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Das furiose Portrait des spätherbstlichen Istanbul – und die Geschichte einer herzzerreißenden Liebe.
Istanbul im November 1994: Ein Mann wird in einem Hotel erschossen. Eine alte Liebe zerbricht. Eine neue Liebe entsteht. Und dazwischen ein trinkender und mit dem Leben hadernder Künstler, dem die Wahrheit zur Obsession und die Wirklichkeit zur Chimäre wird. Bis der Tod sich bei ihm holt, was ihm längst schon gehört. Seltsam unwirkliche Dramen spielen sich ab vor der Kulisse jener Stadt zwischen Orient und Okzident, zwischen Fama und Wirklichkeit. Zwischen dem Glanz der Geschichte und der Hektik der Moderne.
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Seitenzahl: 426
Istanbul im November 1994: Eine Stadt zwischen Orient und Okzident, zwischen dem Glanz der Geschichte und der Hektik der Moderne, zwischen dem Lärm der Elendsviertel und Basare und der gepflegten Stille vornehmer Touristenhotels. Hier lernt der Kunststudent Jan Kenzig den Steinbildhauer Albin Kranz und seine Freundin Livia Mendt kennen. Das Paar verbringt ein paar Tage in der Stadt, ein Versuch, ihre Beziehung zu retten. Doch schon bald nach ihrer Ankunft glaubt Albin, vom Hotel aus einen Mord beobachtet zu haben. Keiner will ihm glauben, nicht einmal Livia, die vermutet, Albin, ein leidenschaftlicher Trinker, habe alles bloß halluziniert. Für Albin jedoch wird die Suche nach der Wahrheit zur Obsession. Immer mehr verstrickt er sich in einem unentrinnbaren Gespinst aus Enthüllungen und paranoiden Wahnvorstellungen. Währenddessen kommen sich Jan und Livia näher…
Christoph Peters wurde 1966 in Kalkar (Niederrhein) geboren. Er hat an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe Malerei studiert. Für sein Romandebüt »Stadt Land Fluß« erhielt er u. a. den Niederrheinischen Literaturpreis und den »aspekte«-Literaturpreis. Christoph Peters lebt in Berlin.
Christoph Peters
Das Tuch aus Nacht
Roman
btb
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Umschlagfoto: Illustration aus »Topkapi Saray Museum«, erschienen bei Topkapi Saray Museum Association, Tokyo/Dentsu Inc., Tokyo 1980. Detail aus dem Abschnitt »Textilien«. Das Photo, Bild Nr. 87, zeigt ein Detail eines Kaftans des Sehzade Mehmed, Sohn des Süleyman des Prächtigen, Palastwerkstätten, c. 1540; 35/1144. Photo von Banri Namikawa, Kamakura, Japan (Autorisierter Photograph für das Topkapi Saray Museum, Ausführender Photograph für die UNESCO).
© 2003 btb Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: Design Team München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen EM · Herstellung: Augustin Wiesbeck
ISBN 978-3-641-11189-2V002
www.btb-verlag.de
Du sollst dir kein Bild noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was in den Wassern unter der Erde ist. Bete sie nicht an und diene ihnen nicht!
EXODUS 20, 4 f.
Die dem Bild erwiesene Verehrung geht auf das Urbild über.
BASILEIOS DER GROSSE
Die Wahrheit ist Bild, doch es gibt kein Bild von der Wahrheit.
MARIE-JOSÉ MONDSZAIN
Wir alle wissen, daß Kunst nicht die Wahrheit ist. Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt.
PABLO PICASSO
Kunst ist Kunst, und alles andere ist alles andere.
AD REINHARDT
Was ist Wahrheit?
PONTIUS PILATUS
»TAKE CARE of you, baby.«
Ich frage mich, wie Albin auf diesen lächerlichen Satz gekommen ist. Er kann ihn fast nicht gehört haben. Höchstens bei sehr starkem und ablandigem Wind. Unter normalen Umständen liegt das Otelo Sultan viel zu weit vom The Duke’s Palace Hotel entfernt. Von hier aus ist unmöglich zu verstehen, was dort gesprochen wird. Außerdem müßte es »Take care of yourself, baby« heißen.
Livia hat mir später erzählt, im Detail und unter vier Augen, doch von Wind sagte sie nichts, daß es ein kalter Morgen war, die Frühsonne leuchtend gelb über dunklen, tiefhängenden Wolkenbändern, eine unbestimmte Wetterlage, vielleicht würde der Tag freundlich werden, vielleicht zöge neuer Regen auf, wie gestern und vorgestern. Angenehmes Licht, gestreut, aber klar. Albin schwieg, obwohl sie sich nicht gestritten hatten. Er sah fahl aus, kaute lustlos an einem Sesamkringel und trank Unmengen Kaffee. Trotz allem ein schöner Mann, dachte Livia, schön wie Kreidefelsen. Sie war hungrig aufgewacht, hatte sich am Buffet Oliven, Schafskäse, Bratwurst und Schinkenei auf den Teller geladen, was Albin zum Frühstück anwiderte. Ausnahmsweise machte er keine Bemerkung. Sie kannten sich lange genug, um die Stille nicht peinlich zu finden, so daß es auch für Livia keinen Grund gab, sie zu durchbrechen. Trotzdem hatte eindeutig Albin das Schweigen angefangen. Sie wäre bereit gewesen, den Tag zu planen, über die rätselhafte Akne-Epidemie unter den Kellnern zu spekulieren, über Millers Geschäfte. Dann sagte er ohne erkennbaren Zusammenhang und mit halbvollem Mund: »Die Minarette stecken im Himmel wie Akupunkturnadeln. Um die Kräfte rechtzuleiten.«
Erwartete jedoch keine Antwort. Der Vergleich gefiel ihr, sie drehte sich um, denn das war seine Aussicht, die Stadt mit den zahllosen Moscheen, der gedeckte Basar, wohingegen sie über abschüssige Gassen aufs Meer sah und den Blick hatte schweifen lassen, gedankenverloren, schlafwarm. Plötzlich – vorher war ihr nichts aufgefallen, aber nach Albins Bemerkung schaute sie vielleicht schärfer hin –, plötzlich brannte am Horizont, der ihr seltsam links abgerutscht und viel näher als zuvor erschien, dieses Schiff. Es lag schon sehr schräg im Wasser und würde jeden Moment sinken. Der Rauch flatterte als dünne schwarze Fahne nach Südwesten. Sie erwartete eine lautlose Explosion, zumindest das Auflodern der Flammen. Daß Menschen in Gefahr oder überhaupt nur an Bord sein könnten, kam ihr nicht in den Sinn und auch nicht, Albin auf den Untergang hinzuweisen. Sie überlegte einen Moment, ihre Kamera aus dem Zimmer zu holen, nicht, weil sich die Bilder gut hätten verkaufen lassen, Unglück verkauft sich immer gut, sondern – und da stockte Livia, zuckte mit den Achseln, zündete sich eine Zigarette an – , sondern weil sie etwas befremdete, irgend etwas war falsch. Während sie es mir erzählte, wußte sie immer noch nicht, was genau die Verunsicherung ausgelöst hatte, jedenfalls blieb der Photoapparat im Zimmer. Und dann war es gar nicht der Horizont und auch kein Schiff, sondern lediglich eine endlos lange Hafenhalle, die immer wieder zwischen den Häuserblöcken auftauchte, mit einem rot-weiß gestreiften Kaminaufbau, aus dem gewöhnlicher Heizungsrauch stieg. An der Stelle lachte Livia, beziehungsweise hätte sie am liebsten gelacht, blieb aber im Ansatz stecken und schüttelte den Kopf, denn ihr Befremden hatte sich mit dem Umkippen des Bildes keineswegs aufgelöst, im Gegenteil: Eine Bodenlosigkeit war zurückgeblieben, wie wenn man auf einmal die Uhr nicht mehr lesen kann oder seinen Schlüssel in eine fremde Tür gesteckt hat.
Nachdem Albin seinen Sesamkringel zu drei Vierteln gegessen hatte, ging er auf die Dachterrasse, um den beiden Hausmöwen den Rest hinzuwerfen. Er wußte, daß sie sich darum streiten würden. Sobald der Brocken über die Fliesen kullerte, breiteten sie die Schwingen aus, hüpften umeinander, fauchten böse, und ihre dünnen Zungen zuckten wie Messer. Das konnte Livia vom Frühstückstisch aus noch gut beobachten. Dann verschwand Albin in Richtung der künstlichen Liegewiese, vermutlich weil er hoffte, in einem der gegenüberliegenden Fenster etwas zu entdecken, eine Frau beim Anziehen, einen Vater, der seine Tochter schlug. Livia sagt, daß sie bis dahin keine Veränderung an Albin bemerkt habe, auch das Schweigen sei nicht ungewöhnlich gewesen.
Ich bin für diesen Zeitraum auf ihre Einschätzung angewiesen, denn während das geschah, saßen wir im Intercity Markgräfler Land zwischen Mannheim und Frankfurt, neben mir Mona, die seit zehn Minuten mit gespitztem Bleistift auf den Stadtplan ihres nagelneuen Reiseführers starrte und die Straße, in der unser Hotel sein sollte, beim besten Willen nicht fand. Der Index gab für The Duke’s Palace Hotel F5 an, aber die Tiyatro Caddesi, in der es dem Brief des Reisebüros zufolge lag, hatte keinen Namenszug. Ramada, Baron, Prestige und Sultan sollten ebenfalls in F5 sein. Auf der Karte waren in dem entsprechenden Quadrat allerdings nur vier blaue H’s eingetragen und zudem so unpräzise gesetzt, daß jeweils zwei oder drei Straßen als Standort in Frage kamen. Mit Hilfe einer Adressenliste hatte sie inzwischen Ramada, Baron und Prestige identifiziert, doch nach wie vor standen zwei Hotels zur Auswahl.
»Ich will jetzt endlich wissen, wo wir die nächsten zehn Tage verbringen«, sagte Mona.
»Vergiß es«, sagte ich, »Luftlinie macht das höchstens fünfzig Meter aus, darauf kommt es wirklich nicht an.«
»Ich will es aber trotzdem wissen.«
»Wenn wir erst unten sind…«
»Jetzt, Olaf, nicht später!«
Istanbul liegt auf einer Höhe mit Neapel. Trotzdem war es eisig, Kaltluft aus Sibirien, wo bereits der Winter einzog. Albin fröstelte, als er sich über die Balustrade lehnte und – das konnte Mona erst recht nicht wissen, die Karte bildete kein Oberflächenprofil ab – wegen der Hanglage zum Otelo Sultan hinaufschaute. Dort hatten Mister Miller und seine Freundin Ireen ebenfalls gerade ihr Frühstück eingenommen, allerdings nicht in dem dafür vorgesehenen Saal, sondern in ihrer Suite, mit Champagner zum Kaffee und die Schinkeneier statt aus einer beheizten Blechreine frisch in der Pfanne gebraten. Albin sah, wie Miller sich einen langen Zigarillo anzündete, der blaue Rauch schwebte feierlich über den Essensresten, und während Monas Bleistift das letzte H einkreiste, ohne zu wissen, daß es tatsächlich für das Duke’s Palace Hotel stand, ging Livia dort aufs Zimmer, um zu duschen. Ireen lehnte sich zurück und schlug ihr Haar zu einem losen Knoten. Im Stockwerk darunter trat der faltige Rücken einer älteren Frau aus dem Dunkel, die umständlich ihren BH schloß. Albin verzog die Mundwinkel, ebenso aus Geringschätzung für das ältliche Fleisch wie über sein fades Interesse an fremden Leben, drittens, weil er Sodbrennen hatte. Die Möwen hockten auf dem Geländer und beäugten die Gäste im Innern. Mona hätte sie gerne gezeichnet, sie ließ sich eigens eine Sondererlaubnis von der Hoteldirektion geben, um länger bleiben zu können, aber gegen halb elf, wenn das Buffet abgeräumt wurde, sprangen sie von der Brüstung und glitten Richtung Hafen davon. Den Argwohn in ihren Blicken bekam sie ohnehin nicht in den Griff: Monas zeichnerische Fähigkeiten sind begrenzt, um so begehrter ist sie als Modell.
Auf der Terrasse sei es sehr still gewesen, sagte Albin später, weshalb er sich nach dem Frühstück immer für eine halbe Stunde dorthin zurückgezogen habe. Istanbul bestehe aus Krach, er jedenfalls habe sonst nirgends einen ruhigen Platz gefunden, der Krach sei das Bindemittel, das die Stadt zusammenhalte, ohne den flöge sie auseinander. Letzteres entsprang Albins Neigung zu dramatischen Formulierungen, was jedoch die Stille auf der Dachterrasse des Duke’s Palace Hotels betrifft, hat er recht. Der alles beherrschende Lärm von Motoren, Hupen, Keilriemen, Bremsbelägen, das Geschrei der wütenden Fahrer, werbenden Händler, besorgten Mütter, ungezogenen Kinder bleibt auf halbem Weg zwischen den Fassaden stecken, hier oben ist nur ein fernes Rauschen vernehmbar, kaum lauter als das Meer, ab und zu das Heulen einer Schiffssirene.
Albin sagte, Millers Balkontür sei sperrangelweit geöffnet gewesen, er habe Ireen lachen gehört, sehr lang und melodisch, ein wenig aufgesetzt, daraufhin habe Miller sich zu ihr hinübergebeugt und etwas geflüstert, was für ihn unverständlich gewesen sei, aber Ireen habe plötzlich erschrocken gewirkt, und dann – egal, ob ich das nun glauben wolle oder nicht – habe Miller Take care of you, baby gesagt. Albin dachte noch, daß der Satz selbst für einen Amerikaner ziemlich abgeschmackt klinge, doch Sekundenbruchteile später sei ein knapper Ton über die Dächer gesaust, ein Ton, wie wenn Gummi reißt oder eine Weinflasche entkorkt wird, und Miller sei vornübergekippt, den Zigarillo zwischen den Lippen, ohne sich aufzubäumen, ohne schmerzverzerrtes Gesicht. Seine Stirn habe erst den Teller zerschlagen, dann die gläserne Tischplatte, Miller sei ja ein Riese gewesen, mindestens einsneunzig, ein Fleischberg, drei Zentner, pralle Tränensäcke, fettiges Haar, wie der alte Marlon Brando habe er ausgesehen.
JETZT, IM DUNKELN, merkt man deutlich, daß die Motoren alt sind. Ich müßte brüllen, wenn ich mich jemandem verständlich machen wollte. Hin und wieder stottern sie kurz, drei, vier Schläge in einem anderen Takt, geringfügig leiser. Die Lautstärke ist aber zweitrangig. Ein Geräusch, das lange genug anhält und einem primitiven Rhythmus folgt, erzeugt Stille. Umgekehrt: Im schalldichten Raum kann man vom Rascheln des eigenen Hemds erschreckt werden, und der Schrecken läßt die Brust nur zögernd wieder los. Leichter Fahrtwind.
Die brennende Zigarette zwischen den Lippen, gäbe ich ein gutes Ziel ab.
Vereinzelt dringen Bruchstücke amerikanischer Schlager durch die Schwingtüren. In deren Scheiben sind sonderbare Ornamente geschliffen. Kordeln, Schrauben, Anker, exotische Blüten und Blattranken schlingen sich durch überliefertes Strahlengeflecht. Wenn dem Ganzen ein System zugrunde liegt, ist es nicht durchschaubar. Zu Hause nannten wir alle Passagierschiffe Dampfer. Weiter über die Reling gebeugt, würde ich das Gleichgewicht verlieren, bestünde zumindest die Gefahr. Bis zum Anlegen bliebe mein Verschwinden unbemerkt. Es sei denn, Livia fiele plötzlich ein, daß sie mir dringend etwas zu sagen hat. Damit rechne ich nicht.
Schwarz und dickflüssig ist der Bosporus inzwischen. Auf die Bewegung des Schiffs reagiert er zögernd. Vielleicht scheint es auch nur so, weil man die Wellen nicht gegen den Rumpf schlagen, weil man sie überhaupt nicht hört. Als glitten wir über einen Ölsee. Heute früh schimmerte das Wasser blau wie verkratzter Stahl, und in den Kratzern brach sich die Sonne. Letzte Wolken zogen Richtung Westen davon. Sie sahen nach Zierat aus, nicht nach Regen.
Kein Mond. Er geht erst gegen Mitternacht auf, wandert bis in den späten Morgen und fällt dann auseinander. Die Besatzung nicht mitgerechnet, befinden sich vielleicht dreißig Leute an Bord. Dafür schalten sie die Lampionketten gar nicht erst ein.
Wieder Schmerzen. Im Moment etwas stärker, nicht sehr. Es kann der Magen sein, Galle, Darm, Leber. Seit wir hier sind, haben sie zugenommen, aber die Angst ist weggegangen.
Die Spiegelungen der Uferlaternen werden in schmale gelbe Streifen geschnitten. Unter den vergilbten Photos, auf denen man früher sehen konnte, wie Schwimmwesten angezogen werden, schläft Professor Nager einen leichten Nachmittagsrausch aus. Er ist Mitte Vierzig und ein mäßig berühmter Bildhauer. Im Schein der Neonröhren wirkt sein Gesicht, als gehöre es einer ungeschminkten Leiche. Unverkennbar, daß der Tote stark getrunken hat. Stellenweise sprengt Rost die Farbe von den Planken. Die Holzbänke sind abgescheuert und mit vermischten Meldungen aus den letzten Jahrzehnten übersät. Türkisches mit Ausrufezeichen. Ein Phallus, aus dem es spritzt. »Fuck the U.S.«, »John was here, 3.7.71«. Herzchen sind selten. Miller hieß auch John, genaugenommen Jonathan, aber Ireen nannte ihn John. Ich weiß nicht, wann er zum ersten Mal in Istanbul gewesen ist, bezweifle aber, daß er seinen Namen in eine Bank geritzt hätte. Ich denke eine Weile an diesen John, damit seine Gravur nicht umsonst war.
Sommer ’71 hat Vater das reetgedeckte Ferienhaus bei Marienhafe gekauft, ich sammelte Krabben und Seesterne, die in den Plastikschüsseln binnen weniger Stunden krepierten. Xaver blieb sitzen, Mutter weinte oft, aber nicht deswegen. Claes versuchte sein Meerschweinchen Charlotte zu operieren.
Der Schmerz zieht sich hin, dumpf, ohne Höhepunkte, er gehört jemand anderem. Als hätte eine Schlupfwespe ihr Ei injiziert. Das kann vor Jahren gewesen sein. Die Larve fand reichlich Nahrung. Ein praller, Schleim absondernder Wurm arbeitete sich vorsichtig und mit instinktiver Kenntnis der menschlichen Anatomie um die lebenswichtigen Organe herum. Ich durfte nicht sterben, ehe die Verpuppung eingeleitet war. Jetzt, gegen Ende, häufen sich Anzeichen: Schweißausbrüche, rasender Puls. Die Straßenhunde wittern etwas und machen mit eingezogenem Schwanz einen weiten Bogen. Nachts flüchtet der Schlaf, ich liege auf dem Rücken, kann das Pochen des fremden Blutes deutlich vom eigenen Herzschlag unterscheiden. Die Klimaanlage surrt gleichförmig, kein kurzes Gurgeln oder Blubbern, nicht einmal das Flattern eines Taus im Luftschacht. Und neben mir Livia, deren Atem eine Spur zu hastig scheint.
Nager und ich sind die einzigen hier draußen. Seinen Mädchen war kalt, sie haben sich unter Deck zurückgezogen. Livia ebenfalls. Die Jungs folgten mit etwas Abstand. Einer nach dem anderen, damit es nicht aussah, als würden sie ihnen nachlaufen. Jan zuerst, er sitzt bei ihr, darauf würde ich wetten. Livia redet und knipst. Ich frage mich, was sie an ihm findet. Ich frage mich, was sie an mir gefunden hat. Wenig später Hagen und Scherf, angeblich um Bier zu holen. Das war vor einer halben Stunde, bis zur Theke sind es keine zwanzig Meter. Fritz fror plötzlich auch. Niemand schläft gerne allein. Olaf Rademacher nuschelte: »… was zeichnen.« – Er ist der einzige, dem ich glaube, daß es kein Vorwand war. Seine Nasenflügel zuckten, als müsse er Witterung aufnehmen. Er hockt jetzt abseits und setzt Würfel auf Rechenpapier.
Livia wollte nach Istanbul, obwohl oder weil sie von der Stadt tausend Klischees im Kopf hatte. Mittlerweile hat sie beschlossen, diese Kunststudenten zu photographieren, die genausowenig wissen, weshalb sie hier sind, wie wir. Ich kann mir nicht vorstellen, daß irgendein Magazin daran Interesse zeigt, aber das ist ihre Sache.
Am Ostufer, hinter den Sommerresidenzen der Kalifen, Wesire, Generäle, schießen sie Feuerwerkskörper hoch. Der Himmel gibt sich Mühe, festlich zu erscheinen. Als unsere Firma abbrannte, einschließlich aller Lastwagen, Bagger, Kräne, Raupen, 1978, war ich zwölf, vier Wochen später kam ein Telegramm aus Buenos Aires. Vater schrieb, wir bräuchten uns keine Gedanken zu machen, er habe für alles gesorgt, wolle jedoch nicht ins Detail gehen. Onkel Geralds Hühnerfarm erwirtschaftete schon damals trotz gelegentlicher Protestaktionen gute Gewinne, seine Überweisungen kamen pünktlich zum Ersten. Wenige Monate nach Vaters Verschwinden begann er mit dem Bau einer neuen Käfiganlage. Claes haßte Onkel Gerald. Es dauerte einige Zeit, bis ich mich zu Silvester wieder auf die Straße traute. – Vermutlich richtet irgend jemand, der Geld und Einfluß hat, seiner Tochter eine Hochzeit aus, von der die Gäste noch in zwanzig Jahren erzählen sollen. Eine brennende Halle voller Baufahrzeuge erzeugt ohrenbetäubenden Lärm, insbesondere, wenn die Treibstofftanks explodieren. Über dem Feuerwerk steht der Große Wagen, das einzige Sternbild, das ich sicher erkenne. Nager schnarcht mit den Motoren um die Wette. Je betrunkener er ist, desto unverhohlener sind seine Angebote an Mona, obwohl er in Köln eine deutlich jüngere Frau hat und zwei kleine Mädchen, für die er überall Mitbringsel kauft. Seine Frau bezeichnet er als prima Kerl. Sie sehe nicht schlecht aus, eigentlich sogar gut. Er sagt, ab einem bestimmten Alter wolle sich jeder Mann in erster Linie fortpflanzen, dann sei das Ergebnis wichtiger als die Liebe, der Sex. Sie ist die Sekretärin des Galeristen gewesen, der ihn auf die Dokumenta gebracht hat, wenn auch unter ferner liefen. Jetzt kümmert sie sich ausschließlich um seinen Nachwuchs. Er nennt sie nie beim Namen. Allerdings heißt er selbst in Wirklichkeit auch nicht Nager, sondern Walter Schaub-Scheffelbock, wie Livia von Jan weiß, der bei der Einreise seinen Paß gesehen hat. Er könnte mein Freund sein.
Ich bin sicher, daß Livia mit Jan schläft. Sie soll machen, was sie will. Es interessiert mich nicht.
Von der Brust her dehnt sich ein Ziehen bis in die Arme aus. Raki zum Mittagessen, die Garnelen waren sehr frisch. Ich versuche mein Spiegelbild im schwarzen Wasser zu entdecken, in Streifen geschnitten wie die Uferlaternen.
Es wird aufhören. Bald. Es war vergeblich. Von Anfang an hat etwas nicht gestimmt. Es ist mir nicht gelungen, einen Zusammenhang herzustellen. Ich bin zwischen Menschen und Orten hindurchgerutscht, auf einer glatten, abschüssigen Fläche. Simulierte Handlungen, weil man irgend etwas tun muß, weil man nicht nichts tun kann, aufgrund der äußeren Erfordernisse. Daraus wird im Rückblick ein Leben.
Der Große Wagen ist leer, eine durchgerostete Schubkarre. Ich hätte gerne gelernt, mich anhand der Sterne zu orientieren, wie ein Karawanenführer, ein alter Kapitän. Dann hätte ich Vaters Grab in Bahia Blanca gesucht und auf sein steinernes Ebenbild gespuckt. In unserer Familie gab es außer Claes jedoch keinen, der auch nur Vogelstimmen unterscheiden konnte, geschweige denn Sternbilder, und Claes hat es sich selbst beigebracht, mit Hilfe von Schallplatten. Ich hätte gerne erfahren, weshalb Jonathan Miller erschossen wurde. Ich habe ihn sterben sehen, das verbindet. Der Tod ist eine intime Angelegenheit, man sieht nicht vielen dabei zu. – Warum Messut Yeter so vehement bestreitet, daß Miller im Sultan gewohnt hat? Und wohin Ireen verschwunden ist? Wenn ich all das wüßte, würde sich nichts ändern. –
Stück für Stück bin ich Teil des fremden Organismus geworden. Ich bilde nur noch eine dünne Hülle um ein Wesen, das vollständig aus mir besteht. Es hat meine komplexe Primatenstruktur in den schlichten Bau eines vorzeitlichen Insekts zurückverwandelt. Ich spüre seine Bewegungen, wie es versucht, den Kokon abzustreifen.
Die Zigaretten werden bis ans Ufer reichen. Notfalls leiht Olaf mir Tabak. Schwindel, als wäre ich angetrunken eine steile Treppe hinaufgestiegen. Das Feuerzeug zittert, weil ein schwer beladener Frachter nahe an uns vorbeifährt. Der Lichtpunkt unmittelbar vor mir. Blitzt auf, verlischt. Ein Schlag reißt meine Brust auseinander. Dann verbreitet sich Wärme. Lautlosigkeit. Der Rauch schmeckt nach Eisen. Warum fühle ich keinen Schmerz?
Feinstoffliches Kribbeln, flirrende Kapillaren. Die Gefäßwände ächzen wie bei einem ausrangierten Dampfer, den ein verrückter Heizer in den Rekord treiben will. Mit jedem Zug pulsiert es heftiger. In der Leiste, den Schläfen, am Hals. Zischend treibt der Dampf die Turbinen an. Aber das Schiff wird langsamer statt schneller. Als läge eine unsichtbare Hand auf dem Schaufelrad. Für eine Zeitlupenaufnahme, sagt Livia, belichtet die Kamera im Minimum fünfzig Bilder pro Sekunde. Doppelt so viele wie gewöhnlich. Vielleicht ermöglicht die plötzliche Überflutung des Hirns mit Adrenalin die Verarbeitung wesentlich größerer Informationsmengen, so daß alle Bewegung für einen Augenblick zum Stillstand kommt.
IREEN SCHRIE nicht. Ihre Stimmbänder versagten den Dienst. Sie taumelte zur Tür, drehte den Schlüssel, öffnete, schob sich vorsichtig auf den Flur, sackte kurz ein in den Knien, riß sich zusammen, fing die Ohnmacht im letzten Moment auf wie eine kostbare Tasse, die ein unvorsichtiger Ellbogen aus dem Regal gestoßen hatte, und wirkte doch nicht erleichtert. Millers dickes, in englischem Landhausstil geschneidertes Jackett war so gefallen, daß Albin weder Wunde noch Blut sehen konnte. Der Stoff hatte den Splittern des Tisches standgehalten. Ireen suchte nach dem Aufzug, sie erinnerte sich nicht, in welcher Richtung der Aufzug war. Ihr Atem ging flach und sehr schnell. Sie drückte sich gegen die Wand, krallte ihre Nägel in den rauhen Putz, spürte keinen Schmerz, als sie brachen, rutschte zu Boden. Über ihr verfing sich ein Fächer Haare. Millers Oberkörper knirschte tiefer ins Glas. Sie zuckte vor dem fremdartigen Geräusch zurück. Im Zimmer hätte es still sein müssen. Der Tod hockte auf der Sessellehne und legte seinen Zeigefinger an die gespitzten Lippen. Sie rief jetzt doch, zumindest bewegte sich ihr Mund, daß jemand zu Hilfe käme, vielleicht lebte Miller und wäre zu retten. Aber die Leute aus den wenigen belegten Nebenzimmern saßen beim Frühstück oder waren bereits zu Besichtigungen, Geschäftsabschlüssen ausgeschwärmt, die Putzkolonne trödelte.
Albin sagte später, er habe einige Sekunden, Minuten, genau wisse er es nicht, wie ein Idiot dagestanden und abwechselnd den toten Miller und das Häuflein Ireen angestarrt. Der Flur sei hell erleuchtet gewesen, weshalb er sie sehr wohl habe sehen können, wenn auch nur als Schemen. Miller zwischen den Scherben habe ihn an Jacques Cousteaus Calypso im Packeis erinnert. Daß er einen Kater gehabt hat, gab Albin unumwunden zu, fand aber nicht, daß es etwas ändern würde, im Gegenteil: Wenn ich jemals am Morgen nach einer durchzechten Nacht ohne Schlaf ein Museum besucht hätte, wüßte ich, daß die Wahrnehmung dann eine Schärfe habe, mit der könne man Stein schneiden. Albin beschrieb sogar die Wolkenformationen überm Sultan, weiße, chaotisch anmutende Zirrostratus in großer Höhe, darunter dunkelgraue Kumuli, von deren Rändern der Wind Fetzen abriß und ins Blau verwirbelte. Albin zufolge wehte es in Böen sogar heftig.
Als Ireen entschied, den Aufzug links zu suchen, löste sich auch seine Lähmung, und er rannte hektisch hin und her, zehn Schritte vor, zehn zurück, drehte sich im Kreis – was tun? –, besann sich und suchte die umliegenden Dächer und Fenster nach dem Schützen ab, der vermutlich gerade sein Gewehr auseinanderschraubte, um es in einem unauffälligen Köfferchen zu verstauen, ehe er zügig, jedoch ohne Hast, über die nächste Feuerleiter verschwand. Wie in einem schlechten Film. Es wäre wichtig gewesen zu wissen, wo genau er angesessen hatte. Im Zweifel war dem einen oder anderen Hausbewohner etwas Ungewöhnliches aufgefallen, oder einer hatte sein Schlafzimmer zur Verfügung gestellt und es vorgezogen, sich nicht über den Batzen Geld zu wundern. Die Kriminalisten können mittels Schußkanaluntersuchungen, Computersimulationen einiges rekonstruieren. Albin entdeckte keinen Verdächtigen. Und kein Vorhang bewegte sich fahrig. Es hätte nahe gelegen, jemanden hinzuzuziehen, einen Kellner oder Gast mit stabilem Nervenkostüm, sei es nur, um sicherzugehen, daß er nicht phantasierte, und weil vier Augen mehr sahen als zwei. Statt dessen hat Albin anhaltend den Kopf geschüttelt und ist weggegangen, langsam, ohne sich umzudrehen. Vor der Tür hat er mit einem Ausfallschritt, für den es keinen Grund gab, die beiden Möwen aufgescheucht, vielleicht mit der Absicht, sie zu treffen, aus einem Reflex heraus, wie man eine Blechdose vom Bürgersteig tritt, da hockten sie längst auf der Regenrinne. Das Personal und die letzten Kaffeetrinker beachteten ihn nicht. Nachträglich hätte niemand beschwören mögen, daß er tatsächlich an genau diesem Montag quer durch den Speisesaal gegangen ist, schleppend, verstört, und niemandem ist aufgefallen, daß er nervös an seinem Ohrläppchen gerissen hat.
Er nahm den Aufzug hinunter in den dritten Stock, wo ihr Zimmer war, wo Livia unter der Dusche stand. Der Aufzug hielt zwischendurch nirgends. Die seifige Musik schien ihm bösartig. Livia genoß das warme Wasser und dachte an die Hände eines guten Friseurs, die ihre Kopfhaut massierten. Als Albin »Miller ist erschossen worden!« ins Bad rief, verstand sie ihn kaum, nachdem er es wiederholt hatte, dachte sie, es sei eine von seinen üblichen Possen.
»Im nachhinein«, sagt Livia, »war es wohl ein Fehler, ihm nicht zu glauben. – Du hast ihn doch erlebt, Olaf, in welchem Zustand er gewesen ist, hättest du ihm geglaubt?«
»Nein.«
»Aber Nager, der hat ihm geglaubt.«
»Trotzdem.«
Albin erfand Geschichten, um Verwirrung zu stiften, um sein Gegenüber auf die Probe zu stellen, aus Verachtung oder Lust am Spiel. Sein Gesicht nahm dabei einen Ernst an, der Leute, die ihn nicht kannten, das Unwahrscheinlichste glauben machte: daß er wegen besonderer genetischer Voraussetzungen bei der Nasa angestellt sei und demnächst zehn Tage mit dem Spaceshuttle um die Erde fliege, daß sein Vater eine Goldmine im Amazonasgebiet betreibe, weshalb er selbst Arbeit nicht nötig habe. Dann brach er unvermittelt in Gelächter aus.
»Ein Schuß. Vor zwanzig Minuten, beim Frühstück.«
Sie fragte, ob er einen Arzt brauche, und er solle vielleicht, nur ein unverbindlicher Vorschlag, weniger trinken.
»Er hat noch Take care of you, baby gesagt.«
Daraufhin drehte sie die Dusche ab, obwohl das Shampoo nicht vollständig ausgewaschen war, griff nach dem Handtuch, schlug es sich um den Kopf, stand vor ihm wie eine griechische Schöne in Marmor, groß und anmutig, nicht zu schwer in den Hüften.
»Was hätte er sonst sagen sollen? Wahrscheinlich ist er der Pate der New Yorker Cosa Nostra und hat seine Freundin – wie heißt sie noch gleich?«
»Ireen.«
»…hat Ireen in alle Geheimnisse eingeweiht, weil er geahnt hat, was kommt.«
»Ich habe es gesehen.«
Livia ist inzwischen sicher, daß ein bittender, fast flehentlicher Unterton in seiner Stimme mitschwang, der sie im ersten Moment irritierte: So hatte Albin nie geklungen. Sie beschloß aber, sich verhört zu haben. Daß etwas nicht stimmte, hat sie vor allem daran bemerkt, daß sein abschätzender Blick ausblieb, mit dem er sonst prüfte, ob ihre Nacktheit ihm noch gefiel. Er schaute an ihr vorbei, spielte links mit dem Feuerzeug, mühte sich rechts, eine Zigarette unbeschadet aus der Packung zu ziehen, ohne die Packung aus der Jackentasche zu holen. Seine Augen folgten dem ablaufenden Schaum auf den Kacheln.
Albin schaute nicht einmal zu, wie sie sich abtrocknete. Sie hörte, daß er sich aufs Bett warf und den Fernseher einschaltete. Das tat er sonst höchstens, wenn er betrunken zurückkam oder beschlossen hatte, bis zur Besinnungslosigkeit zu trinken.
In der letzten Nacht, die wir zusammen an der Hotelbar totschlugen, sagte Albin, im Prinzip hasse er Fernsehen, aber das reibungslose Funktionieren eines technischen Geräts gebe ihm das Vertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit zurück, genausogut könne er Auto fahren, doch dann rede Livia zwei Tage nicht mit ihm.
Eine üppige, grell geschminkte Frau schickte ihre endlosen Melodielinien imaginären Liebhabern hinterher, tanzte mit Schellen und Säbelgerassel. Werbung: Für Tee, mit einem kindischen Lied, Insektenvernichtung in billigem Zeichentrick, wobei die Kakerlaken einen sympathischen Eindruck machten, Gebäck zum Tee, Badezimmerkacheln, Scheuerpulver, Trallala.
Albin schaltete den Fernseher ab und öffnete das Fenster in der Hoffnung, Polizei- oder Ambulanzsirenen zu hören. Da war aber nichts als das gewohnte Hupen und Schreien. Er dachte, daß seine Aussage bedeutsam sein könnte, daß er sich in jedem Fall melden sollte, möglicherweise war er neben Ireen der einzige Zeuge. Außerdem gab es im Sultan eine Bar, die vierundzwanzig Stunden geöffnet hatte.
Livia vor dem Waschbecken cremte sich ein, entdeckte ihr Spiegelbild als Frage, antwortete nach kurzem Zögern, daß sie Möglichkeiten haben müßte. Fünf Jahre Albin lagen hinter ihr, die waren oft furchtbar gewesen, aber nicht nur. Sie hätte ihn nie geheiratet. Sie hätte überhaupt niemanden geheiratet. Im Grunde konnte sie jederzeit gehen.
Kurz vor dem Frankfurter Hauptbahnhof brach Mona die Suche nach dem Hotel entnervt und ergebnislos ab, kaute zusehends wütender auf ihrem Bleistift, hätte ihn am liebsten jemandem in den Rücken gerammt, Corinna, Swantje, Scherf oder seinem schmierigen Anhängsel Hagen, die Istanbul als Ziel ausgesucht und durchgesetzt hatten, »bloß weil wir anderen zu blöd, zu faul, zu lahm gewesen sind, uns um Alternativen zu kümmern. Oder wolltest du dahin? Kennst du auch nur einen einzigen türkischen Künstler, Olaf?«
»Die geometrischen Ornamente sind interessant.«
»Für dich vielleicht. Ihr hättet trotzdem etwas sagen können, Jan und du. Jan läßt sonst keinen Streit mit Hagen aus.«
»Warte doch erst mal ab.«
»Jan kommt bestimmt wieder auf die letzte Minute.«
Jan war nicht mit Mona zusammen, obwohl das an der Akademie in regelmäßigen Abständen als Neuigkeit gehandelt wurde, obwohl sie ihm Akt stand, nur ihm. Wenn zwischen Mona und Jan etwas gewesen wäre, wüßte ich es. Jan und ich sind auf dieselbe Schule gegangen, haben im selben Semester das Studium begonnen, bis vor kurzem zusammengewohnt. Allerdings zog Mona sich immer erst aus, wenn die Tür zu seinem Zimmer geschlossen war.
WAS, WENN es nach dem Stillstand rückwärts weitergeht?
Die Schwärze umwickelt mich wie ein pechgetränktes Laken, obwohl die Stadt näher rückt, obwohl seit kurzem an der Stelle, wo mein Spiegelbild sein müßte, ein fahlgrünes Irrlicht über der Wasseroberfläche schwebt, eine leuchtende Fläche, die sich ausdehnt, als würde ein Kissen aufgeblasen, wieder zusammenzieht, erneut füllt, ruhig und gleichmäßig. Leichte Quallen könnten so durch die Luft schwimmen. Es hält meinem Blick stand, zerfällt nicht, wenn ich es fixiere. Das ist ungewöhnlich. Ich kann fünf Spaltöffnungen erkennen, Atemlöcher oder Sinnesorgane oder Stigmata, in jeder Ecke eins und eins im Zentrum, das scheint etwas größer. Ich muß an eine Spielkarte denken, Pik-As.
Das Dröhnen der Motoren klingt jetzt so fern, als würde es vom anderen Ufer herüberwehen. Eine Bewegung wie fallen, eingehüllt in das Tuch aus Nacht.
Es ist halb fünf, als wir in Düşünülen Yer über den wackligen Steg zurück an Bord gehen. Zwischen Kaimauer und Schiffsrumpf treibt der aufgedunsene, mit blaßrosa Schwären übersäte Kadaver eines Köters. Er hat keine Augen mehr, seine Flanke ist aufgeplatzt. Das senfgelbe Fell verbindet sich mit dem gekenterten Himmel zu einer Farbigkeit, die an die Kachelfriese Babylons erinnert. Löwen, Gazellen, Hirsche, Fabelwesen vor umgekipptem Blau. Ein Schwarm kleiner Fische stößt von unten in den Bauch, gierig oder verspielt: »Morgen hat sie jemand auf dem Teller«, sage ich zu Livia, die unmittelbar hinter mir kommt, »im Ganzen fritiert, mit Hundefleisch in den Därmen.«
Livia stöhnt auf. Einen Moment fürchte ich, sie wird sich übergeben, so bleich ist ihr Gesicht. Sie schluckt Speichel, wendet sich aber nicht ab. Während sie schaut, schiebt das Erstaunen über die vollkommene Wehrlosigkeit des Körpers in den Wellen ihren Ekel zur Seite. An Deck kramt sie hastig die Kamera aus der Tasche, tauscht das Weitwinkel- gegen ein Teleobjektiv, lehnt sich übers Geländer, so weit, daß mir angst wird, verschießt binnen zwei Minuten einen ganzen Film, meine Hand auf ihrem unerträglich schönen Hintern schon nur noch Erinnerung, die kann sie kaum halten.
Gedämpft, aber klarer als nüchtern: Rauschen – nicht das des Meeres – silbrig flirrend, zusammengesetzt aus Millionen Tonpunkten in allen erdenklichen Höhen, jeder scharf umgrenzt von der drohenden Stille dahinter: Wenn meine Augen hören würden, müßte ein Gebirgssee im Vollmond zwischen Gletschern, vereisten Felshängen so klingen.
Messut Yeter nannte unsere Wahrnehmung vorläufig, ich wußte nicht, was er damit meinte, und fragte, wie ich mir endgültige Wahrnehmung vorzustellen hätte, da lachte er bloß.
»Das sind die ersten guten Photos, die ich hier gemacht habe, ich bin sicher«, sagt Livia, obwohl sie bis jetzt nur einen leibhaftigen Hundekadaver gesehen hat, kein Bild: »Noch dazu völlig unverkäuflich.« – Darüber scheint sie besonders froh zu sein, nachdem sie mir vor zwei Wochen erst stolz verkündet hat, dieses Jahr verdiene sie endlich ausreichend Geld mit der Photographie.
Es gibt kaum ein Motiv, das so unverkäuflich ist wie tote Hunde, es sei denn, sie wären für eine gerechte Empörung gut.
Hagen wirft vom Ufer aus einen Stein nach dem Vieh, verfehlt es, Scherf grölt: »Du Idiot«, der Fischschwarm verschwindet als ein einziger Organismus in tieferen Zonen. Auf Livias Gesicht steht Verachtung, die Hagen töten soll, der sucht den Kai nach anderen Wurfgeschossen ab, greift sich eine leere Colaflasche und trifft. Das Knäuel Därme rutscht weiter ins Wasser, Livia verliert die Spannung wie ein Ballon Gas. Plötzlich ist sie weich, ohne Schutz. So fand ich sie immer am schönsten. Seit sie Erfolg hat, gönnt sie selten jemandem ihre Schwäche. Als ich ihr über den Rücken streiche, tritt sie zur Seite: »Du bist betrunken«, dankbar, daß ihr so schnell ein Grund eingefallen ist, mich zurückzuweisen. Sie zahlt ihren Abschied in Raten. Jan unterhält sich wenige Meter von uns entfernt mit Olaf, kreuzt ihren ausgeleerten Blick, verzieht spöttisch die Mundwinkel in meine Richtung. Livia antwortet mit einem Lächeln, das mißrät. Vielleicht täusche ich mich auch, und Jans Grinsen gilt in Wirklichkeit Nager, der mit weit ausgestreckten Armen über den Steg balanciert, unsicher, ob das Schwanken von morschen Einlegeböden, vom Wellengang oder vom Schnaps herrührt, brüllt: »Das ist alles Schrott hier, da kann man höchstens noch Kunst draus machen, wo ist Swantje, die soll sich das Zeug einpacken und nachschikken lassen, damit kriegt sie eine Eins in der Zwischenprüfung.«
Livia nimmt wortlos ihre Phototasche, geht langsam zu den überdachten Bänken, läßt sich fallen, sitzt da, nach vorn gebeugt, starrt den Boden an, wickelt sich Haarsträhnen um die Finger.
Diese Geste, sonst nichts, in Carrara-Marmor.
Jan beendet sein Gespräch mit Olaf, schlendert zu ihr hinüber, setzt sich neben sie, als sei das sein angestammter Platz. Stellt keine Frage, äußert keinen Gedanken, der ihm eben gekommen wäre, eigens für sie gedacht: Das hätte ein Vorwand sein können. Hält ihr lediglich seine Zigaretten hin. Danach das brennende Feuerzeug. Der Abstand stimmt auf Anhieb. So selbstverständlich, als hätten sie es seit Jahren geübt. Obwohl er weiß, daß ich zuschaue. Unter anderen Umständen würde ich ihn mögen. Ich sehe noch einmal nach dem Hund. Er ist jetzt dummes, häßliches Elend. Die Fische balgen sich wieder um Fleischfetzen. Livias Knipserei oder Hagens Treffer haben ihm seinen Ausdruck gestohlen. Oder der Dreiklang aus Fell, Wunden, Wasser verliert in der aufziehenden Dämmerung seinen Zusammenhalt. Licht, das Minarette zum Glühen bringt, muß nicht für einen Kadaver taugen.
Livia schüttelt den Kopf. Offenbar ist Jan doch ein Satz eingefallen. Er muß ihn sehr leise gesagt haben, nur sie sollte ihn hören. Allerdings teilt sie seine Auffassung nicht. Beider Knie berühren sich, zumindest scheint es von meinem Standpunkt aus so. Vielleicht hat Jan seine Hand unter ihren Oberschenkel geschoben. Ihrem Haar steht der Abend gut, ihrem Haar steht jede Beleuchtung, es schimmert jetzt kupfern.
Wahrscheinlich ist Livia unglücklich mit mir gewesen. Ich tauge für Momente, nicht zum Leben, wer taugt dazu schon?
Unter Deck werden Neonröhren eingeschaltet, durch die Bullaugen fallen milchige Kegel aufs Wasser. Im Zwielicht scheint der Hund plötzlich transparent und von innen beleuchtet, als hätte er Phosphor gefressen, aber das sieht außer mir niemand. Ich denke: Er ist gar nicht tot, er verstellt sich nur, um nicht erkannt zu werden, frage mich, welchen Vorteil das für ein Tier haben könnte, vielleicht ist es gar keins. Messut Yeter hat von Dschinnen erzählt, die manchmal mit uns spielen wollten, und mich dringend gewarnt: Selbst die guten sind gefährlich, weil sie keine Ahnung haben, wie schwach der Mensch ist.
Während ich mich über die Reling beuge, nimmt Jan Livias Hand, oder sie die seine, oder beide ihre, so vertraut wie er ihr das Feuerzeug hingehalten und sie den Abstand gewußt hat. Derart war unsere Liebe nie.
Als ich mich zurückdrehe, weil Nager laut fluchend durch die Schwingtür stolpert, haben sie sich bereits wieder losgelassen. Er vermißt Mona. Ausnahmsweise nicht aus privaten Gründen, sondern weil das Schiff in wenigen Minuten ablegen wird. Er fürchtet, eins der ihm anvertrauten Schafe könnte verlorengegangen sein, zählt seine Finger ab, verbrennt sich an der eigenen Zigarette, versucht sämtliche Gesichter mit Namen zu verknüpfen, dabei möglichst auf zehn zu kommen, kommt auf zehn, aber Mona fehlt noch immer, weil Livia zwar offenkundig zu Jan, jedoch nicht zu seiner Klasse gehört: »Damit eins schon mal klar ist: Das nächste Mal geht ihr in Zweierreihen und ich mit Schirm vorneweg, wie die Japaner!« Er hat fette Schweißtropfen auf der Stirn, rupft an der Krawatte, reißt den obersten Hemdknopf auf, greift sich den erstbesten Matrosen oder Stewart, erklärt ihm, daß mit dem Ablegen gewartet werden müsse, unbedingt, wenigstens einige Minuten, weil ihm ein Mädel fehle, das könne nicht die ganze Nacht allein hier bleiben, viel zu gefährlich, die Türkei. Er sei Professor, German University of Fine Arts, you know, der mit seinen Studenten eine Klassenfahrt mache und die ganze Verantwortung trage, Doktor, Akademia, Allemania. Schiff warten mit Fahren, ob er das verstehe. Der Mann nickt beflissen, versteht aber offensichtlich nichts, während Nager in seiner Geldbörse wühlt, mit einem Hunderter wedelt, »Deutschmark« flüstert, die schon in der fadenscheinigen Uniformjacke verschwunden sind, als Mona am Ufer auftaucht. Sie ruft etwas Unverständliches, winkt mit ihrem Skizzenblock, rennt ein Stück. Sie ist völlig außer Atem. Nager verdreht die Augen, entnervt, erleichtert, und weil ihn Monas Anblick umgehend die vertrottelte Studentin vergessen läßt, deretwegen er beinahe einen Herzinfarkt bekommen hätte. Er ist so erschöpft, daß ihm die Kraft für einen neuerlichen Wutanfall fehlt, jammert, daß es geheißen habe, er werde Hochschullehrer, statt dessen sei er Kindergärtner, damit fühle er sich schon bei seinen Töchtern überfordert, fährt sich mit einer Geste zwischen Raufen und Kratzen durch die pomadisierten Haare, sieht endgültig aus wie ein nasser Hamster.
Jan steht auf, als Mona an Bord kommt, und geht einige Schritte von Livia weg. Sie wirkt darüber weder verärgert noch irritiert, wahrscheinlich ist ihr der Zusammenhang nicht aufgefallen.
Ich überlege einen Moment, sie zu fragen, ob sie wisse, welcher Art Jans Verhältnis zu Mona sei, vielleicht habe er es ihr ja erläutert vergangene Nacht, wo auch immer sie gewesen seien, und ob sie sich nicht zu schade fände für einen halben Mann.
(Gegenfrage: Weißt du noch, wie viele Frauen du in den letzten fünf Jahren beschlafen hast, Albin?)
Das Schiff dreht langsam vom Kai weg. Mona lächelt Jan zu, als könnte er die Aufregung, die sie verursacht hat, stellvertretend entschuldigen, weil sie doch beim Zeichnen die Zeit vergessen hat, das ist ihm nicht fremd: Da stand eine ausgestopfte Ziege mit Kitz im Schaufenster eines Schlachters, so anrührend schlecht präpariert, daß Mona lachen mußte, obwohl sie es widerlich findet, ein Kitz zu töten, nur zur Dekoration. Dem Kitz war ein dickes blaues Glasherz umgehängt worden, aus dessen Mitte ein künstlicher Augapfel starrte, während das eigentliche Auge nach unten kippte wie ein lockerer Knopf. Das Fenster ist mir auch aufgefallen, Fritz saß vorhin am Wasser und kritzelte es als Cartoon auf eine seiner zahllosen Postkarten an Frauen und Freunde. Livia hat bestimmt Photos davon gemacht. Ein hübsches Motiv für Leute mit gehobenem Touristengeschmack: »Willst du mal sehen?«
Jan will, jedenfalls sagt er das, zieht einen neugierigen Gesichtsausdruck an, schaut die Blätter durch, langsam und genau, lobt nach Möglichkeit, tarnt Kritik als Anregung, bemüht sich, Mona die Qualen, die ihm ihre Stümperei verursacht, nicht merken zu lassen. Sie ist die einzige, der er die völlige Abwesenheit von Talent nicht übelnimmt. Den anderen, außer Olaf und vielleicht Fritz, würde er am liebsten schon den Kauf von Bleistiften verbieten.
Livia beschäftigt sich wieder mit ihren Haaren. Nachdem sie beim Blick durch verschiedene Objektive festgestellt hat, daß es für Bilder zu dunkel ist, verschwinden das Schiff, die Stadt, Himmel, Wasser, Menschen hinter einem blonden Schleier. Mona und Jan interessieren sie nicht. Ich würde gern zu ihr gehen, aber mir fällt nichts ein, was ich ihr sagen könnte. Nicht einmal eine Gemeinheit.
Am Bierausschank treffe ich Nager wieder. Er lehnt gegen den Tresen, seinen Kopf auf die Hand gestützt, und schaut der Thekenfrau beim Sortieren des Wechselgelds zu. Aus drei Warzen, die ein Dreieck zwischen linkem Nasenflügel, rechtem Jochbein und Kinnmitte bilden, wachsen ihr schwarze Haare. Sie scheint keinen Wert darauf zu legen, etwas zu verkaufen. Oder sie mißbraucht ihr Monopol, um uns zu demütigen, über ihre Häßlichkeit bitter. Unter normalen Umständen würde Nager sie zusammenschreien. Als wir endlich bedient werden, zahlt er mein Bier mit.
Ob ich über diesen Miller inzwischen Näheres herausgefunden hätte? will er wissen.
Ich weiche aus, erzähle ihm von verschiedenen Detailinformationen, die ich nicht zusammenbrächte, die Sache sei kompliziert.
Während ich rede, zieht er seine Backe lang und läßt sie zurückschnellen, was ein schmatzendes Geräusch verursacht. Ich sehe seinem Blick an, daß er angestrengt denkt, und auch, daß es ihm Schwierigkeiten bereitet, schweigend zu denken. Er benötigt fast die ganze Flasche Bier, um zu einem Satz zu kommen: »Im Grunde ist es egal, ob du die Geschichte erlebt oder erfunden hast.«
Ich kann die Zigarette nicht festhalten, sie rutscht zwischen meinen Fingern hindurch, fällt, dreht sich im Fallen um sich selbst, ehe sie auf die Planken schlägt, noch einmal aufspringt, wegrollt, einen halben Meter weit. Die Glut ist abgebrochen und in mehrere Körner zerplatzt, die daliegen wie Reste eines abgestürzten Himmelskörpers. Ich will sie austreten, doch ist mein Fuß bereits zu weit entfernt, als daß er den Befehlen des Gehirns noch Folge leisten würde.
ES IST SCHWIERIG zu rekonstruieren, was sich an diesem Morgen genau ereignet hat und in welcher Reihenfolge.
Als Livia aus dem Bad kam, frisch gefönt, Lippen und Augenlider geschminkt, worauf Albin großen Wert legte, fand sie einen Zettel auf dem Tisch: »Bin im Sultan, wg. Miller, A.«
Sie hatte nicht gemerkt, daß er aus dem Zimmer gegangen war, keinen Gruß, keine Schritte, keine Tür, die ins Schloß fiel. Offenbar hatte Albin sich bemüht, heimlich zu verschwinden. Livia vermutete deshalb zunächst, die ganze Geschichte sei ein Täuschungsmanöver gewesen, weil er unbehelligt von Vorhaltungen den Tag ertränken wollte.
Sie sah den Abdruck seines Körpers in der Bettdecke, die Fernbedienung auf dem Kopfkissen. Aus dem Aschenbecher stieg eine schmale Rauchsäule, es roch nach verschmortem Filter. Außerdem stellte sie fest, daß ihre Kameratasche offen war und statt Albins Minox eine zerrissene Filmverpakkung auf dem Tisch lag.
Livia versuchte sich zu erinnern, ob er gezittert hatte, das wäre ein Anhaltspunkt gewesen: beim Frühstück nicht. Sie überlegte, sich allein etwas anzuschauen, eine Moschee, einen Friedhof, oder sich durch die Stadt treiben zu lassen, bereit für Bilder, die sich aufdrängten, nicht lauernd. »Bilder«, dachte Livia, »sind scheuer als Wild.«
Dann fiel ihr sein seltsamer Blick wieder ein, der sie nicht einmal gestreift hatte, und der flehentliche Unterton in seiner Stimme. Plötzlich keimten Zweifel, daß Albin log oder spielte, war sie überzeugt, daß er wirklich etwas beobachtet hatte. In zwei Stunden würde er zurück sein und brächte vielleicht eine rätselhafte Geschichte mit, die wollte er erzählen, die wollte sie hören. Wenn er sie nicht anträfe, würde er anfangen zu trinken, morgen früh hätte er die Hälfte vergessen oder im Laufe der Nacht ein Dutzend Versionen entwickelt, für jeden Thekennachbarn eine, und eine für die Frau, die ihn vor dem Morgengrauen mit nach Hause nehmen sollte. Deshalb entschloß Livia sich zu warten. Sie blätterte den Postkartensatz mit byzantinischen Mosaiken durch, den sie tags zuvor bei einem Straßenhändler gekauft hatte, schwankte zwischen dem Pfau, der junge Triebe von einem dürren Ast riß, und dem Christuskopf aus der Hagia Sophia, der einen so traurig anschaute, daß sie ihm am liebsten geglaubt hätte. Auf dem Bild waren andere Augen. Livia nahm den Pfau:
»Liebe Thea, ich fürchte, Albin ist endgültig verrückt geworden, ganz sicher bin ich mir nicht. Wahrscheinlich – nein, bestimmt ist nach der Reise Schluß, eventuell früher. Es wäre schön, wenn ich dann eine Weile bei Dir untertauchen könnte – vorausgesetzt, die Karte kommt vor mir an. Ich melde mich.
Gruß, Livia«
Die enge, steil ansteigende Tiyatro Caddesi lag noch im Schatten, als Albin heraustrat. Es war kalt, so daß die Obst-und Gemüsereste, Knochen und Fischgräten auf den vor jedem Haus aufgeschütteten Abfallhaufen bis jetzt nicht stanken. Ihm wehten die warmen Schwaden von frischem Fladenbrot und Süßigkeiten aus der nahen Backstube ins Gesicht.
Albin sah ein rissiges Bild, Samstag und Staudt, es kam aus einer alten Dunkelheit herauf, er hörte Frau Francke »Sonst noch ein’ Wunsch?« fragen, leiernd, zum hundertsten Mal, spürte die knochige Hand seiner Mutter, die ihn von den Bonbongläsern wegzerrte, empfand Ohnmacht, Haß, blankpoliert wie Silberbesteck, obwohl sie die schönste Mutter der Welt war.
Vor dem Sultan, sagte Albin, habe kein einziger Polizeiwagen gestanden, es herrschte auch keine Aufregung im Foyer. Er hatte Direktoren, Geschäftsführer, Putzfrauen erwartet, die gestikulierend durcheinanderrannten oder schluchzend in Polstern zusammengesackt waren, während ein schnauzbärtiger Kommissar ebenso angestrengt wie vergeblich nach Zeugen und Indizien suchte. Doch der Portier stand allein an der Rezeption, füllte ein Formular aus, hob erst den Kopf, als Albin seine knapp zwei Meter vor ihm aufgebaut hatte, sich bedeutungsvoll räusperte und »Ich…« sagte.
»Bitte sehr, der Herr, was kann ich für Sie tun? Sie suchen ein Zimmer?« fragte der Portier in einwandfreiem Deutsch.
»Danke, ich brauche kein Zimmer. Weshalb ich hier bin: Ich wohne im Duke’s Palace…«
»Das ist auch ein sehr gutes Hotel, da können Sie froh sein.«
»Meine Frau und ich sind zufrieden. Was ich aber sagen wollte, daß, als ich vorhin, vor einer Stunde, oben auf der Dachterrasse saß…«
»Es ist ausgezeichnete Luft heute morgen, frische Brise vom Bosporus, kein Smog: Glauben Sie mir, Sie haben sich die beste Zeit für Ihren Istanbul-Besuch ausgewählt.«
»Hören Sie, vor einer Stunde ist in Ihrem Hotel ein Mann erschossen worden, Mr. Miller, ich habe das von drüben beobachtet, mit eigenen Augen, wieso wissen Sie das nicht? Seine Freundin Ireen ist dabei gewesen, wahrscheinlich hat sie sich versteckt, man muß sich um sie kümmern, veranlassen Sie das, Miller lautet der Name, sechster oder siebter Stock, Markus, Ida, Ludwig, Ludwig, Elsa, Rainer, und wenn die Polizei kommt, kann ich eine wichtige Aussage machen. Der Schütze muß auf einem der umliegenden Dächer angesessen haben…«
»Es tut mir leid, mein Herr, aber in unserem Hotel wohnt kein Mr. Miller.«
»Ich…«
»Es hat im ganzen letzten Monat kein Mr. Miller bei uns gewohnt, und mir ist auch nicht bekannt, daß sich für die nächsten Tage einer angemeldet hätte. Wenn jemand davon wüßte, bin ich das.«
»Ich habe gesehen, wie Mr. Miller, mit dem ich gestern nacht noch zusammengesessen habe, in diesem Hotel in seinem Zimmer erschossen worden ist, und ich wünsche…«
»Mr. Miller hat hier kein Zimmer.«
»Wenn Sie nicht sofort im sechsten oder siebten Stock nachschauen lassen, rufe ich die Polizei.«
»Junger Mann, es ist kein Problem, Sie augenblicklich von ebendieser Polizei hinauswerfen zu lassen, wenn Sie einen Tumult provozieren wollen.«
Die Rückenmuskeln des achtundzwanzigjährigen Steinbildhauers Albin Kranz, die sonst ohne Schwierigkeiten zwei Zentnern Granit standhielten, gaben jetzt einem zwielichtigen türkischen Hotelportier nach, seine Schultern brachen ein, er schrumpfte um zehn Zentimeter und fühlte sich, wie eine Wachsfigur sich fühlen mußte, wenn ihr Kabinett brannte: zusammengehalten von gestärkten Kleidern, ein paar Drähten im Innern, mitten in einer Pfütze ihrer selbst.
»Wissen Sie, ich wollte nicht nach Istanbul. Meine Frau hat mich überredet. Ich wollte danach immer noch nicht, aber … Sind Sie verheiratet?«
»Seit dreiundzwanzig Jahren, und ich habe fünf Kinder, vier Jungen, ein Mädchen.«
»Dann kennen Sie die Frauen.«
»Haben Sie auch Kinder?«
»Nein.«
»Das tut mir leid. Aber Sie sind noch jung.«
»Wo ist die Bar?«
»Links, dann den Flur geradeaus und am Ende noch einmal links. Wenn Sie wollen, können Sie vorher einen Blick von unserer Dachterrasse werfen, Universität, Süleyman-Moschee, auch sehr reizvoll.«
»Muß nicht sein.«
Albin folgte den Hinweisschildern.
Die Bar des Otelo Sultan nannte sich The Irish Pub und war eine der gestalterischen Albernheiten, die in internationalen Hotels unvermeidlich sind. Linkerhand befand sich eine ovale Theke aus Mahagoni. Auf die einzelnen Kassetten waren Guinness-Schilder geschraubt. Außer Guinness konnte man aber auch Stella und Heineken trinken. Dekkenhohe Spiegel, bedruckt mit Whiskyreklame, trennten die Tische rundum voneinander. Jeder Tisch hatte so seinen eigenen Raum, der sich zu unendlich vervielfältigten Fluchten voll wirrer Linien verlängerte und ängstlichen Europäern das Gefühl gab, jemand hätte Drogen in ihren Drink gemischt. Hocker und Bänke waren mit rotem Leder bezogen. An der Decke hatte der Innenausstatter dünne Netze befestigt, die nicht einmal einer gefangenen Sardine standgehalten hätten, darin lagen Plastikfische, Hummer, Krabben und Seesterne. An den ebenfalls mahagonigetäfelten Wänden hingen billig gerahmte Plakate mit satten Wiesen, glasklaren Bächen, aufgeschäumtem Ozean. Sie waren Tullamore , Kilkenny oder Carrick on Shannon untertitelt. Auf einem stand Cornwall. Der Barkeeper tat so, als wische er die Bierränder der vergangenen Nacht vom Tresen. Vorrangig interessierte ihn der golddurchstochene Nabel einer schwarzen Königin, die in dem stillen Fernseher über seinem Arbeitsplatz ihren riesigen Mund bewegte. Die Putzfrau schob einen lauten Staubsauger über den braunen Teppich.
Albin setzte sich an die Theke und bestellte einen doppelten Bourbon im Gedenken an Miller, stürzte in einem Zug alles hinunter, steckte sich eine Zigarette an und ließ nachschenken.
»Kennen Sie einen Amerikaner Mitte Sechzig, sehr fett, hat eine hübsche, jüngere Freundin?«
»Natürlich, Sie meinen, warten Sie, ich hab’s gleich … Sie meinen Marlon Brando.«
Albin staunte, daß ihm jetzt »Ja genau, Marlon Brando« so selbstverständlich über die Lippen ging, als hätte er tatsächlich seit Tagen nach diesem Namen gesucht.
»Ein großer Mann. Groß und tragisch. Wir Türken lieben Marlon Brando, besonders Der Pate.«
»Er ist heute morgen erschossen worden. Hier in Istanbul. – Drehte gerade einen neuen Film.«
»Nicht möglich!«
»Ganz sicher. In diesem Hotel. Ich habe es selbst gesehen. Er sollte den Edelsteinhändler Jonathan Miller in einer Schmuggelgeschichte spielen, B-Movie, wenn Ihnen das was sagt.«
»Nein. Und ich habe auch keine Zeit jetzt. Entschuldigung.«
»Geben Sie mir noch Whisky.«