Der Arm des Kraken - Christoph Peters - E-Book
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Christoph Peters

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Beschreibung

Die Kommissarin und der Samurai

Seit fünfzehn Jahren ist Annegret Bartsch Kommissarin im Vietnamdezernat der Berliner Polizei – seit zehn Jahren hat sie niemanden mehr vor Gericht gebracht. Während der Job sie zunehmend frustriert, wachsen zugleich die Spannungen zu Hause. Ihr Mann entpuppt sich als nörgelnder Eigenbrötler, die 8-jährige Tochter Lizzie geht ihr zunehmend auf die Nerven. Als der Japaner Yuki O. erschossen im Teich einer Parkanlage aufgefunden wird, steht Annegret Bartsch zunächst vor einem Rätsel. Vieles deutet darauf hin, daß Yuki O. zur japanischen Yakuza gehört hat und mit den Clans der vietnamesischen Mafia aneinandergeraten ist. Ihre Ermittlungen führen die Kommissarin in ein Labyrinth von vietnamesischen Gastronomiebetrieben, Import-Export-Firmen, Lebensmittelhandlungen und Blumenläden. Doch mit wem sie auch spricht: Überall stößt sie auf eine Mauer des Schweigens.

Zur selben Zeit wird der Japaner Fumio Onishi von seiner Yakuza-Organisation nach Berlin beordert, um Yuki O.s Tod aufzuklären und Vergeltung zu üben. Fumio Onishi ist ein Meister im Handwerk des Tötens und sieht sich doch nicht als eiskalten Killer, sondern als Erbe japanischer Traditionen, wie sie die Samurai der alten Zeit verkörpert haben. Bald schon zieht er eine Blutspur durch die vietnamesische Parallelgesellschaft im Prenzlauer Berg. Schließlich versucht Annegret Bartsch, ihm mit Hilfe eines vietnamesischen Kontaktmanns eine Falle zu stellen …

»Der Arm des Kraken« ist ein fulminanter Großstadtroman und actiongeladener literarischer Thriller zugleich. Und er ist in dem Katz-und-Maus-Spiel zwischen der deutschen Kommissarin und dem japanischen Killer das bestechende Psychogramm zweier vielfach gebrochener Menschen, die gefangen sind in den Zwängen und Absurditäten ihres jeweiligen Lebensentwurfs.

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Christoph Peters

Der Arm des Kraken

Roman

Luchterhand

Zum Buch

Seit fünfzehn Jahren ist Annegret Bartsch Kommissarin im Vietnamdezernat der Berliner Polizei – seit zehn Jahren hat sie niemanden mehr vor Gericht gebracht. Während der Job sie zunehmend frustriert, wachsen zugleich die Spannungen zu Hause. Ihr Mann entpuppt sich als nörgelnder Eigenbrötler, die 8-jährige Tochter Lizzie geht ihr immer mehr auf die Nerven. Als der Japaner Yuki O. erschossen im Teich einer Parkanlage aufgefunden wird, steht Annegret Bartsch zunächst vor einem Rätsel. Vieles deutet darauf hin, dass Yuki O. zur japanischen Yakuza gehört hat und mit den Clans der vietnamesischen Mafia aneinandergeraten ist. Ihre Ermittlungen führen die Kommissarin in ein Labyrinth von vietnamesischen Gastronomiebetrieben, Import-Export-Firmen, Lebensmittelhandlungen und Blumenläden. Doch mit wem sie auch spricht: Überall stößt sie auf eine Mauer des Schweigens.

Zur selben Zeit wird der Japaner Fumio Onishi von seiner Yakuza-Organisation nach Berlin beordert, um Yuki O.s Tod aufzuklären und Vergeltung zu üben. Fumio Onishi ist ein Meister im Handwerk des Tötens und sieht sich doch nicht als eiskalten Killer, sondern als Erbe japanischer Traditionen, wie sie die Samurai der alten Zeit verkörpert haben. Bald schon zieht er eine Blutspur durch die vietnamesische Parallelgesellschaft im Prenzlauer Berg. Schließlich versucht Annegret Bartsch, ihm mit Hilfe eines vietnamesischen Kontaktmanns eine Falle zu stellen …

»Der Arm des Kraken« ist ein fulminanter Großstadtroman und actiongeladener literarischer Thriller zugleich. Und er ist in dem Katz-und-Maus-Spiel zwischen der deutschen Kommissarin und dem japanischen Killer das bestechende Psychogramm zweier vielfach gebrochener Menschen, die gefangen sind in den Zwängen und Absurditäten ihres jeweiligen Lebensentwurfs.

Zum Autor

Christoph Peters wurde 1966 in Kalkar geboren. Er ist Autor zahlreicher Romane und Erzählungsbände und wurde für seine Bücher mehrfach ausgezeichnet. Christoph Peters lebt heute in Berlin. Zuletzt erschien von ihm bei Luchterhand der Roman »Herr Yamashiro bevorzugt Kartoffeln« (2014).

Für Marcus Braun

»Es gibt viele Wege – den Weg der Erlösung in Buddhas Lehre, den Weg des Lernens bei Konfuzius, den Weg des Arztes, Krankheiten zu heilen, den des Dichters, das Verseschmieden zu lehren. Teetrinken und Bogenschießen haben ihren Weg. Jeder kann sich in dem üben, was seinem Talent entspricht. Doch nur wenige erfreuen sich am Weg der Kampfkunst.«

MIYAMOTO MUSASHI, DAS BUCH DER FÜNF RINGE

1.

Um kurz vor neun am Dienstagmorgen betrat Paul Karstensen deutlich nach seinem kläffenden Cockerspaniel Heinzi die vom Sommer verdorrte Wiese im Zentrum des Erich-Mühsam-Parks, wo bereits Hedda Kern, Vinzi Volk und Beppe Aaron beieinanderstanden, jeder einen Pappbecher Kaffee in der einen, Beppe und Hedda dazu eine selbst gedrehte Zigarette in der anderen Hand. Wenige Schritte entfernt warf Kurt Seemann mit stumpfsinniger Unermüdlichkeit allen Hunden, die kamen, Bälle, weil er um diese Zeit nur ungern mit Menschen sprach. Die Luft war feuchtwarm, es regnete nicht. Die Wettervorhersagen auf den Mobiltelefonen meldeten eine Niederschlagswahrscheinlichkeit zwischen sechzig und siebzig Prozent, je nach Anbieter. So oder so änderte es wenig, denn die Hunde hatten ihre Verdauungsrhythmen und brauchten Auslauf, sonst wurden sie krank. Allerdings stellten auch Qualitätsfutter und Bewegung keine Garantie für gesunde Tiere dar. Während er sich ebenfalls eine Zigarette drehte, sagte Paul Karstensen, Heinzi leide wieder unter entzündeten Analdrüsen, und die einzig wirksame Methode, sie zu behandeln, sei manuelle Therapie, deshalb müsse er nach dem Spaziergang zum Tierarzt.

»Was heißt manuelle Therapie«, wollte Beppe wissen.

»Er drückt sie ihm aus.«

»Verstehe.«

Jeden Morgen um diese Zeit trafen sich hier dieselben drei bis acht Leute zwischen Ende zwanzig und Mitte vierzig, ließen ihre Hunde spielen, klaubten die Kacke mit Spezialbeuteln auf und besprachen alles, was für die innerstädtische Hundehaltung von Bedeutung war. Je nachdem, wie sich die Gruppe zusammensetzte, redeten sie außerdem über Politik, Fußball, Musik oder Berufliches.

»Kannst du nicht endlich mal still sein«, fauchte Paul Heinzi an, der ununterbrochen den Himmel ankläffte.

»Er hat halt keine Lust auf Arzt«, sagte Beppe.

»Ernsthaft jetzt: Ich will nicht, dass er sich diese Dauerkläfferei angewöhnt.«

»Hat er doch schon«, sagte Hedda.

Paul beugte sich hinunter, hielt Heinzi die Schnauze zu, ohne dass in der Geste Zorn oder wenigstens Entschlossenheit erkennbar gewesen wäre.

»Bringt nichts«, sagte Beppe.

»Er muss das lernen – allein schon wegen der Anwohner.«

In den Plattenbauten und Hochhäusern rund um die Wiese lebten verdiente Rentner der verblichenen DDR, von denen viele den Veränderungen der letzten dreißig Jahre seelisch und wirtschaftlich nicht gewachsen gewesen waren, dazu Mitglieder linker und rechter Jugendbewegungen, klassische Sozialfälle, ärmere Ausländer sowie eine Handvoll Avantgardisten mit Visionen für die Zeit nach der jetzigen Zukunft. Richtung Westen ging die Wiese in ein geschütztes Kleinbiotop aus Waldstück und künstlich angelegtem Teich über, dahinter führte die Stettiner Allee, eine der drei Hauptausfallstraßen nach Norden, aus der Stadt heraus. Wenn man sie bis ans Ende fuhr, erreichte man in Polen schließlich das Meer. Ursprünglich war die Erich-Mühsam-Siedlung von der SED als Vorzeigeprojekt für 4000 ausgewählte Bewohner zur 750-Jahr-Feier Berlins geplant worden, doch auch städtebaulich hatte inzwischen eine vollständige Abkehr von den utopischen Visionen der Moderne stattgefunden. Hier ein Apartment zu bewohnen verschaffte niemandem mehr gesellschaftliches Ansehen. Wer es sich leisten konnte, war längst in einen sanierten Altbau mit hohen Decken, Parkett und Jugendstilfliesen auf der anderen Seite der Gontscharowstraße gezogen.

»Vorn beim Observatorium sollen gestern Giftköder gelegen haben«, sagte Hedda. »Präparierte Hackbällchen.«

»Vielleicht waren es Überbleibsel von einem Kindergeburtstag.«

»Erst haben die Muttis Party gemacht«, sagte Beppe, »und dann den Rest mit Unkrautvernichter versetzt, weil ihre Gören reihenweise in die Kacke gefallen sind.«

Kurt Seemann warf weiterhin schweigend Bälle.

De facto kam es im Park nur selten zu Konflikten zwischen Hundebesitzern und Kleinkindeltern. Das Bezirksamt hatte den Spielplatz geschlossen, Schaukeln und Klettertürme waren abgebaut worden, weil das Erdreich wegen des Gaswerks, das vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Achtzigerjahre hier gestanden hatte, erhöhte Cyanid- und Phenol-Werte aufwies. Zudem saßen auf den Bänken rund um die Wiese vereinzelte Trinker ihre Tage ab, und in den Büschen beim Teich wurden neben unversteuerten Zigaretten auch Drogen verkauft. Den reichen und schönen Müttern von jenseits der Gontscharowstraße war die Umgebung nicht geheuer, und die Sozialhilfeempfängerinnen aus den Plattenbauten verbrachten ihre Freizeit eher vor dem Fernseher als im Park.

Aus Richtung des Observatoriums betrat Astrid Kehrmann die Wiese. Mit zehn Metern Abstand folgte ihr angefetteter Scotch Terrier Winnie, der offensichtlich keine Lust hatte, sich zu bewegen.

»Habt ihr das gehört: Jemand soll vergiftete Frikadellen ausgelegt haben.«

»Ist ein Gerücht.«

»Ich hab vorne Gerti getroffen, die hatte Berta an der Leine, was ich überhaupt noch nie gesehen habe, und sie sagte, dass dort gestern ein Hund kollabiert ist.«

»Welcher denn?«

»Wusste sie nicht.«

Ein dunkelgrüner Helikopter der Luftwaffe flog so niedrig über den Park, dass Pilot und Passagiere den Leuten im achtzehnten Stock beim Teleshopping oder Frühstücksbier hätten zuschauen können.

Heinzi, der als Einziger von den Hunden seine ursprüngliche Aufgabe, den Menschen gegen Feinde zu verteidigen, ernst nahm, raste bellend hinter ihm her. Die Rufe seines Herrchens, er solle stehen bleiben, wurden vom Lärm des Rotors zerhackt.

»Sieht aus, als käme die Frau Bundeskanzler heute direkt von der Datsche zur Arbeit«, brüllte Beppe.

Paul setzte sich jetzt selbst in Bewegung, fiel in Laufschritt, denn spätestens vorne beim Kunsttempel würde Heinzi die Orientierung verlieren und womöglich versuchen, allein die Gontscharowstraße zu überqueren, was leicht tödlich enden konnte.

»Komisch, oder?«, sagte Vinci. »So niedrig hab ich hier noch nie einen Hubschrauber gesehen.«

»Wahrscheinlich spielen sie im Kanzleramt der Führerin ihr Hauptquartier«, sagte Beppe. »Irgendein Krieg wird sich schon finden – geschossen wird immer.«

Astrid verdrehte die Augen. Sie arbeitete halbtags als Referentin eines FDP-Abgeordneten aus der Westpfalz, was ihr peinlich war, so dass sie lieber nicht darüber sprach. Unabhängig davon fand sie Beppes proletarisch-antikapitalistisches Gehabe reichlich kindisch für einen Mann Mitte dreißig.

Paul kehrte zurück. Er hatte Heinzi an die kurze Leine genommen und redete sehr ernsthaft auf ihn ein. Nach einer abschließenden Ermahnung mit erhobenem Zeigefinger ließ er ihn wieder frei. Heinzi stürzte kläffend auf die anderen Hunde zu, die Kurt Seemanns Ball verfolgten, hielt dann mitten in der Jagd inne und besann sich. Da er keine Chance hatte zu gewinnen, machte er eine Wende um hundertachtzig Grad, rannte quer über die Wiese auf das Waldstück zu und verschwand im Unterholz.

»Der Hund nervt«, knurrte Paul.

»Scheint, als wäre der Vietnamese heute schon früh bei der Arbeit«, sagte Beppe.

»Ich frag mich immer, wer diese Zigaretten eigentlich kauft«, sagte Astrid. »Ich hätte Angst, dass sie da irgendwas reinmischen.«

»Ich«, sagte Beppe. »Sind zwar keine original Camel, schmecken aber fast genauso. Und zwei fuffzig statt fünf Euro sind echt ein Argument.«

Bis vor wenigen Jahren hatten die vietnamesischen Zigarettenhändler im Osten der Stadt vor jedem Supermarkt gestanden, inzwischen waren sie in die Randlagen gedrängt worden. So oder so stellte das von außen nicht einsehbare Wäldchen im Mühsam-Park einen guten Platz für Schattengeschäfte dar: Schon von weitem sah man jeden, der sich näherte, und konnte unbemerkt durchs Gebüsch über die Straße in der angrenzenden Arbeitersiedlung verschwinden. Außerdem wohnten die Hauptabnehmer in der unmittelbaren Nachbarschaft.

»Keine Angst vor der Polizei?«

»Die nehmen ja nicht einmal mehr die Vietkong hoch. Ist einfach sinnlos, weil die sowieso alle das Maul halten. Ich weiß von keinem den Namen, obwohl ich seit Jahren Stammkunde bin.«

Paul brüllte »Heinzi!«, doch Heinzi interessierte sich nicht dafür.

Vinci Volk, deren kniehoher Windhundmischling Frieda auch nur gehorchte, wenn er gerade Lust dazu hatte, grinste Astrid an, während Paul sich erneut auf den Weg machte, um seinen Cockerspaniel einzufangen.

»Inzwischen hat er schon den dritten Trainer verschlissen, und gebracht hat es gar nichts«, sagte Kurt Seemann.

Es waren seine ersten Worte an diesem Morgen.

»Und locker fünfhundert Tacken dafür hingeblättert«, ergänzte Beppe.

»Ist halt ein Jagdhund«, sagte Vinci. »Abgesehen davon gelten Cocker sowieso als schwer erziehbar.«

»Alles Inzucht«, murmelte Kurt. »Habt ihr mal so ’ne Hundezüchterseite angeklickt? Blinkende Deutschlandfahnen, Warnungen vor Rassenschande, wenn unrein gefickt – also wenn der Deutsche Drahthaar Champion eine griechische Straßentöle bestiegen hat. Was dabei rauskommt, siehst du an Heinzi: degenerierter Mist.«

»Na ja, eigentlich …«, sagte Vinci. »Die Büsche sind voll mit Ratten, insofern macht der Hund das, was er soll. Zumindest ungefähr.«

Paul tauchte mit dem rückwärts zerrenden Heinzi an der Leine aus dem Dunkel des Wäldchens wieder auf und winkte seltsam aufgeregt.

»Irgendetwas will er«, sagte Vinci.

Er riss den Hund mit einem Ruck zu sich heran, klappte tonlos den Mund auf und zu, rannte drei Schritte, blieb stehen, schüttelte den Kopf, während Heinzi versuchte, ihn zurück in die Büsche zu ziehen.

»Beppe!«, rief Paul. »Komm mal her. Schnell!«

Beppe zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, was er hat, aber es sieht dringend aus.«

Er hob zwei Finger an einen imaginären Mützenschirm und trottete in Richtung des Wäldchens, gefolgt von seiner Rottweiler-Dobermann-Hündin Uhura, benannt nach Lieutenant Nyota Penda Uhura, der schönen Schwarzen aus »Raumschiff Enterprise«.

»Beeil dich, verdammt nochmal«, brüllte Paul, woraufhin Beppe stehen blieb, sich mit fragender Miene den Frauen zuwandte, ratlos die Arme hob und wieder fallen ließ, ehe er seinen Gang geringfügig beschleunigte.

»Immer locker bleiben«, sagte er mehr zu sich selbst. »In der Ruhe liegt die Kraft.«

Paul fuchtelte mit der Linken in der Luft, als wollte er etwas Großem Ausdruck verleihen, schlug sich mit der Hand an die Stirn. Im nächsten Moment schien ihn alle Kraft zu verlassen, und er versuchte halbherzig, den Hund dazu zu bringen, sich zwischen seine Füße zu legen.

Beppe wunderte sich, aber als Aushilfsmonteur und Minderheitsteilhaber eines alternativen Fahrradladens waren ihm Leute in den unterschiedlichsten Erregungszuständen vertraut.

»Was’n los?«

»Da liegt ein Toter.«

Pauls Stimme klang derart zusammengepresst, dass Beppe nicht auf die Idee kam, es könnte ein Scherz sein.

»Wo?«

»Beim Wasserfall.«

»Ernsthaft?«

»Glaubst du, ich verarsch dich?«

»Hoffentlich kein Kind.«

»Gott sei Dank nicht.«

Paul ging vor, bog in den schmalen gepflasterten Weg, der zunächst vom Teich weg ein Stück durchs Dickicht, dann auf einen halbrunden, von gemauerten Bänken umgebenen Platz führte. Wenn man dort saß, hatte man einen schönen Blick zwischen Trauerweiden und Röhricht auf eine altmodische Eisenbrücke, die an die Bilder aus Monets Garten erinnerte: Eine Frau mit Sonnenschirm in fliederfarbenem Kleid hätte am Geländer lehnen und einem Gedanken voller Sehnsucht nachhängen können. Der vordere Teil des Teichs begann unter einem Wehr mit geschmiedeter Brüstung oberhalb eines künstlichen Wasserfalls, der pünktlich um zehn eingeschaltet wurde.

Paul ging das letzte Stück langsamer, Beppe folgte widerwillig: Ganz gleich was, beziehungsweise wer dort lag, es würde eine Menge Ärger bedeuten. Die Bullen bräuchten Stunden, bis sie sicher waren, für heute keine Fragen mehr zu haben, und dann konnten sie tage-, wenn nicht wochenlang jederzeit vor seiner Wohnungstür stehen, dies und jenes wissen wollen, so dass er nicht einmal mehr in seinen eigenen vier Wänden vom Staat unbehelligt wäre.

Paul beugte sich über die Brüstung und atmete durch: »Sieht ein bisschen asiatisch aus, der Typ.«

Beppe hielt auf der Stelle an und sagte: »Dann ist es auf jeden Fall besser, wenn wir verschwinden.«

»Zu spät. Nimm den Hund an die Leine. Heinzi hat schon … – Ich erspar dir das.«

Beppe trat einen Schritt zurück: »Wenn es ein Asiate ist, werden wir einen Mordsstress bekommen. Im wahrsten Sinne des Wortes.«

»Trotzdem.«

»Echt: Ich halt mich da lieber raus.«

»Komm her, verdammt.«

Beppe kniff die Lippen zusammen. Uhura neben ihm nahm erkennbar Witterung auf, gab sonderbare Fieplaute von sich und legte sich flach auf den Bauch.

»Du hängst jeden Tag mehrmals für mindestens eine Stunde hier auf der Wiese rum. Die Polizei wird dich so oder so fragen, ob du etwas weißt oder ob dir etwas aufgefallen ist.«

»Ich weiß nur, dass ein toter Vietkong mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit lebensgefährlich ist, für dich, für mich – vielleicht für uns alle. Mit dem gemütlichen Morgengequatsche ist es jedenfalls vorbei.«

»Komm jetzt endlich und guck dir das an.«

Beppe trat kopfschüttelnd an die Brüstung, während sein Hund sich nicht von der Stelle rührte. Er senkte sehr langsam den Blick und sagte: »Scheiße.«

In dem schmalen Raum zwischen einer Reihe einzementierter Natursteinbrocken, die eine Atmosphäre von Wildbach schaffen sollten, und der Mauer, vor der in wenigen Minuten auf einer Breite von vier Metern eine Wand Sturzwasser niedergehen würde, lag ein junger Mann mit weit geöffneten Augen, die schräg hinauf in den Himmel starrten, und einem scharf umrissenen, blutig violettfarbenen Loch unterhalb des Kinns. Sobald der Wasserfall ansprang, würde man ihn von hier oben aus nicht mehr sehen.

»Hast du mal ’ne Kippe?«

»Nur Tabak.«

»Dafür bin ich zu zittrig.«

Der Oberkörper des Toten steckte in einem ärmellosen olivfarbenen T-Shirt, so dass man die austrainierten Muskeln an Schultern und Oberarmen ebenso sehen konnte wie Teile einer großflächigen, virtuos gestochenen Tätowierung: ein purpurner Krakenarm, der sich an einer gefährlich verzweifelten Riesenmuschel festgesaugt hatte, zwischen Wellen und Tang. Außerdem trug der Mann eine dreiviertellange beigefarbene Hose mit aufgenähten Taschen. Beppe sah, dass der Knochen des oberen Schienbeins durch die Haut gestoßen war. Das Wasser stand fünf, vielleicht zehn Zentimeter hoch und hatte sich eine Handbreit den Stoff hinaufgesaugt, so dass es schien, als verlaufe dort eine scharfe Trennlinie zwischen Hell und Dunkel.

»Das ist keiner von den Vietnamesen, die ich kenne«, sagte Beppe. »Aber ich hab den Typen hier schon gesehen. Mit einer deutschen Freundin. Öfter sogar, mindestens seit letztem Jahr läuft der hier herum. Ich meine, er wohnt irgendwo auf der anderen Seite der Gontscharow.«

»Sieht aus, als ob er …«

»Klar ist der abgeknallt worden. Und wahrscheinlich weiß jetzt auch jeder, der etwas damit zu tun hat, dass wir Vollidioten ihn gefunden haben.«

»Ich ruf trotzdem die Polizei, oder?«

»Bleibt uns ja wohl nichts anderes übrig.«

2.

Abgelehnt, das war zu erwarten gewesen, wobei zur Abwechslung ja auch mal etwas hätte klappen können, und er muss mich verdammt nochmal nicht so herablassend behandeln, vom Alter her könnte ich – gut, seine Mutter nicht, trotzdem, ich mache das jetzt seit fast zwanzig Jahren, und inzwischen kenne ich mich mit der Materie doch wohl ein bisschen aus, aber wer weiß, was dahintersteckt, gerade rücken ein paar Ermittlungsrichter nach, deren Frauenbild so reaktionär ist, wie das ihrer Großväter nie war, die haben einem damals noch deutlich mehr Respekt entgegengebracht, als ich angefangen habe, waren Frauen im gehobenen Dienst ja richtiggehend Raritäten, selbst im Fernsehen gab es kaum welche, Rosa Roth war die erste, an die ich mich erinnere, eine Blödsinnsfigur, als Vorbild für Berufsanfängerinnen taugte sie jedenfalls kein bisschen, weder vom Äußeren, die Berben, eine reine Männerphantasie, obwohl ich zu der Zeit zehn Kilo weniger hatte, auch nicht von der Art her, diese überdrehte Mischung aus Härte und Gefühlsduselei, das war mir viel zu dick aufgetragen, mit normalen Ermittlungen, wie wir sie machen, hatte das alles sowieso gar nichts zu tun, sollte es auch nicht, Fernsehen zeigt ja nicht die Wirklichkeit, schließlich haben die Leute ein Recht, sich nicht zu langweilen, wenn sie abends von der Arbeit kommen, da muss was passieren, geht mir ja selbst nicht anders, obwohl ich es eigentlich besser weiß, Verzweiflung, Hass, sonst glaubt keiner, dass der Täter einen vernünftigen – oder vielleicht nicht gerade vernünftigen, aber doch einen nachvollziehbaren – Grund hatte, die Kontrolle zu verlieren und zuzuschlagen, wobei es die natürlich gibt, die großen Liebes- und Familiendramen, kaum jemand bringt seine Frau einfach aus Versehen um oder seinen Konkurrenten, doch im Großen und Ganzen muss man sagen, dass Polizeiarbeit, gerade hier im Vietnamdezernat, mittlerweile wahnsinnig langweilig ist, meistens passiert gar nichts, du sitzt da, wertest irgendwelche Ermittlungsakten oder Protokolle aus, was halt auf deinem Schreibtisch landet, dann Arbeitsgruppensitzungen, Hintergrundanalysen, Fortbildungen hier, Schulungen da, ab und zu ein paar Zeugenvernehmungen, bei denen nichts herauskommt, weil die Leute zwar theoretisch etwas hätten gesehen haben können, aber faktisch nichts gesehen haben beziehungsweise nichts gesehen haben wollen, in der Hinsicht hat sich wenig verändert, ansonsten ist fast nichts mehr so wie1996, als ich eingestiegen bin bei den Vietnamesen, da war richtig was los hier, fast jede Woche Messerstechereien, Schusswechsel, oder es tauchten irgendwo Leichen auf, einmal, erinnere ich mich, obwohl ich selbst nicht vor Ort war, fanden sie in einer Wohnung ziemlich weit oben, dreizehnter Stock, das habe ich mir gemerkt, nicht weil ich abergläubisch wäre, aber wenn du das hörst, denkst du ja doch: Hätten sie es gemacht wie im Flugzeug und die Dreizehn einfach übersprungen, wäre vielleicht nichts passiert, was Quatsch ist, klar, dieses Hochhaus in Marzahn jedenfalls, Juri-Gagarin-Allee, hatte einen regulären dreizehnten Stock, und darin fanden irgendwelche Verwandte, die zu Besuch vorbeischauten, zufällig, wenn man glauben will, was sie nachher ausgesagt haben, immerhin unter Eid, sieben gefesselte und geknebelte Vietnamesen, alle hingerichtet mit einem gezielten Schuss aus nächster Nähe direkt in den Kopf, die Augen waren nicht verbunden, wahrscheinlich sollten sie sehen, was ihren Brüdern passierte, damit vielleicht doch noch einer die entscheidende Information herausrückte, oder es war purer Sadismus, in Asien haben die Leute ja traditionell ein anderes Verhältnis zu Gewalt als bei uns, ich habe einiges dazu gelesen im Lauf der letzten fünfzehn Jahre, weil wir ja immer angehalten sind, uns in die Tätermentalitäten hineinzudenken, aber was davon wahr ist, weiß ich natürlich nicht, manches kommt mir auch ziemlich unglaubwürdig vor, ganz gleich, was mir diese Religionswissenschaftler oder Kultursoziologen von der Uni über den anderen Blick auf Leben und Tod im Buddhismus oder vietnamesischen Animismus erzählen, Kreislauf der Wiedergeburten, Ahnenkulte und dass der Einzelne sowieso einen anderen, sprich niedrigeren Stellenwert hat als bei uns, als ob das erklären würde, weshalb jemandem die Finger einzeln mit der Zange gebrochen werden müssen, ehe man ihn erschießt, aber was natürlich stimmt, ist, dass sie eine andere Art Gruppenzugehörigkeit haben, auch enger als die Leute aus den italienischen Clans zum Beispiel, da hat man hin und wieder Chancen, einen Kronzeugen zu bekommen, sobald es anfängt richtig wehzutun, bricht so ein Italiener schnell mal ein, bei den Vietnamesen ist das nahezu ausgeschlossen, und wenn die Freundin oder Frau des Bosses damals, die ein Griff ins Klo gewesen ist, aus seiner Sicht, nicht übergelaufen wäre und ausgesagt hätte, wäre der immer noch auf freiem Fuß, die Kleine braucht jetzt allerdings für den Rest ihres Lebens falsche Identitäten und sollte am besten nie wieder etwas mit ihren Landsleuten zu tun haben, aber das ist zum Glück nicht mein Problem, fest steht, dass wir seit inzwischen zehn Jahren niemand halbwegs Relevanten mehr ins Gefängnis gebracht haben, hier und da mal ein paar Tage U-Haft, dann mussten wir sie alle wieder laufen lassen, obwohl jeder weiß und selbst jemand, der nichts mit der Materie am Hut hat, sehen kann, dass der gesamte ehemalige Osten Berlins fest in vietnamesischer Hand ist, der Handel mit geschmuggelten Zigaretten, die nach wie vor ungeniert auf der Straße angeboten werden, Teile des Drogengeschäfts, dann die ganze Asiagastronomie, egal, ob es »vietnamesisch«, »thailändisch«, »chinesisch«, »koreanisch« oder »japanisch« heißt, hinter der Theke und in der Küche stehen immer Vietnamesen, inzwischen machen sie sogar Pizza und orientalischen Grillspieß, die letzte konzertierte Aktion, die sich über drei Jahre hingezogen hat, war die Übernahme fast aller Sushibars, ein einziger Japaner ist übrig geblieben, ich will nicht wissen, wie er das hingebogen hat, außerdem dieser durchgeknallte Araber, von dem viele sagen, er mache das beste Sushi der Stadt, sie haben den Obst- und Gemüsehandel unter Kontrolle, kein Türke oder Italiener schafft oder wagt es, östlich der ehemaligen Mauerlinie ein Geschäft zu eröffnen, dazu Kleinsupermärkte, Blumenläden, Billigtextilien, Spätverkaufsstellen, Kioske, Nagelstudios, Massagesalons mit Sex, ohne Sex, und der Dreh- und Angelpunkt dieses Geflechts aus Firmen, Scheinfirmen, Geschäftsleuten, vorgeblichen Privatpersonen, in dem legale und illegale Aktivitäten unentwirrbar miteinander verwoben sind, so geschickt, dass immer nur die legalen Segmente sichtbar werden, während der riesige dunkle Rest nach wie vor von Mund zu Mund, Hand zu Hand, über Kuriere, bar oder in Form von Sachleistungen abgewickelt wird, Dreh- und Angelpunkt ist das Thanh Hoa Center an der Rostocker Straße, dort gibt es alles, womit sie offiziell handeln, außerdem, das muss man wirklich sagen, richtig gutes vietnamesisches Essen, seit vier Jahren betreiben sie sogar ein eigenes Deutsch-Vietnamesisches Bankhaus, über das inzwischen fünfundachtzig Prozent des offiziellen Zahlungsverkehrs abgewickelt werden, und obwohl das natürlich haarklein kontrolliert wird, von der Bankenaufsicht ebenso wie von den Finanzämtern, findest du nirgends den Punkt, wo du den Hebel ansetzen könntest, die Abrechnungen, soweit sie schwarz auf weiß vorliegen, also in der Buchführung auftauchen, stimmen bis auf den letzten Cent, da sind sie von fanatischer Exaktheit, damit niemand einen Grund oder Vorwand hat, weiter nachzuforschen, vermutlich deshalb müssen auch deren Kinder, ich weiß es ja von Freunden und Bekannten, die in der Gegend wohnen, lernen wie die Irren, wehe da bringt mal einer eine Drei mit nach Hause, damit sie schneller und besser sind in all den Sachen als die verwöhnten Schnöselgören, die nach dem Abitur BWL oder Jura studieren, aber keine drei Zahlen ohne Taschenrechner addieren können, natürlich bleibt das eine und andere in den Netzen der Dienste hängen, nur ob davon etwas bei uns landet, ist purer Zufall, ich habe meinen alten Freund Mark beim VS, der mir gelegentlich einen Tipp gibt, in welche Richtung ich die Augen offen halten soll, juristisch verwerten kann ich so gut wie nichts davon, dementsprechend haben wir normalerweise keine Chance, eine richterliche Genehmigung für systematische Observierungen, vor allem im Bereich Telekommunikationsüberwachung, zu bekommen, dafür müsste ich einen begründeten, mit Indizien und Beweisen untermauerten Verdacht beibringen, den ich aber erst beibringen kann, wenn ich die entsprechenden Mittel habe, sie zu beschaffen, da beißt sich die Katze dann in den Schwanz, vom Sprachproblem ganz zu schweigen, rein deutsche Übersetzer ohne Verwandte in Vietnam gibt es so gut wie keine, die anderen haben immer panische Angst, das Falsche zu sagen, denn selbst wenn sie hier ungeschoren davonkommen, bedeutet das für Onkel, Tanten, Nichten und Neffen in der Heimat schnell ernsthafte Probleme, insofern bin ich mir zwar sicher, dass das Geld, das sich nicht über Nudelsuppen, Orchideen und Maniküre waschen lässt, in der Radkappe oder eingenäht in den Fahrersitz eines LKW direkt über Polen in die Ukraine gebracht und dort in Ware investiert wird, Zigaretten, Drogen, Frauen, oder es fliegt als dünne Lage in Kofferdeckel eingeschweißt nach Vietnam, aber beweisen kann ich nichts davon, und das ist zu wenig für alles, Revier- oder Verteilungskämpfe gibt es kaum noch, wenn mal jemand beseitigt werden muss, taucht zumindest keine Leiche mehr auf, sie werden ihre Entsorgungsspezialisten haben, Schlachter und qualifizierte Chemiker, abgesehen davon, dass die Leute für die schmutzigen Aufgaben nach allem, was wir wissen, nur kurz wie zum Verwandtenbesuch mit entsprechender Einladung einreisen, drei Tage später sind sie wieder weg, theoretisch ist das alles bekannt, aber wir haben viel zu wenig Beamte, um dem effektiv nachgehen zu können, so gesehen fehlen uns die Toten regelrecht, wenn mal wieder ein paar Leute auf offener Straße erschossen würden, oder wie1998, als der Zehnjährigen – ich glaube, sie war nicht einmal entfernt mit einem Boss verwandt – mitten auf der Buchenallee vor allen Leuten die Kehle durchgeschnitten wurde, anschließend ist der Täter seelenruhig zu seinem Auto spaziert und abgerauscht, wir haben das Fahrzeug, einen Mietwagen natürlich, wenig später keine vierhundert Meter vom Tatort entfernt sichergestellt, dann geht plötzlich was, wobei man einräumen muss, solange die Opfer bloß Vietnamesen sind, also wenn das ein deutsches Mädchen gewesen wäre, hätte da eine ganz andere Mittelaufstockung stattgefunden, so stand halt was von »Asiatischen Banden« und »Zigarettenmafia« in der Zeitung, und es diente hauptsächlich dazu, das »Unser schönes Deutschland wird von kriminellen Ausländern bedroht«-Gefühl der Bild-Leser zu stärken, seit dem 11. September sind sie sowieso alle nur noch hinter islamistischen Terroristen her, jeder Araber mit Bart ist verdächtig, der braucht bloß in den Baumarkt zu fahren und Unkrautvernichter für seinen Kleingarten zu kaufen, schon hängen drei Leute an ihm dran, die Moslems wollen uns ja angeblich als ganzer Kultur an den Kragen, Bahnhöfe, Flughäfen, Kaufhäuser, Fußballstadien kaputt bomben, das ist fast was Persönliches bei unseren Oberen, dementsprechend fristen wir mit den Vietnamesen, bei denen jeder gern mal »Ente knusprig« für fünf Euro neunzig essen geht, die das beste Obst haben, immer so nett sind und von denen man ansonsten quasi nichts bemerkt, hier eine komische Nischenexistenz, wir können froh sein, dass es uns als Dezernat überhaupt noch gibt, ehrlicherweise muss man zugeben, dass wir auch nicht gerade spektakuläre Ergebnisse geliefert haben in den letzten Jahren, neulich erst hat der Polizeipräsident in einer internen Sitzung gesagt, »Sind Sie denn überhaupt sicher, dass die Straftaten, die Sie aufklären wollen, nicht längst verjährt sind, Zollvergehen: zehn Jahre, Geldwäsche: fünf, die haben ihre Überschüsse aus der heißen Zeit nach der Wende doch längst in ordentlich geführte Unternehmen investiert, und die Killer von damals, wie viele offene Morde haben wir noch, elf, zwölf – die sind längst über alle Berge, sitzen in Ho-Chi-Minh-Stadt und schlürfen Cocktails«, mir blieb wieder mal nicht viel mehr, als ihn darauf hinzuweisen, dass hinter der Gontscharowstraße immer noch alle dreihundert Meter einer steht und geschmuggelte Zigaretten verkauft, dass sich der volkswirtschaftliche Schaden jährlich auf anderthalb Milliarden Euro beläuft, dass sie gerade dabei sind, große Teile des Indoor-Cannabis-Markts zu übernehmen, dazu Schutzgelderpressung, Menschenhandel, Zwangsprostitution …, »Das höre ich seit zehn Jahren«, hat er gesagt, »bringen Sie Beweise, dann nehmen Sie die Leute fest, und niemand fragt mehr, warum Ihr Dezernat nicht aufgelöst wird«, bloß wie wir das mit herkömmlichen Ermittlungsmethoden hinkriegen sollen, konnte er uns natürlich nicht verraten, bis vor ein paar Jahren haben wir noch regelmäßig Straßenhändler festgenommen, ein paar Stangen Jin Ling oder ein paar Tütchen Gras beschlagnahmt, um wenigstens Präsenz zu zeigen, keiner hatte Papiere, alle hießen »Nguyen« und waren an einem 1. Januar zwischen 1980 und 1990 geboren, also mussten wir sie wieder laufen lassen, entweder wurden sie genauso heimlich außer Landes geschafft wie sie hereingekommen waren oder sie wechselten in einen der fünfhundert Imbisse der Stadt und rührten gebratene Nudeln auf Vierhundert-Euro-Basis, das geht nach wie vor so, in den Suppenküchen arbeiten dann auch wieder fünf bis zehn Leute auf den Papieren eines einzigen angemeldeten »Nguyen«, selbst wenn da mal jemandem von der Gewerbeaufsicht oder der Zollfahndung etwas komisch vorkommt, reicht es so gut wie nie, einen Laden hochzunehmen, und sei es bloß als Warnschuss, damit die Bosse wissen, dass wir noch da sind, viele von den Leuten unten leben ja quasi in einem Sklavenstatus, unter falschen Versprechungen eingeschleust, müssen sie horrende Schulden an ihre Schlepper abzahlen, dafür brauchen sie mindestens vier, fünf Jahre, rechtliche Handhabe haben sie keine, weil sie natürlich ohne Pass und Aufenthaltsgenehmigung hier sind, die meisten können wenig oder gar kein Deutsch, sind also völlig auf die Unterstützung ihrer Peiniger angewiesen, wir können nichts machen, die Strukturen reichen bis nach Vietnam, abgesehen davon, dass das Rückführungsabkommen noch immer nicht richtig funktioniert, man kann sie nicht einfach ins Flugzeug setzen und nach Hause schicken, mir tun die Leute auch leid, wobei ich andererseits sagen muss, wenn du dreißig oder vierzig solcher Typen vor dir sitzen hattest, mit eingefrorenem Lächeln, dass sie eigentlich nach spätestens zehn Minuten einen Krampf in der Backe bekommen müssten, während sie gleichzeitig vor Angst die Arschmuskeln zusammenkneifen, um nicht in die Hose zu machen, aber keiner von denen sagt uns die Wahrheit, geschweige denn einen einzigen Satz, der einen weiterbringen würde, und das obwohl, sobald sich zehn oder fünfzehn von diesen Nullnummern zusammentäten, wir ihnen vielleicht wirklich helfen könnten, wenn du dir das klarmachst in so einer Situation oder wenn dir gerade mal wieder eine Telekommunikationsüberwachung abgelehnt wurde, denkst du schon, wärst du doch ein amerikanischer Serienpolizist geworden, dann fändest du Mittel und Wege herauszukriegen, was du wissen musst, aber klar, das bringt nichts, Emotionskontrolle bei der Vernehmung ist das A und O, alle zwei Jahre gibt’s dazu eine eigene Schulung mit Rollenspielen und allen Schikanen, einschließlich Training des simulierten Ausrasters im Rahmen des gesetzlich festgeschriebenen Spielraums, wobei ich persönlich, gut, meistens hab ich mich ziemlich im Griff, den Ärger bekommen sie zu Hause ab, Volker, der den ganzen Abend am Computer hockt oder an alten Kameras herumschraubt, statt mal irgendetwas Vernünftiges vorzuschlagen, was wir alle zusammen unternehmen könnten, oder die arme Lizzy, die es mindestens dreimal pro Woche mit einer extrem übellaunigen Mutter zu tun hat, wobei ich sagen muss, dass sie mir im Moment, so lieb ich sie hab, mit ihrem Prinzessinnenfimmel auch ein bisschen auf die Nerven geht, ich weiß gar nicht, von wem sie das hat, ich bin ja nun alles Mögliche, aber mit Rosa und Glitzer hab ich wirklich überhaupt nichts am Hut, für eine Barbiemähne waren meine Haare immer zu dünn, zu klätschig, abgesehen davon, dass ich morgens keine Zeit hätte, Stunden vor dem Spiegel zu verbringen und mich zurechtzuföhnen, ich will gar nicht so aussehen, dann würde mich doch niemand ernst nehmen, weder die Kollegen noch die Typen, von denen ich etwas haben will, was sie mir nicht geben wollen, die müssen auf den ersten Blick sehen, dass ich verdammt nicht nett sein kann, wenn sie mich für dumm verkaufen wollen, würde ich da als hübsches Blondchen auftreten – gut, realistischerweise ist der Lack auch ab mit sechsundvierzig, nach zwölf Jahren Ehe, aber wenn ich später von der Arbeit komme, und Volker hat sie aus dem Hort abgeholt, bevor er sich ins Netz, zum Basteln oder in einen seiner komischen Fantasy-Romane verabschiedet hat, sucht sich Lizzy jetzt den einzigen Lippenstift, den ich besitze, im Badezimmerschränkchen und malt sich an, dabei ist sie erst acht, und man sagt doch immer, dass Kinder sich die Eltern als Vorbild nehmen, ich meine, Kommissarin ist eigentlich ein toller Beruf, gerade für eine Frau, da kann sich ein Mädchen doch dran orientieren, aber sie will partout Schauspielerin werden oder Model, ob ich ihr das jetzt verbieten soll, weiß ich auch nicht, Volker zuckt sowieso bloß mit den Achseln, dafür fühlt er sich nicht zuständig, stimmt wahrscheinlich irgendwie, ihre Freundinnen benutzen sogar schon Rouge, sagt Lizzy, sie soll ja nicht isoliert sein in der Klasse, gut, ernsthaft besorgniserregend finde ich es nicht, aber schon … – »Was ist?«, Gott, wie sieht der denn aus: War wohl wieder ein Bier zu viel gestern Abend, »Es gibt einen Toten für uns.«, »Nicht dein Ernst.«, »Im Erich-Mühsam-Park, da, wo der Teich ist.«, »Ich hab gerade noch gedacht: So ruhig wie zur Zeit – das wird so nicht bleiben.«

3.

Draußen auf dem Rollfeld war es angenehm warm. Die rechte Seite der Bodenfläche hob sich, die Türen wurden geschlossen, der Bus fuhr ab. Fumio Onishi hielt sich locker an der Haltestange fest und schaute auf sein Mobiltelefon, das keine neuen Nachrichten anzeigte. Er hätte es in Amsterdam lassen sollen.

Der Flug war ruhig gewesen, ohne Turbulenzen oder technische Probleme, wobei ein unruhiger Flug nichts geändert hätte. Fumio Onishi ging davon aus, dass alle Ereignisse durch ein Schicksal bestimmt waren, an dem er selbst maßgeblich mitgeschrieben hatte. Auch das beschäftigte ihn nicht. Zumindest wäre er nie auf die Idee gekommen, daraus Konsequenzen zu ziehen. Auf dem Platz neben ihm hatte eine Holländerin Anfang dreißig mit kurzem Pferdeschwanz und knapp geschnittenem Rock gesessen. Beim Start hatte er überlegt, wie es wäre, mit ihr zusammen bei einem Flugzeugabsturz ums Leben zu kommen: besser als allein auf eine der Todesarten, die sonst wahrscheinlich waren. Die Holländerin beschäftigte sich eine Zeit lang damit, in offiziellen Papieren neongelbe Markierungen vorzunehmen, dann schlief sie zwanzig Minuten, während er verschiedene Varianten der Vorstellung durchspielte, ihr seine Hand zwischen die Beine zu schieben. Holländerinnen traf man selten in Tokios Clubs. Sie strahlten etwas Herbes aus, das ihn zugleich anzog und abstieß. Kurz vor der Landung öffnete sie die Augen, schaute zu ihm herüber, an ihm hinunter, dabei blieb ihr Blick für einen Moment auf seinem Brustmuskel hängen, der sich unter dem Hemd abzeichnete. Unvermittelt fragte sie: »Und was machen Sie in Berlin?«

»Geschäftlich«, sagte er.

»Welcher Art?«

»Import /Export.«

»Elektronik?«

»Verschiedene Sachen.«

»Ich bin für die UN in Beirut. Wir sammeln Informationen zur Lage in Syrien. Oder besser gesagt: Wir filtern die wirklichen Informationen aus den Propagandameldungen, die dort von den verschiedenen Parteien verbreitet werden. Daraus stellen wir Dossiers für die Politik zusammen.«

»Interessant«, sagte er, obwohl es ihn nicht im Geringsten interessierte.

»Man darf nicht immer so genau darüber nachdenken, was man da tut.«

Er nickte.

»Sie sind Japaner, oder?«

Er nickte wieder.

»Wohnen Sie in Berlin?«

»Teilweise.«

Die Maschine setzte fast unmerklich auf, der Umkehrschub wurde eingeschaltet und übte diesen leichten Druck aus, den er aus unerfindlichen Gründen mochte.

»Aber Sie sind oft hier?«

»Eher oft.«

»Ich komme immer gern nach Berlin.«

»Ja.«

Er hätte bessere Antworten geben oder sonst etwas sagen sollen, um das Gespräch aufrecht zu halten, bis sie das Flugzeug verließen, doch ihm war nichts eingefallen, so dass sie sich schließlich ihrer Handtasche zugewandt, ein Päckchen Kaugummi hervorgekramt und sich einen Streifen in den Mund geschoben hatte, ohne zu fragen, ob er auch einen wolle. Auf dem Gang hatte sie sich nicht noch einmal umgedreht.

Ihr fester Hintern unter dem grauen Stoff hätte gut in der Hand gelegen.

Fumio Onishi war dann ebenfalls aufgestanden und hatte vorsichtig seinen schwarzen Rollkoffer aus der Gepäckablage gehoben. Eine Frau mit zwei schlecht erzogenen Kindern hatte von hinten gedrängelt. Er war in die Sitzreihe ausgewichen und hatte sie vorbeigelassen, desgleichen ein Pärchen, das von der Liebe zueinander vollständig absorbiert gewesen war. Auf der Gangway hatte er gesehen, wie die Holländerin das kurze Stück zu den Bussen gerannt war, so dass sie den ersten bekommen hatte, wohingegen er mit dem zweiten hatte vorliebnehmen müssen. So oder so war der Zeitpunkt, etwas mit einer Frau anzufangen, ungünstig. –

Der Fahrer nahm die Kurve zum Terminal reichlich schnell. Der Ausfallschritt des Rentners neben ihm hätte seinen Koffer mit voller Wucht erwischt, wäre Fumio Onishis Unterschenkel nicht aus einem unendlich oft trainierten Reflex heraus dazwischengefahren. Mit nachlassendem Schrecken spürte er einen leichten Schmerz in der Wade.

Der Bus hielt, die Bodenfläche wurde seitlich abgesenkt, ehe die Türen sich öffneten. Alle hatten es mit einem Mal eilig. Für Fumio Onishi hingegen spielte es keine Rolle, ob er eine Stunde früher oder später in der Wohnung ankam. Abgesehen davon, dass die Schlange für Reisende aus Nicht-EU-Staaten ohnehin kurz war: zehn Leute, ein Schwarzer, der Rest Asiaten, außer ihm selbst kein Japaner darunter. Der Grenzschützer gab die Ausweisnummer ein, schaute nach, ob etwas gegen ihn vorlag, prüfte die Ähnlichkeit zwischen ihm und seinem Bild, knallte den Stempel übertrieben laut aufs Papier und gab ihm den Pass zurück.

Obwohl er die Prozedur schon hundertmal hinter sich gebracht hatte, spürte er jedes Mal Erleichterung, wenn sie ohne Komplikationen verlaufen war.

Die Holländerin stand am Gepäckband und tippte etwas in ihr Telefon. Er versuchte halbherzig, einen letzten Blickkontakt herzustellen, doch sie bemerkte ihn nicht. Da er keinen Koffer eingecheckt hatte und nicht interessiert genug war, um so zu tun, als ob er wartete, ging er an den Zöllnern vorbei durch den Ausgang für Passagiere, die keine anmeldepflichtigen Waren mit sich führten.

Vor der Tür zündete er sich eine Zigarette an und saugte den Rauch bis in die hintersten Verästelungen seiner Lunge. Das Gefühl grenzenloser Fülle, das noch in den Kapillargefäßen der Fingerspitzen zu spüren war, entspannte ihn. Er überlegte, ein Taxi zu nehmen, entschied sich dagegen und bog auf den überdachten, linkerhand durch eine Glaswand geschützten Betonweg Richtung Bahnhof. Zwei südeuropäische Musiker, einer mit Akkordeon, der andere mit Klarinette, pausierten gerade. Zwanzig Meter von ihnen entfernt schlug ein bärtiger Rucksacktourist stark angetrunken auf seine Gitarre ein und sang »Like a rolling stone«. Ein paar Schritte weiter kniete eine alte Frau mit kleinteilig gemusterten Röcken und weißem Kopftuch auf einer quadratischen Pappe und streckte ihm mit flehendem Blick die Hand entgegen. Er zertrat die Kippe im Gras neben dem Weg, griff in seine Hosentasche und legte der Alten die Münze hinein, die seine Finger erwischt hatten – ein Zwei-Euro-Stück. Er war überzeugt, dass es sich aufs Ganze gesehen günstiger auswirkte, wenn man Bettlern gelegentlich etwas gab, als wenn man es nicht tat. Nach dem Tsunami waren sie auch die Ersten gewesen, die Decken und Lebensmittel an Obdachlose verteilt hatten, lange bevor die Hilfsgüter der Regierung auf den Weg gebracht worden waren, dazu Bier – palettenweise Dosenbier –, um alles ein bisschen leichter zu machen.

Sein Telefon klingelte. Es zeigte weder Namen noch Nummer des Anrufers. Fumio Onishi zögerte, sah sich um. Niemand kam ihm entgegen. Der Abstand zu einer Gruppe braungebrannter Frauen, die kurz nach ihm das Terminal verlassen hatte, war ausreichend groß. Mit einem Schlenker des Handgelenks ließ er das Telefon fallen. Es schlug einen halben Meter vor ihm auf den Boden, sprang kurz auf, einen Sekundenbruchteil später krachte sein Absatz auf das Display. Das Gehäuse brach entzwei, schwarze und weiße Plastiksplitter mischten sich mit grünen Platinenstückchen, kurzen Drähten, Lötzinn. Er bückte sich, hob es auf, zog die Karte heraus, steckte sie ins Münzfach seines Portemonnaies, schaute sich erneut um. Die Bettlerin hatte ihn gesehen, tat aber so, als wäre nichts gewesen. Sonst niemand. Vor der Treppe zur Unterführung warf er die zertrümmerten Reste in den Müll. Ein Gefühl der Entlastung, für das es keinen Grund gab. Er nahm seinen Koffer und stieg gemessenen Schritts die Stufen hinunter.

Unten leuchteten ihm Werbung für Emirates, Urlaub auf den Malediven und ein griechischer Tempel vor makellos blauem Himmel entgegen. Er hatte Hunger, und er brauchte ein neues Telefon. Rechterhand gab es einen Kiosk, in dem sie neben Zeitungen und kalten Getränken auch belegte Brote, Schokoriegel und frische Brezeln verkauften. Gute Brezeln gab es nur in Deutschland. Er schaute zwischen den beiden Verkäuferinnen, einer mit lackschwarz gefärbten und einer mit blond gesträhnten Haaren, hindurch, während er bezahlte und die lauwarme, in eine Serviette geschlagene Brezel entgegennahm.

1. Auflage

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