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Annie Talbot liegt im Sterben, doch Angst hat sie keine. Nach sechzig langen Jahren, die sie nun schon allein in dem alten irischen Bauernhaus neben dem Apfelgarten lebt, ist sie bereit, wieder mit ihrem geliebten Mann vereint zu werden. Zunächst muss sie aber ihre Enkelin Holly davor bewahren, sich ins Unglück zu stürzen. Holly hat ihren Verlobten verlassen, nachdem sie mit einer schrecklichen Diagnose konfrontiert wurde. Doch Annie weiß: Liebe zu erfahren, egal wie lange, ist das Einzige, was im Leben zählt ...
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Seitenzahl: 548
Buch
Annie Talbot liegt im Sterben, doch Angst hat sie keine. Zu lange lebt sie schon alleine in dem alten Bauernhaus neben dem Apfelgarten. Nach sechzig langen Jahren ist sie bereit, wieder mit dem Mann vereint zu sein, den sie ihr ganzes Leben geliebt hat. Mit Arthur, der vor so langer Zeit starb und ihr versprach, inmitten der Sterne auf sie zu warten. Doch zunächst muss sie ihre Enkelin Holly davor bewahren, ihr Leben wegzuwerfen. Holly hat sich von ihrem Verlobten getrennt, nachdem sie mit einer schrecklichen Nachricht konfrontiert wurde. Und so erzählt Annie Holly ihre Geschichte. Denn manchmal spielt es keine Rolle, wie lange wir die Menschen, die wir lieben, um uns haben durften, sondern dass wir sie überhaupt lieben durften.
Autorin
Brooke Harris hat Psychologie studiert und liebt es, in die unterschiedlichsten Gefühlswelten einzutauchen. Ihre im Selbstverlag erschienenen Thriller waren internationale Bestseller. »Das Versprechen der Sterne« ist ihr erster Frauenroman. Sie lebt mit ihrem Mann und fünf Kindern in Kildare, Irland.
Für Mam und Dad,
die mir als bestes Beispiel vorgelebt haben, wie man liebt.
»Wenn es regnet, halte Ausschau nach einem Regenbogen.
Wenn es dunkel ist, nach den Sternen.«
Anonym
Holly
Als der Anruf kommt, bin ich nicht besonders überrascht. Schon seit einiger Zeit habe ich damit gerechnet, und dennoch stockt mir der Atem, als ich an das Handy gehe und meinen Bruder leise flüstern höre: »Es ist so weit.«
Meine Arbeit lasse ich stehen und liegen und mache nur eben Halt, um eine kurze Erklärung auf ein gelbes Post-it zu kritzeln; das klebe ich mitten auf Nates Laptopbildschirm, damit er es nach seinem Meeting auch gleich sieht. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich weg sein werde, und ich will es auch gar nicht wissen. Nicht einmal mehr zu meinem Apartment fahre ich, um mir ein paar Sachen einzupacken. Alles, was ich brauche, kann ich mir auch kaufen, wenn ich angekommen bin. Ich muss einfach dort sein, bevor es zu spät ist.
Der Motor macht seltsame Geräusche, als ich das Gaspedal durchtrete. Meine alte Rostlaube ist es nicht gewohnt, so schnell zu fahren. Die Türen klappern, und das Lenkrad vibriert in meinen Händen, um mich davon zu überzeugen, doch langsamer zu werden. Doch ich zwinge meinen Fuß, noch fester auf das Gaspedal zu treten, und schlängele mich durch den Verkehr auf der Autobahn, während ich leise alle langsamen Fahrer verfluche.
Die vertraute zweieinhalbstündige Fahrt von Dublin nach Galway kommt mir unendlich lang vor. Jede Minute, die ich noch nicht bei meiner Familie bin, reißt mir kleine Stücke aus dem Herzen. Ein orangefarbenes Warnlicht leuchtet auf dem Armaturenbrett auf; ich verdrehe die Augen, weil bei meinem kleinen Auto eine Inspektion mehr als überfällig ist, doch dafür habe ich im Augenblick einfach keine Zeit. Eigentlich hatte mir Nate letzten Monat versprochen, den Wagen für mich in die Werkstatt zu bringen, doch das war, bevor unsere Welt zusammengebrochen ist. Bevor ich meinen Verlobten von mir gestoßen habe wegen etwas, das gar nicht sein Fehler ist. Da war eine Autowerkstatt nun wirklich das Letzte, worüber ich mir den Kopf zerbrochen habe. Meine Finger klammern sich fester um das Lenkrad, und ich flehe mein Auto inständig an, noch bis Galway durchzuhalten. Warte auf mich, Nana. Bitte warte auf mich!
Der Verkehr hat ein Nachsehen mit mir, sodass mir schon nach gut zwei Stunden das vertraute Knirschen der kleinen Kieselsteine unter den Autoreifen einen Schauer über den Rücken jagt. Als Kind habe ich dieses Geräusch geliebt. Denn es bedeutete, dass wir die lange, kurvenreiche Auffahrt erreicht hatten, die zum Bauernhaus meiner Großmutter in Athenry im County Galway hinaufführt. Die Anreise von unserem Zuhause vor den Toren Dublins ist immer ermüdend gewesen. Ben und ich stritten die meiste Zeit auf dem Rücksitz miteinander und stellten die Geduld meiner Mutter gewaltig auf die Probe. Sie warnte uns immer wieder, dass sie auf der Stelle kehrtmachen und das Wochenende bei Nana streichen würde, wenn wir uns nicht benehmen. Uns war klar, dass sie nur bluffte; dennoch beendeten wir dann unsere Streitereien.
Das Haus meiner Großmutter verband ich immer mit aufregenden Geschichten, selbstgebackenen Kuchen und Lutschbonbons. Als kleines Mädchen war es für mich der schönste Ort der Welt, doch mittlerweile hat sich dort einiges verändert. Viele Jahre sind vergangen. Ben ist letzten Monat dreißig geworden, und ich bin fast neunundzwanzig. Wir haben viel zu tun, sodass wir längst nicht mehr so oft herkommen, wie wir es uns eigentlich wünschen würden. Ich versuche, wenigstens einen Übernachtungsbesuch pro Monat einzuplanen, doch es scheint immer schwieriger zu werden, sich diese Zeit freizuschaufeln. Ben ist stocksauer, wenn ich ihn damit nerve, doch bitte hinzufahren, weil ich es selbst nicht schaffe. Kaum zu glauben, dass wir einmal die naiven kleinen Kinder waren, die den alten Kasten fast genauso geliebt haben wie die alte Dame. Die Zeit hat uns alle verändert; genau davor hat meine Großmutter mich damals schon immer gewarnt.
»Zeit kannst du nicht aufsparen, Holly. Also nutze sie weise«, hat sie immer gesagt und mit dem Finger zu den Sternen am Himmel hinaufgezeigt. Dabei habe ich mich oft gefragt, ob sie wohl zu etwas oder jemandem da oben sprach.
»Eines Tages wirst du erwachsen sein«, hat sie immer gesagt. »Dann bist du zu groß, um auf meinem Schoß zu sitzen und dir meine Geschichten anzuhören.«
»Ich kann es gar nicht abwarten, groß zu sein«, antwortete ich dann immer ganz aufgeregt.
Als ich sieben war, habe ich das auch wirklich so gemeint. Ich stellte es mir großartig vor, erwachsen zu sein. Und manchmal ist es das auch. Nur eben in letzter Zeit nicht mehr. Ich wünschte, Nana hätte mich davor gewarnt, wie schwer man es als Erwachsene manchmal hat. Ich hätte mir ihren Rat gern zu Herzen genommen. Denn ihre Ratschläge habe ich immer befolgt, und das tue ich auch heute noch.
Als ich mit Schwung die letzte Kurve der Auffahrt nehme und mich der Vorderseite des Hauses nähere, steuere ich den vertrauten, großen Apfelbaum auf dem Rasen im Vorgarten an und beschließe, daneben zu parken. Ich lächele, als ich daran denke, wie sehr Nana diesen starken, alten Baum mit seiner knorrigen Rinde und den ausladenden Ästen und Zweigen liebt. Und ich erinnere mich noch gut an den Nachmittag im Sommer, als ich vom höchsten Ast gefallen bin und mir den linken Arm gebrochen habe. Ich war damals neun, fast zehn Jahre alt. Ich habe so laut geschrien, dass ich danach stundenlang keine Stimme mehr hatte. Nana hat mir zwei Pfund geschenkt und mir versprochen, mit mir zum Laden im Ort hinunterzugehen, um Süßigkeiten zu kaufen, wenn ich wieder aus dem Krankenhaus zurück sei. Ich weiß nicht mehr, ob wir an diesem Nachmittag tatsächlich noch Süßigkeiten gekauft haben, aber ich erinnere mich noch sehr gut an Nanas Arme, die mich umschlungen hielten, während sie mir sagte, dass ich das tapferste Mädchen in ganz Irland sei. Ich wünschte, ich könnte jetzt so tapfer sein wie damals.
Heute erkenne ich Nanas großes Bauernhaus kaum wieder. Aber wenn ich ehrlich bin, erkenne ich mich selbst in letzter Zeit nicht mal wieder. Alles verändert sich so plötzlich, dass es mir Angst macht. Während der letzten Monate hat der Gestank von Desinfektionsmitteln im Bauernhaus meiner Großmutter den Duft von Frischgebackenem abgelöst. Was wir jetzt zu hören bekommen, sind keine Geschichten mehr, die aus Büchern vorgelesen werden, die über und über mit Eselsohren versehen sind; es sind vielmehr ellenlange Erklärungen, die mit medizinischem Fachjargon gespickt sind und aus Krankenhausberichten stammen.
Noch während ich auf die Bremse trete und mein Auto danach unter den müden Zweigen des alten Apfelbaums abstelle, reißt mein Bruder schon die Haustür auf. Ich schlucke ein wenig Magensäure hinunter, die mir die gesamte Fahrt über immer wieder hochgekommen ist, und atme erleichtert auf. Schnell schnappe ich mir meine Handtasche vom Beifahrersitz und bin fast schon aus dem Auto gesprungen, bevor es endgültig zum Stehen gekommen ist. Ich vergesse völlig, mir wieder meine Schuhe anzuziehen, und rutsche stattdessen mit den Schlappen, die ich beim Autofahren immer trage, über den losen Kies. Ich kann gar nicht schnell genug hin zu all den Erinnerungen, die mir am Herzen liegen, obwohl ich auf eine Zukunft zusteuere, die mir Angst macht.
»Habe ich es noch rechtzeitig geschafft?«, schreie ich.
Meine Stimme hallt durch den großen offenen Garten und schallt mir wie ein Schlag ins Gesicht zurück. Dann herrscht Stille. Kein Windhauch raschelt in den Blättern des Baums. Kein einziger Vogel zwitschert in seinem Nest. Mir kommt es vor, als würde die Natur die Luft anhalten und auf die Antwort meines Bruders warten. Ben ruft jedoch nichts zurück. O Gott!
»Bin ich noch rechtzeitig gekommen?«, schreie ich noch lauter, während ich mich der Haustür nähere und in Bens Miene nach Hinweisen suche.
Ben nickt, und erst da wird mir klar, dass ich die Luft angehalten habe.
Erst als ich die klapprige Eingangsstufe erreiche, bremse ich ab. Mir fällt ein, wie sehr sie jedes Mal wackelt, wenn man drauftritt. Jahrelang bin ich unbeholfen darübergeklettert, weil ich nicht diejenige sein wollte, unter der die Stufe nachgibt. Doch heute bleibe ich mitten darauf stehen, und es ist, als ob die alte Betonplatte Mitleid empfindet – sie bewegt sich kein Stück unter meinem Gewicht.
Bens Augen sind ganz verquollen und blutunterlaufen. Er hat ganz offensichtlich geweint. Am liebsten würde ich ihn fest drücken, doch ich habe Angst, dass ich zusammenbreche und in tausend Stücke zerfalle, wenn ich ihn berühre. Mir schnürt es die Kehle zu, und plötzlich wird mir bewusst, wie sehr mir das Herz in der Brust klopft.
»Du hast es rechtzeitig geschafft«, erwidert Ben. Sein steifer Oberkörper gibt nach, und die Mundwinkel heben sich zu einem matten Lächeln. »Du hast es geschafft.«
Erleichtert schlage ich mir die Hand auf die Brust und muss husten. »Gott sei Dank.«
»Komm rein. Nana ist in ihrem Schlafzimmer.« Ben nickt in Richtung der ausladenden Treppe hinter ihm. »Die Krankenschwester ist bei ihr, Mam auch.«
Ben tritt beiseite und macht Platz, damit ich an ihm vorbeigehen kann, doch ich rühre mich nicht von der Stelle. Alle Haare im Nacken stehen mir zu Berge, und mein Rücken buckelt wie der einer aufgeschreckten Katze. Ich glaube, ich habe zu viel Angst davor hineinzugehen. Mit einem Mal komme ich mir wieder wie ein kleines Kind vor. Plötzlich brauche ich jemanden, der mir versichert, dass alles gut wird. Doch ich ahne, wie die Geschichte enden wird. Die Erwachsene in mir weiß, dass es dieses Mal kein Happy End gibt. Vielleicht wird es gar nicht passieren, wenn ich nicht hineingehe, rede ich mir ein. Ich bleibe einfach hier auf der Veranda stehen, und Nana wird wieder gesund. Sie wird wieder gesund.
»Holly, jetzt komm rein. Draußen ist es eiskalt!«, fordert mich Ben auf. Seine Hand schließt sich um meinen Ellbogen und schiebt mich ins Innere des Hauses, bevor er die schwere Eingangstür hinter uns schließt.
Ich lasse meine Handtasche auf den ausgeblichenen Korbstuhl fallen, der drinnen direkt neben der Tür steht. Dann bemerke ich, dass mein Vater auf der untersten Stufe hockt und in einen Kaffeebecher starrt. Ich lege meine Hand auf seine Schulter und drücke sie sanft. Er schaut auf und lächelt, doch weder sagt er einen Ton, noch steht er auf. Ich verstehe. Ganz langsam atme ich aus, nicke und haste dann an ihm vorbei.
»Kommst du mit, Ben?«, frage ich, bleibe auf halbem Weg die Treppe hinauf stehen und drehe mich zu ihm um.
Ben schüttelt den Kopf. »Geh nur ruhig. Lass dir Zeit mit ihr. Sie hat nach dir gefragt. Ich komme gleich nach.«
Sie hat nach mir gefragt? Tief in meiner Magengrube meldet sich das schlechte Gewissen. Ich hätte viel früher herkommen müssen. Im Büro war in letzter Zeit die Hölle los, seit man Nate zum Abteilungsleiter befördert hat, wenige Tage vor unserer Trennung, doch das ist keine Entschuldigung. Ich hätte mir die Zeit nehmen müssen, um meine sterbende Großmutter zu besuchen. Den Rest der Treppe laufe ich hinauf, indem ich immer zwei Stufen auf einmal nehme.
Nanas Schlafzimmertür ist einen Spaltbreit geöffnet, aus dem Inneren ertönt Musik. Zwar ganz leise nur, und es klingt eher wie ein Summen im Hintergrund, doch hier ist alles so still, dass ich die Musik bereits vom Treppenabsatz aus hören kann. Es ist dieser Opernkram, den Ben und ich als Kinder so gehasst haben. Nur Violinen und Cellos. Das Stück stammt aus Carmen – Nanas Lieblingsoper. Wie schön es ist, fällt mir erst jetzt auf.
Mit zitternder Hand greife ich nach Nanas Schlafzimmertür und öffne sie gerade so viel weiter, dass ich durch den Spalt passe. Die Vorhänge sind zugezogen, doch vier oder fünf kleine Kerzen, die wahllos auf Großmutters Frisierkommode bei dem Fenster stehen, verströmen ein zartes Licht. Ich blinzele, und innerhalb eines kurzen Moments haben sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Rote, vielleicht auch rosafarbene Rosen stehen in einer Keramikvase auf dem Nachttisch. Mir brennen die Augen, als ich sie, ohne auch nur einmal zu blinzeln, anstarre. Denn mir ist klar, dass ich jetzt gleich meine Großmutter im Bett liegen sehen werde, wenn mein Blick auch nur einen Hauch zur Seite wandert. Stattdessen konzentriere ich mich jedoch auf den Rücken meiner Mutter, die gebeugt am Bettrand auf der Matratze sitzt. Sie hält Nanas Hand, lässt diese jedoch los und steht auf, als sie mich bemerkt. Sie stürzt auf mich zu und umarmt mich so fest, dass sie mich fast erdrückt.
»Sie hat keine Schmerzen, Liebes«, erklärt Mam, als könnte sie meine Gedanken lesen und wüsste, was ich fragen würde, wenn ich nur ein Wort herausbringen könnte.
Ich nicke. Ich würde gern sagen, wie sehr es mich freut, dass Nana nicht leiden muss, aber ich schaffe es einfach nicht. Mam löst ihre Arme von mir und bittet mich, Platz zu nehmen. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Es gibt nur einen Stuhl neben dem Bett, und den verdient meine Mutter.
Ich weiche einen Schritt zurück, woraufhin ich mit den Schultern an die Wand hinter mir stoße. Die Kühle der Tapete scheint meinen zitternden Körper zu beruhigen; ich atme ein paar Mal tief ein, während ich mit steifem Rücken unbeholfen dastehe.
»Du musst keine Angst haben, Holly«, flüstert Mam. »Das würde sie nicht wollen.«
Ich runzele die Stirn. »Ich habe keine Angst.«
Eine glatte Lüge, und meine Mutter weiß das genau. Ich bin vor Angst sogar wie erstarrt, und mir entgeht nicht, wie die gleiche Angst bleischwer auf Mams Körper lastet.
Im Badezimmer nebenan wird plötzlich gespült, was mich erschreckt und tatsächlich zusammenzucken lässt.
»Das ist die Krankenschwester«, erklärt Mam schnell. »Sie ist großartig, Holly. Du wirst sie mögen. Sie ist seit ein paar Tagen bei Nana.«
Ich lächele schwach.
»Du siehst müde aus, Holly. Hast du schon was gegessen?«, erkundigt sich Mam.
Ich nicke. Meine zweite Lüge in weniger als einer Minute.
Meine Mutter schluckt schwer, und ich kann tatsächlich sehen, wie sich die Luft ihren Hals hinunterbewegt. Wie lange hat sie hier wohl schon gesessen, frage ich mich. Stunden? Wohl eher Tage. Sie muss erschöpft sein. Und sie sieht deutlich älter aus, fast so alt wie Nana.
»Weißt du was, Mam?«, erwidere ich und habe Mühe, meine Stimme unter Kontrolle zu halten. »Eigentlich habe ich ziemlich großen Hunger …«
Meine Mutter richtet sich auf und reibt sich die Hände. »Natürlich hast du das«, nickt sie. »Ich geh schnell runter und mache dir was. Ich glaube, im Kühlschrank sind noch Reste von heute Mittag. Wenn nicht, dann laufe ich kurz zum Laden rüber. Ich bin gleich wieder da.«
»Das klingt super«, lächele ich. »Vielen Dank.«
Ich habe überhaupt keinen Hunger. Eben habe ich schon versucht, an einem Apfel zu knabbern, doch davon ist mir übel geworden. Aber meine Mutter ist erschöpft und braucht eine Pause davon, am Bett meiner Großmutter zu wachen. Da ist es das Mindeste, dass ich mir ein Sandwich runterwürge, wenn es ihr hilft und für eine kurze Ablenkung sorgt.
»Du bleibst bei ihr, nicht wahr?«, fragt Mam und dreht sich noch einmal zu mir um, als sie an der Schlafzimmertür angekommen ist.
»Natürlich. Ich gehe nirgendwohin.«
Holly
»Sie können sich ruhig hinsetzen.«
Ich wirbele herum und bemühe mich, nicht allzu entgeistert auszusehen, als eine fremde Frau mittleren Alters das Zimmer betritt. Die Krankenschwester, wird mir klar. Ich bin einigermaßen verwundert, dass sie normale Kleidung trägt und nicht etwa einen Schwesternkittel, wie ich es erwartet habe.
»Annie, bist du wach?«, fragt die Schwester laut und langsam, als sie sich über Nanas Bett beugt. »Du hast Besuch.«
Die Krankenschwester schaut mich an, und es dauert länger, als es eigentlich sollte, bis bei mir der Groschen fällt. Sie wartet darauf, dass ich mich vorstelle.
»Ich bin Holly«, flüstere ich.
»Ah, Holly.« Sie strahlt, als sei ihr der Name bekannt. »Schön, Sie endlich kennenzulernen. Ich bin Marcy.« Sie streckt den Arm aus, und wir schütteln einander die Hände.
Es fühlt sich seltsam an, über das Bett meiner Großmutter hinweg Höflichkeiten auszutauschen. Aber heute fühlt sich einfach alles irgendwie komisch an.
»Annie hat mir eine Menge über ihre Enkelin erzählt. Sie beide stehen einander sehr nahe, nicht wahr?«
Marcys große Kulleraugen glänzen, wenn sie von Nana spricht, als seien die beiden in den letzten Tagen beste Freundinnen geworden, was mich sehr freut. Marcy ist ziemlich klein – knapp ein Meter fünfzig, schätze ich – und hat deutliches Übergewicht. Ihr Lächeln ist warmherzig, und ihre Stimme besitzt einen beruhigenden Klang. Ich glaube, ich mag Marcy. Jede Wette, dass Nana sie auch mag.
»Ja, das tun wir.« Ich schlucke mühsam und bringe es endlich übers Herz, meine Großmutter anzuschauen. »Wir sind uns immer schon sehr nahe gewesen. Nana hat mich nach Strich und Faden verwöhnt, als ich noch klein war.«
Meine Großmutter ist blass, doch damit habe ich gerechnet. Allerdings überrascht es mich, dass sie so dünn geworden ist. Ihre Haut klebt an den Knochen, als sei nichts mehr dazwischen. Doch sie lächelt matt, während ihre Hände bequem seitlich neben ihr ruhen. Die Nägel sind hellrosa lackiert und so schön und gepflegt manikürt wie eh und je. Eine elegante Dame bis zum letzten Atemzug, denke ich und platze fast vor Stolz.
»Entschuldigen Sie mich bitte«, sagt Marcy, als sie an mir vorbeistreift und sich zwischen dem leeren Stuhl und der Bettseite hindurchschlängelt. Sie streicht meiner Großmutter über das graue Haar und schiebt es ihr mit der Hand aus der Stirn. Dann beugt sie sich hinunter und flüstert Nana etwas ins Ohr, woraufhin Nanas mattes Lächeln ein wenig breiter wird.
Marcy dreht sich langsam um und nickt. »Sie weiß, dass Sie hier sind.«
Ich warte und beobachte Nana, doch sie rührt sich nicht. Mir kommen die Tränen, obwohl ich schon so viel im Auto geweint habe, dass ich eigentlich angenommen habe, dass meine Tränendrüsen jetzt ausgetrocknet sein müssten. Was sie aber offensichtlich nicht sind.
»Ich lasse euch beiden mal ein wenig Zeit«, erklärt Marcy.
Ich mache große Augen und erstarre.
»Keine Sorge«, beruhigt mich Marcy, da sie offensichtlich meine Angst spürt. »Annie hat alle Medikamente genommen, die sie braucht. Im Augenblick ist sie einfach nur müde. Sprechen Sie mit ihr. Seien Sie bei ihr. Nutzen Sie die Zeit, um weitere Erinnerungen zu schaffen.«
»Okay.« Wieder muss ich schwer schlucken und fühle mich unsicher.
»Ich bin unten in der Küche, wenn Sie mich brauchen«, fügt Marcy hinzu, während sie Tabletten und andere medizinische Sachen aus dem Zimmer aufsammelt.
Dann ist sie fort, sodass es nur noch Nana und mich gibt. Ich brauche eine Weile, bis ich es endlich auf den Stuhl neben ihrem Bett schaffe. Zwei ganze Lieder hat Nanas Carmen-CD in dieser Zeit abgespielt. Als ich mich endlich setze und die Hand meiner Großmutter nehme, schlingen sich ihre Finger um meine Handfläche. Und ich bin mir nicht ganz sicher, aber es fühlt sich fast an, als drücke sie meine Hand.
Ich neige den Kopf und schweige, während mir die Tränen wie Sommerregen auf die Knie meiner dunkelblauen Hose tropfen.
»Ich habe dich lieb, Nana«, flüstere ich. »Ganz doll.«
Dieses Mal bin ich absolut sicher, dass Nana mir die Hand gedrückt hat. Ich ziehe die Nase hoch und reiße mich zusammen. Das Letzte, was Nana jetzt noch braucht, ist ein zitterndes Häufchen Elend, das sich an ihrem Bett die Augen ausheult.
Nachdem ich einmal angefangen habe, mit ihr zu reden, kann ich gar nicht mehr aufhören. Zuerst stottere ich nur zusammenhangloses Zeug, doch es dauert nicht lange, bis alte Erinnerungen geweckt werden und mir die Worte mühelos über die Lippen sprudeln. Ich erzähle Nana, wie sehr sie Ben und mich über die Jahre hinweg verwöhnt hat. Andauernd hat sie uns vor dem Abendessen Süßigkeiten zugesteckt – was meine Mutter unglaublich geärgert hat. Ich erinnere mich noch gut an die trägen Sommertage, an denen sie mit uns im See hinterm Haus schwimmen gegangen ist. Ich arbeite mich langsam durch unsere Jugendzeit, als Ben und ich launisch waren und noch dachten, wir hätten die ewige Jugend für uns gepachtet. Wir sind regelmäßig ausgerastet, wenn unsere Eltern uns von unseren Freunden weggezerrt haben, um übers Wochenende nach Galway zu fahren. Und dann sind da noch meine neuesten Probleme. Es fällt schwer, darüber zu sprechen.
»Mein Liebesleben ist völlig im Eimer, Nana«, gebe ich zu. Die Worte schmecken bitter. »Ich weiß, wie sehr du Nate magst, aber er ist nicht der Mann, für den du ihn hältst. Und er ist auch nicht der Mann, für den ich ihn gehalten habe.« Ich seufze schwer; Trauer und Bedauern nagen an meiner Seele. »Vor kurzem hat er sein wahres Ich gezeigt, und er ist wirklich ein riesengroßer Mistkerl. Glaub mir! Das allererste Problem, und schon fährt er mit seinen Brüdern für eine Woche nach Ibiza. Ist das zu fassen? Er macht sich einfach aus dem Staub und ruft mich dann sturzbetrunken um vier Uhr morgens an, um sich zu entschuldigen. Aber dafür ist es zu spät. Was passiert ist, ist passiert. Und es führt kein Weg mehr zurück. Dabei hatte ich wirklich gedacht, ich hätte den Richtigen gefunden, Nana.« Ich habe Mühe, die Tränen zurückzuhalten. »Das habe ich wirklich. Und obwohl alles das totale Chaos ist, ist das Schlimmste an der ganzen Sache, dass ich ihn wirklich vermisse. Ich vermisse ihn sogar sehr.« Ich fahre mir mit der Hand durchs Gesicht und zupfe und ziehe an meiner Haut, bis sie wehtut. »Vielleicht wird mir die wahre Liebe nie begegnen.«
Nana klammert ihre Finger fester um meine Hand, und instinktiv beuge ich mich näher zu ihr hinunter. Es dauert einen Moment, doch schließlich öffnet Nana den Mund und schiebt die Zunge über ihre ausgetrockneten Lippen. Ich warte. Sie will etwas sagen. Vor Aufregung ist mir fast schlecht, und das Blut schießt mir so heftig durch die Adern, dass ich meinen eigenen Puls in den Ohren rauschen höre.
»Die wahre Liebe …« Nana hustet und öffnet die Augen. »Du kannst sie nicht finden, Holly. Sie findet dich. Und dann lässt sie dich nicht mehr los. Niemals.«
Ich will ihr gerade antworten, wie sehr ich hoffe, dass das stimmt, bekomme dazu aber nicht die Gelegenheit. Nana hustet wie verrückt und bekommt keine Luft mehr. Allein die wenigen Worte haben sie zu sehr angestrengt.
»Schon gut, Nana«, flüstere ich, als ich mich über sie beuge und ihr sanft über die Brust reibe. »Alles wird gut.«
Nichts wird mehr gut. Ich bin kurz davor durchzudrehen. Ich will ihr dabei helfen, sich aufzusetzen, damit sie abhusten und wieder Luft bekommen kann, aber ich habe Angst, sie zu bewegen, damit ich ihre zerbrechlichen Knochen nicht verletze.
»Versuch, ruhig zu bleiben, Nana. Keine Panik«, sage ich zu ihr, ziehe meine Hand zurück und stürze zur Schlafzimmertür hinaus.
Keine Panik? Ich verdrehe die Augen – ich bin so eine Heuchlerin!
Ich bleibe an der obersten Treppenstufe stehen und starre über das Geländer. Im Flur ist niemand. Aus der Küche höre ich jedoch Stimmen, Teetassen klappern. Leider kann ich nicht rufen, da ich sonst meine Großmutter erschrecken würde, aber ich brauche dringend die Krankenschwester. Innerlich zerrissen laufe ich die ersten Stufen hinunter. Einerseits will ich Nana nicht allein lassen, andererseits brauche ich Hilfe. Auf halbem Wege halte ich inne und keuche vor Erleichterung, als Ben in der Küchentür erscheint. Er schaut zu mir rauf, und ich muss gar nichts mehr sagen. Er hastet durch die Tür zurück, und innerhalb von Sekunden ist Marcy da, die an mir vorbei die Treppe hinaufeilt.
Wenige Minuten später kommt Ben mich holen. Mir war überhaupt nicht bewusst, dass ich wie erstarrt auf der Treppe stehen geblieben bin, bis ich schließlich die Hand meines Bruders auf der Schulter spüre.
»Komm mit. Wir besorgen dir erst mal einen Kaffee, Holly. Mam hat dir etwas zu essen zubereitet. Ich wollte dich eben rufen.«
Mir schlottern die Knie, als ich die Treppe hinuntergehen will. Ben hält mir seinen Ellbogen hin, in den ich mich dankbar einhake und ihn den Großteil meines Gewichts tragen lasse.
»Passiert das gerade wirklich?«, murmele ich. »Wird Nana uns für immer verlassen?«
»Ja, Holly. Ich glaube schon.«
Holly
Zusammen mit meiner Familie sitze ich um den Küchentisch herum und trinke schweigend Kaffee, den ich eigentlich gar nicht will. Ich starre aus dem Fenster, nehme den Garten draußen aber gar nicht richtig wahr; viel zu sehr bin ich damit beschäftigt, alte Erinnerungen vor meinem geistigen Auge aufleben zu lassen. Ich konzentriere mich auf meinen letzten Besuch vor Nanas Diagnose hier in ihrem Bauernhaus. Ich glaube, es war im Spätsommer. Nate und ich waren auf dem Weg ins County Mayo, um das Wochenende am Meer zu verbringen; unterwegs dahin sind wir kurz vorbeigekommen, um uns mit Nana zu unterhalten. Wie immer hatte Nana Tee und Scones für uns vorbereitet, und wir drei saßen genau an diesem Tisch, und Nana erzählte uns ein paar ihrer Geschichten von früher. Das alles hatte ich schon dutzende Male zuvor gehört, doch jetzt bereue ich es sehr, nicht richtig bei der Sache gewesen zu sein, da ich so schnell wie möglich weiter und ans Meer kommen wollte. Nate dagegen hat aufmerksam zugehört und viele Fragen über die Vergangenheit gestellt. Damals habe ich gedacht, dass er sie bei Laune halten wollte, doch rückblickend bin ich inzwischen überzeugt, dass er nur sehr wissbegierig war und von ihrem Leben aus einer Zeit erfahren wollte, als es noch keine Handys oder E-Mails gab.
Ein sanftes Klopfen an der Küchentür holt mich ins Hier und Jetzt zurück. Mit einem Quietschen öffnet sich die Tür, und Marcys Kopf taucht im Türspalt auf.
»Marcy«, sagt meine Mutter und steht auf, als die Tür geöffnet wird.
»Kaffee?«, fragt Ben, der zwischen Tisch und Küchenwand eingequetscht ist, und unternimmt einen Versuch, von seinem Platz aufzustehen.
Marcy schüttelt sanft den Kopf. »Nein, vielen Dank, Ben. Ich hatte heute schon so viel davon.«
Ben lässt sich wieder auf seinen Stuhl fallen und starrt weiter in seinen Becher mit kaltem Kaffee, den er nicht getrunken hat.
Marcy und meine Mutter stehen eine Zeit lang schweigend da und tauschen Blicke aus, als würde Marcy meiner Mutter wortlos etwas mitteilen. Ich wünschte, ich würde es verstehen. Ich wünschte, Marcy würde etwas sagen. Und ich wünschte mir, Mam würde sich wieder hinsetzen; sie sieht aus, als würde sie gleich zusammenbrechen. Ich ertappe mich dabei, wie ich auf die Stuhlkante vorrücke, um sie, nur für den Fall, auffangen zu können.
Marcy und meine Mutter müssten etwa im gleichen Alter sein. Beide bevorzugen einen unkomplizierten Kleidungsstil und haben graue Haarsträhnen – auch wenn meine Mutter deutlich mehr davon hat. Doch während Marcy klein und korpulent ist, ist meine Mutter schlank und groß, ja sogar größer als viele Männer, die ich kenne.
Wahrscheinlich dauert es nur wenige Sekunden, bevor Marcy das Wort ergreift, doch die Warterei kommt mir wie eine Ewigkeit vor.
»Annie hat sich wieder beruhigt«, erklärt Marcy. »Das Morphin wirkt jetzt.«
»Wie lange hat sie noch?«, platzt es plötzlich aus mir heraus.
Mam starrt mich missbilligend an. Mein Vater ruft meinen Namen so, wie er es früher immer gemacht hat, als ich noch ein Kind war und er mich wegen irgendeiner Ungezogenheit ausgeschimpft hat.
»Es tut mir leid.« Ich schlucke und entschuldige mich, um die Gefühle meiner Eltern zu schonen, doch innerlich brenne ich darauf, eine Antwort zu bekommen.
»Das muss es nicht«, entgegnet Marcy. »Sie wären überrascht, wie oft ich diese Frage zu hören bekomme. Ich wünschte nur, ich könnte Ihnen darauf eine Antwort geben, Holly, aber so leid es mir tut, die gibt es nicht. Jeder Mensch ist anders. Außerdem ist Ihre Großmutter eine Kämpferin, so viel steht fest.«
»Aber viel Zeit bleibt uns nicht mehr, oder?«, hake ich nach.
»Holly! Schluss damit!«, protestiert Dad. »Nicht vor deiner Mutter!«
»Lass sie, George«, unterbricht Mam ihn. »Sie hat ja Recht mit ihrer Frage. Vielleicht wäre es tatsächlich besser, es zu wissen. Zumindest können wir dann Vorkehrungen treffen.«
Jetzt kneife ich die Augen zusammen und starre meine Mutter finster an. Mir ist klar, dass sie die Beerdigung meint. Du meine Güte! Wir führen doch wohl nicht ernsthaft diese Unterhaltung, oder?
»Ich werde mich schon darum kümmern, Mam. Mach dir darum keine Sorgen«, erklärt Ben und schaut auf.
Normalerweise ist bei unseren Gesprächen genau das der Punkt, an dem ich dann einen Witz reißen und meinen Bruder einen Arschkriecher nennen würde, weil er mal wieder versucht, der Beliebtere von uns beiden zu sein. Aber nicht heute. Heute ist nichts lustig.
Ich sage kein Wort mehr. Marcy hat mir die Antwort, die ich mir erhofft habe, leider nicht gegeben. Die Antwort nämlich, dass all das hier ein großer Irrtum ist, dass Nana nur eine simple Grippe hat und es ihr in ein paar Tagen wieder besser geht. Ich habe keine Lust, über irgendetwas anderes zu reden.
»Entschuldigt mich«, sage ich und schiebe meinen Stuhl zurück.
Die Stuhlbeine quietschen, als sie sich weigern, über die Marmorfliesen zu gleiten. Alle Augen ruhen auf mir, als ich aufstehe. Was zum Teufel …? Ich verlasse die Küche durch die Gartentür, ohne mich noch einmal umzuschauen.
Instinktiv steuere ich den alten Hühnerstall am Ende des Gartens an. Hier riecht es seltsam. Seit mehr als zwanzig Jahren schon hat Nana hier drinnen keine Hühner mehr gehalten, doch ich könnte schwören, immer noch den Geruch von Hafermehl und flauschigen gelben Federn frisch geschlüpfter Küken in der Nase zu haben. Ich presse mir die Hand auf die Brust und hole erst einmal tief Luft, die jedoch so eiskalt ist, dass ich husten muss. Es kann nicht später als achtzehn Uhr sein, gefühlt ist es jedoch schon mitten in der Nacht. Wie sehr ich den Januar hasse! Hier hinten im Garten ist es schon dunkel, und ich bin zu weit vom Haus entfernt, damit das Licht, das aus dem Küchenfenster strahlt, bis hierher reicht.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie Ben und ich uns hier draußen versteckt haben, lange nachdem wir eigentlich ins Bett hätten gehen sollen, und zufrieden waren, dass uns hier im Dunkeln niemand finden würde. Jetzt ist jedoch alles anders. In den letzten Wochen hätte ich mich liebend gern wieder so versteckt. Doch nun habe ich Probleme, denen man nicht so einfach entkommen kann.
Ich zerre das Handy aus der Hosentasche und nutze die Taschenlampenfunktion, um zu sehen, was sich um mich herum befindet. Dabei fallen mir erst unzählige verpasste Anrufe sowie Textnachrichten von Nate auf, doch ich ignoriere sie. Wahrscheinlich will er nur mit mir debattieren, warum ich einfach aus dem Büro gestürzt bin, obwohl ich morgen eigentlich eine wichtige Präsentation für einen internationalen Kunden vor mir habe. In letzter Zeit reden wir kaum noch miteinander, und wenn, dann nur über Berufliches. Zuerst dachte ich, es wäre besser so, doch mittlerweile fällt es mir immer schwerer, so zu tun, als seien wir nur Arbeitskollegen. Ich vermisse den Mann, den ich einmal für meinen Seelenverwandten gehalten habe.
Als ich auf einen leeren Metalleimer stoße, drehe ich ihn um und setze mich darauf. Es ist eiskalt und fast schon lächerlich unbequem, aber ich stehe nicht wieder auf. Stattdessen verschränke ich die Arme vor der Brust, um mich zu wärmen, und krümme mich so zusammen, dass ich fast zu einer Kugel zusammengekauert bin. Dicke salzige Tränen kullern mir über die Wangen, während mein Körper ächzt und stöhnt. Es tut gut, alles rauszulassen. Zugleich fühlt es sich aber so unglaublich schlimm und schmerzhaft an, dass ich nicht weiß, ob ich dem gewachsen bin. O Nana.
»Da sind Sie ja!«, ertönt plötzlich eine Stimme.
Ich zucke zusammen und richte mich unwillkürlich auf.
»Ihre Mutter hat mir gesagt, dass Sie bestimmt hier draußen sind«, erklärt Marcy.
»Ich musste mal kurz alleine sein.«
»Das verstehe ich. So eine Situation ist alles andere als leicht. Aber hier draußen ist es bitterkalt, und Sie haben keinen Mantel an«, fährt Marcy fort. »Annie würde nicht wollen, dass Sie sich hier den Tod holen.«
»Vielleicht wäre das gar nicht mal so schlecht«, knurre ich. »Dann könnten wir gemeinsam gehen.«
»O Holly, Süße. Nein.« Selbst im Dunkeln sehe ich, wie Marcy den Kopf schüttelt. »Sie sind jung und haben noch das ganze Leben vor sich. Ich weiß, wie weh das tut, aber Ihre Großmutter würde nicht wollen, Sie so reden zu hören.«
»Es ist einfach nicht fair.« Ich schniefe und ziehe den Ärmel meines Pullovers über die Hand, um mir damit die Tränen wegzuwischen.
»Ich weiß. Ich weiß«, erwidert Marcy. »Ich weiß, dass es sich jetzt genau so anfühlt. Aber auch Annie war einmal jung, genauso jung, wie Sie es jetzt sind. Sie hat ihr Leben gelebt. Ein tolles Leben, Holly. Ihre Zeit ist jetzt gekommen, und sie ist bereit zu gehen. Aber sie kann nicht friedlich einschlafen, wenn sie weiß, dass Sie hier draußen ganz allein herumlaufen und so aufgewühlt sind.«
Ich rümpfe die Nase. So lieb und nett Marcy auch ist, aber ihre Ansprache ist noch mieser als der Gestank hier im Hühnerstall.
»Hat meine Mutter Sie beauftragt, mir das zu sagen?«, frage ich.
Marcy schüttelt den Kopf, aber ich weiß, dass sie lügt.
»Nana weiß gar nicht, dass ich hier draußen bin, oder?«
»Nein«, gibt Marcy zu.
Ich lächele, lasse den Kopf sinken und fühle mich gleich schon ein bisschen besser. Marcy ist mir viel sympathischer, wenn sie ehrlich ist.
»Aber Annie macht sich sehr wohl Sorgen um Sie«, fügt Marcy hinzu. »Sie findet, dass Sie in Liebesdingen Ihr Herz zu sehr schützen, und das will sie nicht.«
Unweigerlich muss ich an Nate denken. Ich habe das Getuschel der Kollegen im Büro mitbekommen, dass sie uns für das Pärchen halten, das am wenigsten zueinander passt. Nate ist selbstsicher und nimmt kein Blatt vor den Mund. Ich dagegen bin still und halte mich, was Gefühle betrifft, sehr zurück. Die Kolleginnen aus der Buchhaltung hatten sogar eine Wette laufen, wann wir uns trennen werden. Wer auch immer auf den Januar getippt hat, gewinnt ein Vermögen. Meine Familie dagegen hat uns die Daumen gedrückt. Meine Mutter meinte, Nate tue mir gut und habe mich aus meinem Schneckenhäuschen geholt – was auch immer das bedeuten soll. Und Nana fand, Nate würde sie an jemanden erinnern. Ich wünschte, ich hätte mir die Zeit genommen, sie zu fragen, an wen.
Ich hebe den Kopf und mustere die Frau, die vor mir steht. Zwar kenne ich sie nicht, doch sie scheint viel über mich zu wissen.
»Nana hat gesagt, dass sie sich Sorgen um mich macht?«, piepse ich.
»Das musste sie gar nicht«, antwortet Marcy. »Es ist vielmehr das, was sie nicht gesagt hat, was zeigt, wie sehr sie sich um Sie sorgt. Und um Ihren Bruder.«
»Sie haben in der letzten Zeit viel miteinander geredet«, lächele ich. »Also Nana und Sie.«
Marcys Stimme wird sanfter – glücklicher. »Annie ist eine ganz wunderbare Dame. Ich freue mich, mich um sie zu kümmern und sie kennengelernt zu haben.«
Marcys bittersüße Worte treffen mich ins Herz. Menschen erst dann kennenzulernen, wenn sie kurz davor sind, sich von dieser Welt zu verabschieden, muss für Marcy sehr schwer sein, stelle ich mir vor. Meine Großmutter ist eine tolle Frau. Das finden alle. Sie hat ihr ganzes Leben in Athenry verbracht, die gesamte Stadt kennt sie gut. Sie ist beliebt und findet schnell neue Freunde. Also ist es wirklich keine Überraschung, dass meine Großmutter selbst auf dem Sterbebett noch neue Freundschaften schließt und Menschen mit ihrer bezaubernden Art und ihrer Herzenswärme für sich gewinnt. Leider komme ich so gar nicht nach ihr. Aber ich bin wirklich froh, dass Marcy Nanas Krankenschwester ist und Nana in den vergangenen Tagen Gesellschaft hatte. Jemand, mit dem sie ihre Geschichten von früher teilen kann. Eigentlich hätte ich diejenige sein sollen, doch jetzt ich bin ja hier. Jetzt können wir reden. Ich stehe auf.
»Sie kommen also wieder mit rein?«, fragt Marcy.
»Ja. Natürlich.« Ich hätte gar nicht erst rausgehen sollen.
»Oh, eines noch. Ich habe noch eine kurze Frage«, sagt Marcy und spielt an ihren Fingernägeln herum.
»Okay«, erwidere ich und frage mich, warum sie nicht warten kann, bis wir wieder drinnen sind – wo es schön warm ist.
»War Annie früher Künstlerin?«
Ich kichere. »O Gott, nein. Malen und Zeichnen liegen Nana überhaupt nicht. Sie ist eher ein Büchernarr.«
Marcy schweigt, sodass ich noch ein wenig aushole. »Nana ist eine richtige Leseratte. Eine passionierte Leserin, das grenzt bei ihr schon fast an Besessenheit.« Ich seufze und schwelge in Erinnerungen. »Eigentlich komisch, dass sie niemals selbst ein Buch geschrieben hat.«
»Hmmm.« Marcy kratzt sich tatsächlich am Kopf. »Es ist nur … hmmm …«
»Was denn?«, frage ich. Jetzt hat mich die Neugier gepackt.
»Ach nichts, gar nichts. Vergessen Sie’s.«
»Jetzt sagen Sie schon!«, fordere ich sie auf. »Gibt es etwas, worum wir uns Sorgen machen sollten?«
»Nein, nein.« Marcy wedelt mit der Hand hin und her, als würde sie einen Fehler wegwischen, der in der Luft steht. »Es ist nur … Annie spricht so liebevoll von ihren Entwürfen. Im Schlaf erzählt sie davon. Es macht sie glücklich.«
»Wie komisch«, stelle ich fest und schüttele den Kopf. »Ich hatte keine Ahnung davon, dass Nana zeichnet.«
»Ich habe mich sogar gefragt, ob sie irgendwo einen alten Skizzenblock hat. Oder ein paar Bilder, die sie gemalt hat und die irgendwo verborgen sind. Auf dem Dachboden vielleicht?«, hakt Marcy nach.
Ich zucke mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wir können ja mal nachsehen. Aber das klingt so gar nicht nach Nana.«
»Vielleicht war das vor langer Zeit«, fährt Marcy fort. »Bevor Sie geboren wurden, schätze ich. Ich kann ja mal Ihre Mutter danach fragen.«
»Nein«, zucke ich zusammen. »Sagen Sie ihr erst einmal nichts. Meine Mutter hat es schon schwer genug. Wenn sie jetzt auch noch denkt, dass Bilder, die Nana wichtig sind, irgendwo verloren gegangen sein könnten, würde sie das noch viel mehr aufregen. Ich werde danach suchen. Das wäre dann immerhin eine Sache weniger, um die sie sich kümmern muss.«
»Klingt nach einem guten Plan, Holly. Hoffentlich werden Sie fündig. Ihre Großmutter spricht so liebevoll davon. Sie müssen etwas ganz Besonderes sein.«
»Okay«, lächele ich, zufrieden, dass ich eine Aufgabe habe. »Ich fange sofort mit der Suche an.«
»Braves Mädchen.« Marcy legt mir eine Hand auf die Schulter.
Ich frage mich ernsthaft, ob die Suche nach den Entwürfen wirklich so wichtig für Nana ist … oder eher für mich. Denn ich habe das Gefühl, dass Marcy mich wie ein offenes Buch lesen kann. Vielleicht gibt es gar keine Gemälde. Vielleicht ist diese Vorstellung nichts anderes als eine willkommene Ablenkung. Etwas, womit ich mich beschäftigen kann und das mich davon abhält, wieder auszuflippen. Mir wird klar, dass ich Marcy jetzt erst recht mag.
Holly
Der Dachboden riecht noch viel muffiger als der Hühnerstall. Modrige, feuchte, abgestandene Luft schlägt mir entgegen, sobald Ben die Dachbodenluke zurückschiebt. Ich will dort nicht hinauf. Vermutlich haben die einzigen Besucher, die der Dachboden in den letzten zwanzig Jahren gesehen hat, deutlich mehr Beine als ich.
»Jetzt komm schon, Holly!« Ben späht durch die viereckige Öffnung der Dachbodenluke in der Decke des Gästezimmers von oben zu mir herunter. »Hier gibt es keine Spinnen. Ich habe alles abgesucht.«
»Sei bloß vorsichtig«, warne ich ihn unwillkürlich.
»Kommst du jetzt rauf oder nicht? Immerhin war das deine Idee«, mault Ben.
»Gib mir eine Minute«, erwidere ich, als ich mit zitternden Händen die Seiten der Leiter packe.
Ben verschwindet aus meinem Sichtfeld, ich weiß, dass er genervt ist. Denn ich habe ihm nicht einmal verraten, wonach wir suchen. Doch sobald ich den Dachboden auch nur erwähnt habe, hat sein Gesicht gestrahlt. Wahrscheinlich ist er für diese Ablenkung genauso dankbar wie ich. Oder er ist aufgeregt. Es ist nämlich genauso wie damals, als wir noch klein waren. Da haben wir uns als Märchenfee und Darth Vader verkleidet und stundenlang die Gegend erkundet. Kein Stein, den wir nicht umgedreht hätten. Im wahrsten Sinne des Wortes. Der Garten glich einem Schlachtfeld, wenn wir fertig waren. Wie ein Wirbelwind sind wir durch das Haus gefegt, haben Kissen vom Sofa auf den Boden geworfen und sie als Trittsteine benutzt, um einen Lavafluss zu überqueren, frische Wäsche aus dem Wandschrank geworfen auf der Suche nach einem Schatz. Meine Mutter hat uns jedes Mal ausgeschimpft und darauf bestanden, dass wir das Chaos beseitigen, doch meine Großmutter hat nur gelacht, uns dazu verdonnert, nach dem Abendessen abzuspülen, und dann das Haus schnell selbst wieder auf Vordermann gebracht.
Das Gebälk über mir ächzt und knackt und reißt mich aus meinen Gedanken in die Gegenwart auf der wackeligen Leiter zurück. So klingt es, wenn Ben dort oben auf und ab läuft. Staub rieselt auf mich herab und landet in meinen Augen; ich fluche leise vor mich hin.
Beim Hinaufklettern zittern mir die Knie. »Ich komme«, rufe ich, obwohl ich nicht weiß, warum ich mich ankündige – als ob Ben mich nicht erwarten würde.
Ben antwortet nicht; stattdessen flackert ein Licht, und nach ein paar neuerlichen Anläufen bleibt es schließlich an. Im Hellen ist alles schon gleich viel weniger beängstigend.
»Hab den Lichtschalter gefunden«, ruft Ben überflüssigerweise.
»Tatsächlich? Ist mir gar nicht aufgefallen.«
Ben seufzt, woraufhin ich lachen muss. Es ist, als wären wir tatsächlich wieder Kinder.
Endlich bin ich oben auf der Leiter angelangt, hole tief Luft und stecke den Kopf durch die Öffnung der Dachluke. Es ist überraschend. An einigen Stellen schaut unter der Dachverkleidung Dämmmaterial hervor, doch davon einmal abgesehen hätte man meinen können, sich in einem beliebigen Raum des Hauses zu befinden. Der unbenutzt und kalt ist – zugegeben. Doch auf keinen Fall ist es die Brutstätte angsteinflößender Insekten, wie ich es erwartet habe.
»Schau dir das mal an!« Ben deutet auf einen Berg ordentlich aufeinandergestapelter Kartons in verschiedenen Größen. »Nana war eine Sammlerin. Wer hätte das gedacht?«
»Ist, Ben«, korrigiere ich ihn. »Nana ist eine Sammlerin.«
»Als sie noch jung war, meinte ich, Holly. Du meine Güte!«, blafft mich Ben an. »Ich wollte damit doch nicht sagen, dass sie … dass sie …«
Ben wirkt, als kämen ihm gleich die Tränen. Ich fühle mich schrecklich. »Tut mir leid. Es ist alles so komisch. Ich wollte dich nicht anmeckern.«
Ben dreht mir den Rücken zu und hebt einen der größten Kartons vom Stapel. Als Ben sich umdreht und den Karton zwischen uns auf den Boden stellt, erkenne ich an seiner Miene, dass dieser schwerer ist als angenommen. Dann löst er das vergilbte, nicht mehr sonderlich gut klebende Paketband. Dieses Geräusch hallt einen Augenblick lang über den Dachboden und klingt umso lauter, da keiner von uns beiden einen Ton sagt. Ich kann zwar nicht für Ben sprechen, aber ich halte in diesem Moment den Atem an.
»Schallplatten«, verkündet Ben vergnügt, als er den Karton durchstöbert. »Hier sind ganz viele davon.«
»Vorsichtig«, warne ich. »Wenn das originale Schellackplatten sind, könnten sie ein Vermögen wert sein. Nana würde ausflippen, wenn wir sie beschädigen.«
»Ich frage mich, ob man die immer noch abspielen kann?«, grinst Ben.
Ich zucke mit den Schultern. »Klar, warum nicht? Aber worauf willst du sie abspielen? Für den CD-Player sind sie ja wohl ein wenig zu groß.«
»Moment. Moment …«, erwidert Ben und hebt einen Zeigefinger.
Er stürzt zum entgegengesetzten Ende des Dachbodens, wodurch die Holzbretter unter uns beben. Das jagt mir ganz schön Angst ein. Immerhin fühlt es sich an, als ob sie brechen und wir jeden Augenblick durch die Decke fallen könnten.
»Aha«, ruft Ben, nachdem er ein paar Tücher beiseitegezogen hat, die einen großen und seltsam geformten Haufen bedeckt hatten.
»Ein Grammophon!«, stelle ich fest. Schnell sind meine Bedenken hinsichtlich des riskanten Holzbodens vergessen, und ich laufe zu Ben hinüber, um den Apparat selbst in Augenschein zu nehmen. »O Ben, den müssen wir zu Nana runterbringen. Damit könnten wir ihr ein paar ihrer Platten vorspielen. Jede Wette, dass ihr das gefallen wird!«
Mein Bruder mustert mich niedergeschlagen. Schnell schaue ich weg; meine Begeisterung wird mit einem Schlag von der Trauer in seinem Blick zunichtegemacht.
»Lass uns erst mal prüfen, ob es überhaupt noch funktioniert«, erwidert er leise.
Ben beugt sich vor und dreht an dem Hebel, der sich an der Seite befindet.
»Man muss es ankurbeln?«, frage ich mit großen Augen. »Wow. Das muss richtig alt sein.«
»Jepp. Vielleicht hundert Jahre«, erklärt Ben. »Das ist eine echte Antiquität. Wahrscheinlich gehörte das Grammophon den Urgroßeltern.«
Ben ist ein Geschichtsass. Auf dem College studiert er Archäologie und arbeitet nebenher in einem Museum in Cork. Tatsächlich bittet er Nana immer und immer wieder, ihm Geschichten von früher zu erzählen. Was unsere Mutter in den Wahnsinn treibt – sie hat die Geschichten immerhin schon so oft gehört, dass sie sie mittlerweile auswendig kennt. Insgeheim vermute ich, dass Bens Begeisterung dafür zur Hälfte dem Anblick von Mams Miene geschuldet ist, wenn Nana wieder zu einer ihrer endlosen Geschichten ansetzt.
»Lass uns die hier mal ausprobieren«, sagt Ben und bürstet den Staub von einer Platte ab, die er oben aus dem Karton herausgeholt hat. »Die Dreigroschenoper.«
»Oh, die kenne ich.« Sehr zum Missfallen meines Bruders summe ich die Melodie von »Die Moritat von Mackie Messer«. »Jetzt hör schon auf«, rufe ich, als er das Gesicht verzieht. »Mam sagt immer, ich kann toll singen.«
Ben schnaubt scherzhaft. »Alles klar. Mam behauptet auch, sie habe kein Lieblingskind. Aber das ist eindeutig eine Lüge.«
»Da hast du Recht«, nicke ich und zucke mit den Schultern. »Ich bin definitiv ihr Lieblingskind.«
Ben streckt mir die Zunge heraus, kann aber nicht ernst bleiben. Als er lachen muss, beißt er sich fast auf die Zunge.
Ich nehme Ben die Platte aus der Hand und lege sie auf den Plattenteller. Wenn ich aus dieser kabellosen Soundanlage schlau geworden bin, die Nate mir letztes Weihnachten geschenkt hat, dann kann ich ja wohl auf jeden Fall mit einem alten Grammophon fertigwerden. Wie man es aus alten Schwarz-Weiß-Filmen kennt, ziehe ich den Tonarm zur Platte hin und setze die Nadel auf die Platte. Doch nichts passiert.
»Er muss kaputt sein«, stelle ich enttäuscht fest.
Schweigend beugt sich Ben an mir vorbei und betätigt einen kleinen Schalter, der sich rechts unten am Gerät befindet. Sofort hallt Musik über den Dachboden.
»Funktioniert besser, wenn man es anschaltet«, neckt mich Ben.
Normalerweise wäre ich jetzt rot geworden oder hätte mit einer passenden pfiffigen Antwort pariert, doch ich bin zu sehr von den jazzigen Saxophontönen abgelenkt, die meine Ohren verwöhnen. So weit wie möglich strecke ich die Arme aus und beginne, mich summend von links nach rechts zu wiegen. Einen Augenblick lang lasse ich mich ganz von der Musik tragen und vergesse vollkommen, wie krank Nana ist und wie sehr ich Nate vermisse. Doch dieser Zustand dauert nur wenige Sekunden. Ich stoße mir nämlich den Zeh an der Ecke eines Kartons, lasse mich vor Schmerz auf den Boden plumpsen und bin mit einem Schlag wieder in der Realität angekommen. Ich hole tief Luft und reiße mich zusammen, während ich dem Karton, der meinen großen Zeh derartig zum Pulsieren gebracht hat, einen finsteren Blick zuwerfe.
Diese Kiste unterscheidet sich vom Rest. Sie ist nicht aus Karton. Zudem ist sie nur klein, nicht viel größer als eine Schuhschachtel. Nichts, was man zum Verpacken brauchen würde, zum Umziehen oder Aufräumen. Bevor ich die Kiste öffne, weiß ich schon, dass dies genau das ist, was ich suche. Eine Erinnerungskiste. Sie ist verstaubt, roséfarben und erinnert tatsächlich etwas an eine Schatztruhe. Die Steppnähte an den Ecken verraten mir, dass sie einmal viel dunkler war, möglicherweise Kirschrot. Was jedoch nicht davon ablenkt, wie schön die kleine Kiste ist oder wie aufgeregt ich bin, als ich mich hinunterbeuge und mit den Fingern über die Oberfläche streiche.
»Alles gut bei dir, Holly?«, erkundigt sich Ben und eilt zu der Stelle, wo ich zu einer kleinen Kugel zusammengekauert hocke. »Hast du dir wehgetan?«
Ich schüttele den Kopf und deute auf die Kiste. »Sieh mal.«
Ben verzieht das Gesicht, als er neben mir in die Hocke geht und die Arme um die Knie schlingt. Einen solchen Gesichtsausdruck kenne ich gar nicht von ihm; bedeutet das vielleicht, dass er glücklich und traurig zugleich ist? Und sehe ich jetzt womöglich genauso aus?
»Ben. Sieh mal!«, wiederhole ich, wobei mir vor lauter Gefühlen die Stimme bricht.
»Holly, das sind bestimmt sehr persönliche Dinge …«
»Ich weiß.«
»Ich finde nicht, dass wir das öffnen sollten.« Ben seufzt.
»Wie bitte? Warum nicht?«
»Weil …«
»Nichts weil. Das ist nämlich genau das, wonach wir gesucht haben«, erkläre ich.
Ben steht auf und lässt mehrmals die Schultern kreisen. »Holly, wonach genau suchen wir denn?«
»Nach Erinnerungen.«
»Holly!« Ben starrt mich finster an. »Was hast du vor? Willst du etwa in ihren Sachen herumschnüffeln?«
»Nein, kann man so nicht sagen.« Ich hebe die Hand und wedele sie hin und her, als würde ich damit Bens Bedenken wegwischen wollen, während ich mich mit der anderen Hand am Deckel der Kiste zu schaffen mache. »Das Ding hier ist besser gesichert als Fort Knox«, stelle ich fest.
»Holly, hör auf damit!«, warnt mich Ben und wird schlagartig bitterernst. »Das sind Nanas private Sachen.«
»Du meine Güte, Ben«, stöhne ich. »Du klingst schon genau wie Mam.«
Bens Oberkörper ist wie versteinert, und er presst die Lippen so fest aufeinander, dass sich rund um die Mundwinkel strenge Falten bilden.
»Jetzt hab ich’s!«, verkünde ich triumphierend, als sich der Deckel der Kiste endlich hebt.
Ben kann nicht anders, er geht neben mir auf die Knie und starrt hinein. Ein Haufen vergilbter, zerknitterter Blätter starrt uns entgegen. Die Seiten wölben sich wie ein kleines Papierkanu in der Mitte nach innen und an den Ecken nach oben – der Beweis dafür, dass sie jahrelang in dem begrenzten Raum der roséfarbenen Kiste gelegen haben.
»Die sehen aus, als würden sie bei der kleinsten Berührung in tausend Stücke zerfallen«, stelle ich fest und schüttele den Kopf.
»Das werden sie schon nicht«, versichert mir Ben. »Papier, das so zusammengepresst ist, verhält sich wie ein fester Block. In der Anzahl liegt die Kraft. So was eben. Das ist bei mir bei der Arbeit immer wieder Thema.«
»Vielleicht solltest du es dann lieber rausholen«, erwidere ich.
Ben hebt die Hände über den Kopf und gibt auf. »Nein. Ich bin immer noch nicht sicher, ob wir überhaupt hier oben sein sollten. Ich fasse nichts von Nanas Sachen an.«
»Du meine Güte«, erwidere ich und verdrehe die Augen.
Nervös hole ich Luft und schiebe meine Hand an der Innenseite zwischen dem Kistenrand und dem Papierstapel hinein. Überraschenderweise macht der Papierhaufen das problemlos mit, sodass ich ihn an meine Brust presse und mich auf meinen Po zurückfallen lasse. Ich schlage die Beine übereinander und lege die Seiten zwischen Ben und mir auf den Boden.
»Was ist das?«, fragt Ben gebannt.
»Oh, jetzt bist du also interessiert?«, feixe ich.
»Holly. Jetzt mal im Ernst. Ist das … ist das Nanas letzter Wille?«
Ich rümpfe die Nase. »Du meine Güte, Ben. Nein! Gott, nein! Es ist Kunst, denke ich. Bilder. Marcy hat mir davon erzählt.«
»Marcy?« Ben kneift unsicher die Augen zusammen. »Woher weiß Marcy davon?«
»Nana hat von den Bildern geträumt.«
Ben schaut geknickt drein; ganz offensichtlich ist er nur wenig begeistert darüber, dass Marcy etwas über Nana weiß, wovon sie uns noch nie erzählt hat. Ich weiß, dass er so empfindet, weil es mir nicht anders geht. Obwohl ich dazu absolut kein Recht habe, das ist mir klar. Insbesondere da Marcy berichtet hat, dass Nana davon im Schlaf gesprochen hat. Es tut einfach nur ein wenig weh. Meine Großmutter kennt mich in- und auswendig, und ich habe angenommen, andersherum wäre es genauso. Aber ich habe nicht mal einen Schimmer davon gehabt, dass sie früher gern gemalt hat. Was weiß ich dann sonst noch alles nicht über sie? Mir ist mehr als bewusst, dass uns die Zeit davonläuft. Es bleiben nicht mehr viele Tage, um all den Erlebnissen aus Nanas Vergangenheit zu lauschen und auch die Geschichten anzuhören, für die ich nie die Geduld hatte. Ich hätte besser aufpassen sollen. Ich hätte mich nicht so von der Arbeit oder den Reisen in Beschlag nehmen lassen dürfen. Diese Zeit lässt sich nicht mehr zurückdrehen – obwohl ich wünschte, es wäre so.
Ich starre auf das Papier. Jedes Blatt besitzt die gleiche Größe, jedes befindet sich exakt hinter einem anderen wie bei den Seiten eines Buches.
»Ein Buch! Du meine Güte, das ist ein Buch!«, rufe ich plötzlich und springe auf.
Ben starrt mich an, als hätte ich den Verstand verloren; ich lache vor lauter Begeisterung und Aufregung. Endlich ergibt alles einen Sinn. Nana ist die größte Leseratte, die ich kenne, daher überrascht es mich nicht, dass sie hier eine Geschichte versteckt hat. Das ist so viel besser als ein Gemälde. Und es passt zu Nana! Meiner Nana.
Schnell ziehe ich meine Strickjacke aus und breite sie neben dem Blätterstapel aus. Ben beobachtet mich dabei, schweigt jedoch. Vorsichtig hebe ich die oberste Seite hoch, und wie erwartet ist die Seite darunter mit blauer Tinte bedeckt. In Handschrift. Die nächste Seite ebenso. Und die nächste. Jedes Mal wenn ich eine Seite oben vom Stapel hebe, lege ich sie mit der Schriftseite nach unten auf meine Strickjacke. Da keine Seitenzahlen auf den Blättern stehen, ist dies im Moment die beste Art und Weise, sie in der vorgegebenen Reihenfolge zu belassen. Ben lächelt und nickt anerkennend.
»Ist das Nanas Handschrift?«, fragt Ben, während wir uns durch den Seitenstapel zwischen uns vorarbeiten.
»Es sieht so aus«, nicke ich.
Bens Lächeln erstarrt, und er legt die Seite in seiner Hand oben auf den Stapel, wodurch er die Ordnung durcheinanderbringt. Schnell sortiere ich sie auf den Stapel mit den umgedrehten Blättern. Ben scheint das gar nicht aufzufallen. Er rutscht mit dem Po über den Holzboden, steht jedoch nicht auf.
»Holly, ich weiß nicht, ob wir das hier wirklich tun sollten. Nanas Kram zu durchforsten, als ob sie … als ob … Na ja, es ist einfach nicht richtig. Nicht solange sie noch … du weißt schon, unter uns ist.«
»Genau das ist es, Ben. Nana lebt noch. Ich weiß nicht, wie lange noch. Aber sie ist immer noch da. Also reiß dich mal zusammen und überleg mit, was das hier ist.«
»Wahrscheinlich ein Tagebuch oder so was in der Art«, erwidert Ben. »Da. Wir haben es rausgefunden. Können wir denn jetzt bitte wieder runtergehen?«
»Das ist kein Tagebuch, Ben«, widerspreche ich ihm, als ich die aufgeschlagene Seite überfliege.
Mir springen fast die Augen aus dem Kopf, als mir ein bestimmtes Wort auffällt. Sketch. Das Wort kommt richtig oft vor, mindestens einmal pro Seite oder gar noch öfter.
»Was zum Geier, Holly …? Warum grinst du so?«, fragt Ben.
Zu Bens Ärger wird mein Grinsen allerdings nur noch breiter.
»Mir reicht’s«, blafft Ben. »Ich bin weg.«
Ich packe Ben am Ärmel und ziehe ihn zu mir herunter, als er aufstehen und davonstürmen will.
»Das hier ist kein Tagebuch, du Blödmann«, stelle ich beschwingt fest. »Das ist ein Buch. Nanas Buch. Nana war eine Schriftstellerin. Ich hab’s doch gewusst!«
Ben zuckt. »Ein Buch? Niemals.«
»Doch. Das ist es. Toll, oder?«, erwidere ich begeistert. »Vielleicht ist es sogar so etwas wie eine Autobiografie.«
Mit dem Finger fahre ich über die Buchstaben S-K-E-T-C-H, die in verschiedenen Absätzen zu finden sind. »Marcy hat doch erzählt, dass Nana immer wieder etwas von Entwürfen gemurmelt hat, oder?«
»Ähm, okay. Ja«, nickt Ben mit einem Mal interessiert.
»Na ja, ich glaube nicht, dass sie Bildentwürfe gemeint hat«, erkläre ich. »Also nichts, was mit Kunst im Sinne von Malen und Bildern und all dem zu tun hat. Nana hat Marcy nichts über Gemälde erzählt. Sie meinte ihren Romanentwurf. In dem es um einen Menschen geht. Um einen Mann. Um einen Mann namens Sketch. Vielleicht ein früherer Freund von ihr?«
»Vielleicht unser Großvater?« Bens Augen funkeln neugierig.
»Lass uns keine voreiligen Schlüsse ziehen.«
»Aber es könnte doch sein, oder?«, erwidert Ben.
»Klar«, nicke ich. »Durchaus möglich.«
»Hast du dich nicht schon mal gefragt, warum Nana nie über ihn redet?«, fragt Ben.
»Über Sketch?«
»Über Großvater. Sketch. Eben diesen Teil ihrer Vergangenheit«, fährt Ben fort. »Wahrscheinlich macht es sie traurig.«
Ich zucke mit den Schultern. »Das glaube ich nicht. Wahrscheinlich will sie einfach ihre Erinnerungen für sich behalten. Aber vielleicht sollen wir auch endlich von Sketch erfahren. Verstehst du denn nicht? Nana hat nicht gemalt, sie hat geschrieben. Und das hier sind ihre Worte.« Ich reiße mich von den Seiten los und sehe zu Ben auf. Er glaubt mir. Oder wenigstens würde er mir wahrscheinlich gern glauben. »Danach hat Nana gesucht, Ben. Davon hat sie Marcy erzählt. Von der Geschichte über Sketch.«
Ben reibt sich wie ein James-Bond-Bösewicht mit Zeigefinger und Daumen übers Kinn. Er sieht so unglaublich witzig aus, dass ich Mühe habe, ernst zu bleiben.
»Raus mit der Sprache, jetzt mach schon!«, ziehe ich ihn auf und stupse ihn mit der Schulter an.
Ben verdreht die Augen und schüttelt den Kopf.
»Los!«, bohre ich nach.
»Ja, okay«, stöhnt er. »Gute Arbeit, Holly. Dein Herumschnüffeln hat sich also gelohnt.«
»Das ist toll, oder?« Ich sammele die Seiten auf, die auf meiner Strickjacke liegen, und lege sie auf den ursprünglichen Stapel zurück, wobei ich genau darauf achte, sie in der richtigen Reihenfolge zu belassen. »Ich kann es immer noch nicht glauben, dass Nana ein Buch geschrieben hat. Ich weiß zwar, dass sie eine große Leseratte war, aber ich hatte ja keine Ahnung, dass sie wirklich auch selbst etwas geschrieben hat. Das ist so cool! Mein Gott, ich freue mich so, das zu lesen!«
»Okay, Holly, jetzt komm mal wieder runter«, beruhigt mich Ben. »Ich dachte, du hasst es zu lesen.«
»Ich hasse diesen ganzen Geschichts-Faktenkram, den du so magst, Ben«, brumme ich. »Aber Romane mag ich.«
Nachdem ich die entnommenen Seiten wieder auf den Stapel zurückgelegt habe, betrachte ich begeistert die Höhe des Blätterhaufens. Ein ganzes Buch, von Hand geschrieben. Von. Meiner. Großmutter. Das ist so verdammt fantastisch!
»Das ist nicht nur irgendein altes Buch, Ben. Das ist ihr Buch. Ihr Leben!« Ich seufze schwer mit einer Mischung aus gebrochenem Herz und vollkommener Begeisterung.
»Alles klar. Okay. Okay«, erwidert Ben, steht auf und lockert die Beine. »Autsch! Mir sind die Füße eingeschlafen. O Mist! Autsch, autsch!«
Ich schnappe mir den Seitenstapel, achte sorgsam darauf, keine Eselsohren zu hinterlassen, und stehe ebenfalls auf. »Sollen wir ihr das Buch vorlesen?«
Bens Unterlippe zuckt, und er bleibt reglos stehen. »Ähm, keine Ahnung. Könnte es sie vielleicht zu sehr aufregen?«
»Marcy meint, es würde Nana glücklich machen, darüber zu sprechen«, erwidere ich.
»Ich dachte, Marcy habe gesagt, über Kunst zu sprechen mache sie glücklich?«, korrigiert mich Ben.
»Ja.« Frustriert schneide ich meinem besserwisserischen Bruder eine Grimasse. »Das hatten wir doch eben schon. Marcy kennt eben nicht die ganze Geschichte.«
»Aber du, oder was?«, hakt Ben nach.