Diese Beziehung zu einem Menschen soll dem Schüler helfen Selbstbewusstsein zu entwickeln und seinen Willen stärken im „Responsible Thinking Process" und damit langfristig in seinem ganzen Leben erfolgreich zu sein und seine Ziele zu erreichen.[56]

 

Der „Responsible Thinking Process" wird bei Ford nicht nur im Unterricht angewandt, sondern in allen Bereichen der Schule. Verstößt jemand auf dem Schulhof gegen die Regeln, gibt es bestimmte Bereiche auf dem Schulhof, auf denen sich diese Schüler unter

 

Beaufsichtigung aufhalten, bis sie wieder in der Lage sind sich an bestehende Regeln zu halten. Verstößt ein Schüler im Schulbus gegen die Regeln, stellt der Busfahrer die RTP- Fragen und der Schüler muss sich auf dafür vorgesehene Plätze im hinteren Bereich des Busses setzten. Eltern und Schulleitung werden darüber informiert, dass der Schüler verwarnt wurde, und beim nächsten Verstoß, hat der Schüler das Recht verloren, mit dem Schulbus zu fahren. Er darf erst wieder mit dem Bus fahren, wenn er einen Plan erstellt hat, den er mit dem Busfahrer verhandeln muss. Auch für die Eltern werden Elterntrainings durchgeführt, damit sie den RTP zu Hause durchführen können. Hier dient dann ein bestimmter Ort oder Stuhl als RTC.[57]

 

Ford empfiehlt dieses Programm nicht nur als Mittel im Unterricht, sondern als Prozess der der den gesamten Schulalltag prägen soll. Er betrachtet das Programm als grundlegend für jede Form der Erziehung, um Kinder zu verantwortlichen Menschen zu erziehen, die mit ihrer Umwelt, ihren Mitmenschen und sich selbst in Harmonie leben. Dadurch unterscheidet sich diese Programm von dem Trainingsraumprogramm, das in Deutschland durchgeführt wird, hier liegen die Schwerpunkte anders.

 

4 Das Trainingsraumprogramm in Deutschland

 

In Deutschland wird das Trainingsraumprogramm seit 1996 praktiziert, und zwar nach dem von Stefan Balke adaptierten Programm, das er an einer Bielefelder Schule erstmals einführte. Er gilt als deutscher Erfinder des Trainingsraumprogramms, das mittlerweile eine immer stärkere Ausbreitung an Schulen erfährt.[58] Auch andere Autoren und Autorinnen haben sich der Verbreitung des Programms angenommen und ihre Adaption der Methode publiziert. Besonders Heidrun Bründel und Erika Simon, die nicht nur das Buch „Die Trainingsraummethode" veröffentlicht haben, sondern auch deutschlandweit Fortbildungen durchführen, in denen sie Kollegien dabei unterstützen, das Trainingsraumprogramm an ihren Schulen zu einzuführen und zu implementieren, sind maßgeblich an der Verbreitung dieses Programms beteiligt. Da Balke und Bründel/Simon unabhängig voneinander und mit unterschiedlichen Schwerpunkten das Programm von Ford adaptiert haben, werde ich die beiden Programme getrennt voneinander vorstellen.

 

4.1 Das Trainingsraumprogramm nach Stefan Balke

 

Der Psychologe Stefan Balke entwickelte das Programm auf der Basis des „Responsible Thinking Program" von Edward E. Ford und führte es 1996 an einer Bielefelder Schule erstmalig ein. Mittlerweile hat er nicht nur umfangreich publiziert, sondern er bietet auch deutschlandweit Fortbildungen und Hilfen zur Einführung und Durchführung des Programms an Schulen und anderen pädagogischen Einrichtungen an.[59]

 

4.1.1 Die Problemlage: Unterrichtstörungen und Disziplinprobleme

 

Einigkeit besteht darüber, dass das Programm eine Reaktion auf die zunehmend sowohl für Lehrer als auch für Schüler belastende Situation in deutschen Klassenzimmern sei. Der Umgang mit Unterrichtstörungen nehme einen großen Teil der Unterrichtszeit in Anspruch und mangelnde Sozialkompetenz gepaart mit Disziplinlosigkeit der Schüler seien an der Tagesordnung. Umfragen unter Lehrern bestätigen diesen Umstand und in den Medien heißt es, die Zustände an deutschen Schulen würden den Lehrerjob zum „Höllenjob" machen und dafür sorgen das psychische Belastungen immer häufiger zu „Burnout" und Frühpensionierungen führen.[60]

 

Dass Unterrichtstörungen aber nicht nur für Lehrer belastend sind, sondern auch den Schülern Probleme beim Lernen bereiten wird deutlich, wenn man einige Erkenntnisse der Aufmerksamkeits- und Lernpsychologie betrachtet. So weiß man aus der Psychologie, dass akustische und visuelle Informationen auch dann verarbeitet werden, wenn man ihnen nicht aktiv folgt. Das bedeutet für die Schule, dass ein Schüler in einer unruhigen Klasse nicht nur die für ihn wichtigen Informationen verarbeitet, sondern auch unwichtige, die zum Beispiel vom störenden Schüler ausgehen. Um eine Überlastung zu vermeiden, die durch die zusätzliche Verarbeitung der Störreize entsteht, senkt der Schüler nach einiger Zeit Aufmerksamkeit und Konzentration. Niedrige Aufmerksamkeit führt dann zu Einbußen beim Lernen und es besteht sogar dauerhaft ein enger Zusammenhang zwischen der Höhe der Aufmerksamkeit und der Güte der Schulleistung, wie Studien belegen.[61] Somit ist für den Lernerfolg eine ruhige, störungsarme Klassenatmosphäre von besonderer Bedeutung.