Krähen im Park - Christoph Peters - E-Book

Krähen im Park E-Book

Christoph Peters

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Beschreibung

Ein Tag, eine ganze Stadt: das messerscharfe Porträt einer Gesellschaft im Umbruch - der neue große Roman von Christoph Peters.

Es ist der 9. November 2021, Lockdown in Berlin, doch das Leben bleibt nicht stehen. Der berühmte, aber menschenscheue Schriftsteller Bernard Entremont ist angereist, um einen Preis entgegenzunehmen – ein Ereignis, mit dem die halbe Stadt in Berührung kommt. Engmaschig verwebt Christoph Peters die vielen Geschichten eines Tages und erzählt packend vom Leben in unserer Gegenwart: von der hektisch strippenziehenden Kultursalonière, vom verschwörungsgläubigen Politikersohn beim seltenen Vaterbesuch, von der nicht mehr ganz so jungen Influencerin und ihrem Partner, der endlich seinen dritten Roman schreiben will, vom jungen deutsch-türkischen Pärchen, das nach einem positiven Schwangerschaftstest schwankt zwischen Freude und Angst, vom afghanischen Flüchtling auf der Suche nach einem Fixpunkt im anonymen Getriebe der Stadt. Es ist das große, messerscharfe, wimmelnde Portrait einer Gesellschaft, die sich auf ihre alten Formen nicht mehr verlassen kann, die neuen aber noch nicht gefunden hat.

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Seitenzahl: 332

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Zum Buch

Es ist der 9. November 2021, Lockdown in Berlin, doch das Leben bleibt nicht stehen. Der berühmte, aber menschenscheue Schriftsteller Bernard Entremont ist angereist, um einen Preis entgegenzunehmen – ein Ereignis, mit dem die halbe Stadt in Berührung kommt. Engmaschig verwebt Christoph Peters die vielen Geschichten eines Tages und erzählt packend vom Leben in unserer Gegenwart: von der hektisch strippenziehenden Kultursalonière, vom verschwörungsgläubigen Politikersohn beim seltenen Vaterbesuch, von der nicht mehr ganz so jungen Influencerin und ihrem Partner, der endlich seinen dritten Roman schreiben will, vom jungen deutsch-türkischen Pärchen, das nach einem positiven Schwangerschaftstest schwankt zwischen Freude und Angst, vom afghanischen Flüchtling auf der Suche nach einem Fixpunkt im anonymen Getriebe der Stadt. Es ist das große, messerscharfe, wimmelnde Porträt einer Gesellschaft, die sich auf ihre alten Formen nicht mehr verlassen kann, die neuen aber noch nicht gefunden hat.

Zum Autor

Christoph Peters wurde 1966 in Kalkar geboren. Er ist Autor zahlreicher Romane und Erzählungsbände und wurde für seine Bücher vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Wolfgang-Koeppen-Preis (2018), dem Thomas-Valentin-Literaturpreis der Stadt Lippstadt (2021) sowie dem Niederrheinischen Literaturpreis (1999 und 2022). Christoph Peters lebt heute in Berlin. »Krähen im Park« ist der zweite, eigenständige Teil einer an Wolfgang Koeppen angelehnten Trilogie, die 2022 mit »Der Sandkasten« begann.

Christoph Peters

Krähen im Park

Roman

Luchterhand

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Liedzeilen (1) und (2) entstammen dem Song »Stay Flo« von Solange, Sony Music 2019.

Die Liedzeilen entstammen dem Song »Her Şey Sensin« von Yalın, Avrupa Müzik 2007.

Copyright © 2023 Luchterhand Literaturverlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Covergestaltung: buxdesign | Ruth Botzenhardt unter Verwendung eines Motivs von © plainpicture/mia takahara

ISBN 978-3-641-31169-8V002

www.luchterhand-literaturverlag.de

www.facebook.com/luchterhandverlag

Lucy Church avoided avoided crows which are blue. Crows which are blue. A quality of crows which are blue.

Gertrude Stein

Handlung und Personen des Romans Krähen im Park sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit Personen und Geschehnissen des Lebens sind Zufall und vom Verfasser nicht beabsichtigt. Wolfgang Koeppens Roman Tauben im Gras hingegen hat im Hintergrund eine Rolle gespielt.

Am Himmel bewegte sich nichts. Tegel war seit einem Jahr geschlossen, jetzt klagten sie weiter südlich über Fluglärm, Kerosinschmier auf Rosenbeeten, Zierrasenflächen. Nervöse Schlaflosigkeit und Erschöpfungssyndrome würden zunehmen, die Suizidrate steigen. Zum Schutz des Klimas wurden Forderungen nach dem Ende des Zeitalters der Luftfahrt laut, obwohl die Passagierzahlen noch immer weit unter der Vorkrisenzeit lagen. Die Vergnügungsflüge mit der Ju 52 waren eingestellt. Nicht einmal Hubschrauber kreisten über der Stadt, weder um Demonstranten einzuschüchtern, noch zur Beförderung von Ministern, Staatsgästen, Unfallopfern.

Weiter unten: feuchter Auswurf, infektiöse Tröpfchen, toxischer Schleim aus kontaminierten Atemwegen, verklebten Lungen. Das Keuchen der Jogger auf den Gehsteigen war Hohn, war Verachtung, war Angriff; an der Supermarktkasse mutierte das Brüllen des unbekannten Kleinkinds zur Körperverletzung. Aerosole mit todbringender Viruslast, Eiweißmoleküle in äußerster Verdichtung, fatale Reproduktionsbefehle, sphärisch oder kubisch, evolutionäre Vorstufen lebendiger Wesen, noch vor der ersten Zelle entstanden, vielleicht degenerativer Abfall, letales Zerfallsprodukt – Katalysator, um die Höherentwicklung der Mikroben voranzutreiben. In der Wissenschaft herrschte Uneinigkeit. Die Natur kannte weder Gut noch Böse, die Evolution verfolgte kein Ziel. Seit Jahrmillionen wurden Tiere, Pflanzen, Pilze befallen, eliminiert oder optimiert. Es galt das Recht des Stärkeren. Der Weg zum Übermenschen führte durch Massengräber. The survival of the fittest. Wenn die arische Herrenrasse dem totalen Krieg nicht gewachsen war, sollte sie der Vernichtung anheimfallen – so der letzte Wille des Führers. Gegen Ende der pandemischen Notlage von nationaler Tragweite gab es 42 000 Neuinfektionen am Tag. PLANLOS IN DEN CORONAWINTER; AMPELPARTEIEN WOLLEN LOCKDOWNS VERBIETEN! 2G-HAMMER: ERSTES BUNDESLAND SPERRT JUGENDLICHE AUS! ESKALATION AN DER GRENZE ZU POLEN! NATO WARNT BELARUS! DIE FLÜCHTLINGE – SIE WOLLEN DIREKT NACH DEUTSCHLAND! FAHRVERBOT, WER KEINE RETTUNGSGASSE BILDET! ABBA’S BJÖRN: DAS SIND WIR WIRKLICH! HAPPY END IN MONACO

Frische Schlagzeilen im Minutentakt: Krisen, Sensationen, Klatsch waren der Treibstoff für die immerwährende Erregung aller, für künstliche Empörung, synthetische Emotionen, Eintagsskandale. Sie wirkten als Ereignissimulation, Gefühlssurrogat, Lebensersatz. Zuschauer, Hörer, Leser starrten vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang, zu jeder Tages- und Nachtzeit, unabhängig von Mondphasen, Sternenkonstellationen auf Bildschirme in allen Größen, hörten Stimmen, versanken in bedrucktem Papier. Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Selbstständige, Freiberufler, Beamte, arm und reich, hässlich und schön, schlau und stupide, fungierten und funktionierten 24/7 als Konsumenten, User, Follower, schimpften, nickten ab, verteilten Likes und Emojis, füllten die Kommentarspalten, Chatrooms, Social-Media-Kanäle mit Liebe, Hingabe, Verachtung, Hass, während in Redaktionsbüros, Marketingabteilungen, Werbeagenturen, Messi-Buden Journalisten, Blogger, YouTuber, Nerds rund um die Uhr aus dem Strom der Meldungen, Bilder, Zahlen, die unablässig über die Ticker kamen, den Nachschub des Suchtstoffs Information raffinierten, ihn mit dem Brandbeschleuniger Meinung übergossen, je schriller, greller, lauter, desto besser. Augen, Ohren, Hirne der Käufer, Kunden, Nutzer mussten gelockt, gefangen, gefesselt werden. Es ging um Aufmerksamkeitsspannen, Verweildauer, Klicks. Die Werbetreibenden verlangten Statistiken, Evaluierungen, Beweise, dass ihre Produkte gegen Haarausfall, Blasenschwäche, Gedächtnisverlust, ihre Fruchtaufstriche, Katzenmenüs, Karibikkreuzfahrten sich tatsächlich ins individuelle und kollektive Bewusstsein und Unterbewusstsein einschrieben. Ein attraktives Nachrichtenumfeld war das A und O. PUTINS FLÜCHTLINGSATTACKE GEGEN DIE EU. TAUSENDE DRÄNGEN RICHTUNG DEUTSCHLAND! LITAUEN UND POLEN MOBILISIEREN ZUSÄTZLICHES MILITÄR! MEDIZINER WARNEN VOR TRIAGE AUF INTENSIVSTATIONEN! Das Virus schwächelte – das Virus kam mit aller Macht zurück. FÜR GEIMPFTE IST DIE PANDEMIE VORBEI! Professor Bernburger auf Twitter: WIR STEHEN VOR EINER MONSTERWELLE! So oder so setzten Gewöhnungseffekte ein, verlor es seine Unwiderstehlichkeit als Blickfang und Einkaufsstimulanz. Aktuell waren Mehl, Milch, Nudeln, Klopapier in ausreichender Menge vorhanden. Der Konsumklimaindex stürzte nach zwischenzeitlicher Erholung erneut ab. Doch in den Weiten des Ewigen Ostens braute sich neues Unheil zusammen, lenkte den Blick auf TESTSIEGER: SMARTS, auf DIE BESTEN ANGEBOTE DER STADT: Der kleine Bruder des Kreml-Herrschers hatte sich mit orientalischen Dunkelmännern verschworen, allen voran: DER BOSPORUS-SULTAN. Skythen, Hunnen, Mongolen, Russen bildeten eine fatale Allianz mit Sarazenen, Mauren, Osmanen. Gemeinsam schickten sie als Flüchtlinge getarnte Gotteskrieger Richtung Abendland. Zu Tausenden marschierten sie auf die Außengrenzen des freien Westens zu, um die europäische Wertegemeinschaft zu destabilisieren, Deutschland ins Chaos zu stürzen. Wieder drohten Überfremdung, Islamisierung, Bevölkerungsaustausch. Frische Bilder von neobolschewistischen Uniformträgern, die auf Kurden, Syrer, Afghanen einprügelten, sie vor sich hertrieben, wie seinerzeit die Regimenter des Zaren Napoleons abgehalfterte Garden gejagt hatten, ruhmreiche Rotarmisten die zerlumpten Reste von Hitlers 6. Armee. Noch vor Beginn des russischen Winters würden sie in malerischen Birkenwäldern erfrieren, in baumlosen Steppen verhungern, Frauen und Kinder zuerst. Sollte man sie retten oder zurückschlagen? Die Gesetze des Rechtsstaats galten jenseits von Gut und Böse. Polen verstärkte im Alleingang die Grenzposten, der deutsche Innenminister, frisch abgewählt, fand lobende Worte für das entschlossene Handeln des Kollegen in Warschau und freute sich, dass er bald mehr Zeit für seine Modelleisenbahn hatte. BRENNENDE FÜSSE LASSEN SIE NACHTS NICHT SCHLAFEN? LUST STATT FRUST – SO KANN’S IM BETT WIEDER AUFWÄRTS GEHEN. 64 % WENIGER SCHWITZEN. VERSCHENKE ECHTE WERTE!

Dirk Mahnfeld tastete nach dem iPhone auf seinem Nachttisch, das Display leuchtete auf, als er den Home Button traf: 7:28. Die Zahlenfolge zog sich quer über das Foto seiner Frau, Mariann, rechts und links die gemeinsamen Töchter, Alexia und Lore. Mariann trug ein tief ausgeschnittenes Top, türkisfarbene Leopardenoptik, hatte ihre Arme um beide Mädchen gelegt. Das Foto war zwei oder drei … – nein, es musste älter sein: Als er wegen Elena ausgezogen war, hatte er das Bild durch eine monochrome Fläche ersetzt, es bei der Rückkehr re-installiert, um zu demonstrieren, dass in Zukunft alles wie früher sein sollte. Inzwischen wohnten sie seit zwei Jahren wieder zusammen. Wenn du mal fünfzig bist, rast die Zeit schneller als ein Porsche vorbei, hatte sein Großvater gesagt. Alexia trug die Haare jetzt wasserstoffperoxydblond, wie die Friseusen aus den Plattenbauten in Hohenschönhausen oder dieses siebzehnjährige Starlet, das den neuen James-Bond-Song sang und deren Namen er sich nicht merken konnte. »Es bedeutet nicht, was du denkst, alter Mann«, sagte Alexia. Wie auch Jogginghosen, weiße Tennissocken, Gel-Nägel kein Synonym für Prekariats-Chic mehr waren.

Dirk Mahnfeld schaltete das Licht ein, richtete sich auf. Ihm brummte der Schädel, obwohl sie gestern Abend nur mäßig getrunken hatten. Sein T-Shirt hatte Löcher unter den Achseln, spannte am Bauch, unterhalb des Bizeps warf die Haut dünne Falten. Er sollte mehr Sport machen. Nachher käme Jens Biesemann aus Frankfurt, um sich den Stand des Um- und Neubaus in der Gabelstraße anzuschauen. Biesemann war fünf Jahre jünger als er, fuhr semiprofessionell Tourenwagenrennen, hatte noch alle Haare auf dem Kopf, und unter seinen eng geschnittenen Maßhemden zeichnete sich eine austrainierte Brustmuskulatur ab.

Dirk Mahnfeld warf einen Blick zu der Ruderbank unter dem schneebedeckten Gebirgsmassiv vor graublauem Himmel, Sven Drühl, Öl und Lack auf Leinwand, neunzig mal einsachtzig. – »Eine sichere Investition«, hatte Gerd Brook gesagt, in dessen Galerie er es gekauft hatte. »Hochreflektiert, mit einer Spur Ironie, was den aktuellen Diskurs in Sachen Malerei anlangt. Trotzdem hat es eine beinahe traditionelle Ausstrahlung. Damit machst du auf keinen Fall etwas falsch.«

Dirk Mahnfeld hatte es genommen, weil es wie ein echtes Alpenpanorama wirkte, ganz unironisch, der perfekte Hintergrund für die Ruderbank, ihrerseits ein Klassiker des Sportgerätedesigns: kanadische Eiche, regulierbarer Wasserwiderstand für ein rundum natürliches Rudererlebnis, ausgezeichnet mit internationalen Design Awards. Die dazugehörige App spielte die dreihundert schönsten Flusslandschaften der Welt auf den integrierten Flachbildschirm.

Er hörte das Rattern der elektrischen Kaffeemühle. Mariann hantierte bereits in der Küche, setzte Brotteig an, marinierte Hühnerbrüste, Rehrücken, Kalbsbäckchen. Heute Abend sollte es hier im Haus einen halboffiziellen Empfang zu Ehren des berühmten französischen Schriftstellers Bernard Entremont geben, da war einiges vorzurichten. Vor zwanzig Jahren war seine Frau, Mariann Krüger, als Dr. Lisa Winter Star der gleichnamigen Tierarztserie gewesen, aber nach Alexias Geburt hatte sie keine Lust mehr gehabt, sich mit Ernährungsplänen, Fitnesstrainern, plastischen Chirurgen abzuquälen, war überzeugt gewesen, in einer Liga zu spielen, wo ein paar Kilo mehr oder weniger, der Ansatz eines Doppelkinns egal waren, dass es einfach weiterginge mit den Hauptrollen im halbseichten Fernsehen, den roten Teppichen, den Gazettengeschichten. Doch die relevanten Angebote blieben aus, inzwischen seit achtzehn Jahren: Hier eine Mörderin im Tatort, da die patente Schwester der Heiratskandidatin in einer Inga-Lindström-Verfilmung, gelegentlich Teleshopping-Auftritte, Quizshow-Einladungen. Schließlich war sie zur Übermutter mutiert, hatte Elternabende vorbereitet, Schulfeste geplant. Dass sie noch immer bekannt aus Film, Funk und Fernsehen war, verschaffte ihr in Diskussionen mit Lehrern, Schulleitern, Miteltern gelegentlich Vorteile. Außerdem gab sie legendäre Abendgesellschaften, brachte Schauspieler, Schriftsteller, Künstler in privater Runde mit Leuten aus Medien, Politik und Wirtschaft zusammen. Sie kippten Champagner und Whisky Sour, aßen Rote-Bete-Salat, früher von Jamie Oliver, dann à la Ottolenghi, knüpften Kontakte, begannen Affären, kotzten in die Rabatten. Manchmal sprangen Aufträge für Dirk Mahnfelds Büro dabei heraus: Der Konzertagent Seebacher hatte eines der letzten großen Baugrundstücke in Pankow ergattert und stellte sich etwas Repräsentatives zwischen Palladio und Mies van der Rohe vor; Henner Wollinski, Partner einer Unternehmensberatung, die Millionen mit Aufträgen aus dem Verteidigungsministerium verdiente, wollte einen Creative Workspace mit nachhaltigen Town Houses in den Ruinen einer Jahrhundertwende-Brauerei. Mariann war Grande Dame, Strippenzieherin, Kummertante, und sie kannte viele Geheimnisse.

Aus dem Nebenzimmer drangen Bässe und Mädchenkichern durch die Wand. Alexia hatte vor kurzem gemerkt, dass sie Frauen vorzog, war jetzt mit Ruth zusammen, einer riesigen Volleyballerin, in der er auf den ersten Blick einen Jungen gesehen hatte. Dirk Mahnfeld hielt sich nicht für verklemmt, erst recht nicht für homophob. In seinen Kreisen waren Schwule und Lesben schon lange akzeptiert. So weit, so gut. Nichtsdestoweniger war er froh, dass zumindest Lore ganz normal einen Freund hatte. Das Kichern verstummte. Andere Geräusche schälten sich aus der Musik, Laute, die er nicht hören wollte, ganz egal, mit wem Alexia rummachte. Die Möglichkeit, dass seine Tochter eines Tages in ihrem Zimmer Sex haben würde, war nicht in seine Überlegungen eingeflossen, als er vor sechzehn Jahren das Hummel-Areal geplant hatte, eine Art Luxusreihenhaussiedlung in einer der letzten großen Brachen der Stadt. Solange die Besitzverhältnisse unklar gewesen waren, hatte das Gelände einer linksextremen Bauwagenkolonie als Stellplatz gedient. (»Papa, wenn ich groß bin, will ich auch Spießer werden.«) Er hatte die komplette Straße entworfen mit Gärten hinter jedem Haus, eigenen Parkanlagen, Spielplätzen, einem Gemeinschaftsgebäude, wo Versammlungen stattfanden, Geburtstagspartys, Sommerfeste. In Absprache mit den künftigen Besitzern hatte er für jedes Haus ein eigenes Fassadenkonzept entwickelt, Klinkerverblendungen, Naturstein, Putz in unterschiedlicher Optik und Farbe. Professor Hilbert hatte auf Schiefer bestanden, weil der ihn an die thüringischen Häuser erinnerte, in denen er aufgewachsen war. Kostenoptimierter Individualismus hatte es im Prospekt geheißen. Die meisten Einheiten waren von gutsituierten Eltern mit kleinen Kindern, schwulen Paaren gekauft worden, Diplomaten, Philharmoniker, ein Staatssekretär. Beim Innenausbau hatte architektonische Transparenz im Vordergrund gestanden, offene Raumsituationen, wie man sie bevorzugte, bevor die ersten Krisen in der Beziehung aufbrachen. Natürlich bekamen die Kinder ihre eigenen Zimmer, aber dass sie dort auch erwachsen werden würden, hatte er schlicht nicht bedacht.

Das gerahmte Plakat über dem Bett zeigte eine junge Frau mit langen rotblonden Haaren in einer verschatteten Gegend, die an britische Arbeiterviertel der 1970er erinnerte. Sie saß auf nebelfeuchtem Kopfsteinpflaster, schaute nirgendwohin. Im Hintergrund hatte jemand seine Harley abgestellt. Chromfelgen und -speichen spiegelten diffuses Licht aus einem verhangenen Himmel. Darüber stand in weißer Schrift auf schwarzem Grund:

KATE TEMPEST –

THE BOOK OF TRAPS & LESSONS TOUR

Unter dem Bild die Termine:

24.10. KÖLN – KANTINE

29.10. BERLIN – HUXLEYS NEUE WELT

1.11. HAMBURG – ÜBERJAZZ FESTIVAL

Ruth rollte sich auf die Seite, griff nach dem Tabakpäckchen auf dem Boden, Pueblo, der beste, den es gab, setzte sich auf, drehte eine Zigarette, schob sie sich zwischen die Lippen, steckte sie an, hielt sie nach zwei Zügen Alexia hin. »Meine Eltern meckern immer rum, wenn ich im Zimmer rauche«, sagte Alexia. – »Die rauchen doch selber«, sagte Ruth. – »Ja, aber eben nur auf der Terrasse oder auf dem Balkon.« – Vor dem Bett lagen Hoodies, T-Shirts, Hemdchen, Strümpfe. Eine längsgestreifte Schlaghose, lila, rosa, weiß, war achtlos über den Drehstuhl geworfen. »DOWN DOWN DOWN ON THE FLOOR, DOWN DOWN DOWN ON THE FLOOR …«, wiederholte eine samtige Frauenstimme über monotonen Basslines, synthetischen Beats, fuhr fort: »NIGGAS GET FADE AND THEY FEEL IT ON THE FACE«, ein Mann warf »HOLD UP!« ein, »TALKING ALL DAY, THAN THEY FEEL IT ON THEY PLACE« – »YEAH.« Die Liebe war jung und schön, war Abenteuer, Experiment, war ein Spiel und todernst. Ruth kannte sich aus, sie hatte von Anfang an ausschließlich Beziehungen mit Mädchen und Frauen gehabt, benutzte ihre Hände, ihre Zunge weitaus geschickter als Marvin sein ungelenkes Teil, mit dem er Alexia vor anderthalb Jahren entjungfert hatte. Ruth führte sie in Schwebezustände, an den Rand der Bewusstlosigkeit, die Grenzen zwischen ich und du lösten sich auf, sie wurden eins, ein Fleisch, ohne dass etwas Fremdes, Befremdliches in ihrem Unterleib steckte. Außerdem musste sie sich keine Gedanken über Verhütung mehr machen, nicht ständig die Bettwäsche wechseln. »NIGGAS WANNA COME IN THE PLAY« – »Es ist so schön mit dir – ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte«, sagte Alexia. – »NIGGAS GET ALL IN THEY FEELINGS« – »Was man sich vorstellt, ist immer falsch.« – »Ja, aber …« – »Meine Mutter zum Beispiel: Sie stellt sich vor, dass es voll eklig sein muss, wenn eine Frau eine Frau küsst.« – »Warum meint sie, dass es eklig ist?«, fragte Alexia. – »Sie hat die schwachsinnige Idee, dass, wie soll ich es dir erklären, du kennst diese ganzen christlichen Sachen ja nicht. Also, sie glaubt, dass quasi der Teufel bei dir auf der Schulter hockt, wenn du als Frau eine Frau liebst, dass er dir ins Ohr flüstert: Unterwirf dich dem Laster! Dann kannst du einfach nichts mehr dagegen machen, obwohl du weißt, dass es Todsünde …« – »Todsünde?« – »Das sind die extrem schlimmen Sünden, wegen denen du direkt in die Hölle kommst, wenn du stirbst. Hauptsächlich Mord und Sex. Also Sex, wenn du nicht verheiratet bist. Oder wenn du verheiratet bist, aber Verhütungsmittel benutzt. Das ist fast genauso schlimm, weil Gott in der Bibel vorgeschrieben hat, dass die Menschen sich fortpflanzen, und zwar je mehr desto besser.« – »Krass, dass es heutzutage noch Leute gibt, die so was glauben.« – »Meine Mutter ist auch sicher, dass Corona eins von den Zeichen ist, die Jesus vorhergesagt hat, wenn Armageddon kommt.« – »Was war noch gleich Armageddon?« – »So was wie der 3. Weltkrieg, wenn die Menschheit total gottlos geworden ist und alles vernichtet wird. Aber die Gläubigen werden vorher gerettet. Von Engeln, die so ’ne Art Spezialeinheit bilden. Am Ende schwebt Jesus auf einer Wolke ein und stellt das Reich Gottes wieder her. So steht es in der Bibel.« – »Meine Oma – also die, die im Schwarzwald wohnt –, die ist auch ziemlich christlich. Sie geht sonntags in die Kirche und hat immer Kerzen angesteckt, wenn wir Klausuren geschrieben haben, aber sie findet es trotzdem voll richtig, dass queere Menschen jetzt heiraten dürfen, weil die Liebe doch das Wichtigste im Christentum ist.« – »Ja, nein, klar – Liebe … Damit ist für meine Mutter Nächstenliebe gemeint. Das, was wir unter Liebe verstehen, also so was wie zwischen uns, zwischen dir und mir, das ist für sie ›Geschlechtslust‹ – eine von den Fallen, die der Teufel stellt. Berlin, Großstädte überhaupt, bestehen für sie fast nur aus Teufelsfallen. Deshalb wollte sie auch nicht, dass ich mich impfen lasse. Sie glaubt, dass diese ganze Corona-Scheiße ein Weckruf Gottes ist. Wir sollen uns wieder auf das besinnen, was wirklich zählt.« – »Und was zählt wirklich nach ihrer Meinung?« – »Bekehrung, Buße, Beten, sich in der Gemeinde engagieren. Anderen helfen … Was ja nicht falsch sein muss. Aber dass zum Beispiel jetzt die Clubs für Leute mit 2G wieder öffnen, reicht meiner Mutter schon als Beweis, dass diese Impfstoffe bloß entwickelt wurden, damit die Menschen sich wieder hemmungslos ihren Sünden hingeben können.« – »Glaubst du … Hast du früher auch so was geglaubt?« – »Bis elf oder zwölf. Die Freunde von meinen Eltern, also die Leute aus der Gemeinde, zu denen wir … zu der sie gehören, die sehen das ja alle so: dass die Welt verloren ist, dass die meisten Menschen verdammt werden und im ewigen Feuer landen.«

Flammen loderten auf. Die Briketts hinter der Ofenscheibe hatten Feuer gefangen. Urban war in sein Studio geflüchtet. Im Osten brach helles Gelb durch die Wolkenbänder. Er sah auf die Straße hinunter. Das Fensterglas war alt und dünn, dämpfte den Lärm kaum. Aus beiden Richtungen kamen Straßenbahnen, hielten direkt vor dem Haus, Autos stauten sich von Ampel zu Ampel. Radfahrer, Schüler auf E-Rollern fuhren vorbei, wichen Baustellen, Müllhaufen, abgestellten Möbeltrümmern aus. Die Stadt war ein Dreck, ein Loch, eine Foltermaschine, ein überbevölkerter, versiffter, stinkender Käfig, in dem Schnösel, Wichtigtuer, Lackaffen hausten, dumme, großkotzige Gören, chronisch pubertäre Moslems, Vollirre, Alkoholiker und Junkies, schlichte Hohlköpfe, Spießer, Rentner, kein Unterschied zwischen vormaligen Ostlern, vormaligen Westlern, deutschnationalen Spätaussiedlern, ostasiatischen, afrikanischen, orientalischen Vertrags- und Gastarbeitern. Und jetzt war auch noch das Haus, in dem sie eigentlich wohnten, eingerüstet. Ab sieben zitterte es unter den Schlägen der Abrissbirne, brüllten sich polnische Arbeiter vor dem Fenster Anweisungen zu. Urban wollte weg. Das Erste, was er morgens dachte, war: »Ich muss hier raus.« Aber wohin sollte er gehen? In das Eifel-Kaff, aus dem er vor fünfundzwanzig Jahren geflüchtet war, konnte er nicht zurück. Weder gefiel ihm Hamburg, noch München, noch Köln. Die Dörfer in Brandenburg, wo sich gerade sein halber Bekanntenkreis – die, die es zu Geld gebracht hatten – Datschen, Katen, Resthöfe kauften, waren bevölkert von neuen Nazis und letzten Altsozialisten. Wer wollte ernsthaft dort wohnen? Frankreich wäre eine Möglichkeit – ein Traum. In Frankreich kannte er niemanden. Konnte man an einem Ort, in einer Gegend, einem Land leben, wo man niemanden kannte? Vor allem brauchte er Geld, mindestens 100 000. Woher nehmen, wenn nicht stehlen? Außerdem hatte er Frau und Kind: Leonie, dreieinhalb Jahre, dazu deren Mutter, Irma, im schönen Alter von vierunddreißig. Irma wollte die Stadt nicht verlassen, sie liebte die Stadt, sie hatte sich nie irgendwo so wohl gefühlt wie hier, nicht an der Cote d’Azur, nicht in New York und nicht in Phuket am Strand. Selbst die Aussicht auf anderthalb Jahre Bauarbeiten nötigten ihr allenfalls ein Achselzucken ab. Irma bewegte sich elegant durch Kunst-, Literatur-, Mode- und Medienszenen, quasselte auf Previews, referierte in Zeitgeist-Labs, tanzte auf sämtlichen Partys. Bis zu Leonies Geburt war sie eine Art IT-GIRL gewesen, Stil-Ikone, Kuratorin, Model, Influencerin, als es das Wort noch gar nicht gab. Im Moment erfand sie sich als URBAN PROFESSIONAL MOTHER neu, schrieb Artikel über Rollenvorbilder, Rollenzuschreibungen, Rollenerwartungen an sie als Mutter, Frau, Künstlerin zwischen Küche und Kreativität, Studio und Wickeltisch. Der Stern, das ZEITmagazin schickten Reporter und Fotografen für Home Stories, seit letztem Monat hatte sie eine eigene Kolumne im Tip. Urban weigerte sich, bei den Terminen dabei zu sein, den Mann an ihrer Seite zu geben, obwohl es ihm vielleicht genützt hätte, sich als Partner eines aufstrebenden Sterns am Himmel des Neo-Feminismus zu präsentieren, der sanfte Held im Hintergrund, der sich ums Kind kümmerte, den Müll runtertrug, der erfolgreichen Frau den Rücken frei hielt. Er hasste die Öffentlichkeit, er hasste Aufmerksamkeit, und er verabscheute Journalisten, obwohl er das bisschen, das er verdiente, ebenfalls für Feuilletonkolumnen, -rezensionen, -portraits bekam. Irma schleppte das Kind, ihrer beider Kind, auf Vernissagen, Lesungen, Empfänge. Leonie patschte in gigantischen Atelierhallen mit den Farben der Kunststars herum, sprang Trampolin auf den Sofas der Galeristen, spuckte Trüffel und Flusskrebse auf Restauranttischdecken. Urban sagte: »Sie braucht mehr Schlaf!« – Irma erwiderte: »Warum soll sie sich hier so langweilen wie du früher in deinem Provinzkaff?« – Urban forderte: »Halt sie wenigstens aus den Medien raus!« – »Dann schreib dein Buch fertig, damit wir Miete zahlen können.« – Er wusste, dass die Diskussionen zu nichts führten, vielleicht wusste Irma es auch. Immer öfter verließ er mitten im Satz die Wohnung, stieg in seinen geliebten, cremefarbenen 200er Mercedes, Baujahr 1980, fuhr zwanzig Minuten, verbarrikadierte sich in seinem Apartment, dem letzten Relikt seines früheren Lebens, zwanzig Quadratmeter Freiheit mit Kohleofen im einzigen unsanierten Haus auf der Danziger Straße für zweihundert Euro im Monat. Gestern war der Streit derart eskaliert, dass er mindestens zwei Nächte fortbleiben musste, um Irma klarzumachen, dass eine Grenze überschritten war – dass sie eine Grenze überschritten hatte. Ohne es mit ihm abzusprechen, hatte sie Leonie für ein Fashion Shooting verkauft. Der Fotograf war einer von ihren tausend Hipster-Freunden, die Kampagne sollte für nachhaltige Kindermode werben, Biobaumwolle aus ägyptischer Fairtrade-Produktion, die Entwürfe von einem pakistanisch-dänischen Nachwuchsdesignerpaar: Jabeer&Nielsson, die neue öko-diverse Premiummarke zur Gewissensberuhigung junger Besserverdiener. Es würde Plakate, Wegwerfbeilagen in Qualitätszeitungen, Social-Media-Kampagnen geben. Leonie mit ihren feuerroten Locken sollte den irisch-angelsächsischen Phänotyp repräsentieren, außerdem gab es ein japanisches und ein armenisches Mädchen, einen arabischen Jungen und einen schwarzen, dessen Eltern aus Ghana stammten.

Zumindest in einem Punkt hatte Irma recht: Er musste sein Buch schreiben.

Urban zog die Kaffeedose aus dem Regal, die Dose war leer. Bevor er irgendetwas tun konnte, musste er Kaffee kaufen, Kaffee kochen, Kaffee trinken. Sein Telefon klingelte, Irmas Name leuchtete auf. Er überlegte, ob es irgendeinen Zweck hatte, den gestrigen Streit fortzuführen – hatte es nicht. Er fragte sich, ob er willens war, einzuknicken? Erschrak kurz. Vielleicht rief Irma an, weil etwas mit Leonie war: Die Kleine hatte einen siedenden Kessel vom Herd gezogen, war vom Stuhl gefallen und hatte sich die Zunge abgebissen. Sobald man für ein Kind Verantwortung trug, musste man eigentlich immer ans Telefon gehen. Er ließ es trotzdem klingeln, wartete, dass Irma etwas auf die Mailbox sprach, doch der Apparat meldete nur den verpassten Anruf. Urban zog seine Lederjacke an, griff in die Taschen, ob er eine Maske einstecken hatte, trat ins Treppenhaus.

MICROBLADING ODER PERMANENT MAKE-UP – WAS PASST ZU MEINEM LOOK? Joyce Telschow saß im Morgenmantel am Küchentisch, blätterte durch Modemagazine, Frauenzeitschriften, HARRY WINSTON – RARE JUWELS OF THE WORLD, eine glutäugige Schönheit für BULGARI. Sie hatte frei, dreifach frei: Muriel, ihre jüngere Tochter, war beim Vater; Dina, die ältere, schlief bei ihrem Freund, und Joyce musste nicht zur Arbeit, weil Ines, ihre Teamkollegin, Corona-positiv war. Wie es aussah, hielten diese Impfungen nicht, was man sich von ihnen versprochen hatte. Ihr sollte es recht sein. Seit sechzehn Jahren arbeitete sie als Fluggastkontrolleurin, Vollzeit im Wechselschichtdienst, bis vor kurzem in Tegel, jetzt in Schönefeld. Sie mochte die Arbeit, Flughäfen waren magische Orte. Tag für Tag rauschten Träume von anderen Leben vorbei, und wegen der vergünstigten Angebote für das Airport-Personal wurden sie für Joyce regelmäßig ein bisschen wahr. Zu den Nachteilen des Wechselschichtdienstes gehörte allerdings ein gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus. Obwohl kein Wecker geklingelt hatte, es draußen stockdunkel gewesen war, hatte sie ab sechs wach gelegen, war um halb sieben aufgestanden. Sie hatte sich ein Bad eingelassen, Honig-Mandel und Salz aus dem Toten Meer, hatte mit geschlossenen Augen im Wasser getrieben, war sanft überhitzt, schwerelos, hatte die Zeit vergessen, sich selbst. Kein in der Frühmorgenhetze verrutschter Lidstrich, keine fadenscheinige Uniform, keine Laufmasche auf dem Treppenabsatz. Sie hatte sich nicht mit Muriel gestritten, die zu jedem Bissen Frühstück gezwungen werden musste, und Dinas Heulkrämpfe, weil sie unsterblich in ihren Englischlehrer verknallt gewesen war, hatten aufgehört, seit sie zur Therapie ging. Den Englischlehrer hätte Joyce auch genommen, ein süßer Typ, Mitte dreißig, Sportlerschultern, hammermäßiges Lächeln. Aber Dina hatte jetzt stattdessen einen acht Jahre älteren Türken: Emre. Emre war nett, nicht hässlich, trotz Vollbart. Er fuhr Pakete aus, sechs Tage die Woche, hatte eine kleine Wohnung im Wedding und einen Schwarzgurt in Taekwondo. Joyce war trotzdem nicht glücklich damit. Falls etwas Ernstes daraus würde, schlüge irgendwann doch der Moslem durch. Sie hatte nichts gegen Ausländer, war nicht einmal grundsätzlich gegen die Orientalen. Die Männer sahen oft gut aus, viele hatten das, was den Deutschen längst abging: Kraft, Durchsetzungsvermögen, Charme. Aber am Ende gewann immer die dunkle Seite des südlichen Temperaments, genau wie bei den Italienern. Das wusste sie von Dinas Vater, Vittorio. Anfangs war alles Wolke sieben gewesen, rote Rosen, teure Parfüms, Saltimbocca alla Romana, brennender Sambuca mit Kaffeebohne, Bellissima, Principessa, aber nachdem sie das erste Mal zusammen in seinem Abruzzen-Dorf gewesen waren, die Nonna Joyce als ehetaugliche Frau eingestuft hatte, änderte sich der Ton. Wehe, wenn sie nicht ans Telefon ging, bis morgens mit ihren Freundinnen aus war, tanzen, trinken, feiern, wenn sie den Kellner oder den Fahrradmonteur anlachte. Vittorio schrie herum, zertrümmerte Teller, warf Schuhe durchs Zimmer. Schließlich war ihm die Hand ausgerutscht, weil Joyce Gerd, dem Elektriker-Nachbarn, einen Kaffee gekocht hatte, nachdem dieser so nett gewesen war, ihr eine Steckdose in der Küche zu reparieren. Italiener hin, Südländer her, da war er bei ihr an die Falsche geraten. Hinter einen Schlag ins Gesicht gab es kein Zurück, auch wenn da ein Kind, sein Kind, in ihrem Bauch wuchs. Das ganze Schmierentheater, das er anschließend aufführte, Tränen, Kniefälle, Schals von Hermès, Lackpumps von Prada, hatte sie nicht umgestimmt – wahrscheinlich waren es ohnehin bloß chinesische Fakes gewesen. Vittorio hatte später eine Italienerin in Bologna geheiratet, schickte Dina per Western Union hundert Euro zum Geburtstag, alle ein bis zwei Jahre rief er mal an. Ansonsten kümmerte er sich einen Scheißdreck um sie. Joyce strich ihre frisch rasierten Beine entlang, die Haut seidenweich, duftig, straff, Biotherm Lait Corporel. Für vierundvierzig, zwei Kinder, konnte sie sich sehen lassen. Aber wann immer sie sich mit einem Mann verabredete, hatte der nach »Ich hab auch zwei Töchter, die bei mir wohnen« Dienstreisen, unerwartete und unaufschiebbare Termine. »Ich ruf dich an«, aber natürlich kam nie ein Anruf. Nur neulich dieser grässliche Kerl, Heiner, angeblich Besitzer eines Toner-Geschäfts, der seine Augen nicht von ihrem Dekolleté hatte reißen können, war an weiteren Treffen interessiert gewesen – die Sorte Mann, die mit fünfzig noch Jungfrau war, sich allenfalls mal von einer Nutte einen runterholen ließ. So notgeil war sie nun doch nicht, dass sie sich damit abgeben musste. Ihre Liebhaber waren ausnahmslos ansehnlich gewesen, sie hatte immer viel Spaß gehabt, nur dass ihr eben keiner einen ernstzunehmenden Antrag gemacht hatte, nicht einmal die beiden Arschlöcher, von denen sie schwanger geworden war. Natürlich konnte sie nach wie vor jemanden fürs Bett bekommen, doch die Zeit für Affären, One-Night-Stands war irgendwie vorbei, und bevor sie sich auf so einen Wichser einließ, der am Ende noch ihre Mädchen angrapschte, frühstückte sie lieber allein.

Joyce nippte an ihrem Tee: BITTERE RÜCKKEHR! – PRINZESSIN CHARLENE FREUT SICH AUF IHRE KINDER, DOCH IN MONACO ERWARTEN SIE TAUSEND PROBLEME; LIEBESAUS – GIGI HADID SCHALTET ANWÄLTE EIN; ALEC BALDWIN: WER STEHT IHM JETZT ZUR SEITE? Denen, die alles hatten, ging es auch nicht viel besser.

Urban stellte den Espressokocher auf den Herd. Im Eckladen gegenüber hatten sie nur Lavazza gehabt, von heute aus gesehen zweitklassiger Kaffee, trotzdem kein Vergleich mit dem Großtantengesöff damals, zu Hause, DIE KRÖNUNG – DER BESTE VON JACOBS! Tchibo, Eduscho. Als er nach Berlin gekommen war, hatte Lavazza nach Vespa, Mastroianni, Fellini, nach den Lippen von Ornella Muti, einem Blick von Monica Bellucci geklungen.

Urban sah sich, wie er vor zwanzig Jahren hier gestanden hatte, frisch der Provinz entronnen, der Kleinbürgerenge, dem klebrigen Moralismus, frisierten Mofas, tiefergelegten Cabrios, den Fußballvereinsheimbesäufnissen, Dorfdiscoabstürzen. Jetzt saß er morgens um vier auf dem Mehringdamm und aß Currywurst mit Pommes, fuhr bei Sonnenaufgang in den Bahnhof Alexanderplatz ein, torkelte am Kotti der aufgehenden Sonne entgegen. Keiner fragte, wer er war, wo er herkam, welche Zukunft er sich vorstellte. Niemanden interessierte, wann er an der Uni gewesen war, ob er die Vorlesungen zu Gryphius, zu Heine, zu Bachtin gehört, Hausarbeiten geschrieben, Scheine gemacht hatte. Stattdessen LICHTER DER GROSSSTADT, Zoo Palast, Schultheiss, Berliner Ensemble, der getriebene Rhythmus von U-Bahn-Rädern auf Schweißnähten, Tà-Tack-Tà-Tack-Tà-Tack, wummernde Ghettoblaster, Martinshörner, Presslufthammer. Im Nordbahnhof sang ein russischer Chansonnier die traurigsten Lieder der Welt, vor dem Kaufhof spielten Panflöten-Indios in bestickten Ponchos. Ganz gleich, wo er hinkam, niemand hatte ihn je gesehen, fast alles, was er tat, tat er zum ersten Mal, groteske Versuche, hinter den Schmerz zu gelangen, taumelnd, zuckend, verdämmernd, überspannt, großmäulig, kindisch. Das Gefühl der Erleichterung, nicht mehr der Einzige zu sein, in dem es brannte, der nach Worten suchte für das Unbegreifliche, das Unerträgliche. Erstmals galt er nicht als Sonderling, weil er den Weg der Sprache, der Kunst beschwor, keine besorgten Blicke mehr: »Und wovon willst du leben?« Sowieso war der Weg kein Weg, war Kopfsprung, Sturz über die Klippe, war freier Fall. Hier standen tausend Versuchsräume, Experimentierfelder offen, an jeder Ecke wurde radikal Abseitiges, exzessiv Sinnloses, vorsätzlich Unverkäufliches produziert, nicht heimlich, verschämt, sondern mit großer Geste, befreiter Stimme. Hirnfeuerwerke, Wortexplosionen, Satzkaskaden, Russendisko, Surfpoeten, Reformbühne Heim & Welt, der Club der polnischen Versager. Manchmal hörten Hunderte Gedichten, Geschichten, Poetryslams zu, johlten, pfiffen, verstummten, und manchmal waren es fünf. Überall wurden Ausstellungen eröffnet, gefeiert, zerrissen, waren Ereignis, Aufreger, Stadtgespräch. Die Grenzen zwischen Kunst und Leben, Party und Performance, Theater und Therapie, Vision und Psychose lösten sich auf.

In Münsterkamen hatte es einen einzigen Künstler gegeben, Albert Holst, der alle paar Jahre in der städtischen Galerie ausstellte, Stillleben in der Nachfolge von Morandi, de Staël pinselte. Den alternden Kulturbürgern – Ärzte, Notare, Studienräte – hatte er als ewiger Avantgardist gegolten, über den sich die einen empörten, während die anderen ihn feierten. Und in Prüm hockte Bernd Möbius, Lokalfeuilletonist, zuständig für alle Sparten Kultur, einschließlich des jährlichen Kinderballetts. Möbius hatte mit dreißig einen Roman über die Verstrickungen seines Großonkels in die Enteignung jüdischer Geschäfte veröffentlicht, trug Schnauzbart, Hornbrille, Tweed-Sakko und rauchte Pfeife wie der Nobelpreisträger. Achtmal im Jahr kam das Tourneetheater, spielte Boulevard-Komödien von irgendeinem Fernsehschreiberling, bekannt durch Drehbücher für Tatort und Traumschiff, dazu unterhaltsam modernisierte Stücke von Moliere, von Shakespeare. Horst Tappert gab den Geizigen, Günter Strack den Falstaff. Auch Urbans Eltern hatten ein Abonnement gehabt, und seine Mutter beschwerte sich jedes Mal, dass sein Vater während der Vorstellung schnarchte.

Im letzten Schuljahr hatte Urban als Sänger der Punkband KrachStaubSchweiß eigene Texte in den Probenkeller geschrien. Hier und da waren sie in Kirmeszelten, auf Provinzfestivals aufgetreten, einmal als Vor-Vorgruppe von Wolf Maahn und Golden Earring, samstagnachmittags um halb vier vor knapp zwanzig Leuten, aber links am Rand der Wiese hatte Katja Wiegand gestanden und war bis zum Ende des letzten Songs geblieben. »Brich durch zu den Enden des Rings / Brich durch zu den Enden des Rings / Glühender Stahl / glühender Stahl / verbrennt das Fleisch / das Fleisch verbrennt / verbranntes Fleisch / wohin du schaust / Wohin schaust Du?«

Der Espresso gurgelte aus dem Ausströmer, dasselbe Geräusch, derselbe Duft, wie damals, nachdem er, ohne Katja Wiegand je berührt zu haben, hier aufgeschlagen war, in der Hauptstadt von Ost und West, wo selbst Monica Bellucci niemandem einen Seufzer entlockte.

Aus dem offenen Schultor des Eisenstein-Gymnasiums schrillte die Klingel zur ersten Stunde bis auf die Straße. Frau Malente, Fachlehrerin für Chemie und Physik, überholte im Sturmschritt eine Gruppe von Siebtklässlern, rief: »Jetzt wird’s aber Zeit!« – Es galt hauptsächlich ihr selbst. Im vorderen Teil des Parks, fünfzig Meter von der Schule entfernt, halbwegs geschützt von dichten Büschen, fläzten sich Noah, Joost und Mascha in der großen Korbschaukel. Noah hielt die Schaukel mit leichten Tritten gegen die Tragbalken in Bewegung. Auf der Bank daneben saß Snoops, zog Bierflaschen aus seinem Rucksack, ließ die Kronkorken mit dem Feuerzeug durch die Luft fliegen, stand auf, hielt Noah ein Bier hin und eins gab er Mascha. – »Du kannst mit Joost teilen, schließlich vögelt er dich ja auch.« – »Eifersüchtig?« – »Bullshit.« – Die letzte Flasche nahm er selbst, setzte sie an den Hals, trank bis ihm die Luft ausging, rülpste: »Schulz.« – Eigentlich hätte er im Deutsch-Leistungskurs sitzen müssen, genau wie Mascha, während Joost und Noah Geschichte gehabt hätten, aber Maria Stuart interessierte wirklich keine Sau, und warum sollte sich noch irgendein vernünftiger Mensch mit dem MITTELALTER! beschäftigen, da hatten sie ja wohl wirklich den Schuss nicht gehört. Abgesehen davon war es Snoops völlig egal, ob er das Abi schaffte oder nicht. Sein Vater hatte auch nichts abgeschlossen, keine Ausbildung, kein Studium, aber er verdiente als Musikproduzent zehnmal so viel wie die Halbhirne von Lehrern. Irgendetwas in der Art würde ihm schon einfallen, einstweilen kam er mit Ticken gut über die Runden. – »Ey, sauf mir nicht alles weg«, maulte Joost, woraufhin Mascha demonstrativ einen weiteren Schluck aus der Flasche nahm, sich über ihn beugte, ihre Lippen auf seine drückte, ein dünnes Rinnsal Bier aus ihrem in seinen Mund laufen ließ.

ALPHA, BETA, GAMMA, DELTA. Das griechische Alphabet hatte es im Google-Ranking kurzzeitig von Platz vierhundertsechsundzwanzigtausendfünfhundertneunzehn auf sieben geschafft. Die nächste oder übernächste Virusvariante war auf dem Vormarsch. Meldungen von Masseninfektionen nach Partynächten im Berghain trotz 2G oder 3G machten die Runde. Die Stadt verschwamm zwischen Widerstand und Apathie, Hoffnung und Resignation. MORDROHUNGEN, WEIL ER NUR GEIMPFTE INS LOKAL LIESS! CORONALEUGNER PLANEN KELTISCHES BLUTRITUAL VOR DEM REICHSTAG! Dänen, Schweden, Portugiesen und Spanier, Belgier und Holländer, Franzosen, Israelis, DIE JUGEND DER WELT, die normalerweise jedes Wochenende in Tegel oder Schönefeld landete, Angebote und Preise für Ferienwohnungen, Mitwohngelegenheiten in immer neue Höhen trieb, blieb weg. Auch ohne Ausgangssperre hochgeklappte Bürgersteige, verhängte Fenster. Seit inzwischen zwanzig Monaten kamen Tausende von Erstsemestern nirgends mehr an. Selbst wenn die Eltern aus Offenbach, Bruchsal, Herne Miete für Hauptstadt-Apartments, WG-Zimmer, Wohnheimplätze zahlten, saßen die angehenden Chemiker, Hispanisten, Betriebswirte doch bloß zu Hause vor ihren Bildschirmen, starrten lustlos, mutlos, unkonzentriert auf Vorlesungskonserven, dämmerten vor Livestreams von Seminaren weg, wechselten zu Pornhub, Counterstrike,Paola Maria, TikTok ohne vorher, nachher, zwischendurch in Mensen, Cafeterien, an Dönerständen, Spätis abzuhängen, sich zum Kaffee, zum Essen, zum Tanzen, Trinken, Feiern zu verabreden. Ein paar Bars, Kneipen, Clubs, die den Lockdown überlebt hatten, waren geöffnet, doch niemand wusste, welche Locations sich lohnten, wo die neueste Musik im schrägsten Ambiente für die coolsten Leute gespielt wurde. IMPORTANT! WICHTIG! IMPORTANT! WICHTIG! DER NACHWEIS GEIMPFT/GENESEN INKLUSIVE IDENTITÄTSBESTIMMUNG IST ZWINGEND ERFORDERLICH! Den Braven, Bangen, Scheuen, denen, die von klein auf die Warnungen ihrer überbesorgten Erzeuger befolgt hatten, war die Angst zur Grundhaltung geworden. Sie fürchteten sich vor Ansteckung, vor Long Covid, davor, ihre Großeltern zu infizieren, vor der eigenen Verantwortungslosigkeit. Jeder Handschlag, jede Umarmung konnte, wenn nicht den Tod, so doch bleibende Schäden zur Folge haben. Niemand, der halbwegs bei Verstand war, würde sich unter diesen Umständen zum Spaß, aus Langeweile, Übererregung in das, was vom Nachtleben übrig war, stürzen. Selbst die Demonstrationen für das Gute fielen aus. Obwohl es schon wieder viel zu warm für die Jahreszeit war, der Himmel zu blau, Kirschblüte Anfang November, fanden keine Fridays for Future-Kundgebungenstatt. Niemand ging auf die Straße, damit die Bürgerkriegsflüchtlinge, die durch Belarus irrten, in die EU kommen durften. Wer jetzt demonstrierte, egal für oder gegen was, war Wegbereiter, Helfershelfer einer weiteren Virusmutation, machte sich gemein mit Impfgegnern, Esoterikern, Nazis.

Frau Dr. Böhme war in ein hydraulisches Stahlgestänge gespannt, ihre Unterarme drückten zwei Polsterkissen, die über Seilzüge mit Gewichten verbunden waren, im rechten Winkel zur Seite. Ihre von jahrzehntelangem Sitzen bei gleichzeitiger Verweigerung gymnastischer Ausgleichsübungen chronisch herabgesunkenen Schultern sollten in die Ursprungsposition zurückgezwungen werden. – »Schmerzmittel in der Dosierung, die du gerade schluckst, führen in die Entzugsklinik, das muss ich dir als Psychiaterin doch wohl nicht erklären«, hatte Uwe Olschewski gesagt, Orthopäde und Freund seit gemeinsamen Studientagen in der letzten Phase der DDR. – »Und wenn du zehn Kilo abspecken würdest, wär das für deine Knie auch besser.« – Frau Dr. Böhme schwitzte, japste, zählte: »Dreizehn … vierzehn … fünfzehn … sechzehn …« – »Machen Sie zwanzig«, sagte der Trainer, ein muskelbepacktes Jüngelchen mit blondierter, pomadestarrer HJ-Frisur, das alle paar Minuten wie aus dem Nichts hinter ihr auftauchte. – »Schön langsam, lieber etwas öfter, dafür mit weniger Gewicht.« – Ihr schoss »Halt die Klappe« durch den Kopf, doch für eine entschlossene Antwort fehlte ihr schlicht die Luft. – »Wir wollen ja auch was für Ihre Kondition und die Erhaltung der Beweglichkeit insgesamt tun.« – Aus seiner ganzen mitleidigen Art sprach die selbstgefällige Arroganz der Jugend. Als wäre es eine persönliche Leistung, drei, vier Jahrzehnte weniger gelebt zu haben. Frau Dr. Böhme war grundsätzlich nicht der Meinung, dass es notwendig oder auch nur sinnvoll war, mit zweiundsechzig den Körper einer Dreißigjährigen spazieren zu führen. Ein Großteil ihrer Patienten bestand aus Jugendlichen, jungen Erwachsenen, dementsprechend war sie Tag für Tag mit den verheerenden Folgen des allgemeinen Fitness-, Schlankheits-, Schönheitswahns konfrontiert. Die einen zogen sich zurück, weil sie sich dick, verpickelt oder sonst irgendwie unansehnlich fühlten, die nächsten hungerten sich gleich mit Vorsatz zu Tode, und die, die gegen den ganzen kapitalistischen Irrsinn rebellierten, richteten sich mit Alkohol und Drogen hin, wie schon die DDR-Punks vor vierzig Jahren. Wie sollten die jungen Leute heutzutage denn lernen, dass es Wichtigeres gab als permanente Selbstoptimierung, Leistungssteigerung, wenn selbst ihre Omas mittlerweile daherkamen, als wollten sie sich für Germany’s Next Topmodel bewerben? Noch ein paar Jahre, dann würden die Kranken, Schwachen, Alten sich selbst als lebensunwertes Leben einstufen und mit einer Gratis-Pille des Gesundheitsministeriums ins Jenseits befördern: erst der totale Wettbewerb, dann freiwillige Selbstselektion. Ein Menschenbild, von dem Hitler nicht zu träumen gewagt hätte, hatte sich durchgesetzt. Am schlimmsten waren diese pseudolinken Akademikereltern aus dem Westen, die immer locker und verständnisvoll rüberkamen. – »Wir wollen ja einfach nur, dass der Janis, die Maike, der Henry sich ihrer Begabung entsprechend entfalten können.« – Aber wehe, wenn die Sprösslinge mal keine Spitzennoten nach Hause brachten, weil sie gerade, wie es sich für ihr Alter gehörte, von Hormonen geflutet wurden, weil sie diesen ganzen Leistungswahn für faul und hohl hielten oder schlicht keine Lust auf eine von Mutti geplante Karriere als CEO für irgendeinen alles und jeden gewinnmaximierenden Weltkonzern hatten. Dann fiel die letzte Minute Freizeit professioneller Hausaufgabenbetreuung zum Opfer, und wenn das nicht half, lagen sie der Kinderärztin so lange in den Ohren, bis sie ADHS, Burnout oder Depressionen diagnostizierte und eine Therapie-Überweisung schrieb, mit der die Kinder dann bei ihr in der Praxis beziehungsweise inzwischen vor dem Bildschirm aufschlugen. Das Virus sorgte dafür, dass diese bemitleidenswerte Generation jetzt rund um die Uhr unter der Kontrolle ihrer Terror-Eltern stand. – »Zeig mir mal deine Matheaufgaben!« – »Erst müssen wir Vokabeln abhören!« – »Was macht eigentlich dein freiwilliges Zusatzreferat in Physik?« – Kein Wunder, dass die Zahl der Essstörungen, Zwangsneurosen, Selbstverletzungen, Suizidversuche bei Kindern und Jugendlichen noch schneller wuchs als die Infektionszahlen. Natürlich hatte auch der Sozialismus seine Kollateralschäden gehabt, juristisch und seelisch, aber selbst wenn die Statistiken damals geschönt, psychische Erkrankungen infolge von Anpassungsdruck, Stasi-Überwachung, Hospitalismus unter den Teppich gekehrt worden waren – so schlimm wie heute hatte es in den Köpfen und Herzen der sozialistischen Jugend dann doch nicht ausgesehen, da war sich Frau Dr. Böhme ganz sicher.