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Wo Träume aus Feuer und Sand entstehen
Murano, 1893: Eine gute Partie zu machen interessiert Orietta Volpato wenig. Als rebellische Tochter einer venezianischen Glasbläserfamilie träumt die Zwanzigjährige vielmehr davon, eines Tages den Betrieb der Familie zu übernehmen. Ihr großes Idol ist die einflussreiche Salondame Sibilla Veridiani. Orietta tut alles dafür, eine der heißbegehrten Eintrittskarten zum Maskenball der Veridiani anlässlich des Karnevals zu ergattern. Kurz bevor sie ihrem schillernden Traum ganz nah ist, trifft sie bei einer Gondelfahrt auf einen mysteriösen Fremden, der ihr Herz ungewohnt höherschlagen lässt. Doch dann verspielen ihre Brüder die Manufaktur, und Orietta ist die Einzige, die das Erbe ihrer Familie jetzt noch retten kann. Trifft sie die falsche Entscheidung, könnte nicht nur ihr Leben in tausend Scherben zerspringen.
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Seitenzahl: 681
Auf der Insel Murano vor den Toren Venedigs stellen die Volpatos bereits seit Jahrhunderten das funkelnde Glas her, für das die Stadt in der ganzen Welt bekannt geworden ist. Doch dann steht die Familie plötzlich kurz davor, alles zu verlieren. Die älteste Tochter Orietta sieht nur noch einen Ausweg: Sie muss in den erlesenen Zirkel der gefeierten Salondame Sibilla Verdiani aufsteigen. Deren Einfluss könnte den Volpatos zu internationalem Ruhm verhelfen und sie damit vor dem Verlust ihres traditionsreichen Geschäfts bewahren. Aber in einer Welt voller Machtspiele und Intrigen hat jeder Gefallen seinen Preis. Als Orietta ihrer großen Liebe begegnet, ahnt sie noch nicht, dass sie schon bald vor einer unmöglichen Wahl stehen wird …
Jessica Amankona wurde 1987 in Osnabrück geboren, und wuchs in einem Frauenhaushalt mit vier Schwestern und ihrer Mutter auf. An der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster studierte sie spanische und französische Philologie. Neben dem Schreiben führt sie auf Instagram einen wachsenden Buch-Blog, und wenn sie nicht gerade selbst fiktive Welten erschafft, träumt sie sich gerne in ferne Zeiten oder Länder. Für ihren Debütroman Das Vermächtnis von Murano hat sie akribisch recherchiert, und ist selbst auf den Spuren der Glasbläser durch die Gassen Venedigs gestreift.
JESSICA AMANKONA
ROMAN
WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN
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Originalausgabe 06/2024
© 2024 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Tamara Rapp
Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design unter Verwendung von © Akg-images (akg-images), Bridgeman (Alinari Archives, Florence), Shutterstock.com (kzww, Tama2u, OlgaBegak)
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-29897-5V002
www.heyne.de
Für meine Mama Gabriele, von der ich mein kreatives Talent geerbt habe
Mein Liebster …
O du mein Geliebter …
Verehrter Francesco …
Sie wusste nicht einmal, wie sie beginnen sollte. Enerviert ließ Orietta den Kopf auf die Tischplatte sinken. Mit fünf kleinen Schubladenkästchen, einem verschließbaren Rollo und vier schlanken Holzbeinen sah ihr Sekretär aus wie ein kleines Klavier aus Nussbaumholz, und das dumpfe Pochen, das bei der Berührung mit Oriettas Stirn entstand, erfüllte sie beinahe mit demselben Unmut, wie es der Zusammenklang vieler gleichzeitig falsch angeschlagener Tasten getan hätte. Die Angst, den Brief nicht mehr rechtzeitig fertig zu bekommen, ließ ihre Ohren heiß werden.
Doch sie war ja selbst schuld.
Tagsüber hatte die Arbeit in der Glaswerkstatt Vorrang. Heute etwa hatte sie den Transport eines Kronleuchters aus changierendem Muranoglas von der Glashütte der Familie Volpato zum Palazzo eines noblen Kunden im Sestiere San Polo, Calle del Paradiso, begleitet. Eine halbe Stunde lang hatte sie zitternd neben der Fracht auf der kalten Bank eines Vaporettos gekauert, doch das Verfahren, das dem Leuchter in einem riesigen, mit Wasser gefüllten Fass die risikoarme Fahrt durch das enge innerstädtische Kanalgeflecht ermöglichte – und das ihrem Einfall zu verdanken war –, hatte sich auch dieses Mal wieder bewährt. Anders als in einem mit Watte gepolsterten Karton konnte der achtarmige Leuchter auf diese Weise weich in seiner Verpackung treiben, statt auf einem sperrigen Lastenwagen über das Pflaster zu holpern. Abends wiederum wanderte sie – manchmal sogar noch in ihren Träumen – die deckenhohen Regale und Vitrinen ab, die beim kleinsten Lichteinfall eine funkelnde Schatzhöhle aus dem Warenlager machten. Wann sollte sie also Zeit haben, irgendwelche Gefühle zu Papier zu bringen?
Zur Unterstützung rief sich Orietta nun ihre Schilderungen aus den vorherigen Briefen ins Gedächtnis, und schon bald kratzte die Feder wieder über das Papier. Zunächst zaghaft, dann immer entschlossener füllte sie zwei Seiten mit ihrer verschnörkelten Handschrift. Gerade hatte sie den Abschiedsgruß unter das Ende gesetzt, als ein kurzer Blick auf die Wanduhr sie daran erinnerte, endlich zusammenzupacken und nach unten zu gehen. Sie fixierte die eingerollten Seiten mit einer rosafarbenen Satinschleife, dann gab sie einen Pumpstoß Rosenduft in die Luft und schwang den Brief hindurch. Bereits aus dem Zimmer geeilt, kehrte sie noch einmal zu ihrem Schreibtisch zurück und parfümierte auch ihr geflochtenes dunkles Haar, das wenigstens duften sollte, wenn es schon so zerrauft von ihrem Kopf abstand. Ihr letzter Griff ging zum Wintermantel, den sie sich auf der Treppe überzerrte, während sie nach unten lief und aus der Ladentür schlüpfte. Die eine Hand noch am Knauf, schoss die andere bereits hoch an das dort schaukelnde Windspiel. Kein Geräusch der Welt war für Orietta so sehr verknüpft mit ihrem Leben und ihrer Familie, denn seit sie sich erinnern konnte, erklang tagsüber die sanfte Melodie der mundgeblasenen Glastropfen, wenn Kunden eintraten. Jetzt in der Nacht jedoch hätte der glockenhelle Klang der gesamten Nachbarschaft ihren heimlichen Ausflug verkündet, also hielt Orietta das kühle, bunt schillernde Glas behutsam fest. Während das Windspiel längst zur Ruhe gekommen war, hämmerte Oriettas Herz noch immer in ihrer Brust.
Sie betrat die schmale Gasse zwischen dem Nebengebäude und dem Glaswarenladen ihrer Eltern, wo sich in den oberen beiden Geschossen die Wohnung und unten die Ladenfläche befand. Schnellen Schrittes ließ sie das Schaufenster mit der Markise und dem »Geschlossen«-Schild hinter sich, den Schriftzug, der in großen Lettern über dem Eingang auf der rot getünchten Wand angebracht war und allen Passanten und Besuchern mitteilte, wer hier Unikate aus Glas zum Verkauf anbot: die Vetreria Volpato.
Vom Ufer des Hauptkanals aus, der wie eine Lebensader die Insel durchzog, fiel ihr schwaches Licht vor die Füße. Es begleitete sie ein paar Schritte weit, doch dann endete der Kegel, und Orietta tauchte in die Dunkelheit. Wie heranwallenden Rauch, den man erst wahrnahm, wenn er einen bereits von allen Seiten umhüllte, bemerkte Orietta die Gestalt vor sich nicht, bis ihr deren Parfüm in die Nase stieg. Das Treffen fand auf Oriettas eigenen Vorschlag hin nachts in einer Gasse und nicht auf einem öffentlichen Platz oder in der Vetreria statt, zum einen, um Gerüchte zu vermeiden, zum anderen aus Scham vor ihren Brüdern Jacopo und Giovanni.
»Ich habe den Brief«, sagte sie schließlich. Nicht sehen zu können, mit wem sie sprach, schickte ein aufregendes Kribbeln durch ihren Körper. »In jeder Zeile steckt Herzblut. Darauf haben Sie mein Wort.« Wie aus dem Nichts schlossen sich Finger um die verschnürte Papierrolle, die Orietta nach vorne hielt und die sie so schnell nicht hatte loslassen wollen – jedenfalls noch nicht. Auffordernd streckte sie die andere Hand aus. »Für meine Mühen.«
Es raschelte geheimnisvoll in der angespannten Stille, und kurz darauf entfachte ein Streichholz fauchend eine kleine Flamme, die, in eine Laterne gesperrt, den Bereich um Orietta und ihr Gegenüber erhellte. Die beliebteste Damenmaske im venezianischen Karneval, die Colombina, starrte ihr entgegen, und während sie die obere Gesichtshälfte der Unbekannten bedeckte, ließ sie einen feinen rosigen Mund und ein spitzes Kinn frei. Die Kapuze eines Überwurfes aus dunkelblauen Seidentaft verbarg das Haar seiner Trägerin und wies sie durch den modischen Schnitt und neuartigen Zustand als Dame der oberen Schicht aus. Vielleicht war es eine Diplomatentochter, die sich am Hafen in einen Arbeiter verguckt hatte. »Erst möchte ich mich von der Qualität Ihrer Fähigkeiten überzeugen«, sagte die Unbekannte auf jene freundliche, aber gebieterische Weise, mit der eine Hausherrin ihre Untergebenen anweist. Ihr Blick huschte ängstlich durch das Gässchen, doch da sich offenbar niemand zum Lauschen angepirscht hatte, kehrte er rasch zu Orietta und dem Liebesbrief zurück; die vornehme Stimme war nun von Sehnsucht und Hoffnung durchdrungen. »Wird er bald nach mir suchen?«
Orietta lächelte. »Er ist Ihnen bestimmt bereits mit Haut und Haaren verfallen.« Sie löste die Satinschleife, glättete das Papier und hielt es ihrer Kundin gerade so nah vor Augen, dass diese davon ablesen konnte. »Trifft der Ton Ihren Geschmack?« Obwohl sie sich für eloquent hielt, blieb doch immer ein Rest Unsicherheit. Aber vielleicht war es gerade ihre eigene Verletzlichkeit, die sie so empfänglich für die Zerrissenheit ihrer Kundinnen machte.
»Signorina Lettrista, ich bin Ihnen zu tiefem Dank verpflichtet. Sie sind ein wahrer Geheimtipp! Hier, nehmen Sie!« Die Kundin schüttete ein paar Münzen aus der kleinen Beuteltasche, die von ihrem Handgelenk baumelte, in Oriettas Hand. Plötzlich konnte sie nicht schnell genug die vereinbarten dreißig Centesimi loswerden und den Brief an ihre Brust pressen. Es war ohnehin ein geringer Betrag und nur die Hälfte von dem, was die Dame für eine Rundfahrt mit der Gondel durch den Canal Grande zahlen würde. Kurz spielte Orietta mit dem Gedanken, eine nachträgliche Gebühr zu erheben, doch die Preise für Glaswaren richteten sich ja auch nicht nach den Bankkonten der Käufer. Diese waren beständig und ehrlich, genauso, wie Orietta auch selbst sein wollte. Sie würde sich nicht an unerwiderter Liebe bereichern. Das Gefühl, übersehen zu werden, war, wie sie aus eigener Erfahrung wusste, schon Qual genug. Nur leider überstieg aufgrund ihrer großen Leidenschaft, des Verfassens von Essays, ihr Papierverbrauch das ohnehin schon großzügige Budget, das ihre Eltern für ihre Bildung angesetzt hatten. Also musste sie für die Auftragsbriefe eine kleine Entschädigung nehmen, zumindest so viel, dass es ihre Materialkosten deckte.
»Ich habe zu danken«, sagte sie und deutete eine Verbeugung an. »Vielleicht geben Sie mir für den nächsten Auftrag etwas mehr Zeit? Und was die Geheimhaltungspflicht betrifft: Sie dürfen mich gern an eine Freundin weiterempfehlen. Arrivederci!«
»A presto!«
Orietta folgte der Kundin mit den Augen, bis die Laterne nur noch ein winziges Glimmen in der Ferne war, dann trat sie an ihrem Ende der Gasse wieder auf die beleuchtete Fondamenta, jenen Gehweg vor der Vetreria, der dank einer der Hauptanlegestellen tagsüber von Touristen überschwemmt wurde. Wie ein steinerner Silberstreif führte er am Wasser entlang, wurde hier von ausladenden Markisen überdacht, mündete dort in schmale Arkadengänge. Plötzlich und ohne dass sie ihn bemerkt hätte, hakte sich Jacopo an ihrem linken Arm unter, Giovanni ergriff ihren rechten. Beide wirkten sehr zufrieden mit sich, und so zwischen ihnen eingekeilt, wurde Orietta klar, dass ihre Brüder vielleicht doch am Ende der Gasse gestanden und das ganze Gespräch mit angehört hatten.
»Solltet ihr nicht in euren Betten liegen? Der Schmelzofen nimmt keine Rücksicht auf Müdigkeit.«
»Und solltest du nicht deinen Verstand darauf verwenden, einen Ehemann zu finden?«, konterte Giovanni, und Jaco fügte hinzu: »Und zwar für dich selbst, anstatt schlecht gekleideten Adelstöchtern das Geld aus der Tasche zu ziehen?«
»Immer noch besser, als es zum Fenster rauszuschmeißen.« Sie versuchte sich aus dem brüderlichen Schraubstock zu winden, doch natürlich war sie machtlos gegen die stählernen Muskeln ihrer Brüder, die sie beide dem stundenlangen Hantieren unter mühsamen Bedingungen verdankten. Ihnen erklären zu wollen, dass das Verfassen von Briefen eine Dienstleistung wie jede andere war, schien aussichtslos. »Unterhalten wir uns drinnen weiter. Oder wollt ihr die ganze Nachbarschaft aufwecken?«
Jaco schien die Verlockungen eines solchen Spektakels kurz in Erwägung zu ziehen, doch Giovanni wandte sich bereits wortlos zum Eingang und hielt Orietta die Tür auf.
Er und seine heuchlerischen Manieren!
Sie strafte ihn mit einem giftigen Blick, dann marschierte sie in den Laden. Als beide Brüder ihr unmittelbar folgten, stieß sie einen leisen Seufzer aus. Im Schutz ihres Zuhauses würde sich keiner von ihnen zurückhalten – auch Orietta nicht. Am besten, sie ergriff gleich die Initiative. »Na und, ich verfasse also Liebesbriefe für verzweifelte Damen.«
Doch wo Jaco sie nur ein wenig triezen wollte, ging es Giovanni um etwas viel Ernsteres: um ihre Abneigung gegenüber der Ehe und den Verzicht auf Selbstentfaltung, den dieses Resultat erfordern würde.
»Von einer jungen Frau in deinem Alter wird erwartet, dass sie sich einen würdigen Mann sucht und ihren eigenen Hausstand gründet.« Er musterte sie abwartend, die Hände hinter dem Kopf verschränkt.
Orietta setzte eine ungerührte Miene auf. Dass sie dem Titel der ältesten Tochter nicht gerecht würde, hatte sie mit Flavias aufblühender Schönheit erkannt. Und spätestens seit allen klar war, dass ihre jüngere Schwester irgendwann über ihrem Stand heiraten und der Familie Status verleihen würde, hatte sie ihre eigenen Defizite auch akzeptiert. Mit ihren Brüdern konnte sich Orietta allein schon deshalb nicht messen, weil die beiden das Glasblasen erlernen durften und sie nicht. Ihnen wohnte im Hinblick auf das Geschäft ein unersetzlicher Mehrwert inne. Sie dagegen war austauschbar, auch wenn sie sich bemühte, die Geschäfte auf ihre Weise zu unterstützen. Doch das hätte sie bestenfalls in einem ruhigen Moment zugegeben. In Streitsituationen wie dieser war sie froh, Giovanni in die Augen schauen zu können, ohne sich den Hals verrenken zu müssen. Bei den vielen Punkten, in denen sie konkurrierten, war ihre hochgewachsene Statur wenigstens die eine Sache, in der er sie nicht ausstechen konnte.
»Wer erwartet, dass ich das Handtuch werfe? Mamma? Papà?« Sie verzog das Gesicht. »Zu heiraten würde bedeuten, meine Stellung im Betrieb aufzugeben.« Und diesen Traum, irgendwann ihren Platz in diesem Familienbetrieb einzunehmen, und zwar als Teil der Geschäftsführung – jemand, der entschied und lenkte und nicht nur freundlich nickte und folgte –, konnte sie nicht aufgeben. Auch wenn ihr eine leise Stimme zuraunte, dass solche Positionen nicht für Töchter, Mütter oder Schwestern vorgesehen waren. »Das letzte Mal, als unsere Eltern mit mir über meine ausbleibenden Verehrer sprachen, haben sie tags darauf die Zahl meiner Unterrichtsstunden erhöht. Ich habe den Eindruck, sie möchten, dass ich meine Anstrengungen lieber in gute Bildung investiere, statt mir einen Mann anzulachen.«
»Ja, kein Zweifel, dürftest du offiziell an einer Universität studieren, hättest du schon ein ganzes Studium abgeschlossen. Wie viel Wissen möchtest du denn noch anhäufen? Vor allem: wozu? Mathematik, Geschichte, Fremdsprachen – du bist schlauer als jeder andere Mensch, den ich kenne.« Giovanni löste die Hände aus seinem Nacken, und kurz wusste sie nicht, ob er vorhatte, ihr tröstlich die Schulter zu drücken – und falls ja, ob sie es zulassen oder sogar willkommen heißen würde. Sie folgte der Bewegung seiner Hände mit den Augen, sah dabei seinen Siegelring mit dem Volpato-Emblem aufblitzen und verspürte sofort wieder den altbekannten Stich der Unzulänglichkeit.
Mit seinem attraktiven Äußeren konnte ihr Bruder sich gar nicht in ihre Lage versetzen. Die ledigen Töchter Muranos hielten ihn mit seinen sechsundzwanzig Jahren für einen hervorragenden Fang. Und wo die sichtbaren Attribute ihrer Vorfahren, inklusive der dominanten Nase, in Oriettas schmalem Gesicht unangenehm auffielen, verliehen sie ihren Brüdern Männlichkeit. Einzig Flavia, die blond, klein und weich war, schlug von den Geschwistern nach ihrer Mutter. Ihr Körper erinnerte an die kindliche Fülle von Raffaels Engel, während Orietta in die Höhe ragte wie ungekochte Spaghetti in einem Kochtopf.
»Unsere Eltern haben dich vielleicht aufgegeben.« Giovanni drückte ihr Handgelenk. »Aber ich werde das nie.«
Mit einer wütenden Bewegung machte sie sich von ihm los. »Ich brauche keinen Versorger. Und wenn ich jemals doch heiraten sollte, dann aus Liebe.«
Sein Gesichtsausdruck wurde sanft. »Du weißt doch, es verkaufen sich nicht alle Glasunikate gleich schnell … vielleicht sind die Ladenhüter sogar die wertvollsten Artikel aus unserem Sortiment. Mit ihnen dürfen wir die meiste Zeit verbringen, und an ihrer Einzigartigkeit erfreuen wir uns am längsten. Kopf hoch!«
Oriettas Nasenspitze begann zu kribbeln, hinter ihren Augen baute sich ein lästiger Druck auf. Doch von Giovannis tröstenden Worten ließ sie sich nicht täuschen. Was er nämlich nicht auszusprechen wagte, offenbarte sich in seinem mahlenden Kiefer und seiner Unfähigkeit, ihr noch länger in die Augen zu schauen: Er hielt einen baldigen Heiratsantrag für genauso unwahrscheinlich wie der Rest der Familie. Dennoch würde er erst ruhen, wenn sie ihrer Pflicht nachgekommen war. Dass er glaubte, dabei ginge es allein um Heirat, traf sie tief und machte sie wütend.
»Gut zu wissen, wie sehr du meine Gesellschaft genießt. Dann bemühe ich mich, dir und dem Unternehmen möglichst lange erhalten zu bleiben.« Mit einem Anheben ihres Kinns forderte sie ihren anderen Bruder heraus. Wenn Jaco sie ebenfalls zur Ehe drängen wollte, dann sollte er jetzt sprechen oder sich ein für alle Mal aus dem Streit heraushalten.
Doch Jaco, der eben noch grinsend dem Disput gelauscht hatte, hob die Hände und wich vor ihr zurück, als hätte sie nach einer Kristallvase gegriffen. Tatsächlich schillerten ein paar ausgewählte Stücke auf hüfthohen Säulen und Pilastern inmitten der Ladenfläche wie die bunten Blumenkästen auf Venedigs Dachgärten. Die meisten der Vasen hatte Jaco geschaffen, kein Wunder, dass er fürchtete, sie könnte ihm eines seiner Meisterstücke an den Kopf werfen. »Eine starke Frau, die mit Worten umzugehen weiß wie keine zweite.« Er pfiff anerkennend durch die Zähne. »Hör bloß nicht auf zu schreiben, Ori. Und lass dich nicht von uns ärgern.«
Giovanni knurrte zustimmend, denn obwohl ihre Unangepasstheit immer wieder zu Reibereien zwischen ihnen führte, schien ihr Bruder sie auch zu einem gewissen Grad für ihre Freiheitsliebe zu bewundern. Leider reichte diese Bewunderung nicht aus, um sie ein für alle Mal mit dem Thema Ehe in Ruhe zu lassen. Orietta schnaubte. »Ihr besitzt überhaupt nicht die Macht, mich zu ärgern.«
»Gut, denn die Diskussion ist noch nicht beendet. Ich hoffe, mit deinen bald einundzwanzig Jahren bist du reif genug, in aller Ernsthaftigkeit über deine Zukunft nachzudenken.«
»Oh, glaub mir, ich habe nachgedacht.«
»Für wen war eigentlich der Brief, den du verfassen solltest?«, ging Jaco plötzlich dazwischen. Er schien die Anspannung zwischen ihnen nicht länger zu ertragen und schob sich vor Giovanni.
Der stieß einen Seufzer aus und wandte sich ab.
Orietta straffte die Schultern. »Gute Nacht.« Damit drehte sie sich um und schritt so würdevoll zur Treppe, wie sie es fertigbrachte.
»War der Brief etwa für mich?«, rief Jaco ihr nach.
Giovanni entfuhr ein unterdrücktes Lachen, und Orietta blieb wie angewurzelt stehen. Als sie sich umsah, zuckte ihr kleiner Bruder die Achsel. »Ich habe schon welche bekommen. Der letzte ist eine Weile her, aber sie ähneln sich alle in ihrem schwülstigen Ton. Ohne dich bin ich eine unfertige Vase, die sich nach Vollendung sehnt. Innerlich verglühe ich. O Geliebter, nimm meine Liebe, verschmelze sie mit deiner, und lass uns Muranos schönstes Meisterwerk sein …« Trotz seines spöttischen Tons rieb er sich anschließend verlegen den Nacken. »Es wäre schon seltsam, wenn das von dir stammen würde.«
Orietta funkelte ihn an. »Ich beschreibe nur, was meine Kundinnen empfinden. Wenn du keine Liebesgeständnisse lesen möchtest, solltest du vielleicht seltener den Röcken der Nachbarschaft hinterherjagen.«
»Wie? Du gibst es zu?« Giovanni schloss ungläubig zu ihr auf. Wenn sie ihm nicht ausgewichen wäre, hätte er sie sicher an den Schultern gepackt und geschüttelt.
»Kümmert euch um eure Angelegenheiten!« Ihre Wangen prickelten auf einmal vor Hitze, als stünde sie zu nah am Brennofen.
»Und wer ist X?« Nun war auch Jaco in Fahrt. »Du unterzeichnest immer mit X!«
»Das X steht für unbekannt …«, warf Giovanni ein, aber Jaco fuhr bereits fort: »Erwarten die Damen denn keine Antwort von mir? Dafür müssten sie nämlich ihre Identität preisgeben.«
»Ich fürchte, so interessant bist du dann doch nicht«, schnaubte Orietta.
Doch daran lag es natürlich nicht. Vielmehr galt wohl die alte Regel, dass ein verschlossenes Herz zwar nicht erhört, aber auch nicht verletzt werden konnte, und so groß die Schwärmerei auch war: die Arbeitertöchter Muranos konnten es sich nicht leisten, sich eine derartige Blöße zu geben und vom einem der begehrtesten Junggesellen der Insel offen zurückgewiesen zu werden.
Endlich ließ Orietta ihre beiden Brüder im Laden stehen und nahm wortlos die Treppe.
In der folgenden Nacht war sie vorsichtiger und wartete, bis das ganze Haus schlief. Dann erst schlich sie wieder hinaus und zog die schwere Holztür hinter sich zu. Heute musste sie keinen Liebesbrief überbringen.
Ihr Ziel war vielmehr der Schaukasten am Campo San Bernardo. Vergleichbar den Boche de Leon, den sogenannten Löwenmäulern, die sich seit dem Bau des Dogenpalasts um 1400 als Beschwerdebriefkästen um die Piazza tummelten, sammelte der Schaukasten am Campo schon immer die brisantesten Nachrichten Muranos: Verlobungen, Trennungen, Skandale – der neueste Tratsch, auf Blättchen gekritzelt, wurde hier den neugierigen Augen der Gesellschaft preisgegeben, auch wenn nicht alle reißerischen Gerüchte der Wahrheit entsprachen. Manche zielten nur darauf ab, den Ruf eines verhassten Nachbarn zu zerstören. Ein kalter Wind zog um Oriettas nackte Waden, und sie blickte sich misstrauisch um. Ihre Brüder würden sie bloß wieder auslachen, wenn sie sie noch einmal auf der Straße erwischten und hinter den Grund für ihren heimlichen Ausflug kämen. Und ihre Eltern? Sie konnte sich ausmalen, wie Angelica und Emilio Volpato die Nachricht von ihrer Tochter aufnehmen würden, die in Nachthemd und Stiefeln, nur mit einer Laterne bewaffnet, einem Hirngespinst nachjagte. Ohne Zweifel mit Tadel und Spott. Vielleicht hätten sie es auch auf den bevorstehenden Karneval geschoben, der seit einigen Jahren wieder in Venedig gefeiert werden durfte, sich jedoch längst noch nicht wieder zu dem Spektakel aufgeschwungen hatte, das er vor Napoleons Herrschaft gewesen war. Und ganz unrecht hätten ihre Eltern mit dieser Vermutung auch gar nicht gehabt.
Wie nicht anders zu erwarten, hatte das Ereignis die Gespräche und Zeitungen bereits seit Wochen fest im Griff. So lange war der Markusplatz nicht mehr von der altbekannten Vergnügungslust erfasst worden, und jetzt rief man sich in den Gassen von Fenster zu Fenster und über die vollen Wäscheleinen hinweg Kostümvorschläge zu. Endlich würden mit dem bunten Treiben, das damals zu Zeiten der Dogen unglaubliche sechs Monate angedauert hatte, auch wieder Gäste in die Stadt finden, die ihr sonst fernblieben: Künstler, Intellektuelle, internationale Berühmtheiten. Eine von ihnen war Sibilla Veridiani, der Grund für Oriettas Aufregung. Die römische Adelige führte einen weltweit bekannten Salon, wo sie fortschrittlich denkende Köpfe zusammenbrachte und heikle Themen wie den Einfluss der französischen Frauenbewegung besprach. Um sie versammelten sich Menschen, die sich normalerweise außerhalb von Oriettas Reichweite bewegten und deren Essays sie las und liebte. Obwohl Sibilla Veridiani verwitwet war, übte sie nun mehr Einfluss auf die Gesellschaft aus als noch zu Lebzeiten ihres Mannes. Es war ihr Salon, der als Erster auf dem Austausch mit anerkannten Schriftstellerinnen, Mathematikerinnen, Astronominnen oder auch Opernsängerinnen geradezu bestand. Und waren die Soireen der Veridiani in den Zeitungen zunächst als groteske Neuheit betitelt worden, so räumten mittlerweile selbst die hartnäckigsten Kritiker ein, dass die Frau wohl doch auf dem gleichen geistigen Niveau stand wie der Mann.
Sie war das Idol vieler junger Frauen. Doch was Orietta am meisten an der Salondame imponierte: Sie redete nicht nur hinter den sicheren Wänden ihrer Palazzi, sondern setzte ihre Überzeugungen auch in die Tat um. Ihr gegenwärtiges Projekt, der geplante Bau eines Kinderhauses – eine Schule für schlechter gestellte Jungen und Mädchen, wo nach den Methoden einer für Furore sorgenden Reformpädagogin gelehrt werden sollte –, war schon jetzt in aller Munde, auch wenn man mit der Eröffnung frühestens nach der Jahrhundertwende rechnen durfte. Mit ihren vierzig Jahren stand Sibilla Veridiani für freie Entfaltung und Gleichberechtigung, eine Zukunft, die Orietta bis vor Kurzem unzugänglich und fern erschienen war. Doch mit dem Karneval war ihr Ziel glücklicherweise nun ein ganzes Stück näher gerückt.
Während Orietta stramm am Ufer entlang marschierte, schlängelte sich neben ihr das tiefschwarze Wasser in sanfter Biegung auf den Horizont zu, nur um dort mit den letzten Wohnhäusern zu verschmelzen. Dicht aneinandergedrängte rötliche, manchmal auch rosa verputzte Backsteinfassaden schienen auf dem Meer zu schweben, die breiten Steinfundamente davor dienten als Bürgersteige für Spaziergänger sowie als Anlegestelle für Vaporetti und Traghetti. Um die vereinzelt aus dem Wasser ragenden Holzpfähle wippten angebundene Gondeln auf den Wellen. Die spiegelnde Oberfläche brach sich im Wind und schillerte wie tausend Glasperlen. Wie hätte Murano je etwas anderes werden können als die Insel der Glasbläserei?
Nebel stieg vom kalten Meerwasser in den Himmel und drückte der Atemluft seinen salzigen Stempel auf. Er brachte Oriettas Glieder in dem dünnen Nachtkleid noch stärker zum Zittern, aber nun hatte sie ihr Ziel schon fast erreicht. Ihre Absätze klapperten auf dem Pflaster, der eigene Puls pochte ihr in den Ohren, und der Geruch von Salz, Algen und Brackwasser, der Duft Venedigs, geleitete sie durch die Gassen. Hin und wieder blickte sie sich um, vergewisserte sich, dass ihr niemand folgte, doch stets war es nur ihr eigener Schatten, der sie im Licht der spärlichen Straßenlaternen überholte. Auf Murano war das Stadtbild, anders als rings um den Markusdom, nicht von Diebstählen und Überfällen geprägt, aber eine Frau durfte sich trotzdem keine Unachtsamkeit leisten, besonders wenn sie ohne Begleitung unterwegs war. Orietta hatte zur Verteidigung ihren Stiefelabsatz, die gusseiserne Laterne und – falls das nicht reichte – ihr lautes Mundwerk. Vor allem mit Letzterem hatte sie bisher noch jeden Mann in die Flucht geschlagen, wenn auch nicht immer mit Absicht.
Wie ein zu dichtes Gewebe lag eine unheimliche Stille über dem Campo San Bernardo. Eigentlich hatte Orietta damit gerechnet, um diese Uhrzeit niemanden anzutreffen, schließlich mussten die Handwerker schlafen, wenn sie am nächsten Morgen wieder Glanzleistungen vollbringen wollten, doch der Hauptplatz von Murano schien wie die Brennöfen in der Glashütte ihrer Familie zu sein: nie ganz leer. Hier und dort lungerten vereinzelte Gestalten in Kneipeneingängen herum oder schlurften über das Pflaster. Manche schauten in ihre Richtung, prosteten ihr aus der Ferne zu. Fröstelnd zog sie die Schultern hoch und gab sich möglichst unbeteiligt. In der geschützten Ecke einer Hauswand entdeckte sie den unscheinbaren Schaukasten, der verantwortlich war für so viele Tränen und schamrote Wangen. Befestigt werden konnte hier, neben den offiziellen Schreiben der Stadt, im Grunde jede Skandalschrift, und wer im Schutz der Nacht oder im Gedränge handelte, konnte leicht einen solchen Zettel anbringen und unerkannt bleiben. Da sich in der Regel also niemand dabei beobachten ließ, hatte sich um die Identität der prominentesten Gerüchtetreiber selbst mittlerweile ein Netz aus Gerüchten gesponnen. Orietta musste aufpassen, dass sie nicht den Eindruck vermittelte, etwas in den Kasten zu hängen – und durfte sich, insbesondere nicht in ihrem Aufzug, davor erwischen lassen. Eilig hob sie ihre Laterne an die Scheibe, suchte nach dem neuesten Aushang und wurde beinahe augenblicklich fündig. Hinter kleineren Zetteln mit Botschaften wie: »Im Casino Venier spielen sie diesen Donnerstag mit besonderen Karten« und »Bekannte Klosterschülerin bringt Kutte zur Änderungsschneiderei – zehn Zentimeter breite Stoffeinsätze in der Taille!«, entdeckte sie die maschinell gedruckte Ankündigung, auf die sie so lange gewartet hatte:
Carnevale della Veridiani?
Alle unverheirateten Töchter Muranos aufgepasst!
Vertreterinnen der feinen Gesellschaft haben bestätigt: Die berühmte Salondame Sibilla Veridiani wird am Donnerstag vor Aschermittwoch, den 9. Februar 1893, um 16 Uhr, mit ihrem literarischen Zirkel und unter Darbietung eines wahren Spektakels in die Stadt einziehen. Man munkelt, dass eine glückliche Zuschauerin eine der heiß begehrten Einladungskarten zum ersten Maskenball am Canal Grande erhalten soll.
Orietta stieß einen unterdrückten Schrei aus. Sie hatte sich eigentlich nur vergewissern wollen, dass die Gerüchte um die Ankunft der Salondame stimmten, und sehen wollen, ob es endlich Hinweise auf den genauen Zeitpunkt gab. Aber das? Das war mehr, als sie zu hoffen gewagt hatte! Eine glückliche Zuschauerin. Aus einem Impuls heraus blickte sie über die Schulter und drehte dann mit zittrigen Fingern den kleinen Schlüssel an der Seite des Kastens. Noch immer zitternd vor Aufregung öffnete sie die Scheibe und nahm das Blättchen heraus. Ihre Chancen, die Auserwählte zu sein, standen weit besser, wenn sie die Einzige blieb, die von der Einladungskarte wusste. Schnell sperrte sie wieder ab und wandte sich zum Gehen. Fünf Schritte legte sie zurück, dann packte sie das schlechte Gewissen.
Wirklich, Ori? Hatte der Wunsch, Sibilla zu treffen, sie so überwältigt, dass sie dafür jegliche Moral vergaß? Sie zögerte, das Blatt in der Hand. Wer immer diese Botschaft verfasst hatte, hatte sie für die Augen der Öffentlichkeit ausgehängt, nicht für Orietta persönlich. Und überhaupt, was war nur in sie gefahren? Sie war nicht auf Tricks angewiesen, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Besaß sie nicht genug Köpfchen, um auch so an die begehrte Karte zu gelangen?
»Ach, verflucht«, murmelte sie und arrangierte den Zettel an dem Schaukasten wieder so, wie sie ihn vorgefunden hatte. Kurz wandte sie sich nach rechts, weil sie etwas gehört hatte, entdeckte aber niemanden und drehte eilig den kleinen silbernen Schlüssel wieder zurück. Dann würde sie morgen auf dem Markusplatz einfach ihr Bestes geben müssen.
»He, junge Dame!« Orietta fuhr zusammen.
Einer der Kneipenkerle torkelte auf sie zu. Ein Glasfacharbeiter. In seiner schwarzen Knopfjacke, der Schirmmütze und mit seinem vor Dreck starrenden Gesicht verschwamm er praktisch mit der Dunkelheit. Hoffentlich arbeitete er nicht für ihre Familie. Auf den ersten Blick zumindest erkannte sie ihn nicht.
»Was hast’n du da reingetan?«
»Nichts. Gar nichts.« Sie manövrierte in großem Bogen um ihn herum.
»Stimmt nicht, ich hab doch gesehen, dass du einen Zettel reingetan hast!«
»Du?« Sie lachte, um ihre Angst zu überspielen. »Du bist so besoffen, du siehst keinen braccio weit!«
»He, kein Grund, so unfreundlich zu sein. Hätte ja sein können, dass du ein Gesuch reingestellt hast. Vielleicht für’n Ehemann?« Er wankte ihr ein paar Schritte hinterher. »Siehst nämlich aus, als könntest du dabei Hilfe gebrauchen, nachlaufen werden sie dir wohl kaum, die Herren!«
Orietta blieb abrupt stehen, fassungslos. Dann packte sie die Laterne mit beiden Händen, so fest, dass diese ihr nicht entgleiten würde, wenn sie sie nach dem Widerling schwingen musste. Hatten die Menschen heutzutage nichts Besseres zu tun, als anderen ihre Meinung vor die Füße zu spucken? Sie war schon oft ausgelacht oder gehänselt worden – früher, von Kindern, als sie selbst noch eines gewesen war –, aber noch nie hatte ein Erwachsener die Dreistigkeit besessen, sie so offen als unansehnlich zu bezeichnen.
»Und du? Wer bist du, dass du nachts betrunken über den Campo schleichst und Frauen belästigst?« Sie wusste, dass sie sich damit eventuell in noch größere Gefahr begab, aber sie war zu wütend, um die Beleidigung einfach einzustecken. »Deinen Namen will ich wissen! Entschuldige dich, oder ich werde die Angelegenheit melden.« Sie marschierte, die Laterne voraus, drohend auf ihn zu.
Er hob die Hände und wich vor ihr zurück. »Verzeihung, Verehrteste! War doch nur’n Scherz. So schlecht siehste bei Licht gar nicht aus.« Er grinste und entblößte dabei eine Reihe unregelmäßiger bräunlicher Zähne.
Am liebsten hätte sie ihm die Laterne rechts und links um die Ohren gehauen. Für seine dreiste Frage, und mehr noch für den Spott, den er in seine halbherzige Entschuldigung legte. Aber sie riss sich zusammen und tat das Richtige. Mit ausgestrecktem Arm deutete sie in die Ferne. »Sieh zu, dass du wegkommst!«
Er zögerte nicht. Ein gemurmelter Fluch flog noch in ihre Richtung, dann machte der Mann kehrt und wankte davon.
Orietta bebte auf dem ganzen Weg zurück. Diese Wut war auch etwas Neues. Früher hatten solche Momente immer nur Tränen hervorgerufen, doch seit den Verkupplungsversuchen ihrer Familie und den damit einhergehenden Zurückweisungen mischte sich immer öfter ein brodelnder Zorn in ihre Empfindungen, der die altbekannte Traurigkeit allmählich vollständig verdrängte.
Mit jedem Schritt, den Orietta in Richtung ihres Elternhauses zurücklegte, schob sich wieder Sibilla Veridianis Ankunft in den Vordergrund ihrer Gedanken, und nach und nach wich ihr Ärger einer aufgeregten Vorfreude. Kurzerhand entschied sie sich, einen Schlenker zu machen und die Gasse zu nehmen, die an der Glasfabrik ihrer Familie vorbeiführte. Doch kaum hatte sie das von Wetter und Hochwasser gezeichnete, längliche Gebäude erreicht, das eng an die anderen auf der Straße anschloss, da bemerkte sie eine Gestalt. Mit gesenktem Kopf kam ihr ein Mann entgegen, die Mütze tief ins Gesicht gezogen.
Nicht schon wieder!
Orietta straffte die Schultern, bereit für die nächste Auseinandersetzung, doch im nächsten Moment erstarb ihr Kampfgeist. In Hosen und Mantel gekleidet, die langen gewellten Haare unter eine Schiebermütze gestopft, war die Gestalt zwar kaum zu erkennen, aber für Orietta bestand kein Zweifel: Es handelte sich um ihre Schwester.
»Flavia? Was tust du hier?«
»Dasselbe könnte ich dich fragen«, erwiderte Flavia, das ovale Gesicht vor Nervosität rot glänzend und der Blick eher ertappt als angriffslustig. In ihren blauen Augen glomm noch ein Funke, den sie Mühe hatte zu verbergen und den Orietta nicht ganz einordnen konnte.
»Ich hab zuerst gefragt.« Orietta verschränkte die Arme vor der Brust, und offensichtlich hatte sie die richtige Strategie gewählt, denn fast augenblicklich geriet Flavia in Erklärungsnot.
»Ach, du weißt schon. Das Übliche«, sagte sie und trat von einem Fuß auf den anderen. Als keine Erwiderung folgte und Orietta sie nur weiter prüfend musterte, gestand sie: »Gut, ich … habe eine Verabredung.«
»Was? Wer ist es?« In Oriettas Kopf begann es zu rattern. Es musste jemand sein, dessen Name verpönt war, ansonsten hätte Flavia sich schließlich untertags mit ihm blicken lassen können. Sie machte normalerweise kein großes Geheimnis um die wachsende Anzahl ihrer Verehrer.
»Ach, du weißt schon!«
Nein, sie wusste es nicht. Woher auch? »Du hast nie einen Favoriten erwähnt!« Oder auch nur irgendetwas, das einen nächtlichen Ausflug nötig machte. Und dabei vertraute ihr Flavia sonst alles an; mehr, als Orietta lieb war.
Nachdem sie alle Glasbläsersöhne im richtigen Alter aufgezählt hatte, und Flavia immer noch schwieg, kapitulierte sie. »Ich habe keinen blassen Schimmer, mit wem du dich rumtreibst.« Kaum hatte sie es ausgesprochen, fiel ihr etwas ein. »Santa Maria, ist es ein Adeliger?«
Flavia reckte ihre Stupsnase höher und lächelte. »Danke, dass du mir eine derartige Partie zutraust. Aber nein, leider nicht.«
»Jemanden aus der Zunft müsstest du doch nicht verstecken.«
Je länger Orietta ihre Schwester betrachtete, desto merkwürdiger erschien ihr plötzlich der jungenhafte Aufzug. Hätte sie sich für eine Verabredung nicht mehr herausputzen müssen? Ein ungewöhnlicher Gedanke kam ihr. Sie senkte die Stimme zu einem Raunen. »Ist es denn überhaupt ein … Er?«
Flavia prustete los, als hätte sie ihr ein Verhältnis mit einem längst verstorbenen Dogen angedichtet. Dabei war Oriettas Annahme gar nicht so lachhaft, fand sie.
Sie seufzte. »Fein, dann verrate es mir nicht. Ich habe auch ein Geheimnis. Eines, das dich brennend interessieren dürfte.« Sie schlenderte provokant an ihrer Schwester vorüber, so nah, dass der Größenunterschied zwischen ihnen deutlich zutage trat.
Flavia schluckte den Köder und folgte Orietta. »Sag schon! Nur ein weiterer Liebesbrief – oder hattest du etwa selbst gerade eine Verabredung?« Und nach einer kurzen Musterung von Nachthemd, Laterne und Schnürstiefeln ergänzte sie: »Er muss ja wahnsinnig begehrenswert sein, wenn du es so eilig hattest, zu ihm zu kommen.«
»Das sagt die Richtige! Ist das nicht Vaters Mantel? Und was soll die grässliche Herrenmütze? Neue Pariser Mode?« Mit großer Genugtuung schlenderte Orietta weiter. Es tat gut, auch einmal ein spannendes Geheimnis zu haben und ihre Schwester ein wenig zu necken.
»Gib mir einen Hinweis, und ich errate es!« Unerschrocken stellte sich Flavia ihr in den Weg. Geduld war noch nie ihre Stärke gewesen. Orietta ließ sie noch ein wenig zappeln, fütterte sie mit nichtssagenden Hinweisen und trieb das Spiel so lange auf die Spitze, bis Flavia ihr ungeduldig in die Seite boxte.
»Au! Schon gut, es hat etwas mit dem Karneval zu tun. Mit Maskenbällen und …« Weiter kam sie nicht, denn das hohe Quietschen ihrer Schwester unterbrach sie.
»Du warst am Kasten? Ohne mich? Wie lauten die neuesten Gerüchte?«
Orietta lachte leise. »Ich würde ja sagen, geh und sieh selbst nach. Oder … verrate mir, wer dein Verehrer ist.«
Flavia schnaubte und verdrehte die Augen. »Na schön! Er ist Deutscher. Also niemand, den ich regelmäßig sehen sollte. Zufrieden?«
Ihre Enthüllung verschlug Orietta die Sprache. Ihr Vater hatte bezüglich der infrage kommenden Junggesellen klare Regeln aufgestellt: Ein Glasbläsersohn musste es sein, vorzugsweise aus Murano stammend und mit langer Familientradition. Doch ebenso schnell, wie der Schock Orietta gepackt hatte, so rasch freundete sie sich mit dem Gedanken an, nicht die einzige Tochter der Familie zu sein, die auf neuen Pfaden wandeln wollte.
»Ist er denn anständig? Respektiert er dich?«
Flavia nickte. Das war die Hauptsache.
»Dann kann ich dich guten Gewissens mit ihm allein lassen?«
»Ich lege meine Hand für ihn ins Feuer.« Ihre Schwester tippte gegen den Schirm ihrer Herrenmütze, sie wirkte erleichtert. »Und jetzt du! Welches skandalöse Gerücht macht die Runde?«
»Kein Skandal. Viel besser!« Und dann berichtete Orietta ihrer kleinen Schwester alles über Sibilla Veridianis Ankunft und den Maskenball. Davon erzählen zu können, verschaffte ihr gleich einen neuen Schub Aufregung. Nur dass sie ihrem tugendhaften Impuls nachgegeben und den Zettel wieder zurückgehängt hatte, brachte ihr Vorwürfe ein.
»Winzig kleine Schnipsel«, sagte Flavia. »Das hätte ich daraus gemacht.«
»Und genau deshalb bin ich die Ältere von uns beiden – und die Klügere.«
»Du meinst, die Langweiligere?!«
»Die Vernünftigere.«
Sie warfen sich den Ball vor den Toren der Glashütte noch ein paarmal zu, bis sie beide lachen mussten und nach einer kurzen Umarmung jede wieder ihren eigenen Geschäften nachging.
»Wir müssen Mamma beim Frühstück davon erzählen. Sie wird mit zum Markusplatz wollen und …«, rief Flavia ihr nach.
Ohne sich umzudrehen, schlug Orietta über dem Kopf mit der Handkante in ihre Handfläche – das allgemein verständliche Zeichen, dass ihre Schwester endlich verschwinden sollte, statt noch die ganze Nachbarschaft zu wecken.
Natürlich würde ihre Mutter mit ihnen zum Markusplatz wollen. Alle Frauen Venedigs würde es dorthin ziehen, allein schon wegen des Karnevals, der nun unmittelbar am Wochenende vor der Fastnacht seinen Startschuss erleben würde, spätestens aber, wenn die Ankündigung des Schaukastens die Runde gemacht hatte.
Alle würden sie kommen.
Doch nur eine würde am Ende des Tages die Einladungskarte besitzen.
Orietta.
Ein Scheppern drang unsanft bis in Oriettas Träume.
Eben noch war sie in einer Gondel an den Palästen der alten Patrizierfamilien vorbeigeglitten, nun riss das laute Geräusch sie zurück in die Realität. Auf einen Schlag hellwach, versuchte sie sich im Raum zu orientieren, während sie im Rücken plötzlich schmerzhaft die Schreibfeder spürte, auf der sie wohl eingeschlafen war. Sie tastete danach und fragte sich, was wohl kaputtgegangen war. Hatte sie etwa Glas brechen gehört?
Mit dem Glas der Insel Murano verhielt es sich nämlich wie mit Träumen: schön anzusehen, jedoch schnell in tausend Splitter zersprungen. Doch Oriettas Traum war immerhin schon in greifbarer Nähe. Denn wie ihr nächtlicher Ausflug bestätigt hatte, stand Venedig an diesem Donnerstagmorgen das Ereignis des Jahres bevor.
Müde schlug sie die mit Seide bezogene, pelzgefütterte Decke zurück und schlüpfte in ihre Filzpantoffel. Aus der Küche drang bereits der verräterische Lärm einer frühstückenden Familie nach oben, während sich Orietta noch den restlichen Schlaf aus den Augen rieb. Schranktüren schlugen lautstark auf und zu, Stuhlbeine schabten über Fliesen, und in der Pfanne brutzelte der Speck. Ihre Mutter musste bereits von Flavia über Sibilla Veridianis Ankunft unterrichtet worden sein. Das würde erklären, warum sie mit den Töpfen klapperte, als wollte sie die ganze Nachbarschaft über das Spektakel informieren. Denn auch wenn sie die Salonkultur eigentlich als Wichtigtuerei abtat, konnte sie das so kurz vor Veridianis Ankunft nicht mehr zugeben. Eine Gelegenheit, sich der feinen Gesellschaft zu präsentieren, musste genutzt werden, ganz gleich, wie oberflächlich der Anlass war.
Ihre Mutter ging dabei mit Raffinesse vor. Wenn sie es nicht schon getan hatte, würde sie nach dem Frühstück Stunden mit der Kleiderauswahl verplempern und anschließend die Nachbarinnen einladen, von denen sie wusste, dass sie nur so auf Angelica Volpatos Neuigkeiten brannten, da der immer gleiche Alltag sie zwar anödete, aber auch so sehr einspannte, dass sie es selbst nicht oft genug zum Schaukasten auf den Campo schafften. Die Damen würden zum zunächst ganz unverfänglichen Geplauder ihrer Mutter kichern und zwischen jedem »Ach nein« und »Sag bloß« grübeln, was der angelegte Schmuck und das besonders eng geschnürte Korsett ihrer Freundin zu bedeuten haben mochten. Und dann, wenn sich die Wangen vor Anspannung bereits röteten und Schweißperlen über der Oberlippe glänzten, würde ihre Mutter die Katze aus dem Sack lassen: Sagt bloß, ihr wusstet nicht, dass die Veridiani heute um 16 Uhr auf dem Markusplatz eintrifft? Ich denke seit einer Woche an nichts anderes. Ihre Mutter flunkerte stets so beiläufig, wie sie scheinbar zufällig die Hausecken beim Staubkehren übersah. Aber ganz gleich, was sie erzählte, die Leute hingen an ihren Lippen.
Orietta richtete vergnügt ihr Bett, bis ihr die losen Blätter ins Auge fielen, die unter die Kissen gerutscht waren. Ihr Antrag! Sie hatte ihn direkt begonnen, nachdem sie gestern von ihrem Nachtausflug zurückgekehrt und in ihr Zimmer geschlichen war. Der Gedanke, die Stadtverwaltung aufzusuchen, geisterte schon länger durch ihren Kopf, aber erst beflügelt durch Sibilla Veridianis bevorstehende Ankunft hatte Orietta den Mut gefasst, ihre Forderungen endlich schriftlich zu formulieren und einzureichen. Eine Frau wie Sibilla Veridiani war schließlich auch nicht dadurch berühmt geworden, dass sie ihre Ängste und Zweifel regieren ließ. Außerdem stellte der Karnevalsbeginn die perfekte Gelegenheit dar. Der Großteil der Stadt würde seinem eigenen Vergnügen nachjagen und es kaum registrieren, wenn eine unbedeutende Frau zwischen den Säulen umherstrich. Nur leider war sie, wie es schien, über dem Antrag eingeschlafen, und nun hatte das Papier Knicke, zeigte tintenblaue Schmierflecken und hässliche Knitterfalten.
»Orietta!«, schallte es die Treppen herauf. »Frühstück!« Noch war die Stimme ihrer Mutter ein Trällern, doch es würde schnell zu einem Grollen werden, wenn Orietta sich nicht innerhalb der nächsten fünf Minuten zu Tisch begab.
Wie gerne hätte sie ihre Kaffeesuppe an ihrem Schreibtisch eingenommen und den Antrag neu aufgesetzt. Es war sicher ein schlechtes Omen, wenn sie die Blätter verknittert mit in die Stadt nahm.
»Orietta Maria Belisa Volpato!«
Orietta seufzte, ließ den Gedanken fallen und eilte stattdessen zum Kleiderschrank, wo sie in ein leichtes Alltagskleid schlüpfte. Den Antrag faltete sie klein und verstaute ihn vorsichtig in ihrem Ärmel. Ihr eigentliches Versteck für Briefe, Dokumente und andere Dinge, die nicht entdeckt werden sollten, konnte sie jetzt nicht ansteuern. Im Vorbeigehen warf sie einen flüchtigen Blick in den Standspiegel. Eindeutig nicht vorzeigbar. Normalerweise erschienen die Volpato-Frauen ordentlich gekleidet zum Frühstück. Doch für ihr Korsett hätte Orietta Flavias zupackende Hände gebraucht. Abgesehen davon, dass sie gut noch eine Weile auf das unbequeme Teil verzichten konnte, wollte sie ihre Schwester nicht beim Essen stören.
Fein gekleidet, mit aufgestecktem Haar, das unter dem Kronleuchter golden schimmerte, bildete Flavia wieder einmal den glänzenden Mittelpunkt der Zusammenkunft. Ihr Anblick entsprach so sehr dem gängigen Schönheitsideal, dass man sie ohne Weiteres als Vorführdame in die Pariser Modehäuser hätte stellen können. Sie war die Vorzeigetochter, die Mütter mit Vergnügen beim Tee präsentierten. Orietta hingegen wurde höchstens auf Nachfrage erwähnt, wenn das Gespräch auf Flavias lückenhafte Bildung zu kommen drohte und Donna Angelica einfiel, dass es ja noch eine zweite Tochter gab – eine, die mit Deutsch, Französisch, Englisch und Griechisch immerhin vier Fremdsprachen beherrschte.
Der Gedanke, dass allein die Kleidung darüber bestimmte, wie viel Respekt man verdiente, war beklemmend. Doch mehr als der Protest im Privaten oder im Geiste blieb Orietta nicht. Nur sehr gebildete Frauen konnten es sich leisten, den Normen öffentlich abzuschwören – bekannte Schriftstellerinnen etwa, wie es George Sand zu ihrer Zeit gewesen war. Alle anderen würden sich mit der Nichtbeachtung der Kleiderordnung bloß ins gesellschaftliche Abseits stellen.
Der gesellschaftliche Tod. Er war das wahre Korsett, das alle einschnürte.
»Guten Morgen allerseits.« Orietta löste sich vom Türrahmen, trat an dem halb fertigen Familienporträt vorbei, das an der Wand lehnte, solange der Maler nicht daran arbeitete, und bemühte sich um einen möglichst beiläufigen Ton. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren erschien sie als Letzte zum Frühstück. Selbst Jacopo, der notorisch zu spät kam, lümmelte bereits auf seinem Stuhl. Besser gesagt, er hing quer über dem Tisch und pickte in Flavias voll beladenem Teller herum, den sie nur unter Einsatz von Riechsalz und mit vielen kleinen Pausen würde leer essen können, was sie allerdings gar nicht beabsichtigte – sie liebte es lediglich, den Luxus der Auswahl zu haben. Warum sich für nur eine Speise entscheiden? »An deiner Stelle würde ich mir nicht die Oliven wegessen. Das könnte unangenehme Folgen für dich haben«, warnte sie ihn.
»Du meinst …?«
»O ja!«
Er blickte sie scheinbar zerknirscht an und schob die Zunge vor. Doch anstatt die Olive auszuspucken, wie Orietta schon befürchtete, verschlang er sie im nächsten Moment mit einem: »Ottima!« Exzellent. Die angedrohten Konsequenzen, die niemand am Tisch außer ihm zu verstehen schien, schreckten ihn wohl nicht ab.
Flavia aß weiter, deutete nach ihrem nächsten Bissen mit der Gabel jedoch auf ihn – ein leises Versprechen, dass er schon sehen würde, was er davon hatte, ihr die Lieblingsspeise wegzuessen. Obwohl ihre Mutter bei Streitigkeiten mit Jaco sonst sofort vermittelte, hantierte sie nun bloß amüsiert mit der Kaffeekanne und schenkte ihm ein. Flavia reichte ihr unaufgefordert die leere Suppentasse, die an Oriettas Platz bereitstand, dann wandten sich alle wieder ihren Tellern und Gesprächen zu.
Erleichtert, dass ihre Verspätung nicht an die große Glocke gehängt wurde, glitt Orietta auf den Stuhl links von ihrer Schwester und schloss damit die Lücke zu Giovanni, der, genau wie ihr Vater, an einem Tischende thronte. Der Tadel für ihre schlampige Garderobe blieb ebenfalls aus. Lag es am Karnevalsbeginn? An der fast greifbaren Aufregung, die in der Luft knisterte? Jacopo und Flavia schnatterten jedenfalls so wild durcheinander, als hätten sie die Neuigkeit von Veridianis Ankunft schon vor ihrem Geplänkel mit der Olive zur Sprache gebracht und wollten nun daran anknüpfen.
»Hier unten hat es ja ganz schön gescheppert«, sagte Orietta. Den zusammengekehrten Scherbenhaufen hatte sie schon beim Hereinkommen in der Ecke bemerkt, nun fragte sie sich, welches Porzellanstück es getroffen hatte. Sie griff nach einer Scheibe Weißbrot und bestrich sie mit einem Pesto aus getrockneten Tomaten, Basilikum und Öl. »Was ist denn zerbrochen?«
»Mein Herz – bei deinem Anblick.« Ihre Mutter legte den Kopf schief. »Ich dachte, du brauchst so lange, weil du dich in Schale wirfst! Was soll dieses Kleid? Nonna ist unterwegs zu uns.« Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr sie fort: »Gott sei Dank habe ich mich bereits um eine angemessene Garderobe für die Stadt gekümmert.«
»Vielleicht soll das da Oris Kostüm sein«, sagte Jacopo grinsend und handelte sich unter dem Tisch einen Tritt von Flavia ein.
Noch bevor er seinerseits ausholen konnte, knurrte Giovanni: »Lasst das.«
In einen Teil des Corriere della Sera, der auflagenstärksten Tageszeitung Italiens, vertieft, hörte er wie immer nur mit halbem Ohr zu, sprach aber stets ein Machtwort, wenn es ihm notwendig erschien. Darin kopierte er ihren Vater. Doch während dieser sich tatsächlich die meiste Zeit aus allen Gesprächen heraushielt, schützte ihr Bruder die Gleichgültigkeit bloß vor. In Wirklichkeit hatte er zu jedem Thema einen ungebetenen Ratschlag oder eine uninspirierte Meinung, dachte Orietta, als sie ihren Bruder beim Lesen betrachtete. Wahrscheinlich wiederholte er im Geiste gerade minutenlang denselben Satz, während er nur auf den richtigen Moment lauerte, seinen Geschwistern ins Wort zu fallen. Nicht einmal vor ihrer Mutter machte er halt. Auch ihr fuhr er wie selbstverständlich über den Mund. Solche Einmischungen endeten für gewöhnlich in Geschrei, weil beide versuchten, den anderen zu übertönen.
Doch glücklicherweise schien dieser Moment noch nicht gekommen.
»Das ist nicht mein Kostüm.« Orietta bedachte Jaco mit einem nachsichtigen Blick. »Ich hatte es bloß eilig.« Sie wandte sich an ihren Vater: »Brauchst du mich länger als bis zum Mittag? Ansonsten würde ich heute nur die nötigsten Arbeiten erledigen und anschließend mit Mamma und Flavia zum Markusplatz fahren.«
Der Vater schüttelte nur abwesend den Kopf. Natürlich brauchte er sie nicht länger. Das tat er nie, Giovanni und ihr Onkel wickelten schließlich alle Aufträge des Familienbetriebs ab. Aber sicher schadete es nicht, ihren Vater daran zu erinnern, dass er noch ein weiteres fleißiges Kind hatte, das sich um das Wohlergehen des Betriebs sorgte.
»Ich könnte natürlich alle Bestellungen durchgehen und …«
»Was gibt es denn auf dem Markusplatz?« Unter Geraschel schlug ihr Vater umständlich die nächste Seite seines Teils der Zeitung auf. Seine Augen hüpften mechanisch von Zeile zu Zeile, wie um sie beschäftigt zu halten, damit sie Oriettas Blick nicht begegnen mussten.
»Der Karneval beginnt«, erwiderte sie schnell. »Ich möchte mir das Spektakel ansehen.« Und hinterher beim Stadtrat einen Antrag einreichen, der dir schwer missfallen wird, fügte sie im Stillen hinzu. Ihr Vater würde außer sich sein, so sehr wichen die darin enthaltenen Forderungen von seiner Weltanschauung ab.
Die zusammengefalteten Blätter in ihrem Ärmel schienen plötzlich zu glühen, und kurz überlegte sie, ihr Vorhaben zu verschieben, doch die Gelegenheit war einfach zu gut. Je weniger Menschen von ihr Notiz nahmen, und je geringer die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Vater davon erfuhr, desto besser. Es war zwar nicht so, dass er anderen die Meinung diktierte, aber er hielt sich für einen Mann im Dienste der Tradition, und er war ein strenger Vater. Seine linke Augenbraue schnellte hoch, sobald jemand ihn enttäuschte, und das war genau die eine Reaktion, die Orietta nicht ertrug. Sie begriff nicht, wie sich die Facharbeiter an den Brennöfen tagtäglich seiner stillen Verachtung aussetzen konnten, ohne daran zu zerbrechen.
Kurz und mit einer Spur Wehmut musterte Orietta ihren älteren Bruder. Sie alle hatten unterschiedliche Strategien entwickelt, um ihrem Vater standzuhalten. Es war kein Wunder, dass Giovanni über die Jahre so ein aufbrausendes Gemüt entwickelt hatte. Bereits als Kind war er sehr ernst gewesen, aber stets flankiert von einer großen Sanftheit, die er allen entgegenbrachte. Heute jedoch, wenn er auch nur die leiseste Kritik erahnte, kam er seinem Gegenüber zuvor, indem er direkt zum Angriff überging. Jacopo verfuhr ähnlich. Nur dass er nicht mit spitzen Scherben um sich warf wie sein älterer Bruder, er feuerte stattdessen runde Glasperlen auf sein Ziel ab. Die taten nicht unmittelbar weh, sondern erst nach einiger Zeit, wenn sie lange genug auf die gleiche Stelle eingeprasselt waren.
»Die Veridiani kommt!«, weihte nun ihre Mutter den Vater ein und blickte strahlend in die Runde, als wäre die gute Nachricht nur ihr zu verdanken. »Sie wirft eine Einladungskarte für ihren Maskenball in die Menge! Und du weißt, was das bedeutet!«
»Leere Geldbörsen?« Ihr Vater hielt mit dem Lesen inne und musterte sie über den Rand der Zeitung hinweg.
Sie lachte. »Potenzielle Ehemänner natürlich!«
Ein vielsagender väterlicher Blick streifte Orietta, bevor er an Giovanni hängen blieb. »Nun, was sagst du dazu? Hältst du es für eine gute Idee, unsere drei Grazien dorthin gehen zu lassen?«
»Als ob wir uns bremsen lassen würden«, murmelte Flavia und knuffte Orietta mit dem Ellbogen in die Seite. Giovanni klappte seinen Teil der Zeitung zusammen, den Wirtschaftsteil, in den er eben noch vertieft gewesen war, und reichte ihn an Jaco weiter, obwohl er selbst noch nicht alles durchgeblättert hatte.
»Das erste Mal seit fast hundert Jahren soll wieder ein Engelsflug veranstaltet werden«, sagte er. »Wenn die drei versprechen, nicht zu viel Geld zu verjubeln, sollen sie ruhig zuschauen. Dann haben sie ihren Spaß und wir unsere Ruhe. Später können sie uns alles erzählen. In der Werkstatt steht so viel an, unter anderem eine Besichtigungstour … selbst werden wir es nicht zur Piazza schaffen.« Er zwinkerte Orietta verschmitzt zu, doch was er für gutmütig hielt, empfand sie bloß als anmaßend. Er tat so, als hätte er bereits das Sagen in der Familie und könnte darüber bestimmen, wer wo hinging.
»Definiere, was du mit zu viel meinst«, erwiderte sie spitz, warf einen Brocken Weißbrot in ihre Kaffeesuppe und begann zu rühren. »Welche Summe trennt uns denn vom finanziellen Ruin?« Als er nicht sofort antwortete, schlug sie sich die Hand vor den Mund. »Nein, sag bloß, du kennst die Bücher nicht auswendig? Macht nichts, Bruderherz, ich kann dir gerne auf die Sprünge helfen.«
Kurz starrte er sie überrascht an, als glaubte er wirklich, sie hätte ihm sein unmögliches Verhalten in der Nacht, da sie sich mit ihrer Kundin getroffen hatte, schon verziehen. Dann fing er sich und begann zu grinsen. »Wie kommt’s eigentlich, dass du dich zum Frühstück verspätet hast? Letzte Nacht zu lange gelesen? Was kann denn bloß so Spannendes in einem Mädchenroman stehen?« Natürlich meinte er das Briefeschreiben, wenn er von »Lesen« sprach, und wie auf Kommando nahm Oriettas Puls Fahrt auf.
»Wenigstens beschert mir meine Beschäftigung am nächsten Tag keinen dicken Kopf!«
Giovanni zog einen Mundwinkel hoch. »Die Ringe unter deinen Augen sagen etwas anderes.«
Jaco, der sich erstaunlich lange herausgehalten hatte, stieg nun prompt darauf ein: »Das hat nichts damit zu tun, wie viel sie schläft. Es ist ihr Gesicht. Kann ja nicht jede so schön sein wie Flavia.«
»Das sagst du nur, weil wir Zwillinge sind«, entgegnete diese und versicherte Orietta im gleichen Atemzug, dass sie sich auf keinen Fall für schöner hielt.
Eine Geste, die Orietta mindestens so rührte, wie sie das darin mitschwingende Mitleid nur umso wütender machte.
Ihre Mutter stöhnte. »Jaco, hör auf, deine ältere Schwester zu ärgern. Und du, Flavia: Iss auf! Heute wird nicht gezankt. Wir feiern Karneval!«
»Aber ich habe sie doch nur verteidigt!« Während sich Jacopos Wangen zu einem unschuldigen Lächeln hoben, wurde Oriettas Gesicht heiß. Die Erinnerung an den unverschämten Kerl von ihrem nächtlichen Ausflug drang an die Oberfläche, und es ärgerte sie, dass ihre angeblich mangelnde Schönheit wieder einmal der allgemeinen Belustigung diente. Wie waren sie überhaupt vom Karnevalstreiben auf ihr Äußeres gekommen?
»Geh lieber ein paar schöne Unikate anfertigen, statt hier das Unschuldslamm zu mimen«, sagte ihre Mutter. Ihr liebevoller Blick verriet, dass ihm sein gemeiner Kommentar längst wieder verziehen war. Wie so häufig, ließ sie bei ihrem Wunderknaben Nachsicht walten. »Treib schön die Verkäufe an, ja? Dann kriege ich vielleicht endlich mein Dienstmädchen …«
»Erst muss der Betrieb weiterwachsen, Angelica.« Ihr Gatte lächelte sie milde an, während er mit einem Seitenblick Giovannis Zustimmung einholte. Der nickte kurz. Ein stilles Einverständnis unter Männern.
Dabei waren sie eine Handwerkerfamilie mit gutem Auskommen, die sich durchaus ein Dienstmädchen hätte leisten können. Vielleicht ahnte Emilio Volpato nicht, dass seine Söhne regelmäßig den Gegenwert eines neuen Brennofens im Casino verschleuderten. Kundenakquise nannten sie die Abende, aber Orietta wusste es besser.
»Giovanni hat ein paar Ideen, wie wir expandieren können«, sagte ihr Vater und langte nach der Hand seiner Frau. »Dann kriegst du deine Haushaltshilfe, ich verspreche es.« Ihre Finger verschränkten sich ineinander.
»Wie viele dieser sogenannten Ideen beinhalten denn Trunkenheit und Kartenspiele?«, fragte Orietta in Giovannis Richtung.
Kurz hielt er ihren Blick, dann wischte er mit einer lässigen Geste das Messer mit dem Handrücken von der Tischkante. »Nun schaut euch das an, ihr wisst ja, was es heißt, wenn ein Messer zu Boden fällt – unerwarteter Männerbesuch!«
Ihre Mutter klatschte in die Hände, Jacopo johlte, und Flavia beschuldigte Giovanni, das Besteck absichtlich fallen gelassen zu haben. Niemand erkannte, was die Worte in Orietta auslösten, nämlich pure Demütigung.
Nie wieder wollte sie erleben, wie sich das Interesse eines Mannes bei ihrem Anblick in Widerwillen verwandelte. Wie die Augen unangenehm berührt zu ihrer schönen Schwester wanderten und plötzlich Interesse versprühten. Solange Flavia nicht verheiratet war, würde die Wahl nicht auf Orietta fallen – und zwar nie. Wenn ihre Mutter schlau war, ließ sie einfach von dem Irrsinn ab, die Älteste zuerst verheiraten zu wollen, und konzentrierte sich ganz auf Flavia. Giovanni lud seine Junggesellenschar doch nur ein, um Orietta zu quälen oder aber weil ihre Qual ihn nicht berührte – oder noch schlimmer: weil er sie nicht einmal bemerkte. Die Wut, die sie erneut überkam, überraschte sie selbst.
»Wage es ja nicht!« Sie schoss von ihrem Stuhl hoch. Am Rande spürte sie, wie Flavia an ihrem Ärmel zupfte, doch sie streifte ihre Hand ab. »Wenn du noch einen jämmerlichen Heiratskandidaten hier anschleppst – ich sage dir, dann stecke ich deine geliebte Glashütte in Brand.«
Giovanni schaute sie für einen Augenblick irritiert an, dann brach er in schallendes Gelächter aus. Er hielt das Ganze immer noch für einen völlig üblichen Schlagabtausch. Alle fielen in das Lachen mit ein, sogar ihr Vater, bevor er sie für ihre derbe Ausdrucksweise tadelte. Erst als Oriettas Augen einen glasigen Schimmer annahmen, prasselten die Beschwichtigungen von allen Seiten auf sie ein, aber sie hörte kaum zu. Ihre Brust bebte. In ihrer Kehle formte sich ein Kloß, der sie am Sprechen hinderte. Nicht weinen! Selbst wenn es nur Zornestränen sind.
»Ach, würdest du doch bloß dieselbe Leidenschaft, die du in unsere Streitereien legst, in andere Dinge investieren …«, sagte Giovanni, während er sie mit einem mitleidigen Blick bedachte.
»In was zum Beispiel? Mein Äußeres?« Mit einem Schwung ihres Arms schlug sie die Pfeffermühle um. Ihre Finger zuckten zu der mit Dahlien bestückten Kristallvase, sie konnte sich aber gerade noch beherrschen.
Am Tisch wurde es still.
»Hör zu, ich kann nichts dafür, dass ich eher aussehe wie er …«, sie deutete auf Jacopo, »… oder er …«, ihren Vater, »… oder du – anstatt wie sie!«
Giovanni blieb kurz der Mund offen stehen, dann schien er sich zu besinnen. »Ich habe von deinen Ambitionen im Betrieb gesprochen, nicht von deinem Aussehen«, sagte er ruhig. »Warum beaufsichtigst du nicht unsere Arbeiterinnen beim Auffädeln der Glasperlen? Mutter könnte dir zeigen, wie es geht …«
Der Rest seiner kleinen Rede verlor sich in dem Rauschen, das plötzlich in ihren Ohren aufbrandete. Soeben war ihr bewusst geworden, was sie gesagt hatte. Deine Glashütte. Vielleicht hatte ihr Kopf ja längst akzeptiert, was ihr störrisches Herz nicht konnte. Das Rauschen in ihren Ohren wurde immer lauter.
Flavias Arme schlossen sich um ihre Mitte, doch Orietta spürte sie nicht. Als wäre ihr Körper taub, ließ sie sich zurück auf den Stuhl ziehen und umarmen. Ohne zu verstehen, warum, saß sie nun wieder am Tisch und starrte vor sich hin.
Im nächsten Moment fuhr ihre Mutter auf. »Nonna! Na endlich!«
Ihre Großmutter kam am Stock und ohne eine Begrüßung in die Küche spaziert. Ihrem Sohn, Oriettas Vater, bedeutete sie sitzen zu bleiben. Seine Ermahnung, dass sie sich doch darauf geeinigt hatten, sie solle die Fahrt von Burano nach Murano nicht mehr allein antreten, wischte sie mit einem brüsken Kopfschütteln beiseite, dann schloss sie auch schon Flavia in die Arme, die bei ihrem Anblick aufgesprungen und zu ihr geeilt war. Eine Handvoll Kekse, in ein besticktes Spitzentuch eingeschlagen, wechselte die Besitzerin. Drei weitere Beutel flogen Orietta, Jaco und Giovanni entgegen.
»Danke Nonna!« Jaco verschlang einen Zitronenkeks und küsste zum Zeichen, wie köstlich es schmeckte, seine Fingerspitzen, während Giovanni sich erhob und seinen Stuhl frei machte, obwohl auf der Längsseite des Tisches, an der Jaco und die Mutter saßen, immer ein Platz für Nonna reserviert war. Es war eine Geste des Respekts, die aus Sicht ihrer Großmutter unnötig war, Orietta aber daran erinnerte, dass es doch Eigenschaften gab, die sie an ihrem Bruder schätzte, wenngleich er sie eindeutig zu selten zeigte.
»Setz dich, Giovanni.« Im Vorbeigehen legte Nonna Orietta die Hand auf den Kopf, dann begrüßte sie die Eltern mit einem Küsschen rechts und links, bevor sie sich auf der Ecke zwischen ihnen am Tisch niederließ. »Entschuldigt die Verspätung, ich wurde aufgehalten.«
Oriettas Mutter belud einen Teller mit Brot und ignorierte den sanften Griff an ihren Arm, der ausdrücken sollte, dass Nonna nicht hungrig war. Nach ihrem siebzigsten Geburtstag hatte ihr Appetit nachgelassen, und wo sie einst ein Abendessen, das aus weniger als vier Gängen bestand, mitleidig belächelt hatte, pickte sie nun in allem, was ihr serviert wurde, nur noch herum. Allerdings führte sie ein Fläschchen aus Edelstahl mit sich, von dem sie hin und wieder nippte und dessen Inhalt angeblich dafür verantwortlich war, dass ihr Haarknoten über all die Jahre, bis auf zwei schlohweiße Strähnen an den Schläfen, seine braune Farbe behalten hatte.
»Warst du bei Nonno?«, fragte Orietta mitfühlend. Das war in der Regel das Einzige, was bei ihrer Großmutter für Verspätungen sorgen konnte: ein Besuch am Grab ihres verstorbenen Mannes, Oriettas Großvater. Auf der Friedhofsinsel San Michele, die zwischen Murano und Venedig lag, erneuerte sie seit zwanzig Jahren alle zwei Wochen die Blumensträuße. Nicht einmal in der Glaswerkstatt schaute sie so zuverlässig vorbei, und obwohl Orietta zunächst vermutet hatte, der Qualm würde ihr zusetzen, hatte sie mit der Zeit Nonnas heimliche Abneigung gegen das Handwerk erkannt.
»Nonno ist nächste Woche dran. Vielleicht möchte mich jemand begleiten?« Sie blickte Giovanni an, und ihre missbilligende Miene, als er die Arbeit vorschob, verschaffte Orietta mehr Genugtuung, als sie empfinden sollte. Dabei konnte sie ihren Bruder verstehen. Das Geschäft lief mehr als gut, und Freizeit war ein Luxus, auf den er an den meisten Tagen verzichtete.
»Ich muss schon bitten. Dass du mich so leicht austauschst, beleidigt mich«, sagte Flavia in gespieltem Ernst zu Nonna, vermutlich um die Wogen zu glätten, während Giovanni und der Vater schon in ein Nebengespräch über die heutigen Glasarbeiten verstrickt waren.
»Bist du denn nicht mit dem Karneval beschäftigt? Alle reden nur noch davon und von dieser Frau. Zugegeben, sie versteht es, Wirbel um ihre Person zu machen.«
»Deine Gesellschaft ist mir wichtiger.«
Nach einem innigen Blickwechsel, den Orietta und ihre Mutter lächelnd mit ansahen, kam Nonna auf den wirklichen Grund für ihre Verspätung zu sprechen: »Bei Balbi & Gabbiani hat es in den frühen Morgenstunden gebrannt. Eine regelrechte Explosion!«
»Was? Wer sagt das?« Ihr Vater fuhr vom Tisch auf, bereit, selbst zu den Wassereimern zu greifen, falls nötig.
»Wer sagt es nicht? Ich wurde mit der Nachricht und der Bitte, wieder umzukehren, an der Anlegestelle empfangen. Sie befürchten weitere Brände.«
»Und das sagst du erst jetzt?« Nun hielt auch Giovanni nichts mehr auf seinem Platz. »Ich muss sofort in die Werkstatt!«
»Ich begleite dich.« Jaco erhob sich ebenfalls.
Flavia, die mit ihm hochgeschnellt war, ließ sich auf einen irritierten Blick der Mutter hin zögerlich wieder nieder. An ihrem Plan, dem Karnevalstreiben auf dem Markusplatz beizuwohnen, hatte sich wohl nichts geändert.