Das Versprechen - Steffen Jacobsen - E-Book

Das Versprechen E-Book

Steffen Jacobsen

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Beschreibung

Ein mitreißender und bis zur letzten Seite spannender skandinavischer Thriller.Nina und Gabriela sitzen im Gefängnis und sind auf der Flucht vor ihrer düsteren Vergangenheit. Nina kommt auf Bewährung frei, doch schon bald holt die Vergangenheit sie ein. Gleichzeitig kommt ein Anruf aus dem Gefängnis: Gabriela ist in Gefahr! Sie müssen handeln, bevor es zu spät ist...-

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Steffen Jacobsen

Das Versprechen

Aus dem Dänischen von Maike Dörries

Saga

Das Versprechen ÜbersetztMaike Dörries

OriginalLøftetCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 2019, 2020 Steffen Jacobsen und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726455762

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

I

JVA Herstedvester, Abteilung gemischter Strafvollzug

Es war zehn Uhr abends, in einer Stunde würden die Zellen abgeschlossen werden. Eine Neonröhre an der Decke des Sportraums flackerte, die goldenen Buchstaben auf dem schwarzen Leder des Sandsacks waren verwischt, und aus den Ritzen und Löchern unter den über die Generationen notdürftig reparierten Flicken quoll die Füllung heraus wie aus einer verpuppten Schmetterlingslarve. Nina war der Zustand der Geräte egal. Der Gefängnis-Sportraum war ihre Freistatt, eine gedankenfreie Zone spät am Abend, wenn ihre Mitinsassen vor der Glotze oder bei Facebook abhingen. In dieser Zeit konnte sie in aller Ruhe ihre Situps und Liegestütz durchziehen, seilspringen, bis sie Blut schmeckte. Reflektieren und nachdenken, auch wenn im Gefängnis nicht unbedingt viel Nachdenkenswertes passierte.

Der Sack schwang unter einer Kombination gleichmäßiger, harter Schläge nach hinten. Nina ließ alle unterdrückte Frustration, Rastlosigkeit und Aggression an dem unschuldigen Sandsack aus. Sie machte einen Ausfallschritt und bremste den trägen Rückschwung mit ein paar schnellen, peitschenden Jabs, bis er endlich still und besiegt vor ihr hing. Nina beugte sich vor, stützte sich mit den Trainingshandschuhen auf den Knien ab und schnappte nach Luft. Nach ein paar Minuten wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und richtete sich auf. Sie war noch nicht ausgepowert genug und sah sich nach einer anderen Möglichkeit für ihr Kampftraining um.

In der Mitte des Raums stand ein Boxring in den offiziellen Abmessungen. Die Bodenmatte war eine bunte Mischung verschiedenfarbiger Flecken auf einer Palette zwischen blassgelb und dunkelbraun. Sie streckte sich und betrachtete abwesend die fransigen Seile und schiefen Eckenpfosten, als die flackernde Neonröhre über ihr sich mit einem Knall verabschiedete. Der Gestank, den die schweißimprägnierte braune Wandverkleidung, die limettengrünen Wände und der Linoleumboden ausströmten, würde erst verschwinden, wenn eines Tages das Gebäude abgerissen und vermutlich durch irgendwelche Bürosuiten für selbstreplizierende, alles invadierende Heerscharen von Sesselpupsern der Justizvollzugsbehörde ersetzt wurde. Nina trottete zu einem mannshohen, zersprungenen Wandspiegel und startete einen verbissenen Kampf gegen ihre schlanke Gegnerin im Spiegel.

Sie fuhr in Verteidigungshaltung herum, als hinter ihr ein Klatschen ertönte, bereit für welchen Gegner auch immer. Dann nahm sie die Hände herunter und deutete ein Lächeln an. Es war Martin, der einzige Gefängnisbeamte, der sich dazu herabließ, mit ihr zu reden. Er lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen im Türrahmen. Er trug eine dunkelblaue Uniformhose, schwarze Schuhe und ein hellblaues Kurzarmhemd. An seinem Gürtel hingen ein Schlüsselbund und Pfefferspray.

Sie stieß die Luft aus und sah ihn entspannt an.

„Martin …“

„Nina … Das sieht gut aus. Richtig gut.“

Sie zuckte mit den Schultern, obwohl ihr seine Meinung nicht egal war. Martin war ein talentierter Amateurboxer gewesen, bis ein schwerer Motorradunfall seine vielversprechende Karriere beendet hatte. Die Nase war gebrochen gewesen und schief wieder zusammengewachsen, die Augenbrauen von Narben durchzogen, was dem hübschen Gesicht eine gefährliche Derbheit verlieh, die von den freundlichen braunen Augen konterkariert wurde.

„Findest du?“, fragte sie.

Sie zog eine Hand aus dem Handschuh und wischte sich über die Stirn.

Martin schlenderte auf sie zu.

„Ja … absolut … außer vielleicht …“

Nina verdrehte die Augen.

„Bis auf was? Sag schon, Mann!“

„Das Übliche: Du senkst deine Rechte, bevor du einen linken Jab raushaust, eine Gratiseinladung zum Konter-Hook …“

Nina schnaubte verächtlich.

„Und du bist Rocky Balboa?“

Sie drehte ihm den Rücken zu, ging zum Boxring und schob sich zwischen den Seilen durch. Sie stellte sich in die Ringmitte und sah ihn auffordernd an.

„Ich lerne gern dazu. Wenn du dich traust.“

Martin zögerte. Wenn ihn jemand mit einer Insassin im Ring erwischte, konnte er auf der Stelle seine Sachen packen. Andererseits war Nina einfach unwiderstehlich feminin mit ihren langen, in einem Zopf zusammengebundenen, blonden Haaren, dem Schwanenhals und dem Körper einer Star-Athletin. Sie war vor sechzehn Monaten zusammen mit ihrem sehr viel jüngeren Schützling Gabriela eingewiesen worden. Nach zwei Monaten harmloser Wortwechsel war eine unerwartete und unerwünschte chemische Reaktion zwischen Nina und Martin entstanden, und seitdem nutzten sie jede sich ihnen bietende Gelegenheit zu atemraubenden, heimlichen und absolut verbotenen Treffen – in der Regel sexueller, aber auch kämpferischer Natur.

Er warf einen Blick über die Schulter.

„Ich weiß nicht, ob das so schlau wäre, Nina. Was, wenn jemand kommt? Dann ist echt die Kacke am Dampfen.“

„Hast du keinen Schlüssel für die Tür?“

„Schon, aber …“

Die Deckenbeleuchtung spiegelte sich im Schweiß auf ihrer Schulter. Das dünne weiße Top klebte an ihrer Haut, ihre Brustwarzen zeichneten sich darunter ab. Sie zog die Schultern hoch.

„Also … nichts als leere Worte, Martin? Typisch.“

Sie ging in die Ringecke.

In einer hitzigen Bewegung zog er sich das Hemd über den Kopf und sah sich nach einem Paar Handschuhe und einem Lederhelm um.

„Fuck you“, murmelte er.

„Denk an den Zahnschutz“, sagte sie lächelnd.

Mit einem gehörigen Wutpegel stieg er zwischen den Seilen in den Ring und zog die Boxhandschuhe mit den Zähnen stramm. Nina unterdrückte ein Grinsen. Martin war in der Regel äußerst schwer aus der Fassung zu bringen. Seine Eltern hatten ihn mit einem natürlichen Selbstvertrauen ausgestattet. Martin war ein grundanständiger Mensch, ambitionslos im positiven Sinn, nie überheblich oder unausgeglichen. Es gab nichts Schöneres für ihn, als Gitarre zu spielen und an seinen Motorrädern herumzuschrauben. Er war komplett anders als die Männer, zu denen sie sich in ihrem bisherigen, im Großen und Ganzen vergessenen Leben hingezogen gefühlt hatte.

Sie konzentrierte sich auf seine breite Brust und die Hände, die automatisch in die Verteidigung hochgingen. Sie waren ungefähr gleich groß, aber natürlich war er viel kräftiger als sie.

Nach nicht einmal zwei Minuten musste Martin der bitteren Niederlage in die Augen sehen – und er begriff einfach nicht, warum. Er war so viel routinierter und technisch versierter als sie, sein Schlagrepertoire variantenreicher und seine Reichweite viel größer als Ninas.

Aber das spielte alles keine Rolle. Nina kämpfte, als ginge es um Leben und Tod. Ihr Schlagabtausch wurde mit jeder Sekunde härter und verbissener. Bei jedem präzise gesetzten Schlag zeichneten die Schweißtropfen einen Glorienschein um ihre Köpfe. Er versuchte, sie mit seiner Körpermasse und Reichweite in die Ecke zu drängen, aber sie entglitt ihm wie ein Stück nasse Seife, fintete sich an ihm vorbei und nahm die Ringmitte ein wie ihren unanfechtbaren Stammplatz – und er konnte nichts dagegen tun. Sie war so flink wie eine aufgescheuchte Schleichkatze und bewegte sich grundsätzlich nach vorn. Martins kunstfertige, schwere Kombinationen wurden von ihren präzisen, schnellen Jabs und Konterschlägen pulverisiert. Er wischte sich unter der Nase entlang und hatte Blut am Handschuh.

„Du Satan!“

Sie zeigte auf ihren Helm und mimte feixend Ich kann dich nicht hören, was ihn noch rasender machte.

Er hatte Seitenstiche, seine Lunge pfiff angestrengt, während ihr regloser und unbarmherziger Gesichtsausdruck zu sagen schien, dass sie bis zum Sonnenaufgang so durchhalten könnte. Gleich darauf platzierte sie einen stahlharten Hook auf sein rechtes Ohr, und ihm wurde kurz schwarz vor Augen. Er stöhnte, blinzelte und fixierte ihre graublauen, gnadenlosen Augen vor sich.

Da endlich kam der Augenblick, auf den er gewartet hatte: ihr instinktiver Schwachpunkt, auf den er sie immer wieder hinwies. Sie setzte zu einem Jab mit der Linken an, senkte gleichzeitig die rechte Verteidigung und öffnete sich für seinen linken Hook. Er schlug mit aller Kraft zu, aber da war kein Kontakt. Sie hatte ihn gelinkt, in eine vorbereitete Falle gelockt. Sie duckte sich unter seinem linken Arm weg, ging in die Hocke, und das Letzte, was er wahrnahm, war Ninas Uppercut auf dem Weg zu seinem ungeschützten Kiefer.

Als Martin wieder zu sich kam, lehnte er mit gespreizten Beinen an dem Pfeiler in der Ecke. Er schüttelte vorsichtig den Kopf, bis die Dinge um ihn herum wieder ihre gewohnte Form, Größe und Farbe annahmen. Nina half ihm auf die Beine, aber die Knie drohten, nachzugeben. Dann half sie ihm, den Lederhelm abzusetzen und den blutverschmierten Zahnschutz aus dem Mund zu nehmen. Er musterte sie, gedemütigt und hilflos wie ein Fünfjähriger.

„Ich bin so ein Idiot … fuck. Ich gehöre in Sicherheitsverwahrung, zu meinem eigenen Schutz.“

Sie lächelte.

„Du befindest dich bereits in Sicherheitsverwahrung, Sweetheart. Du bist aber auch zu süß, total süß.“

„Danke und fuck you.“

„Nur, wenn du nicht willst.“

Sie drehte sich zur Seite. Ihr ranker, schlanker Tänzerinnenbody schlüpfte durch die Seile, und sie legte Handschuhe, Helm und Schrittschutz ab. Während er sich interessiert an den Eckenpfosten lehnte, zog Nina ihr Top und ihre Tights aus und drehte sich in weißem Sport-BH und kurzbeinigen Pantys, die ihren Venushügel betonten, zu ihm um.

„Du bist ein durch und durch netter Mann, Martin.“

„Der Weihnachtsmann und seine Rentiere sind nett.“

Ihr Gesicht wurde ernst.

„Das war ein Kompliment. Ich geh jetzt duschen.“

„Die Zellen werden in … vierzig Minuten abgeschlossen.“

„Warum bist du so früh gekommen, Martin?“

„Fragst du das ernsthaft?“

Sie hakte den BH auf, zog den Slip mit einer verzögerten Bewegung aus, die ihm das Blut in die Wangen trieb. Seine Nase blutete nicht mehr.

„Lust auf Wasserspiele?“, fragte sie.

Er stieg aus dem Boxring.

„Du bist so verdammt …“, setzte er an.

Sie lächelte ihn über die Schulter an auf dem Weg in den Duschraum.

„So verdammt … was?“

„Ja, ich habe Lust auf Wasserspiele … mit dir.“

Ihre Pobacken bewegten sich hypnotisierend, als sie vor ihm zum Duschraum hinter der Turnhalle lief. Martin war verloren und wusste es.

***

Nina ging durch den langen Gang der gemischten Vollzugsabteilung und rubbelte ihre Haare energisch mit dem Handtuch trocken. Sie lächelte still vor sich hin beim Gedanken an Martin. Auf beiden Seiten lagen identische Zellen. Die vielen japanischen Tattoos auf ihren Armen, den Schultern und dem Rücken schienen zu leben und sich zu bewegen, als sie die Grenze zwischen Licht und Schatten überschritt. Sie legte das Handtuch um den Nacken und schaute auf ihre Armbanduhr. Das obligatorische Abendritual stand an: kontrollieren, ob in Gabrielas Zelle alles in Ordnung war. Dass die dänische Nina die italienische Gabriela unter ihre Fittiche genommen hatte, wussten hier alle. Alle Neuankömmlinge hielten die junge, bildhübsche Achtzehnjährige und die ältere Nina auf den ersten Blick für ein Paar oder das klassische Team aus unschuldig aussehender, junger Drogenkurierin und erfahrener Schmugglerin. Die älteren Insassen warnten die Neuankömmlinge, besser nicht nachzufragen, wenn sie nicht ernsthaft zu Schaden kommen wollten.

Die beiden Frauen waren zusammen angekommen und mischten sich nicht unter die anderen Häftlinge.

Nina wurde langsamer und blieb drei Meter vor Gabrielas Einzelzelle stehen. Das stille, verzweifelte Weinen war wie ein Schlag aufs Zwerchfell. Sie schloss die Augen. Dann trat sie ein. Sie wusste im Voraus, was sie vorfinden würde, und der Hass brach in ihr auf wie eine große missgestaltete Blüte.

Es war nie weit weg.

Die Deckenbeleuchtung war ausgeschaltet und das Mädchen nur als dunkle Kontur vor dem schwachen, durch das schmale Panzerglas hereinsickernde Licht zu sehen, ein hart verknotetes Menschenknäuel auf einer in die Wand gemauerten Pritsche, so weit wie möglich von der Tür und dem Gang und den neugierigen Blicken der anderen Gefangenen entfernt.

Nina setzte sich neben das Mädchen, legte ihr die Hände auf die Schultern und drehte behutsam ihr Gesicht zu sich.

Sie biss sich fest auf die Lippe. Gabrielas linkes Auge war von einem heftigen Bluterguss verschlossen, die Unterlippe aufgeplatzt und ein Zahn im Oberkiefer direkt über dem Zahnfleisch abgebrochen. Ihr hübsches Gesicht strahlte Selbstaufgabe aus.

„Gabriela … Gaby? Wer war das?“

Nina sprach fließend und eindringlich in Italienisch auf sie ein, die einzige Sprache, die das Mädchen verstand.

Gabriela drehte das Gesicht zur Wand, als schäme sie sich. Ihr Körper krümmte sich vor Schmerz. Aber Nina bestand darauf, sie genauer anzusehen, und wechselte die Seite. Sie tupfte vorsichtig die Tränen mit ihrem Handtuch von den malträtierten Wangen. Das Mädchen saugte Luft ein, die einen eiskalten Blitz durch die bloßliegende Zahnwurzel jagte, und stieß einen Klagelaut aus wie ein verletztes Tier.

„Gaby … du musst mir sofort sagen, wer dir das angetan hat. Das ist sehr wichtig.“

Gabrielas nicht zugeschwollenes Auge sah sie flehend an.

„Niemand … ich schwöre es, Nina. Ich bin so dumm und tollpatschig. Ich kann mich an nichts erinnern, nur, dass ich unten in der Werkstatt ausgerutscht bin. Auf einer glatten Stufe. Ich sollte etwas für die Schleifmaschine holen.“

Nina rückte ein Stück von ihr ab, beugte sich vor und rieb sich mit den Händen übers Gesicht. Es hörte niemals auf. Sie wusste mit ziemlicher Sicherheit, welches Arschloch dafür verantwortlich war, und hatte für sich persönlich längst die kompromisslose Entscheidung getroffen, nie mehr klein beizugeben und sich damit abzufinden. Sie wollte nie mehr zurückgeholt werden in die Vergangenheit, ein willenloses Opfer von Carlo, dem Erzverführer, Puppenspieler, der sie überall aufspüren und sie leiden lassen würde, selbst in einem Knast in Dänemark. Carlo war Luzifers Kapitän und Verderber aller unschuldigen und gutgläubigen Seelen, die seinen Weg auf seinem sadistischen Feldzug durch die Welt kreuzten.

Sie hatte nie verstanden, warum. Er kam aus einer ganz normalen, liebevollen Mittelklassefamilie und hatte immer alles bekommen – bis auf eine Seele. Es gab keine allgemein gültige Beschreibung, die auf Carlo passte. Wahrscheinlich wusste er selbst nicht einmal, warum er so war.

Sie legte gedankenverloren die Hände auf die Knie und schaute geradeaus. Mit der Zeit hatte sie sich die Fähigkeit angeeignet, mit ihrem Willen zu verschmelzen. Zwischendurch war sie selbst überrascht, wenn nicht erschrocken, was zu leisten sie in der Lage war, wenn sie ihrer unbändigen Wut freien Lauf und sich von ihr mitreißen ließ wie ein Blatt von einer Stromschnelle.

Um ganz sicher zu gehen, fragte sie: „Darius?“

Das Mädchen reagierte mit instinktivem Zittern. Mehr Bestätigung brauchte Nina nicht. Darius war ein rumänischer Drogenschmuggler und notorischer Schleuser. Und einer von Carlos Untertanen. Der Untergang für zahllose junge bulgarische und rumänische Mädchen vom Land, geblendet von den goldenen Versprechen des Westens, bis sie irgendwann in einem tschechischen oder albanischen Bordell in ihrer menschlichen Hülle als lebende Tote endeten und entsorgt oder als zweitklassige Ware über die Bosporus-Route in die Türkei geschleust wurden.

Wer Darius sagte, musste auch Stefan sagen. Die zwei waren wie Kletten, und es war zweifellos der androgyne Stefan gewesen, der Gabriela so zugerichtet hatte. Er hasste Frauen. Darius und Stefan saßen eine Zehnjahresstrafe ab wegen einer bis unters Dach mit Ecstasy, Hasch und afghanischem Heroin vollgeladenen Luxusjacht für die Rocker, die in Rødbyhavn gestürmt worden war.

Ein neues Zittern durchlief Gabriela.

„Ja“, flüsterte sie. „Aber …“

„Wir wissen beide, warum. Irgendwer hat ein Mobiltelefon zu den beiden reingeschmuggelt, und Darius hat einen Anruf aus Milano oder Bukarest bekommen. Carlo hat uns mal wieder aufgespürt. Wie ich mir wünschen würde …“

„Was?“

„Nichts.“

Ninas Hände hingen schlapp zwischen den Knien, die Selbstvorwürfe überrollten sie wie eine schwarze Lawine. Wenn sie nur nicht so saubescheuert gewesen wäre … und wenn sie nur …

Sie stand auf und streichelte Gabriela über die weichen, dunklen Locken.

„Ich muss mit ihnen reden.“

Gabrielas intaktes Auge weitete sich.

„Nein, nein …“

„Ich muss. Die hören niemals auf, es sei denn, sie haben mehr Angst vor mir als vor Carlo.“

Sie beugte sich vor und küsste Gabriela auf die Stirn.

„Mach dir keine Sorgen. Bald kommen wir raus.“

„Wir kommen niemals raus!“

Gabriela schluchzte unglücklich.

„Doch, tun wir“, sagt Nina mit Nachdruck. „Ich verspreche es dir, Engel.“

„Versprich mir lieber, auf dich aufzupassen.“

„Das muss ich nicht, das sind Schwachköpfe.“

Nina begab sich in die Nachbarzelle, die sechzehn Monate lang ihr Heim gewesen war. Jeder Insasse hier war auf Schutz angewiesen. Besonders die Frauen in der gemischten Abteilung, die in einem Verhältnis von acht zu eins mit den männlichen Häftlingen in der Unterzahl waren. Normalerweise hieß das, dass man sich mit einem der hünenhaften Rocker verbündete, die solche Mengen Anabolika intus hatten, dass sie keinen mehr hochkriegten, aber ihre Frauen und Töchter liebten, einen gewissen Ehrenkodex besaßen und Selbstgebackenes mochten, das man frei in der Abteilungsküche zubereiten konnte. Oder man trat dem Hofstaat der einflussreichen, aber bösartigen Diesel-Lesben bei. Das bot einen gewissen Schutz, aber die dafür verlangten Gegenleistungen waren für Nina und Gabriela völlig inakzeptabel.

Darum zog Nina es vor, selbst auf sich und Gabriela aufzupassen.

Der verlassene Gefängniskorridor endete vor einer grauen Stahltür, die in den Kraftraum der Abteilung führte. Sie hörte angestrengtes Stöhnen und das Klirren schwerer Gewichte, die auf Gummimatten fielen. Darius und das herzlose Raubtier Stefan hatten den Raum für sich allein. Das war eine fest verankerte Tradition, weil Darius genügend Geld hatte, um selbst die Aristokraten an der Spitze der Hierarchie zu bestechen: die Rocker. Etwa in der Mitte öffnete sich der Korridor für die Wachstube.

Martin saß vor dem Computer und schaute auf, als sie aus dem Halbdunkel trat. Er seufzte, als er ihren Gesichtsausdruck sah, den er nur allzu gut kannte, und schaute zur Tür vom Kraftraum.

In Ninas Hand baumelte eine Tennissocke, deren Strumpfspitze ganz offensichtlich mit ein paar steinharten Stücken Gefängnisseife ausgestopft war, eine beliebte, improvisierte Schlagwaffe im Knast. Er erhob sich hastig von seinem Bürostuhl und stellte sich ihr mit ausgebreiteten Armen in den Weg.

Nina nahm ihn kaum wahr.

„Stopp.“

Sie ging weiter, den Blick auf den Boden gerichtet, ausdrucksloses Gesicht und konzentriert wie ein Chirurg auf einen bevorstehenden Eingriff und mögliche Komplikationen.

„Stopp, Nina, verdammt noch mal!“, sagte Martin energisch. „Du wirst morgen vorzeitig auf Bewährung entlassen. Deine Zelle wird anderweitig gebraucht.“

Mehr als seine Worte war es der Tonfall in seiner Stimme, der sie veranlasste, stehenzubleiben.

„Was sagst du da?“

„Du hast morgen einen Termin beim Ausschuss für vorzeitige Entlassungen. Versau dir das jetzt nicht, okay?“

Sie sah ihn misstrauisch an.

„Ich soll …? Aber … das geht nicht!“

„Willst du nicht weg hier? Raus aus dieser Hölle?“

„Schon, aber …“

Martin legte eine Hand auf ihre Schulter. Sie schüttelte sie ab.

„Ich kümmere mich um Gabriela. Versprochen. Ich weiß sehr wohl, wie nahe ihr euch steht.“

Nina kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. Selbstloses Handeln existierte nicht in ihrer Welt.

„Warum?“

„Warum? Mitgefühl. Schon mal was davon gehört?“

„Ich habe auch von Einhörnern gehört, aber bisher noch keins gesehen.“

„Wie auch immer, das ist ein Versprechen, okay? Und jetzt geh zurück in deine Zelle. Sofort.“