Das Versprechen eines neuen Tages - Dorothea Morgenroth - E-Book

Das Versprechen eines neuen Tages E-Book

Dorothea Morgenroth

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Beschreibung

Süddeutschland, 1945: In den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs arbeitet die Ungarin Betti als jüdische Zwangsarbeiterin in einem geheimen Flugzeugbauwerk. Hier begegnet sie Konrad, einem jungen deutschen Flugzeugwart. Trotz der Hindernisse, die sich ihnen in den Weg stellen, kommen die beiden einander näher. Doch ehe sie Konrads Plan für Bettis Flucht in die Tat umsetzen können, wird das Lager wegen der anrückenden amerikanischen Streitkräfte geräumt, und sie verlieren einander aus den Augen. Fünfzehn Jahre später stehen sich die beiden erneut gegenüber: in England. Ist Bettis Liebe zu Konrad stark genug, um es zu wagen, an seiner Seite in das Land ihrer einstigen Peiniger zurückzukehren? Ein fesselnder und zu Herzen gehender Roman, der auf wahren Begebenheiten basiert und einen wichtigen Beitrag gegen das Vergessen leistet.

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Über die Autorin

Dorothea Morgenroth schreibt aus Leidenschaft und hat sich mit ihrem Debütroman Der den Himmel lenkt sowie etlichen weiteren Werken einen Namen als versierte Romanautorin gemacht. Sie ist Mutter von vier erwachsenen Kindern und lebt mit ihrem Mann, der jüngsten Tochter und einem kleinen Hund in Bayern.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen:

Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

© 2024 Gerth Medien in der SCM Verlagsgruppe GmbH,

Berliner Ring 62, 35576 Wetzlar

Erschienen im August 2024

ISBN 978-3-96122-637-5

Umschlaggestaltung: Hanni Plato

Umschlagfotos: Verlagsausgabe: Unsplash, Luca Bravo (Landschaft) und SARAPON (Flugzeug); Clubausgabe: Shutterstock, Matinho Smart (Landschaft) und SARAPON (Flugzeug)

Lektorat: Christina Bachmann

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

www.gerth.de

Frauen. Im Winter. Ein offenes Feld. Starker Wind, Schnee, Temperaturen unter null – wir arbeiteten und wir gruben. Und um dort hinzukommen, mussten wir ein oder zwei Kilometer laufen. Sie taten mit uns, was sie wollten. Es war eine schwere Arbeit. Dann sah ich, wie Menschen – wie sie ihren Lebenswillen verloren. Wie sie nicht mehr leben wollten. Und in vielen Fällen entschied dies darüber, wer am Leben bleiben würde und wer nicht: der Lebenswille.

Eine Jüdin, Überlebende der Shoah[1]

Es war der Hunger. Ich meine, es gibt keine schlimmere Strafe als Hunger. Kein Mord, keine Prügel, keine Schläge, nichts ist so qualvoll wie Hunger.

Eine Jüdin, Überlebende der Shoah

Am 8. Mai 1945, dem letzten Tag des Krieges, dachte ich für mich: Gott, jetzt bin ich frei. Ich bin tatsächlich frei, um zu tun, was immer ich will. Aber ich habe keinen Ort, an den ich gehen kann. Wo konnte ich hingehen? Ich hatte niemanden, der mir einen Rat hätte geben können, ich war komplett verlassen, alleine. Ich hatte niemanden, ich gehörte zu niemandem.

Eine Jüdin aus Ungarn, Überlebende der Shoah

Prolog

London, April 1960

Unzählige Menschen eilten an diesem Morgen achtlos am Zeitungskiosk vorüber, vor allem Männer im Geschäftsanzug. Bowler-Hüte saßen wie festgewachsen auf ihren Köpfen, nur nachlässig geschlossene oder offen stehende Regenmäntel schwangen bei ihren hektischen Schritten hinter ihnen her wie Flügel aus heller Gabardine.

Ein einziger der Männer – mit geschlossenem Mantel und gegen den frischen Wind hochgeschlagenem Kragen sowie einem ausländischen Hutmodell – schritt gemächlich die Straße entlang, hielt gelegentlich inne und blickte sich um. Auf Höhe des Kiosks blieb er abrupt stehen und starrte wie gebannt auf eine der ausgestellten Tageszeitungen. Es war das Foto eines Daily Telegraph-Artikels, das seine Aufmerksamkeit erregte. Fassungslos trat er näher heran und streckte die Hand nach der Zeitung aus.

Seine Augen weiteten sich. Dieses Gesicht – dieser Blick! Konnte die Dame auf der Abbildung tatsächlich die sein, für die er sie hielt, oder erlag er hier wieder einer Täuschung, wie es im Lauf seiner Reisen so oft geschehen war?

Hastig griff der Mann nach seiner Geldbörse, entnahm ihr ein paar Münzen und hielt gleich darauf den Daily Telegraph in Händen. In fieberhafter Eile verschlang er den Artikel.

Miss Bettys Fundbüro: Die Geschichte des verschwundenen Abendmahlskelches

(Verfasser: James Welland)

Wer den bescheidenen kleinen Laden »Steiner’s Shop and Post Office« in dem beschaulichen West-Midlands-Städtchen Stowbridge betritt, kann sich kaum vorstellen, welch unglaubliche Geschichte sich hier vor Kurzem abspielte. Auch die Hauptperson des Geschehens mag auf den ersten Blick nicht viel Aufsehen erregen und wurde dennoch zu dessen Heldin.

Die zarte, zurückhaltende »Miss Betty«, wie sämtliche Dorfbewohner sie respektvoll nennen, betreibt gemeinsam mit ihrem Onkel Levi Steiner den genannten Laden sowie das zugehörige »Lost Property«. Unbemerkt von der Öffentlichkeit entwickelte sie dieses inoffizielle Fundbüro aus dem lobenswerten Bedürfnis heraus, ihren Mitbürgern zu helfen. Verlorenes wiederzufinden beziehungsweise Fundgegenstände wieder mit ihren Besitzern zu vereinen ist ihre Leidenschaft. Fragt man Miss Betty nach dem Grund dafür, so lautet die schlichte Antwort: »Nun, wer, wenn nicht ich hier im Laden, hat die Gelegenheit dazu? Jeder Dorfbewohner kommt früher oder später bei uns vorbei!«

Mit einer derart bescheidenen Haltung wären ihre Wohltaten vermutlich noch lange von der Öffentlichkeit unbemerkt geblieben, hätte sie nicht neulich mit dem im Titel genannten Abendmahlskelch selbst einen ausgesprochen kostbaren Fund gemacht. Den sie im Übrigen, ohne zu zögern, seinem rechtmäßigen Besitzer zurückgab.

Seit Jahrhunderten gehörte der silberne, mit Edelsteinen besetzte Kelch zum sakralen Inventar der Ortsgemeinde St. Matthew’s. Wegen seines nicht unbescheidenen Wertes jedoch fürchtete der Reverend während des letzten Krieges um dessen Sicherheit. Als sich die deutschen Luftangriffe mehrten und unsere eigene Regierung nicht mehr ausschließen konnte, dass unser geliebtes England vom Feind besetzt werden würde, beschloss Reverend David Morgan also, den Kelch samt den übrigen kostbaren kircheneigenen Gegenständen zu verstecken. Bei Nacht und Nebel griff er persönlich zur Schaufel und vergrub die Heiligtümer an einem sicheren Ort. Nicht lange darauf meldete er sich freiwillig als Militärgeistlicher und wurde auf den Kontinent verschifft, wo er bis nach Kriegsende Dienst tat. Zurück in der Heimat suchte er im Herbst 1945 den Ort wieder auf, an dem er den Kirchenschatz vor möglichen Besatzern versteckt hatte.

»Ich entsann mich genau, wo ich sie damals vergraben hatte«, berichtet Rev. David Morgan selbst, »und konnte es kaum erwarten, die geweihten Gefäße endlich wieder in meinen Händen zu halten. Umso größer war mein Entsetzen, als ich sie nicht mehr in ihrem Versteck vorfand! Die Kiste, die sie enthalten hatte, war noch da, doch sie war leer. Irgendjemand hatte unseren Schatz geraubt! Außer mir vor Entsetzen wandte ich mich an meine Vorgesetzten und die Polizei, die gemeinsam entsprechende Ermittlungen tätigten und die gestohlenen Gegenstände bei unterschiedlichen Hehlern im Lande wieder aufspürten. Alle, bis auf den kostbarsten darunter, den Edelstein-Kelch. Dieser war und blieb verschwunden. Bis unsere geschätzte Miss Betty ihn vor Kurzem fand und mir umgehend aushändigte. Ich kann ihr und unserem Vater im Himmel gar nicht genug dafür danken!«

So viel vom dankbaren Reverend Morgan von St. Matthew’s in Stowbridge. Und wie äußert sich die ehrliche Finderin Miss Betty selbst, als sie eine offizielle Anerkennung der Church of England erhält und erfährt, dass der Daily Telegraph über sie berichten wird? »Ich freue mich selbstverständlich, dass ich helfen konnte. Der Kelch ist wieder zurück an dem Ort, an den er gehört, und das ist alles, was für mich zählt.«

Mit diesen Worten und einem freundlichen Lächeln widmet sie sich dem nächsten Kunden, der ihren Laden betritt und sich – möglicherweise – wegen eines verloren gegangenen Schlüssels an sie wendet. Die Leser des Daily Telegraph jedenfalls wissen künftig, wie die richtige Adresse für jegliches »Lost Property« lautet …

Als er zu Ende gelesen hatte, entrang sich den Lippen des Mannes ein Stöhnen, die Zeitung sank unbeachtet herab. Ein Luftzug erfasste sie und beförderte sie vor die Füße eines Passanten, der achtlos darüber hinweglief und seine Fußabdrücke auf dem Papier hinterließ, ohne dass der Käufer sich darum kümmerte. Sein Blick richtete sich vielmehr in die Ferne, schien Dinge wahrzunehmen, die allen übrigen Menschen in dieser Londoner Straße verborgen blieben. Eine ganze Weile verharrte er so, reglos gegen die Seitenwand des Kiosks gelehnt.

Plötzlich aber kam wieder Leben in ihn. Er kaufte ein weiteres, unbeschädigtes Exemplar des Daily Telegraph, drückte es fest gegen seine Brust und eilte zurück zu seinem Hotel. Dort angekommen setzte er sich an den niedrigen Tisch, griff nach einem Bogen des hoteleigenen Briefpapiers und verfasste seine Nachricht.

Für eine kleine Ewigkeit glitt der Federhalter übers Papier, hielt inne und setzte von Neuem an, ehe der Schreiber ihn niederlegte. Nur Sekunden später aber beugte sich der Mann noch einmal erregt über sein Schriftstück, um seine Worte zu überprüfen.

Sehr geehrte Miss Betty, stand da, soeben las ich den Bericht im Daily Telegraph, der sich mit Ihrem außergewöhnlichen kleinen Fundbüro befasst. Die Worte berührten mich so tief, dass ich es wage, Ihnen umgehend diesen Brief zu schreiben.

Ich finde Ihren Einsatz dafür, Verschwundenes wiederzufinden, wahrhaft bewundernswert. Denn auch ich habe vor langer Zeit etwas verloren, was mir überaus kostbar war. Genau genommen war es das Kostbarste, was ich in meinen jungen Jahren jemals gekannt hatte. In einem Moment war das geliebte Wesen noch zum Greifen nahe, im nächsten wurde es mir entrissen. Nicht gänzlich unerwartet, aber dennoch gewaltsam und unwiederbringlich entrissen, um genau zu sein.

Und so viele Augenblicke, Stunden, Tage und Jahre seitdem auch verstrichen sind, so weit die Reisen auch waren, die ich auf der Suche nach diesem Kostbarsten unternahm, hat mich die Erinnerung daran doch stets angetrieben.

Halbwegs befriedigt fügte der Schreiber noch einen letzten Absatz hinzu: Wie traumhaft schön es in der Tat wäre, wenn es jemanden gäbe, der sich die Mühe machte, mich wieder mit der geliebten Person zu vereinen. Aber es besteht nun einmal ein Unterschied zwischen dem Verlust eines Gegenstandes, dessen Besitzer man ist, und dem eines Menschen, der niemand anderem gehört als sich selbst, nicht wahr? Deshalb wird dies vermutlich auch künftig nichts weiter bleiben als mein größter Traum …

Ihnen wünsche ich von Herzen weiterhin viel Erfolg bei Ihrer Tätigkeit und verbleibe mit freundlichen Grüßen …

Der Mann hielt kurz inne, dann unterzeichnete er den Brief mit seinem Namen und schob ihn in den Umschlag.

1. Kapitel

In einem Viehwaggon zwischen Ravensbrück und Augsburg, Februar 1945

Betti registrierte kaum, dass der Zug angehalten hatte. Viel zu oft war das während der vergangenen Woche der Fall gewesen.

Beim ersten, zweiten, dritten Halt hatte sie jeweils hoffnungsvoll und gleichzeitig voller Furcht auf den Augenblick gewartet, da die Tür des Viehwaggons aufgeschoben wurde. Waren sie endlich am Ziel? Und falls ja, was wartete dort auf sie? Die Gaskammern von Auschwitz oder »nur« der Aufenthalt in einem weiteren überfüllten Lager, beherrscht von einer Meute deutscher Wärterinnen, die es kaum erwarten konnten, ihre neu eingetroffenen Opfer auf jede erdenkliche Weise zu quälen?

Doch jedes Mal bislang hatte man die Tür nur einen Spaltbreit geöffnet, um den Wageninsassen die tägliche Essensration in ihre Blechnäpfe zu füllen: einen einzigen Löffel voll wässriger Suppe, die oft nicht einmal mehr warm war. Oder um die wenigen Aborteimer zu entleeren, die die fünfundsiebzig Personen sich teilen mussten. Oder aber um die leblosen Körper derer zu entfernen, die den qualvollen Umständen dieser Reise durch den Tod entflohen waren. Nach der dritten Frau, die man tot aus der dicht gedrängten Menge der Übrigen herausgezerrt und achtlos neben die Bahngleise geworfen hatte, hatte Betti aufgehört, die Leichen zu zählen.

Genau erinnerte sie sich nur an eine Leidensgenossin, die ein paar Tage nach der Abfahrt aus Ravensbrück im überfüllten Waggon verrückt geworden war. Auf allen vieren war sie umhergekrochen, um die anderen in die Waden zu beißen, bis der Tod sie endlich erlöst hatte. Und darüber hinaus an Ruth, die vorher gemeinsam mit Betti und ihrer Schwester im Untergrund gelebt hatte. Damit war Ruth für sie wie eine schmerzliche letzte Verbindung zu ihrer alten Heimat und ihrem früheren Leben gewesen, und als man ihren bis auf die Knochen abgemagerten Körper aus dem Waggon gezerrt hatte, hatte Betti laut aufgeschluchzt.

Einmal jedoch blieb der Zug auf den Gleisen stehen, ohne dass sich die Tür öffnete. Stattdessen drang von draußen Flugzeuglärm herein und das Pfeifen fallender Bomben. Druckwellen von Explosionen schüttelten den schweren Viehwaggon, als beabsichtigten sie, ihn aus seinem Gleisbett zu werfen. Ein paar verirrte Geschosse durchschlugen gar die Wand ihres Waggons und töteten zwei Frauen. Betti und Eva drängten sich noch dichter aneinander, als sie es ohnehin schon taten, sodass Betti jede einzelne knochige Rippe ihrer drei Jahre jüngeren Schwester an ihrem eigenen Körper spürte.

Eva zitterte und verkrampfte sich, vor Angst ebenso wie vor der eisigen Kälte in dem elenden Quartier, da halfen auch Bettis tröstend um sie geschlungene Arme nicht. Ohnehin hatte die Jüngere sich körperlich nie vollkommen von ihrem Treppensturz im Dezember erholt, jammerte oft wegen ihres schmerzenden Kopfes oder lief in gekrümmter Haltung. Beschützend legte Betti deshalb ihre Hände über Evas Ohren, um zumindest den furchterregenden Lärm ein wenig abzumildern.

Als sie selbst nichts mehr von dem Tumult draußen hörte, wartete sie darauf, dass der Zug sich wieder in Bewegung setzte, aber er blieb an Ort und Stelle stehen. Eine der älteren Frauen vermutete, dass Bomben die Gleise vor ihnen zerstört hatten, doch was machte das Wissen darüber schon für einen Unterschied. Tatsache war, der Zug stand still. Für Stunden, für Tage oder sogar länger, Betti wusste es nicht einzuschätzen.

Die Gesetzmäßigkeiten ihres alten Lebens, vor allem aber das Gesetz der Zeit existierte nicht in diesem eisigen Gefängnis aus Bretterwänden und einem notdürftig mit Stroh bedeckten Boden. Hunger und Durst, Verzweiflung und Tod waren es, die hier das Regiment übernommen hatten. Ganz zu schweigen von dem bestialischen Gestank der überlaufenden Toiletteneimer, dem Stöhnen der Frauen in Hungerkrämpfen und ihren immer seltener werdenden Rufen nach Wasser. Gab es überhaupt noch eine Welt außerhalb dieser Hölle?

Erst als endlich ein heftiger Ruck durch den Waggon ging und die Räder des Zuges sich wieder in Bewegung setzten, schöpfte Betti ein wenig neue Hoffnung. Sie rappelte sich mühsam auf, drückte ihre schläfrige Schwester an sich und bahnte sich mit dem freien Ellbogen einen Weg an die Waggonwand, bis hin zu einem der Löcher, die die Kugeln zuvor hinterlassen hatten.

Die Einschussstelle war winzig, dennoch bot sie ihr einen begrenzten Blick ins Freie. Es war Tag, und obwohl dichte graue Wolken über den Himmel zogen, schloss sie nach der permanenten Dunkelheit des Viehwaggons einen Moment lang geblendet die Augen. Danach erkannte sie eine Landschaft mit kahlen, winterbraunen Hügeln und Feldern und ein paar einsam gelegenen Bauernhöfen in der weiteren Umgebung. Tiefe Bombenkrater auf der Landstraße, abgeholzte oder verkohlte Waldstücke und vereinzelte, scharf gezackte Hausruinen kündeten in der kaum bewohnten Gegend vom Krieg. War dies hier immer noch das gefürchtete Deutsche Reich oder waren sie längst über seine Grenzen hinaus in ihr unbekanntes Schicksal gefahren?

Nachdem Betti sich sattgesehen hatte an jener Außenwelt, die trotz allem noch existierte, ließ sie sich an der Wand entlang erschöpft zu Boden sinken. Eva döste längst wieder vor sich hin, obwohl es im Grunde zu kalt war, um zu schlafen. Eine dünne Eisschicht überzog den Waggon sogar von innen, ebenso die wenigen freien Zentimeter der kahlen Bodenfläche zwischen den Frauen.

Betti lauschte dem flachen, raschen Atem ihrer Schwester in der Hoffnung, ebenfalls für einige Minuten Ruhe und vielleicht sogar vorübergehenden Frieden zu finden. Mit aller Willenskraft versuchte sie, ihre ausgetrocknete Kehle, den bohrenden Schmerz ihres Magens und den Wind, der durch die Ritzen pfiff, zu ignorieren und vor sich hin zu dämmern, und verpasste deshalb fast den nächsten Halt des Zuges. Auch, dass sich die Tür öffnete und tatsächlich Sonnenlicht ins Wageninnere drang, entging ihr.

Plötzlich aber bebte der Boden des Viehwaggons und sämtliche Frauen um sie herum drängten sich mit einem Aufschrei in Richtung der Türöffnung. »Brot!«, glaubte Betti aus den Rufen herauszuhören. »Sie haben Brot!«

Vergessen war alle Mattigkeit. Sie sprang auf, bahnte sich mit dem Einsatz beider Ellbogen rücksichtslos einen Weg durch die Menge ihrer halb verhungerten Leidensgenossinnen. Als es nahe der Tür dennoch kein Durchkommen mehr gab, ließ sie sich, wie vor etlichen Tagen die Verrückte, auf allen vieren nieder und kämpfte sich zwickend und beißend zwischen knochigen, blau gefrorenen Beinen hindurch.

Brot! war das Einzige, was sie denken konnte. Essen für Eva und mich! Ihre Schwester war bereits zu schwach, um für sich selbst zu sorgen, sie brauchte die Nahrung dringender als alle anderen, selbst wenn diese nur aus einem Bissen trockenen Brotes bestand. Und auch von Betti wäre in Kürze nichts weiter übrig als ein von Haut überzogenes Skelett, falls sie nicht bald mehr in den Magen bekam als einen Löffel Flüssigkeit am Tag.

Endlich war Betti vorn an der Tür angelangt. Sie hob den Kopf und blickte unmittelbar in das Gesicht einer verhärmten älteren Frau unten auf dem Bahnsteig. Diese hielt einen Blecheimer voll Brotscheiben in der Hand. Neben ihr stand eine weitere Frau mit einem Kessel dampfender Suppe.

Im Gegensatz zu vielen ihrer Leidensgenossinnen besaß Betti jedoch keine leere Blechdose als Behälter für eine Portion Suppe. Und selbst wenn das der Fall gewesen wäre – wie hätte sie diese durch die hysterische Menge zurück zu Eva transportieren sollen, ohne dabei alles zu verschütten?

Mühsam riss sie deshalb ihre Augen von der verführerisch heißen Suppe los und streckte stattdessen die Hände nach dem Brot aus. Die erste Scheibe steckte sie rasch unter ihren Mantel und richtete erneut einen flehenden Blick auf ihre Wohltäterin. »Ez a hugomnak lesz!«, sagte sie dabei auf Ungarisch und gleich darauf mit schwerer Zunge auf Deutsch: »Das … für meine Schwester!«

Ohne lange zu überlegen, schob die mitfühlende Helferin zwei weitere Scheiben Brot direkt unter Bettis Mantel und diese kämpfte sich zurück zu Eva.

Nach dem Gedränge im Türbereich war das Wageninnere nahezu leer und Betti konnte schemenhaft die Rückwand erkennen. Doch niemand lehnte halb aufrecht an den Brettern, kein schmaler, kindlicher Körper hatte sich auf dem Boden davor schlafend zusammengerollt. Wo war Eva?

Betti stolperte vor Schreck, fiel, stemmte sich wieder in die Höhe und stieß einen heiseren Ruf aus: »Eva? Eva, wo bist du?«

Taumelnd erreichte sie die Wand, wo sie sich erneut zu Boden gleiten ließ und suchend um sich tastete. Nur für den Fall, dass ihre Augen sie trogen, weil das plötzliche Tageslicht auf dem Bahnsteig sie so geblendet hatte. Tatsächlich ertastete sie einen Körper, aber das zornige Stöhnen, das ihre Berührung hervorrief, stammte keinesfalls von Eva. Meter für Meter arbeitete sie sich an der Wand entlang, bei jeder Bewegung einen Stoßseufzer ausstoßend: »Bitte, lass mich Eva finden – lass sie mich lebend finden! Sie ist doch alles, was ich noch habe!«

Endlich, nach einer Ewigkeit voll wachsender Verzweiflung, stieß sie an einen weiteren Körper und eine leise Stimme fragte: »Bist du das, Betti? Ich habe dich gesucht, wo warst du denn?«

Vor Erleichterung schluchzte Betti auf, schloss Eva fest in die Arme und vergrub ihr Gesicht in deren wirrem, nach Ausdünstungen stinkendem Haar. »Ich habe uns nur etwas zu essen besorgt!«, erklärte sie, als sie wieder in der Lage war zu sprechen. »Sieh nur – Brot! Und es ist sogar frisch, glaube ich! Aber iss langsam, damit du kein Magendrücken bekommst.«

Mit diesem Rat drückte sie Eva die erste Brotscheibe in die Hand und riss von der zweiten ein kleines Stück für sich selbst ab. Doch genießen konnte sie es im Gegensatz zu Eva, die vor Wohlbehagen ab und zu leise schmatzte, nicht. Zu tief saß ihr der Schreck in den Gliedern. Wie hatte sie nur so leichtsinnig sein können, Eva hier allein zurückzulassen? Daran war einzig ihre Gier schuld, ihr Hunger und ihr Pflichtgefühl, Eva mit Nahrung zu versorgen. Aber was nützte ihnen das frischeste Brot oder sogar eine heiße Suppe im Magen, wenn sie nicht mehr beieinander waren? Auseinandergerissen zu werden wäre tatsächlich noch schrecklicher als Hunger. Genau genommen wäre es das Schlimmste, was ihnen zustoßen konnte. Denn nur gemeinsam würden sie diese Qualen überleben, davon war Betti seit ihrer versuchten Flucht aus der Fabrik überzeugt.

Eva mit ihren dreizehn Jahren und sie, Betti, mit ihren sechzehn waren mit großer Wahrscheinlichkeit die letzten Überlebenden der Budapester Familie Strausz und die einzige Möglichkeit, weiter zu überleben, bestand in ihrem festen, bedingungslosen Zusammenhalt.

Während der Bissen Brot schwer wie ein Stein ihre Speiseröhre hinabglitt, schwor sich Betti, Eva niemals wieder allein zu lassen. Komme, was da wolle, sie würde sie nie mehr aus den Augen lassen. Künftig würden sie zusammenkleben wie siamesische Zwillinge.

Mit einem Ruck lösten sich die Bremsen des Zuges, der Waggon rollte an und ihre Fahrt ins Ungewisse setzte sich fort.

Erlenbach, März 1945

Als sowohl das Brot als auch die halb garen Kartoffeln, die man ihnen bei einem anderen Halt gegeben hatte, nur noch eine ferne Erinnerung waren, erreichten sie eine Stadt namens Augsburg.

Betti erkannte das Bahnhofsschild durch die geöffnete Tür, während zwei SS-Männer einige unbewegliche, starre Körper aus dem Waggon herauszogen. Alle anderen Frauen waren zumindest noch in der Lage, zu atmen. Zu mehr fühlte auch sie selbst, die immer die Kräftigste und Gesündeste in ihrer Familie gewesen war, sich nicht mehr fähig. Betti stand nicht einmal vom Boden auf, um durch das Einschussloch zu spähen. Die Frage nach der Außenwelt beschäftigte sie nicht länger. Was sollte sie schon mit einer Welt, der das Schicksal der Frauen in diesem Zug gleichgültig war, die tatenlos zusah, wie Waggon um Waggon, Zug um Zug voller Tod und Verderben durch ihr Land rollte?

Das winzige Quäntchen Energie, das sie weiterhin aufbringen konnte, verwandte sie lieber darauf, Eva am Leben zu erhalten. Ihre kleine Schwester war vollkommen apathisch, ihr Körper so steif und kalt, dass Betti schon halb über ihr lag, um ihr ein wenig Wärme zu spenden. Sie würde es nicht zulassen, dass Eva die Nächste war, die man ins Freie zerrte und wie ein Stück wertlosen Ballast achtlos auf den Bahnsteig oder einen Gepäckkarren warf!

Einmal mehr schloss sich die Tür ihres Gefängnisses, die Waggons setzten sich in Bewegung und kamen bereits nach kürzester Zeit wieder zum Stehen. Zumindest empfand es Betti in ihrem Dämmerzustand so. Diesmal wurden die Türen bis zum Anschlag aufgeschoben, draußen ertönten harsche Männerstimmen und erteilten Befehle. SS-Leute mit Knüppeln sprangen auf den Waggoneingang, stießen und zerrten die gefangenen Frauen ins Freie. Schlagartig war Betti wieder bei sich: Waren sie wahrhaftig am Ziel?

Unter Aufbietung all ihrer Willenskraft stemmte sie sich selbst und Eva in die Höhe, ehe die Faust oder der Knüppel eines Aufsehers sie treffen würde. Im Gegensatz zu manchen der älteren Frauen gelang es ihr, auf den Füßen zu bleiben und gleichzeitig ihre Schwester zu stützen. Mit halb geschlossenen Augen hing Eva in ihrem Arm, setzte unsicher einen Fuß vor den anderen und ließ sich willenlos führen.

Als sämtliche Viehwaggons des Zuges geleert waren, fanden die Schwestern sich in einer Gruppe von mehreren Hundert Frauen wieder, die von einem Trupp SS-Leuten umkreist wurde wie von wachsamen Schäferhunden. Schneeflocken fielen von einem bleigrauen Himmel, verbargen nahezu das Bahnhofsgebäude des Ortes namens Erlenbach, setzten sich eisig und erbarmungslos auf die gebeugten Schultern der stolpernden, um ihr Gleichgewicht und Kraft zum Gehen ringenden Frauen.

Betti biss die Zähne aufeinander, bis sie Blut auf ihren Lippen fühlte, und zwang sich selbst und Eva entschlossen voran. Nur wer stark war, überlebte. Nur wer stets vorausschauend und wachsam war, überstand dieses Grauen. Aufmerksam musterte sie den Weg vor sich und die Gebäude des kleinen Ortes. Lichter flackerten hinter verhangenen Fenstern, vor einem der Häuser kehrte eine dick vermummte Frau Schnee, ohne sich um den Trupp Gefangene auf der anderen Straßenseite zu kümmern, ein Bus fuhr die Straße entlang. Demnach war es trotz der überall herrschenden Dämmerung Tag.

Unvermittelt reckte sich vor der Aufseherin an der Spitze des Trupps ein Turm in den Himmel. Schneeflocken tanzten um ihn herum, als wollten sie der SS-Wache dort oben jegliche Sicht rauben. Zu Füßen des Wachturms erstreckten sich lang gezogene und von Stacheldraht umgebene Baracken.

Ein neues Lager also. Ein Lager, das die Strausz-Schwestern gemeinsam, mit vereinten Kräften überleben würden. Betti verstärkte ihren Griff um Evas Arm und trat entschlossen durch das Lagertor.

Waldwerk, am selben Tag

Aufatmend nach seinem raschen Lauf zur Haltestelle des Werksbusses ließ Konrad sich in den Sitz fallen.

Es war nicht ganz einfach, auf der unebenen Bank mit ihrem aufgeplatzten Polster eine komfortable Sitzhaltung zu finden. Doch Bequemlichkeit oder Komfort war ohnehin etwas, was der Vergangenheit angehörte – dem Leben vor dem Krieg eben, an das Konrad sich kaum mehr erinnern konnte. Dreizehn Jahre alt war er bei Ausbruch des Krieges gewesen, der seine Kindheit auf einen Schlag beendet und die Hoffnung auf eine unbeschwerte Zeit der Jugend zunichtegemacht hatte. Schon 1940 hatte die Wehrmacht seinen älteren Bruder eingezogen und von dieser Stunde an hatte die Sorge um dessen Wohlergehen die Gesichter seiner Eltern gezeichnet.

Mit Werners »Heldentod« in einem Schützengraben in Belgien hatte sich Konrads bis unters Dach mit Sorgen angefülltes Elternhaus in ein Trauerhaus verwandelt. Tränen und Kummer gehörten ab sofort zum Leben wie die immer kargeren Mahlzeiten und die zahllosen Nächte, die man wegen der Bombardements der Alliierten im Bunker verbrachte. Dann musste auch sein Vater, den man aufgrund seiner kriegswichtigen Stellung als Ingenieur eines Rüstungsbetriebes bisher vom Wehrdienst verschont hatte, an die Front und von seiner Mutter blieb lediglich ein Schatten ihres früheren Ichs.

Ihre Stimme war unsicher, so als kämpfte sie beständig gegen die aufsteigenden Tränen an. Beim Kochen zitterten ihre Hände derart, dass Konrad ihr oft genug das Messer abnahm und selbst das kümmerliche Gemüse aus dem Beet hinter ihrem Haus zum Garen vorbereitete. Und in den wenigen Nächten, die sie tatsächlich zu Hause in ihren Betten statt im Bunker verbrachten, hörte er lautes Schluchzen aus dem elterlichen Schlafzimmer. Dann hielt es ihn nicht länger in seinem Zimmer und er trabte ruhelos durchs Haus, während er versuchte, irgendeinen Ausweg aus diesem wortwörtlich trost-losen Dasein zu finden. Vergeblich. Eine Lösung gab es ebenso wenig wie Trost oder die Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende. Konrad hatte keine andere Wahl, als seiner Mutter zu helfen, sie zu versorgen und zu beschützen, so gut es ihm eben möglich war.

Doch dann war eines Tages die Tante mit ihren drei Kindern bei ihnen eingezogen. Mutters jüngere Schwester im nahen Landau war ausgebombt worden, sodass sie nun bei ihrer einzigen Verwandtschaft unterschlüpfte. Plötzlich wurde es eng in dem kleinen Häuschen im Pfälzer Wald, aber zumindest war Tante Kati eine tatkräftige junge Frau, die Konrads Mutter viel Arbeit abnahm und schon bald die gesamte Verantwortung im Haushalt auf ihren Schultern trug.

Weitgehend befreit von der Sorge um das Wohlergehen seiner Mutter hatte Konrad mit fünfzehn Jahren eine Ausbildung zum Werkzeugmacher begonnen. Zwar war diese mit einer zwölfjährigen Wehrpflicht verbunden, aber die Gelegenheit, etwas Sinnvolles zu tun und damit Geld zu verdienen, das er seiner Familie schickte, war Konrad die langjährige Verpflichtung zur Wehrmacht wert. Bei der Luftwaffe in Bayern hatte er im September 1944 eine kurze Spezialausbildung beendet. Er war jetzt Flugzeugwart und Teil eines Sonderkommandos im Flugzeugbau – eine Tatsache, die ihn letztendlich in diesen kleinen Ort an Bayerns Westgrenze geführt hatte.

Hier war er nun in einem eigens für das Sonderkommando Me 262 errichteten Flugzeugwerk beschäftigt. Verborgen vor den Augen der Alliierten und ihrer Luftstreitkräfte hatte man es vergangenen Herbst im Wald erbaut und arbeitete momentan in fieberhafter Eile an der Produktion dieses Düsenjägers aus der Firma Messerschmitt. Die Me 262 galt als modernstes, schnellstes Jagdflugzeug der Welt und war der ganze Stolz der Deutschen Luftwaffe. So wie Konrad das verstand, hielt der Führer verbissen daran fest, dass der Endsieg mithilfe dieser Wunderwaffe nach wie vor möglich sei. Er seufzte leise. Das Einzige, was ihm an dem Begriff Endsieg mittlerweile noch gefiel, war der Part mit dem Ende …

Schließlich hatte er eine erträgliche Sitzposition für die Fahrt in den Wald zu seiner Arbeitsstelle gefunden und starrte aus dem Busfenster. Im Lauf der Nacht hatte es zu schneien begonnen und mittlerweile fielen die Flocken dicht und gleichmäßig. Eine äußerst unangenehme Aussicht für seine Tätigkeit in der halb offenen Montagehalle unter den Bäumen nahe der Reichsautobahn! Lieber würde er es wie die Bürger von Erlenbach halten, die offenbar vorhatten, heute so lange wie möglich in ihren vergleichsweise warmen Häusern zu bleiben. Bis auf die eine Frau zumindest, die mit einem Besen den Schnee vor sich herschob, und die Gruppe zerlumpter Gestalten am Straßenrand.

Erst auf den zweiten Blick erkannte Konrad, dass es sich bei diesen Fußgängern nicht nur um eine kleine Gruppe handelte. Es waren Hunderte von Personen, die sich da mit schwankenden Schritten die Hauptstraße entlangbewegten.

Flüchtlinge, die hier vor den im Osten anrückenden Russen Zuflucht suchten?, fragte er sich. Doch nein, die schwarz uniformierten SS-Leute am vorderen und hinteren Ende der Menschenschlange ließen auf etwas anderes schließen. Gefangene waren es, notdürftig in Tücher und wollene Fetzen gehüllt, und allesamt Frauen. Oder sogar Kinder. Bei den zusammengekrümmten Gestalten und den ausgezehrten Gesichtern konnte man das schwer sagen. Auf einem der Mäntel, der wie ein Zelt um seine ausgemergelte Trägerin hing, glaubte er, im Vorüberfahren einen gelben Stern zu erkennen.

Betroffen starrte Konrad noch immer aus dem Busfenster, als sich die lang gezogene Schlange der Gefangenen schon längst außer Sichtweite befand.

2. Kapitel

Erlenbach, am selben Tag

Das neue Lager war wesentlich kleiner als Ravensbrück. Nur zehn Schlafbaracken und ein Krankenrevier und selbst die Verwaltungsgebäude waren nicht mehr als behelfsmäßige Baracken. Vor einer davon hatte man die Neuankömmlinge zum Appell versammelt.

Zitternd vor Kälte standen die fast fünfhundert Frauen in ordentlichen Reihen, während sie gezählt und registriert wurden, obwohl sich die meisten von ihnen kaum auf den Beinen halten konnten. Lediglich die Furcht vor dem neuen Lagerleiter, einem bärtigen SS-Mann mit rohen Gesichtszügen und einer langen Peitsche, hielt sie weiterhin aufrecht.

Betti stand Schulter an Schulter mit Eva, um ihre Schwester zu stützen. Durch ihren weiten Mantel notdürftig vor Blicken geschützt, hatte sie außerdem den Arm um Evas Mitte geschlungen, und jedes Mal, wenn ihre Schwester zu schwanken begann, hielt Betti dagegen.

Kurz bevor die Aufseherin mit den Listen in der Hand bei Neuankömmling Nummer 200 angekommen war, sank die erste Frau lautlos in den kalten Schnee. Aus dem Krankenrevier eilte der jüdische Arzt herbei, konnte jedoch nur noch ihren Tod feststellen. Bis zum Ende des Appells kauerten, soweit Betti mitbekam, mindestens vier weitere Frauen im Schnee oder lagen leblos entlang der Wand des Krankenreviers. Doch zu ihrer unendlichen Erleichterung hatte sich ihre Schwester auf den Beinen halten können.

Behutsam schob Betti sie auf ihr neues Quartier zu. Baracke 3 lag unmittelbar neben dem Stacheldrahtzaun, der das Frauenlager von den beiden Männerbaracken trennte, und enthielt zwei Reihen von schmalen, mit Strohsäcken befüllten Etagenpritschen. In eine davon bettete sie Eva, wickelte sie aus ihrem schneenassen Umhang und stattdessen in eine raue, mehrfach zusammengeflickte Wolldecke. Dann zog auch sie sich ihren Mantel aus.

Eine Gelegenheit, die durchnässten Kleidungsstücke zu trocknen, schien es nicht zu geben. Zudem war es riskant, sie aus den Augen zu lassen und damit eine der anderen Frauen zum Diebstahl zu verführen. Winterliche Kleidungsstücke waren beinahe so selten und deshalb so begehrt wie Nahrungsmittel, und Evas Umhang war besser erhalten als die Mäntel vieler Leidensgenossinnen. Folglich schob Betti ihr kostbares Eigentum kurzerhand unter die dünne Strohmatratze. Sie hoffte nur, dass das feuchte Kleidungsstück nicht das Stroh verdarb. Aufseufzend drängte sie sich dann so dicht wie möglich an Eva und breitete zusätzlich ihre eigene Decke über ihre beiden durchgefrorenen Körper.

Ihre Schwester fragte leise: »Was meinst du, wo wir hier sind, Betti? Wo haben sie uns hingebracht?«

Weil Evas Zähne dabei so heftig aufeinanderschlugen, hatte Betti Mühe, ihre Worte zu verstehen. Sie zögerte mit ihrer Antwort. Eigentlich hatte sie gehofft, ihre Schwester wäre zu benommen, um Fragen zu stellen, und würde jetzt, da sie dem qualvollen Tod im Viehwaggon entkommen waren, erst einmal tief und lange schlafen. Doch stattdessen fragte sie weiter: »Denkst du, wir sind hier, um zu arbeiten wie die Frauen in Ravensbrück, oder lassen sie uns endlich mal ein wenig in Ruhe?«

»Keine Ahnung, Eva«, gestand Betti bedächtig. »Ich weiß nur, dass wir weiterhin in Deutschland sind, denn ich konnte am Bahnhof das Ortsschild lesen. Aber wozu und weshalb sie uns hierhergebracht haben, kann ich dir nicht sagen. Wir müssen einfach abwarten. Und bis dahin nutzen wir unsere Zeit am besten mit Schlafen, sofern sie uns die Gelegenheit dazu lassen.«

»In Ordnung.« Eva zitterte noch immer. Dabei drückte Betti sich schon so eng an sie wie irgend möglich. Aber ihr war selbst dermaßen kalt, dass sie keine Wärme an ihre Schwester abgeben konnte. Um Eva abzulenken, bemerkte sie: »Ich finde die Pritsche hier richtig bequem. Nach dem harten Boden im Zug ist der Strohsack so weich wie ein Daunenbett, findest du nicht?«

Betti merkte selbst, wie falsch die Begeisterung klang, die sie mühsam in ihre Worte gelegt hatte, und aus der oben gelegenen Pritsche erklang ein verächtliches Schnauben.

Dennoch stimmte Eva ihr zu. »Allerdings. Und ich glaube, mir wird sogar ein bisschen wärmer.«

»Das freut mich!« In ihrem tiefsten Inneren spürte Betti so etwas wie ein Lächeln. Schon immer, seit Eva sprechen gelernt hatte, war sie der positivste Mensch gewesen, den man sich vorstellen konnte. Wenn ihr früher jemand Lakritze geschenkt hatte, die sie grässlich bitter fand, nahm sie diese trotzdem mit dankbarem Lächeln an, und wo andere einen Himmel voll schwarzer Wolken sahen, sah sie bereits die Sonne durchblitzen. So hatte ihr Vater sie auch immer genannt: mein kleiner Sonnenschein. Selbst in den Monaten in ihrem Versteck in der Fabrik hatte Eva nie ihren Optimismus verloren, sondern sich an jeder unverhofften Mahlzeit erfreut und stets von dem Tag gesprochen, an dem sie wieder alle vereint in ihrem eigenen Haus wohnen würden.

Einzig die qualvolle Zugfahrt hatte ihre fröhliche Zuversicht zu bremsen vermocht – doch nun schien diese wieder durch. Liebevoll küsste Betti Eva auf die Stirn und beide verfielen erneut in Schweigen. Bald darauf verstummte Evas Zähneklappern und ihre tiefen Atemzüge verrieten der großen Schwester, dass sie eingeschlafen war. Endlich entspannte auch Betti sich ein wenig. Sie lauschte dem rasselnden Atmen, dem Husten und Schnupfen ihrer Barackengenossinnen, bis ihr die Augen zufielen.

Es war die harsche Stimme einer Aufseherin, die die Schwestern nachmittags wieder aufweckte. Mit einem lauten, unverständlichen Ruf betrat sie die Baracke, auf einem Leiterwagen einen dampfenden Kessel mit sich ziehend.

Betti sprang von der Pritsche, so rasch ihre steifen Gliedmaßen es zuließen, und stand als eine der Ersten vor der Wärterin. Mit ausdrucksloser Miene drückte diese ihr eine Blechschale voll farbloser, heißer Flüssigkeit in die Hand und winkte sie ungeduldig weiter. Betti hatte nicht einmal die Gelegenheit, um eine zweite Portion Suppe für Eva zu bitten, denn der Kreis der nachrückenden Frauen schloss sich im Nu wieder um den Leiterwagen. So kehrte sie mit der einen gefüllten Schale zu Eva zurück.

Nur mühsam stemmte diese sich in eine sitzende Position. Vollkommen ausgeschlossen, dass sie sich ihre eigene Portion abholen konnte! Betti unterdrückte einen Seufzer. Insgeheim hatte sie gehofft, Eva würde durch einigen Schlaf schon bald wieder zu Kräften kommen. Sie schluckte ihre Enttäuschung herunter und half Eva, die Schale zum Mund zu führen, ohne den kostbaren Inhalt zu verschütten. Eva nahm einen winzigen Schluck nach dem anderen. Als das Gefäß zur Hälfte geleert war, schenkte sie Betti ein strahlendes Lächeln und sagte heiser: »Iss, Betti, die Suppe ist schön heiß!«

Zweifelnd betrachtete Betti den Inhalt der Schale. Eine farblose Wassersuppe mit einigen wenigen Graupen darin war die einzige Mahlzeit, die man ihnen nach der jeder Beschreibung spottenden Fahrt hierher zugestand? Aber immerhin war sie heiß, wie Eva betont hatte.

Dennoch beharrte Betti: »Nein, nein, das ist deine Ration – ich hole mir gleich meine eigene. Und wenn du jetzt nicht mehr davon magst, sparen wir das eben für später auf!« Damit platzierte sie die Blechschale unter der Pritsche, bettete Evas Kopf wieder auf die Matratze und näherte sich erneut der Aufseherin.

Die groß gewachsene, starke Frau, die mit ihrem Körperumfang beinahe ihre Uniform sprengte, hatte unterdessen alle anderen abgefertigt und war eben dabei, den Leiterwagen vollends zu entleeren. Außer dem Suppenkessel hatte er einen Berg Holzschuhe und ein paar alte Kleidungsstücke enthalten, die die Wärterin nun neben der Barackentür aufhäufte. Mit einer großmütigen Geste forderte sie die Frauen dazu auf, sich zu bedienen. Als Betti vor ihr stand und bittend auf den Suppenkessel deutete, lachte sie laut auf.

»Du willst also noch mal, ja? Aber sicher doch, du dreckige kleine Jüdin, riechst ja wie ein ganzer Aborteimer!« Mit einem Naserümpfen und einem verächtlichen Blick auf Bettis abgerissenes Äußeres griff sie nach einer leeren Schale und tauchte sie tief in den Kessel. Im Verhältnis zu ihrem massigen Körper war ihre Stimme seltsam hoch.

Selbstverständlich sprach sie Deutsch, sodass Betti nur einen Bruchteil ihrer Worte verstanden hatte, dennoch atmete sie innerlich auf. Trotz der offensichtlichen Beschimpfung gab ihr die Wärterin noch eine zweite Portion! Offenbar war man hier ein wenig gnädiger als in Ravensbrück, wo es niemals jemand auch nur gewagt hätte, um mehr zu bitten. Hoffnungsvoll trat sie einen Schritt näher und streckte die Hand nach der Schale aus. Die Wärterin ging lächelnd auf sie zu – doch statt ihr die Suppenschüssel in die geöffneten Hände zu drücken, hob sie diese demonstrativ hoch und schüttete den Inhalt mit einem Schwung auf den Boden.

Dampf stieg von den Brettern auf und Betti fühlte mehrere Spritzer der nach wie vor heißen Flüssigkeit wie Messerstiche auf ihren Füßen und den Waden. Mit einem Schmerzensschrei taumelte sie zurück. Was hatte sie nur verbrochen, um eine solche Behandlung zu verdienen?

Verzweifelt blickte sie in das Gesicht ihrer Peinigerin. Deren braune Augen blitzten vor Vergnügen, ihr Lächeln war nun alles andere als freundlich. Sie zog ihre Mundwinkel nach unten und ihre ganze Miene verzerrte sich zu einer kalten, sadistischen Maske. »Eine Schale für jede Insassin, so lautet meine Regel«, blaffte sie. »Und es sind meine Regeln, die hier gelten, Judenbalg, dass das ein für alle Mal klar ist!« Ihre Worte unterstrich sie mit einem Aufstampfen, das den Fußboden erzittern ließ. Dann griff sie sich den Leiterwagen und verließ die Baracke.

Kraftlos wankte Betti ihrer Pritsche entgegen, verbarg ihren Kopf in den Händen und ließ ihre Gedanken weit zurück in die Vergangenheit wandern …

Am besten erinnerte sie sich an die Donau. Als breites, blaugrünes Band trennte sie Budapest in zwei Teile. Buda westlich des Flusses und Pest im Osten. Verbunden waren beide Stadtteile nur durch die mächtige Kettenbrücke Széchenyi Lánchíd und acht kleinere Brücken.

Die Familie Strausz lebte in Pest, nicht weit von der Magyar Tudományos Akadémia, dem Arbeitsplatz des Vaters. Er forschte und unterrichtete an der Akademie der Wissenschaften. Von ihrem Zimmer im zweiten Stock des Elternhauses blickte Betti auf einen kleinen Ausschnitt des Donauufers hinunter. Sie liebte die gleichmäßige Ruhe und Kraft, mit der das Wasser dahinströmte, sich an den mächtigen Brückenpfeilern brach und den lebhaften Schiffsverkehr auf seinem Rücken willig erduldete. Hob Betti den Blick ein wenig höher, erkannte sie den imposanten Burgpalast am gegenüberliegenden Donauufer und konnte an den kahlen, grünenden oder bunt gefärbten Bäumen des weitläufigen Geländes rundum den Verlauf der Jahreszeiten verfolgen. Ebenso vertraut wie dieser Ausblick war ihr das Geläut der Kirchenglocken von St. Stephan.

Jeden Sonntagmorgen rief das erhebende, vielstimmige Läuten die Familie zur Messe in die nahe Basilika. Bettis Vater entstammte einer alteingesessenen österreichisch-ungarischen Familie und führte seine Familie in derselben streng katholischen Tradition, in der er selbst aufgewachsen war. Seine Liebesheirat mit einer andersgläubigen Frau, einer Jüdin, war die einzige Ausnahme, die er sich selbst jemals von dieser Tradition zugestanden hatte.

Sogar Bettis Mutter ging ihrem Mann zuliebe sonntags mit zur Kirche. Freitagnachmittags jedoch besuchte sie ihre Familie und Freunde im jüdischen Viertel nahe der Synagoge, meist gemeinsam mit ihren Kindern. Als Betti jünger gewesen war, hatte sie es genau wie Eva und ihr kleiner Bruder Szándor genossen, welches Aufhebens ihre jüdischen Großeltern, Onkel und Tanten um sie machten. Sie überschütteten die Kinder mit Liebkosungen und kleinen Geschenken, auch wenn sie selbst oft weit weniger besaßen als Bettis Vater. Die jüdischen Traditionen allerdings, etwa die allwöchentliche feierliche Zeremonie am Vorabend des Shabbat, waren Betti stets ein wenig fremd geblieben. Wenn ihr Großvater den Segen über die Töchter sprach und die Augen ihrer Mutter gerührt zu leuchten begannen, kniff sie ihre stets peinlich berührt zusammen. Sie hatte ganz und gar nicht die Absicht, einmal zu werden wie Abrahams Frau Sara oder Lea und Rachel, die als Schwestern beide mit demselben Mann verheiratet worden waren!

Im Lauf der Jahre, während sie die katholische Schule besuchte, war dieses Unbehagen weitergewachsen und sie hatte ihre Mutter immer seltener begleitet. Stattdessen hielt sie sich an den Glauben ihres Vaters und ihrer Freundinnen. Sie betete zu Schulbeginn sowie jeden Abend und jeden Sonntag zu dem dreieinigen Gott der Christen. Und auch wenn sie nie das eindeutige Gefühl hatte, ihr Gebet würde irgendetwas Konkretes bewirken, verlieh es ihr doch einen gewissen Trost, als die Zeiten immer unsicherer wurden.

Im November 1940, als Betti gerade zwölf Jahre alt war, verbündete sich ihr Vaterland mit dem nationalsozialistischen Deutschen Reich, und wenn das Leben der Juden in Ungarn noch nie leicht gewesen war, so wurde es jetzt noch weit schlimmer. Bettis jüdische Verwandtschaft wurde auf offener Straße angefeindet und Juden verloren ihre Arbeitsstellen oder mussten ihre Geschäfte schließen, weil kein nicht jüdischer Bürger mehr bei ihnen einkaufte. Selbst einer ihrer Onkel, ein Händler für Möbelstoffe, zu dessen Kundschaft einst die Oberschicht gehört hatte, kam kaum mehr über die Runden.

Im folgenden Sommer dann lieferte die ungarische Regierung sämtliche eingewanderten Juden, die nach dem deutschen Einmarsch in Polen hierhergeflohen waren, an die Nationalsozialisten aus. Gerüchte über deren Schicksal erreichten die Budapester Synagoge: Sie alle – Männer, Frauen und Kinder – sollten in eines der berüchtigten Konzentrationslager gebracht und viele von ihnen auf der Stelle getötet worden sein! Die gesamte jüdische Gemeinde war gelähmt vor Schreck und vertiefte sich umso intensiver ins Gebet. Nur wenige ihrer Mitglieder zogen praktische Konsequenzen aus den Ereignissen, indem sie das Land verließen, solange es noch möglich war. Unter ihnen Bettis Onkel, der seinen Laden zu einem Spottpreis verkaufte und nach England auswanderte. Doch bereits nach seinem ersten Brief, den er gleich bei seiner Ankunft an die Zurückgebliebenen schickte, riss der Kontakt zu ihm vollständig ab. Nicht einmal seine Eltern erfuhren jemals, ob es ihm gelungen war, in der Fremde Fuß zu fassen. Dies belastete ihre Mutter und Großeltern ebenso sehr wie die Nachrichten über die deutschen Konzentrationslager. Plötzlich wurde ihnen, die sich früher mehr an die althergebrachten Traditionen gehalten hatten als an die Person ihres Gottes selbst, ihr Glaube wichtiger als alles andere.

Als Nächstes registrierte Betti, wie viele Väter von Schulkameradinnen an der Seite der Nationalsozialisten in den Krieg zogen beziehungsweise ziehen mussten, und schließlich traf dieses Schicksal auch ihren eigenen Vater. Die ungarischen Truppen bei der Wehrmacht benötigten seine medizinischen Fähigkeiten im Lazarett. An einem kalten Wintermorgen im Januar 1942 verabschiedete er sich von seiner Familie. Der Reihe nach schloss er seine Kinder in die Arme und drückte sie fest an sich, küsste seine Frau, schulterte seinen Rucksack und zog entschlossen die Haustür hinter sich ins Schloss. Er hatte ihnen verboten, ihm hinterherzuwinken oder auch nur nachzuschauen, dennoch stürzten Betti, Eva und Szándor ans Fenster und verfolgten ihn mit ihren Blicken, bis seine vertraute Gestalt um die Straßenecke verschwand.

Es war das Letzte, was die Geschwister von ihrem Vater zu sehen bekamen. Noch ehe er zum ersten Mal einen kurzen Heimaturlaub bekommen konnte, traf das gefürchtete Telegramm ein: Kristóf Strausz war gefallen. Das Behelfslazarett nahe der Front, in dem er soeben operiert hatte, war getroffen worden, Überlebende gab es nicht.

Es waren nicht nur Schock und Trauer, die das Familienleben von diesem Tag an grundlegend veränderten, sondern im selben Maße auch Furcht. Mit seinem Tod fehlte nicht nur der geliebte Ehemann und Vater sowie der alleinige Versorger der Familie, sondern gleichzeitig das katholische Familienoberhaupt – ihr Schutzschild vor allen Repressalien gegen die Juden. Wohl waren die drei Kinder katholisch getauft, aber durch ihre Mutter trotz allem jüdischen Blutes. Sie hatten keine rein ungarische, katholische Abstammung vorzuweisen! Und was dies bedeutete, bekamen die ungarischen Juden bald in aller Härte zu spüren.

Mit abnehmendem Kriegserfolg der Deutschen sympathisierte Ungarns Regierungschef immer mehr mit den Alliierten. Und so besetzte im März 1944 die Wehrmacht das vordem verbündete Land. Innerhalb von Wochen trugen alle Juden den gelben Stern, wurden in sogenannten Judenhäusern zusammengepfercht oder gesammelt und nach Auschwitz deportiert. An dem Tag jedoch, als Bettis Großeltern gehorsam den Judenstern an ihre Mäntel hefteten, schritt ihre Mutter zur Tat: Nur mit den notwendigsten Habseligkeiten beladen, ging sie mit ihren drei Kindern in den Untergrund. Sie würde es nicht zulassen, dass auch ihre Kinder den Judenstern tragen mussten und damit in aller Öffentlichkeit stigmatisiert und der Verfolgung ausgesetzt waren.

In einer ehemaligen Klosterschule hatte ein katholischer Priester eine Fabrik eröffnet, die mit ihrer Herstellung von Uniformen als kriegswichtig galt. Aus diesem Grunde waren viele der Frauen, die hier arbeiteten, behördlich registrierte Juden, doch mindestens ebenso viele lebten hier im Untergrund. Pater Pal Klinda wies niemanden ab, der an die Tore des einstigen Klosters klopfte. Frauen und Kinder waren ihm ebenso willkommen wie gebrechliche alte Menschen. In der Aprilnacht, als Hannah Strausz und ihre drei Kinder eintrafen, empfing er sie persönlich an der Tür und geleitete sie zu ihrem Schlafplatz.

Es war ein einfaches Matratzenlager in einem der ehemaligen Unterrichtsräume. Die Schulbänke standen zusammengeschoben an der hinteren Wand, die übrig gebliebene Bodenfläche war lückenlos mit Matratzen bedeckt. Auf diese Weise benötigte nicht jeder Schutzsuchende eine eigene. Betti und ihre Mutter nahmen Eva und Szándor zwischen sich, sodass Betti an der anderen Seite neben einem Fremden zu liegen kam. Sie wusste nicht einmal, ob es sich bei diesem leise vor sich hin schnarchenden Menschen um eine Frau oder einen Mann handelte. Noch dazu lag sie über einer Spalte, wo zwei Matratzen sich auseinanderschoben, und die Kälte des Bodens darunter sowie die Aufregung über ihre nächtliche Flucht hielten sie noch lange wach.

Sah so ihr künftiges Leben aus: Tag und Nacht auf engstem Raum umgeben von fremden Menschen, ohne jegliche Privatsphäre – es gab riesige Gemeinschaftswaschräume und -toiletten –, ohne Rückzugsmöglichkeiten oder die Chance, das Haus tagsüber auch einmal zu verlassen? Und, was Betti am meisten Sorgen machte, vollkommen abhängig von der Gunst einiger weniger wohlmeinender Menschen wie Pal Klinda? Wie sollte sie als Heranwachsende unter solchen Umständen einen halbwegs normalen Alltag leben können?

Ihre Frage nach dem »Wie« wurde schon bald beantwortet. Tagsüber arbeiteten sie, ihre Mutter und Eva in der Näherei, um etwas zu ihrem Lebensunterhalt beizutragen, der zwölfjährige Szándor besuchte bei Pal Klinda den Unterricht. Der Pater lehrte seine Schüler sogar Deutsch. Es konnte ihnen nur nützlich sein, so erklärte er, in einer möglichen Notsituation die Sprache des Feindes zu verstehen. Obwohl sie von ganzem Herzen hoffte, dass sie niemals in eine solche Lage geraten würden, ließ Betti sich von ihrem kleinen Bruder jedes Wort beibringen, das er selbst gelernt hatte.

Die Mahlzeiten wurden von allen Anwesenden gemeinsam eingenommen und fielen mal mehr, mal weniger dürftig aus. Richtig satt wurde Betti jedenfalls nie und ihre Röcke saßen viel zu locker auf ihrer Hüfte. Abends vor dem Schlafengehen rückte die kleine Familie auf ihrem Lager jeweils eng zusammen und unterhielt sich. Sie teilten ihre Erinnerungen an Vater und das Leben »draußen«, die Schule und ihre Freunde oder schmiedeten Pläne für ein Wiedersehen mit den Großeltern, wenn sich endlich wieder alle frei würden bewegen können. Doch mit der Zeit wurden die Erinnerungen an die Außenwelt zu schmerzlich und die Nachrichten von dort zu schreckenerregend, sodass Mutter begann, Eva und Szándor stattdessen Geschichten zu erzählen. Hauptsächlich davon, wie ihre jüdischen Vorväter vor Tausenden von Jahren gelebt und das verheißene Land eingenommen hatten. Wie gut Gott es mit diesen Menschen gemeint und alle seine Versprechen an sie eingehalten hatte.

Betti hörte stets nur mit halbem Ohr zu. Wenn ihre Geschwister in diesen uralten Geschichten Trost und Halt fanden, schön. Sie selbst allerdings war dafür zu nüchtern, zu erwachsen. Ihr schien, dass ihre Mitmenschen herzlich wenig auf Gott und dessen Worte gaben und dass ihre eigenen Gebete vollkommen ins Leere liefen. Weder hatte Gott ihren Vater lebend von der Front zurückgebracht, wie sie es so innig erbeten hatte, noch bewahrte er ihre restliche Familie vor dieser grausamen Verfolgung. So betete sie immer seltener, im Grunde nur noch dann, wenn es ihr in Notsituationen wie ein Hilfeschrei ganz automatisch über die Lippen kam. Oder ihrer Mutter zuliebe, der das so überaus wichtig war.

Bettis sechzehnter Geburtstag im September kam und ging nahezu unbemerkt. Bald darauf, im Oktober, wurde die gemäßigte ungarische Regierung gestürzt und die Pfeilkreuzler ergriffen die Macht. Die Pfeilkreuzler waren eine durch und durch faschistische, mit harter Hand regierende Partei, die eng mit der SS zusammenarbeitete. Razzien, Raub und Mord waren an der Tagesordnung, sowohl von offizieller Seite als auch durch marodierende Banden. Vor allem Letztere hetzten Zehntausende von Juden durch die Stadt zum Donauufer, um sie dort zu erschießen, oder zerrten sie gewaltsam in Züge nach Polen und Deutschland. Die Sorge um ihre alternden Eltern und den Rest ihrer Angehörigen im Getto verzehrte Bettis Mutter. Bei den Mahlzeiten nahm sie so gut wie nichts mehr zu sich, abends gab es statt Geschichten nur noch Tränen und Gebete.

Auch Pater Klinda wurde immer magerer. Tiefe Sorgenfalten gruben sich in sein hageres Gesicht und der Unterricht für die jüngeren Kinder endete von einem Tag auf den anderen. Heimlich begannen er und einige Helfer, an einem unterirdischen Fluchtweg aus dem Kloster zu arbeiten. Noch ehe dieser geheime Gang bereit war, fand die erste Razzia in der Kleiderfabrik statt. Dank einer einflussreichen ungarischen Helferin gelang es dem Pater zwar vorerst, seine Schützlinge zu retten, doch das Grauen hatte nun auch hier Einzug gehalten, an dem Zufluchtsort, den er mit Gottes Hilfe geschaffen hatte.

Seit jenem Novembertag zitterte Betti jedes Mal, wenn sie auf der Straße das Geräusch schwerer Stiefel vernahm oder abends in der Dunkelheit laute Stimmen ertönten. Was, wenn die Pfeilkreuzler sich damit nicht zufriedengaben und zurückkehrten, um sie alle zu holen? Sie war nicht die Einzige mit dieser Furcht: Mittlerweile schliefen sämtliche Schutzsuchenden in ihren Kleidern, ihre übrigen spärlichen Habseligkeiten quasi in der Hand, am Klostertor wurde eine Wache postiert. Und in der Tat kam Anfang Dezember die Nacht, als ihre schlimmsten Befürchtungen wahr wurden: Ein zweites Mal drangen die Pfeilkreuzler-Soldaten in die Fabrik ein. Sie folgten der Torwache, die hereinstürzte, um die Schlafenden zu warnen, auf dem Fuße.

Betti hörte die Alarmrufe der Wache im Treppenhaus und war mit einem Schlag hellwach. Panisch rüttelte sie ihre Mutter und Geschwister auf. Schon waren die Tritte der Eindringlinge zu hören, zuerst in der Produktionshalle im Erdgeschoss, dann im nebenan liegenden Schlafsaal. Raue Männerstimmen brüllten laute Befehle. Dazwischen das Schluchzen von Kindern, die man unsanft aus dem Schlaf riss, höhnisches Gelächter und das Poltern umgestoßener Schulbänke. Da eilten Betti und ihre Familie bereits in Richtung der Hintertreppe, die bis in den Keller und damit zum Eingang des Fluchtwegs führte.

Plötzlich durchbrach eine weitere Stimme das Tohuwabohu nebenan. »Ich bitte Sie, sich zu mäßigen, meine Herren! Sie können doch meine Arbeiterinnen nicht einfach mitten in der Nacht aus dem Schlaf reißen!«

Pater Klinda. Bettis Mutter atmete erleichtert auf. Vielleicht gelang es dem beredten Mann auch diesmal, das Unheil abzuwenden. Nicht zwingend wegen seiner Überredungskünste und seines Einflusses, sondern aus Respekt vor seiner Person als frommer Mann der Kirche. Doch trotz dieser Hoffnung drängte sie ihre Kinder den ersten Absatz der Hintertreppe hinunter. Solange der Ausgang von Pal Klindas Verhandlungen nicht feststand, war der geheime Gang der einzig sichere Ort für ihre Familie.

Der schlaftrunkene Szándor hing schwer an ihrem Arm, während Betti Eva mit sich zerrte, die kaum in der Lage war, die Augen offen zu halten. Schon wurde der Lärm im Obergeschoss leiser, die ersten Flüchtigen drängten sich durch die Kellertür und in den engen, unterirdischen Gang.

Würden auch sie es schaffen? Bettis Herz raste, ihre Hände waren so nass vor Schweiß, dass sie Evas Hand kaum noch halten konnte. Weshalb musste sie Eva überhaupt derart mit sich ziehen, sie konnte doch selbst laufen?! Ungeduldig herrschte sie die Jüngere an: »Jetzt reiß dich endlich zusammen, Eva, oder willst du denen in die Hände fallen?«