Das Wasser des Sees ist niemals süß - Giulia Caminito - E-Book

Das Wasser des Sees ist niemals süß E-Book

Giulia Caminito

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Beschreibung

Eine Frage der Klasse: Radikal unversöhnlich erzählt Giulia Caminito von nicht eingelösten Aufstiegsversprechen und den enttäuschten Träumen einer ganzen Generation junger Italiener – ein berührender, zorniger, großer Anti-Bildungsroman. Am Grund des Sees liegt eine versunkene Weihnachtskrippe, sein Wasser schimmert trüb, schmeckt nach Sonnencreme und Benzin. Hier, am Lago di Bracciano, bezieht Gaia mit ihrer Familie eine Sozialwohnung: der Vater, der seit einem Arbeitsunfall im Rollstuhl sitzt, der ältere anarchistische Bruder Mariano, die kleinen Zwillinge – und die Mutter Antonia, die so zupackend wie rücksichtslos alles zusammenhält. Ihre Tochter, blass, sommersprossig, dürr, soll nicht so enden wie sie, Bildung soll der Ausweg für Gaia sein. Doch die erkennt früh, dass Talent und zwanghafter Fleiß nicht ausreichen, um mitzuhalten – wenn man kein liebes Mädchen sein will, den filzstiftgrünen Pullover des Bruders aufträgt und sich kein Handy leisten kann. Konfrontiert mit Herabsetzungen, Leistungsdruck und Orientierungslosigkeit verwandelt sich Gaias stumme Verletzlichkeit in maßlose Wut, die sie zunehmend Grenzen überschreiten lässt. Giulia Caminito hat ein sanftes, raues, wundersam reiches Buch geschrieben: über eine Jugend in der Provinz, lächerliche Lieben, grundstürzende Dramen und eine junge Frau, die ihrer Herkunft nicht entkommt. Ein Roman mit einer unverwechselbaren Erzählstimme und Bildern, die haften bleiben wie ungeliebte Spitznamen.

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Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner

Die italienische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel L’acqua del lago non è mai dolce bei Bompiani in Mailand.

Questo libro è stato tradotto grazie a un contributo per la traduzione assegnato dal Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale italiano. Dieses Buch konnte dank einer Förderung des italienischen Außenministeriums übersetzt werden.

E-Book-Ausgabe 2022 © 2021 Giunti Editore S.p.A./Bompiani This edition published in agreement with the Proprietor through MalaTesta Literary Agency, Milano © 2022 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin www.wagenbach.de Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Fotografie © Philipp Jelenska/Trunk Archive. Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 978 3 8031 4352 5 Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3349 6 www.wagenbach.de

Jedes Leben beginnt mit einer Frau, so auch meins, es ist eine Frau mit rotem Haar, die ein Zimmer betritt, sie trägt ein Leinenkostüm, sie hat es zu dieser Gelegenheit aus dem Schrank hervorgeholt, sie hat es sich auf dem Markt bei der Porta Portese gekauft, an dem guten Stand mit den heruntergesetzten Markenklamotten, nicht an einem von denen mit dem Ramsch, sondern einem mit dem Schild VERSCHIEDENE PREISE.

Die Frau ist meine Mutter, und sie hält eine Aktentasche aus schwarzem Leder fest in der linken Hand, sie hat sich die Haare selbst gelegt, hat Lockenwickler und Spray verwendet, den Pony mit der Bürste gebauscht, sie hat grün-gelbe Augen und biedere Schuhe mit flachen Absätzen, sie tritt ein, und das Zimmer wird klein.

An den Schreibtischen sitzen Angestellte, meine Mutter hat eine Stunde an der Ecke des Gebäudes gestanden, die Aktentasche gegen die Brust gepresst, und wenn sie davon erzählt, sagt sie, ihre Beine seien aus Butter gewesen und ihr Speichel säuerlich.

Sich in den Hüften wiegend tritt sie näher, und bevor sie ankommt, ist da ihr Parfüm, mit dem sie den Geruch nach Linsen überdeckt hat, die sie zu Mittag gekocht hat, sie sagt: Ich möchte Dottoressa Ragni sprechen, ich habe einen Termin.

Diesen Satz hat sie vor dem Spiegel, in der Straßenbahn und im Aufzug immer wieder vor sich hergesagt: Ich habe einen Termin.

In sanftem Tonfall, in fröhlichem Tonfall, in entschiedenem Tonfall, mit einem Flüstern, so als ob das normal wäre, und jetzt sagt sie ihn zu einer jungen Frau ohne Ehering und mit im Nacken zusammengebundenen Haaren, die sie mustert und das etwas zerknitterte Leinenkostüm sieht und das am Griff abgenutzte Leder der Tasche.

Die junge Frau schaut in den Terminkalender, den sie vor sich hat: Sie heißen?

Antonia Colombo, sagt meine Mutter.

Die junge Frau prüft aufmerksam den Terminkalender von Dottoressa Ragni, fährt ihn schnell mit dem Finger ab und sucht nach dieser Colombo, findet sie aber nicht.

Ihr Name steht hier nicht, Signora.

Meine Mutter schneidet eine Grimasse, die sie sich wieder und wieder überlegt hat, sie hat sich gefragt, was für ein Gesicht sie in genau diesem Moment ziehen sollte, jeden Augenblick musste sie durchdenken, sich in allen Einzelheiten vorstellen, was passieren würde, und die Grimasse gelingt ihr gut, es ist die Miene einer vielbeschäftigten Frau, die sich über die Inkompetenz der anderen, über Verzögerungen ärgert.

Meine Mutter sagt: Schauen Sie, ich habe den Termin schon vor einer Woche vereinbart, ich bin Anwältin, und Dottoressa Ragni hat mir zugesichert, dass sie heute da sein würde, wir sind sehr im Verzug mit der Übergabe der Akten.

Meine Mutter verzieht das Gesicht, und ihre Empörung ist echt, so echt wie die zu engen Schuhe und die großen, verschwitzten Männer in der Straßenbahn.

Zwischen den beiden gehen noch ein paar Sätze hin und her, und Antonia Colombo bleibt beharrlich, ist sich gewiss, dass es richtig ist, das zu tun, sich Platz zu verschaffen und sich nicht mehr vom Fleck zu rühren.

Die Signorina lässt sich überzeugen, die Frau mit den roten Haaren scheint sich dessen, was sie sagt, sicher zu sein, und im Büro hat keiner auch nur von den Papieren aufgeschaut, mit denen er beschäftigt ist, denn noch ist kein Streit entbrannt.

Also öffnet ihr die junge Frau die Tür, auf der das Schild Dottoressa Ragni prangt, und meine Mutter schreitet hindurch, es ist die Schwelle zu ihrer Zukunft.

Sie sieht eine dritte Frau im Kostüm, Rock und Blazer, schwarz mit grünen Punkten, und wartet, dass sich die Tür hinter ihr schließt.

Sie und die Dottoressa sehen einander an, letztere hat die Hände in einer Schublade, die sie sofort schließt, und hinter sich ein mit Gesetzestexten vollgestopftes Bücherregal, und meine Mutter weiß, dass sie all dieses Papier niemals bei sich unterbringen könnte, weil Papier Platz wegnimmt und kostet.

Und Sie sind …?, fragt Dottoressa Ragni und schlägt die Beine übereinander.

Antonia Colombo, antwortet meine Mutter und setzt hinzu: Wir kennen uns nicht, und ich habe keinen Termin.

Ein dichtes Schweigen, das ein paar Sekunden anhält, bis Antonia anfängt zu reden.

Sie kennen mich nicht, aber auf Ihrem Schreibtisch liegt meine Akte mit dem Antrag auf Zuweisung einer Wohnung, ich bin sicher, dass er da in diesem Stapel liegt, da mittendrin bin auch ich, ich wohne in der Via Monterotto 63, wobei, ich wohne da nicht, weil mein Wohnsitz nicht anerkannt wird, wir wohnen auf zwanzig Quadratmetern im Untergeschoss, Wasser- und Stromrechnungen laufen nicht auf meinen Namen, und ich zahle Strafe wegen illegaler Besetzung, ich habe das Geld vorgeschossen, um dort wohnen zu können, und ich will, dass das geregelt wird, fünf Jahre dauert das nun schon.

Die Dottoressa erhebt sich von ihrem Stuhl und erweist sich als nicht besonders groß, sie nimmt die Brille ab, runde Gläser in Schildpatt gefasst, und wirft sie ärgerlich auf den Tisch, sie herrscht meine Mutter an, sie solle verschwinden.

Ich bin in den Ämtern gewesen, in all euren Ämtern, ich habe die Unterlagen gebracht, die ihr verlangt habt, ich habe den Mann geheiratet, der mit mir zusammengelebt hat, ich habe dafür gesorgt, dass er meinen Sohn adoptiert, ich bin schwanger geworden, wir haben einen gemeinsamen Haushalt gebildet, ich erfülle alle Voraussetzungen, sagt meine Mutter.

Die Dottoressa beginnt Nummern ins Telefon zu tippen, dann wirft sie den Hörer hin, droht, die Polizei zu holen und sagt zu meiner Mutter, sie müsse jetzt sofort gehen, wie könne sie es wagen, sich hier unter Vorspiegelung falscher Tatsachen Zutritt zu verschaffen, sie sagt es mit lauterer Stimme: Wie können Sie es wagen?

Da setzt sich meine Mutter im Schneidersitz auf den Boden, das Leinenkostüm rutscht ihr die weißen Oberschenkel voller Sommersprossen hoch, sie hebt die Hände über den Kopf und sagt: Ich bin hier, ich bin hier wegen meiner Wohnung.

Und sie bleibt sitzen, ihre Arme sind steif, die Finger gespreizt, die Aktentasche liegt auf dem Boden, sie ist leer, meine Mutter ist keine Anwältin, und sie hat keinen Termin bei denen, die zählen, sie hat eine Wohnung, die sie von Mäusen, Schaben und Spritzen befreit hat, und sie will eine Lösung.

Die Dottoressa geht vom Tisch weg und an ihr vorbei, stößt sie dabei absichtlich mit einem Knie und öffnet die Tür, sie ruft ins Büro: Da sitzt eine Verrückte auf dem Boden, schafft sie weg.

Da eilen die junge Frau von eben, einige Männer, der Hauswart und die Pförtnerin herbei und finden diesen Rumpf von einer Frau, die meine Mutter ist, die Hände zur Decke erhoben und das Leinenkostüm vollends hochgeschoben, das Gesicht aus Marmor, zwischen den Lippen hält sie Beschimpfungen und gegrölte Lieder bereit.

Sie glaubt nicht, dass sie wissen, was es heißt, an den Punkt zu kommen, an dem man nicht mehr kann, nach ein zwei drei vier fünf zehn Sozialhelfern, nach ein zwei drei vier fünf zehn Postämtern, nach ein zwei drei vier fünf zehn vom Amt bestellten Verteidigern, nach ein zwei drei vier fünf zehn Angestellten des Kommunalen Wohnungsamts ATER, nach ein zwei drei vier fünf zehn auszufüllenden Formularen, nach ein zwei drei vier fünf zehn Strafzahlungen und Abrechnungen, Mahnungen und Drohungen.

Sie heben sie hoch und tragen sie fort, sie fassen sie an Armen und Beinen, da springt die Bluse auf, ein bügelloser BH ist zu sehen, pralle Brüste, der Rock reißt, und ihre Unterhose schaut heraus, meine Mutter hat ihr gutes Kleid schon zerfetzt, tritt um sich und schreit wie ein erbarmungsloses wildes Tier.

Und mir ist, als stünde ich dort und sähe sie von der Ecke des Zimmers aus, ich richte über sie und vergebe ihr nicht.

Zuhause ist, wo das Herz ist

Wir leben in einem Viertel, das meine Mutter nur ungern Peripherie nennt, denn um zur Peripherie zu gehören, musst du wissen, was das Zentrum ist, und dieses Zentrum sehen wir nie, ich habe noch nie das Kolosseum besucht, die Sixtinische Kapelle, den Vatikan, die Villa Borghese oder die Piazza del Popolo, von der Schule aus machen wir keine Ausflüge, und wenn ich das Haus verlasse, dann nur, um mit meiner Mutter auf dem Markt im Viertel einzukaufen zu gehen.

An dieser Wohnung – fünf Meter breit und vier Meter lang – mag ich den Betonboden und die Blumenbeete, auf denen nur Gras wächst, niemand hat je daran gedacht, hier Blumen zu pflanzen, und auch meine Mutter hat sich geweigert, denn pflanzen bedeutet bleiben.

Das Wohnungsinnere, das ist eine Küche in einem Schrank, ist eine Liege, die man unter Marianos Bett hervorziehen kann, ist ein elektrischer Heizköper, den man selten einschalten soll beziehungsweise nur, wenn es wirklich kalt ist, ist ein Beatles-Poster über den vier verschiedenen Stühlen und dem Tisch, an dem wir essen, ist, das Bett meiner Eltern quietschen zu hören, wenn sie es treiben, denn es gibt nur einen Raum, und du kannst nicht einfach rausgehen und kannst dich auch nicht einfach im Bad einschließen, denn auch vom Bett oder von draußen aus hört man alles.

Die Wohnung, das bin ich als Kind, ich kenne nur diese kahle Betonfläche und bewohne sie zusammen mit meinem Bruder wie ein Königreich, sie gehört uns und niemandem sonst, wir graben, springen, kochen Brennnesseln und Ameisen, und auf dem Boden malen wir mit Kreide, die wir aus der Schule mitgenommen haben, Zahlen, Linien, Dreiecke und Quadrate, in die wir uns hineinsetzen, und von denen wir sagen, dass sie uns gehören, dort leben wir, in den Zeichen am Boden, die wir gezeichnet haben.

H-A-U-S sagen wir, und es genügen uns wenige Striche, die Wände und das Dach, die Fenster und die Tür.

Diesen Ort, den Schauplatz unserer Spiele und unserer frühesten Fantasien, gibt es, weil unsere Mutter es gewollt hat, vorher war dies hier das Reich von Kakerlaken, ein paar Mäusen und jeder Menge Spritzen, die durch das Kellergitter hineingeworfen oder von jenen zurückgelassen wurden, die im Hauseingang schlafen.

Unsere Mutter hat sich hohe, von meinem Vater geliehene Gummistiefel angezogen, um jede einzelne aufzusammeln und sie vor dem Entsorgen zu verbrennen; wenn du eine Spritze findest, sagt meine Mutter immer, musst du sie aus dem Weg räumen, denn wenn ein Kind darüber stolpert, ist es auch deine Schuld, weil du sie übersehen hast.

Sie hat Gift benutzt, hat meinen Vater aufgefordert, von der Baustelle eine Schaufel mitzubringen, und hat angefangen, zu jagen, zu töten, auszurotten.

Nach Monaten der Arbeit ist der Hof, auf den der zahnlose Mund unserer Souterrain-Wohnung geht, gereinigt, sie nimmt uns bei der Hand, bringt uns dorthin und sagt: Spielt.

Um diese Wohnung zu bekommen, hat sie ihre Großmutter um Geld gebeten, damit sie den Verwandten einer alten Frau, die dort gestorben war, die Ablöse zahlen konnte.

Dieses schimmelbefallene Loch in einem schäbigen Viertel voller Heroinsüchtiger und hinfälliger Alter hätte niemand kaufen wollen, und abgesehen davon hätte meine Mutter ohnehin nicht das Geld gehabt, um es zu kaufen, also war sie mit den Eigentümern übereingekommen und hatte begonnen, ihre Anträge zu stellen, um die Ansässigkeit auf reguläre Basis zu stellen, eine andere Wohnung zu suchen, eine wenigstens vorläufige Legalisierung der Verhältnisse zu erwirken.

Sie hatte gedacht, es würde nicht lange dauern, sie würde es irgendwie schaffen, man würde eine neue Wohnung für uns suchen, während wir hier warteten.

Also warten wir, warten so lange, dass meine Mutter am Ende nachgibt und sich daran macht, den Boden zu putzen und auszubessern, die Decke zu streichen und den Abfluss an der Badewanne zu reparieren, weil die römische Stadtverwaltung uns keine Wohnung geben will.

Das Ganze stützt sich auf das Gleichgewicht von etwas, das jederzeit einzustürzen droht, sich aber mit der letzten Wurzel am bröckeligen Gelände festkrallt – bis meine Mutter noch einmal schwanger wird und mein Vater, der nicht Marianos Vater ist, einen Arbeitsunfall hat: Er stürzt von einem Gerüst und bleibt querschnittsgelähmt.

Zur Heiratsurkunde und den Adoptionspapieren kommen nun diejenigen zur Invalidenrente hinzu, zu den Anträgen auf Arbeitslosengeld, die auf Beihilfe für kinderreiche Familien und jene, um meine Brüder in die Kinderkrippe geben zu können: Unser Leben besteht darin, die Stadt, den Bürgermeister, Italien anzubetteln, uns zu Hilfe zu eilen, aufgenommen und gerettet und nicht vergessen zu werden, unser Leben ist ein unentwegtes Bitten.

Als die Zwillinge auf die Welt kommen, bin ich sechs Jahre alt, und Mariano hasst uns alle, allen voran den Vater, der nicht der seine ist und der sich von einem mürrischen Menschen in ein sperriges und anstrengendes Möbelstück verwandelt hat, in einen Ofen, der nicht mehr funktioniert, einen Staubsauger, der nichts vom Boden aufnimmt, einen Boiler, der einen nach fünf Minuten unterm kalten Wasser stehen lässt, ein Stück altes Eisen, und Mariano will ihn wegschmeißen.

Mein Vater, bekannt für seine schallenden Ohrfeigen und seine Sexversessenheit, sitzt nun unbeweglich in seinem Rollstuhl, den meine Mutter über Verwandte im Krankenhaus aufgetrieben hat, hebt seine Beine nur eins nach dem anderen und isst nicht mehr zu Abend: Wozu soll so viel Essen gut sein?

In der Wohnung befinden sich jetzt ein regloser Mann, einer Statue ähnlich, wie Marmor, wie die Fliesen, wie der Türrahmen, wie die Mäuerchen, die das Haus einfassen, und eine geschäftige Frau, die zusammenträgt, verschiebt, poliert, aufräumt, kittet, vergiftet und mit dem Besen das Wasser rauswischt, wenn die Wohnung wegen des vielen Regens vollläuft. Der reglose Mann ist mein Vater, die andere, die Unermüdliche, ist die Frau mit den roten Haaren, die Antonia Colombo heißt.

Ich habe kein Spielzeug und wenige Freundinnen, bei allen Dingen muss ich mit ihrer schlechten Kopie vorliebnehmen: die aus Stoffresten zusammengenähte Puppe, der von einem anderen Mädchen übernommene Schulranzen mit ihrem Gekritzel darauf, die Schuhe vom Markt, nicht in einer Schachtel nach Hause gebracht, sondern in einer Plastiktüte und mit schon abgelaufener Sohle, statt der Weihnachtsbeleuchtung Mandarinen, statt Barbie-Puppen ihre aus Illustrierten ausgeschnittenen Fotos.

Ich denke, wir sind Abfallmaterial, nutzlose Karten in einem komplizierten Spiel, angeschlagene Billardkugeln, die nicht mehr richtig rollen: Wir sind unbeweglich am Boden liegengeblieben wie mein Vater, der von einem unzureichend gesicherten Gerüst gefallen ist, auf einer illegalen Baustelle, ohne Vertrag und ohne Versicherung, und von hier unten aus sehen wir zu, wie die anderen sich Ketten mit Edelsteinen um den Hals legen.

Die Zwillinge sind winzige lärmende Kreaturen, sie schlafen in einer riesigen Schachtel voller Decken, die auf dem Küchentisch steht, und der Geruch ihrer Windeln vermischt sich mit dem der Minestra.

Mariano und ich verstehen nicht, warum wir noch immer hier sind, wir haben nie versucht abzuhauen, wir, ich und dieser Junge mit den dunklen Haaren, malen uns im Geheimen den Augenblick aus, in dem wir fliehen werden, und doch sind wir nie bereit, uns davonzumachen, um die nächste Ecke unseres Lebens zu biegen.

***

Wir sind Leute, die sich kaum im Latium auskennen, der Region, in der sie leben, und ebenso wenig in den Straßen Roms, ihrer Stadt, weil sich unser Bewegungsradius auf unser Viertel beschränkt, jenseits davon ist es zu teuer für uns, und niemand würde meiner Mutter Geld leihen oder Brot und Schinken gegen einen Tag ihrer Arbeit eintauschen.

Die Theorie meiner Mutter lautet: Wer dich nicht kennt, hilft dir nicht, also bleiben wir dort, wo man weiß, wer wir sind, und sie kleinere und größere Beziehungen von Schutz und Anerkennung knüpfen kann.

Mariano ist der Älteste und hat jeden von uns als Einmischung in die Beziehung zwischen sich und Antonia erlebt, eine Weile lang war sie alleinerziehende Mutter, und da haben die beiden einen einzelnen überlebensfähigen Organismus gebildet.

Was mich angeht, so toleriert er mich, weil ich keine Heulsuse bin und ihm schweigend zuhöre, wenn er Märchen und Dämonen auf mich loslässt, schreckliche Gruselgeschichten und Abenteuer, in denen das Mädchen immer stirbt und der Wolf immer gewinnt. Wir sind vier Jahre auseinander, und wenn man klein ist, scheint das viel mehr, er kommt mir erwachsen vor, fast alt. Er geht dazwischen, wenn man mich belästigt, in der Tat habe ich eine sauschlechte Meinung von den anderen Mädchen, betrachte sie mit Verdruss, sie scheinen mir etwas voraus zu haben, aber noch habe ich nicht meine Art gefunden, gegen sie anzugehen.

Da ist eine kleine Blonde, in meinen Augen Österreicherin, die mich Fledermausschnabel nennt, weil sie meint, ich hätte vorstehende Lippen, also stelle ich mich im Bad auf die Zehenspitzen, um das zu überprüfen, und mir kommt es keineswegs so vor, als hätte ich irgendeine Missbildung, ich weiß, dass die Fledermäuse früher mal Mäuse waren und keine Enten. Aber Beleidigungen unter Kindern müssen keinen Sinn ergeben, um zu verletzen: Anders, mangelhaft zu sein, schadet dir, angepasst zu sein hilft dir, dich unter die anderen zu mischen und nicht aufzufallen, wir sind mit unserem eigenen Kram schon kaputt genug, da können wir uns nicht auch noch auffällige Schnäbel oder Ohren erlauben.

Als ich Mariano davon erzähle, kommt er vor meine Schule, bittet mich, ihm zu zeigen, welches Mädchen es ist, schreit sie an: Halt’s Maul, du Vollidiotin, und versetzt ihr einen Fausthieb.

Ich empfinde einen Schauer aufrichtiger Bewunderung für ihn, der mit einer Geste die Frechheit der anderen zum Schweigen gebracht hat; seinen Jähzorn nehme ich sogleich in den Schatz der unbedingt zu beherzigenden Dinge auf.

Das wissen weder meine Lehrerinnen noch meine Mutter zu schätzen, die Mariano zwei Tage lang die Hände auf dem Rücken zusammenbindet und sagt, dass er nun ohne auskommen oder uns bei dem, was er nicht machen könne, um Hilfe bitten müsse: Wenn er sie nicht vernünftig einzusetzen weiß, darf er sie eben gar nicht mehr benutzen.

Antonia findet verschiedene Lösungen für Probleme, Ohrfeigen oder Tritte versetzt sie uns selten, sie zieht es vor, uns etwas wegzunehmen.

Wenn wir in der Wohnung herumschreien, macht sie uns kein Abendessen, wenn wir ihr nicht mit den Zwillingen helfen, weil wir lieber weiterspielen, gibt sie uns kein Pausenbrot mit oder nimmt uns das Federmäppchen ab; sie ist wie gemacht für Streiks und für Protestkundgebungen.

Sie hat ihre Vorstellungen, die sie sich wer weiß wie zusammengebastelt hat, vielleicht hat sie sie von meiner Großmutter, vielleicht aus dem Leben, vielleicht sind sie einfach in ihr selbst gewachsen und fertig, sie kennt keine Religion, keine Partei mehr, eine klare Vorstellung hat sie nur von der Gerechtigkeit, ist hartnäckig fixiert auf die Dinge, die gerecht sind.

Mich faszinieren Blumen, nicht die paar, die in unserem Hof wachsen, diese äußerst zerbrechlichen Frühlingsmargeriten, sondern die Rosen in den Gärten der anderen, Jasmin und Hortensien, die ich neben meiner Mutter die Straße entlanggehend hervorsprießen sehe und pflücken möchte.

Einmal mache ich den Versuch, denn ich möchte die Blütenblätter dieser Rose zusammen mit etwas Wasser in eine Plastikflasche geben, wie meine Klassenkameradinnen es tun und dann in der Schule ihre stinkenden, aber kostbaren hausgemachten Parfüms vorzeigen. Antonia sieht, wie ich eine Rose pflücke, die aus einem Maschendrahtzaun hervorlugt, und wir fangen an zu streiten.

Was nicht deins ist, darfst du nicht nehmen, schimpft sie.

Aber sie war auf der Straße, und die Straße gehört allen, antworte ich.

Dann bist du eine noch schlimmere Diebin, was allen gehört, rührt man nicht an.

Sachen kaputtmachen oder beschädigen ist ein Sakrileg, das meine Mutter sofort wiedergutmacht, indem sie Wege findet, die Dinge zu reparieren oder anderweitig zu verwenden, aber bei dem, was allen gehört, wird sie unerbittlich: Das Gras in dem kleinen Park zertrampelt man nicht, Papier wirft man nicht neben den Abfalleimer, man pflückt keine Rosen in den Gärten, man beschädigt keine Bücher aus der Bibliothek.

Bücher sind ihre große Obsession, weil Lesen bei uns zu Hause – vor allem seit mein Vater im Bett oder im Rollstuhl ist, und einen Fernseher haben wir keinen, sondern nur ein Radio – der einzige Zeitvertreib ist, und da wir weder Platz noch Geld für eigene Bücher haben, benutzen wir die allen gehörenden Bücher und müssen sie wie Reliquien behandeln, sie werden fein säuberlich gestapelt, meine Mutter hat sämtliche Rückgabedaten notiert und drängt uns, die Bücher beizeiten auszulesen, sie kontrolliert, ob wir sie beschmutzt oder zerknittert haben, und wenn das geschieht, schleift sie uns in die Bibliothek, um die Bibliothekarin und die anderen Kinder um Entschuldigung zu bitten, und ersetzt sie, und auch wenn man ihr sagt, das sei nicht nötig, antwortet sie: Und ob das nötig ist.

Wenn ich es wage, sie darauf hinzuweisen, dass es mit den Dingen, die allen gehören, so sei, als ob sie niemandem gehörten, antwortet sie mir: Schlag dir diese Idee aus dem Kopf, sonst wirst du eine böse Frau.

***

Antonia zieht sich nicht mehr gut an, sie geht in die Ämter und Behörden mit den Kleidern, die sie zu Hause trägt, verschwitzt und mit einer großen Klammer im Haar, sie hat ein rundes Gesicht, schmale Stirn und lange Wimpern, die Nase ist nicht vorspringend, versteckt sich aber auch nicht, sie ist nicht dünn, hat aber kein Übergewicht, ihr Organismus ist gesund.

Sie sagt auch zu uns, dass es wichtig sei, gesund auszusehen, dürre Beine sind nicht in Ordnung, ausgezehrte Gesichter machen Angst.

Antonia hat beschlossen, dass sie, um zu erreichen, was sie will, beharrlich sein muss, sie ist auf ihrer Bühne erschienen wie ein Scheinwerfer, der an der Decke hängt und plötzlich in die Szenerie kracht: ungewollt und gefährlich. Sie sollte die anderen ins rechte Licht setzen, und jetzt giert sie selbst nach der Hauptrolle.

Sie ist eine gestörte, verzweifelte und freudlose Frau, und sie hat einen Haufen Dokumente bei sich, sie hat einen Beamten entdeckt, der ihr herzlicher vorkommt als die anderen, und sie hat sich seinen Namen auf einen Zettel geschrieben: Murri Franco.

Jetzt hör mir mal gut zu, Murri Franco, ich bin Colombo Antonia, und solang ihr uns nicht helft, komme ich immer wieder hierher und frage nach dir, erklärt meine Mutter und reicht ihm die Aktenmappen, eine nach der anderen.

Murri Franco versucht freundlich zu sein: Wissen Sie, Signora, Sie haben sich hier reingeschwindelt, und unsere Chefin hat das nicht vergessen, deshalb ist es unwahrscheinlich, dass Ihre Sache gut ausgeht.

Colombo Antonia gibt nicht nach: Na gut, dann legen wir eben unsere Akte fünfzigmal auf diesen Schreibtisch, bis ich so platzraubend bin, dass man mich nicht mehr übersehen kann. Ich habe jetzt vier Kinder und einen schwerbehinderten Mann.

So geht das einen Monat, zwei, drei Monate lang, sie weiß, dass sie, wenn sie es bei einer anderen Person versucht, wieder von vorne anfangen muss, daher sagt sie, wenn sie Murri Franco nicht an seinem Schreibtisch sieht, dass sie am nächsten Tag wiederkomme, oder macht einen neuen Termin aus.

Zu Hause spricht sie uns gegenüber von Franco, als ob er der Apotheker oder der Zeitungshändler wäre, eine vertraute Person, Teil einer bekannten und beruhigende Wirklichkeit, aber wir können ihm kein Gesicht und keinen Körper geben, er kommt uns vor wie ein Eindringling, wir verstehen nicht, was er für unsere Mutter tut, und werden eifersüchtig auf ihn, vor allem Mariano.

Dein Vater sagt nie etwas dazu, dass sie diesen Typen trifft, wirft mir mein Bruder eines Tages vor, als ob das meine Schuld wäre, vor allem, dass ich einen Vater habe, den er nicht hat oder nicht haben will.

Und was soll er sagen?, antworte ich und beobachte meinen Vater, er sitzt im Rollstuhl, dessen Räder sich mit dem Tischbein verhakt haben, Il Manifesto aufgeschlagen auf den Knien, seit mindestens einer halben Stunde starrt er auf dieselbe Zeitungsseite, ich glaube, er hat vergessen, was er liest.

Irgendwas, antwortet Mariano und wirft ihm den missbilligenden Blick zu, mit dem er ihn immer ansieht.

Papa ist erloschen, er ist ausgebrannt, ich gehe zu ihm hin, lege ihm eine Hand aufs Knie, auch wenn er das nicht spürt, und frage ihn, wer dieser Franco ist und ob er ihm etwas sagen will.

Papa sieht mich nicht an, sagt aber: Sorg dafür, dass dein Bruder den Mund hält.

Er und Mariano sitzen sich gegenüber, zwischen ihnen die Distanz vom Rollstuhl des einen zum Bett des anderen, denn die beiden sind immer im selben Raum, man kann einander nicht ausweichen, kann nicht so tun, als hätte man nicht gehört.

Die haben sie verhaftet, setzt mein Vater hinzu, während Mariano wütend die Turnschuhe anzieht, er will raus und joggen.

Wen?, frage ich und schaue runter auf die Zeitung.

Die da, die Leiterin, erklärt mir mein Vater, aber ich weiß nicht, was eine Leiterin ist und was sie leitet, also suche ich unter den gedruckten Worten nach einem Hinweis, um zu verstehen, und lese einen Namen, auf den er den Finger gelegt hat: Vittoria Ragni.

Ich weiß nicht, wer das ist, und lese immer wieder diesen Namen, Vittoria Ragni, ich sage ihn auch laut vor mich hin, als meine Mutter nach Hause zurückkommt, sie hat eine Flasche mit Fußbodenreiniger dabei, sie kommt nie mit leeren Händen zurück, sie bringt Einmachgläser, Plastikflaschen, Sperrholz, alles, was die anderen nicht mehr brauchen und uns mit Sicherheit nutzt.

Was ist mit Vittoria Ragni?, sagt sie und stellt die Flasche auf den Tisch. Wo willst du hin, Mariano?, sagt sie, aber Mariano würdigt sie keines Blickes und geht hinaus, daher wird er nicht Zeuge der ersten Genugtuung unserer Mutter, sieht nicht ihr Gesicht, wo sich die Stirnfalten glätten, er kann das Blitzen in ihren Augen nicht sehen, die Mundwinkel, die nach oben gehen.

Antonia reißt ihrem Mann die Zeitung aus der Hand, liest und liest noch einmal, dann sehe ich, dass das Lächeln zu zittern anfängt, ich sehe meine Mutter weinen.

Fassungslos schaue ich sie an, ich habe sie fast noch nie weinen sehen, auch nicht im Krankenhaus, als sie die Zwillinge bekam, als ihre Großmutter gestorben, als mein Vater gestürzt ist.

Es wird wegen illegaler Geschäfte gegen sie ermittelt, die werfen sie ins Gefängnis, sagt sie unter Tränen, und ich kann nicht erkennen, ob sie glücklich oder bekümmert ist.

Ist das eine Freundin von dir?, frage ich schüchtern, und sie bricht in Gelächter aus, ihre Augen sind noch nass, aber sie lacht lauthals.

***

Antonia soll zeigen, was uns fehlt: das ausbleibende Warmwasser, die Steckdosen mit den freiliegenden Leitungen, der fehlende Raum, um uns zu bewegen, das nur spärlich hereinfallende Licht, und trotzdem sagt sie immer wieder, während diese Leute da sind: Wir schaffen das, es ist alles sauber.

Die neue Leiterin ist eine Frau, die vom Sozialdienst kommt, und als sie in unserer Akte liest, dass da vier Kinder auf zwanzig Quadratmetern leben, nimmt sie einen Rotstift und schreibt auf die erste Seite: DRINGEND.

Also fangen sie an, sich um uns zu kümmern, sie kommen, um zu sehen, wo wir wohnen, sie finden meinen Vater vor, der auf dem Bett sitzt und nicht einmal Guten Tag sagt, die Zwillinge, die am Rockzipfel meiner Mutter hängen und sie beinahe zu Boden reißen, vor dem Schrank liegt der Sack mit ihren Klamotten, sie schlafen in der großen Schachtel, einer am anderen klebend, sie müssen erst noch herausfinden, wie es ist, nicht zu zweit zu sein.

Mariano ist draußen im Hof, wir hören ihn schreien, er tut so, als wäre er in Gefahr, er ruft Hilfe, Hilfe mit der Stimme eines Erwachsenen, und meine Mutter antwortet: Macht euch keine Sorgen, er will nur Aufmerksamkeit, dem geht’s gut.

Die Eindringlinge sind zu zweit, und in ihrer Gegenwart wirkt unsere Wohnung noch kleiner, uns allen kommt sie jetzt vor wie ein Abstellraum, ein kleines Lager oder eine Besenkammer.

Achtung Achtung, Polizei!, kreischt Mariano von draußen und wirft einen Knallfrosch auf den Boden.

Die zwei machen sich Notizen, stellen meiner Mutter Fragen zum Zustand der Wohnung. Als sie gehen, dreht mein Vater sich mühsam auf die Seite und fängt an zu schnarchen, ich esse eine rohe Karotte, und meine Mutter schaut von der Schwelle aus Mariano an: Du bist ein Halunke, die Leute waren von der Stadt, zum Abendessen kriegst du nur trockenes Brot.

Zwei Wochen später ruft die neue Leiterin meine Mutter an, die Wartelisten für die Zuteilung von Wohnungen seien lang, wie man weiß, und unser Antrag sei lange liegengeblieben, aber sie wolle, dass wir von dort wegkommen, die Wohnung sei zu klein für uns, sie habe eine andere für uns gefunden, die sie zwar uns nicht von Amts wegen zuteilen, aber in unsere Obhut geben könne. Mit einer Bescheinigung von ihr könnten wir dort bis auf Widerruf wohnen.

Diesen Zettel fotokopiert meine Mutter dutzende Male und trägt ihn in alle zuständigen Ämter, zur Post, auf die Bank, zum Finanzamt, sie bewahrt ihn in ihrem Portemonnaie auf und hängt ihn an die Wand, sie verwahrt ihn bei unseren Personalausweisen und bei den Schächtelchen mit unseren Milchzähnen.

Bestürzt und verängstigt nehmen Mariano und ich Abschied von unserem Betonquadrat.

Unser neuer Wohnsitz liegt in einem Viertel für Leute, die Geld haben, wir sind auf dem Corso Trieste nah bei den Behörden und Banken, die Parks Villa Torlonia und Villa Ada erreichen wir zu Fuß, in zehn Minuten sind wir bei der Diskothek Piper, das benachbarte Viertel ist Parioli, das reichste der Stadt, in diesem sechsstöckigen Gebäude mit zwei Innenhöfen besitzt die Stadtverwaltung nur diese eine Wohnung, die sich von nun an in unserer Obhut befindet.

Und so nehmen wir diese neue Bleibe mit unseren Kartons in Besitz, mit unserem Krempel, den als Töpfe für die Kakteen benutzten Joghurtbechern, den zu Zahnputzbechern umfunktionierten Bohnengläsern, den Kleiderbügeln aus Pappkarton und Klebeband und den tief unten in große Müllsäcke gestopften Unterhosen.

Es gibt drei Schlafzimmer, eine Küche, ein kleines Wohnzimmer, es gibt einen richtigen Eingang mit richtigem Treppenhaus, eine richtige Wohnungstür und eine richtige Badewanne, richtige Herdplatten, richtige Jalousien.

Mariano und ich stellen zwei Plastiktüten mit unseren schäbigen Spielsachen darin in der Mitte unseres Zimmers ab, es kommt uns zu groß für uns vor, fast macht es uns Angst.

Seitdem wir dort wohnen, schlafe ich schlecht, ich zwinge meinen Bruder, das Licht anzulassen, und schrecke mitten in der Nacht auf, geplagt von einem Albtraum, an den ich mich nie gut erinnere, ich weiß nur, dass ich üblicherweise abstürze und niemand mich festhält.

Nachts höre ich nun nicht mehr den lauten Atem meines Vaters oder das Weinen der Zwillinge, ich sehe nur, wie Mariano aufsteht, ans Fenster geht und auf die Straße hinunterschaut.

Die Hausbewohner über uns fangen an sich zu beklagen, weil die Zwillinge nie schlafen, weil Mariano und ich zu schnell herumlaufen, weil meine Mutter beim Abspülen das Radio auf volle Lautstärke dreht, weil mein Vater jeden Morgen flucht: Statt Was für ein schöner Tag zu sagen verflucht er sämtliche Heiligen.

In dem neuen Haus gibt es eine Eigentümergemeinschaft und eine Hausverwaltung, es gibt Versammlungen, zu denen wir nicht zugelassen sind, weil die Wohnung nicht wirklich unsere ist, wir haben sie nicht gekauft, im Unterschied zu ihnen gehört uns nichts.

Der Hof ist voller Rosen – gelbe, rote und lachsfarbene – und voller früchtetragender Pflanzen, wir dürfen sie nicht anfassen, keiner darf das, jeden Mittwoch kommt ein Gärtner und besprüht sie mit etwas Stinkendem.

Als Mariano und ich das erste Mal nachmittags vor den Fenstern unserer Wohnung spielen, wird ein Eimer Wasser über uns ausgeschüttet: Einer Frau behagt es nicht, dass da so viel Lärm gemacht wird.

Mariano brüllt sie an: Blöde Kuh!

Und sie sagt, sie rufe jetzt die Carabinieri.

Diesmal schimpft meine Mutter uns aus und sagt zu Mariano, er solle nicht mehr so herumbrüllen, das seien Leute, die vor uns da waren, wir können uns hier nicht mehr verhalten wie in der alten Wohnung, wir müssen uns dem Leben der anderen anpassen, Rücksicht nehmen.

Im Viertel einzukaufen ist schwierig für uns, es ist alles viel zu teuer, in der Schule sind wir mitten im Schuljahr eingestiegen, und unseren Lehrerinnen zufolge sind wir so hinterher, dass wir die Klasse wiederholen müssen, meinen Bruder jagen sie immer aus dem Klassenzimmer, und ich habe das, was ich sage, um die Hälfte reduziert, antworte mit abgehackten Sätzen, schreibe mit einer krakeligen Schrift und beneide alle anderen Mädchen um ihre schönen Os und Ms.

Die einzige Freundin meiner Mutter dort in diesem Haus ist die Portiersfrau, eine Sizilianerin, klein und nicht sonderlich gesprächig, aber flink und genau beim Putzen, sie hört sich die Klagen von allen an, ihre Geschichten, ihre Scherereien, und erzählt nie von den eigenen, sie sortiert die eingehende Post und hat ein Brett mit allen Wohnungs- und Kellerschlüsseln, sie sind nicht mit Namen versehen, um sie zu unterscheiden, nur sie weiß, welcher Schlüssel wo passt, das ist ihr Geheimnis.

Die Portiersfrau heißt Nunzia und hat eine Tochter, Roberta, die wie mein Vater im Rollstuhl sitzt, aber sie ist nicht gestürzt, sie ist so zur Welt gekommen und kann nicht gut sprechen, oft wackelt sie mit dem Kopf, und ihr Blick wird leer, als ob sie nicht da wäre.

Wenn ich aus der Schule zurückkomme, mache ich immer im Hof Halt, und wenn mich niemand sieht, werfe ich den Ranzen auf den Boden und gehe zu dem Springbrunnen mitten im Hof, er ist weiß und schmutzig, aber in seinem Wasser schwimmen sechs Goldfische im Kreis. Ich verbringe viele Stunden mit der Hand im Wasser und versuche sie zu streicheln, sie entwischen mir und schwimmen davon, dann kommen sie wieder näher, und ich rühre und rühre; die Hände zur Schale geformt, sammle ich die Zweige ein, die auf der Wasseroberfläche schwimmen.

Mir kommt das wie ein Spiel vor, das niemanden stören kann, Lärm machen die Fische und ich nicht, außerdem leiste ich ihnen Gesellschaft, ich verspritze nicht zu viel Wasser, trinke nie davon.

Es gibt eine Stelle im Garten des Wohnhauses, wo auch im Winter die Sonne hinkommt, und wenn man den Blick hebt, kann man von diesem Winkel aus ein Stück Himmel sehen, just das Dreieck, gerade recht, um zu vergessen, dass man mitten in der Stadt ist. Genau dorthin setzt Nunzia Roberta in ihrem Rollstuhl, weil die das Licht liebt. Ihre Wohnung neben der Portiersloge ist die kleinste im Haus, zum Glück gibt es da wenige Treppenstufen zu gehen, aber auch wenig Luft.

Roberta ist ein stilles Mädchen, manchmal gurgelt sie, leckt sich die Lippen, sagt in die Länge gezogene Worte und fragt Dinge, die nur ihre Mutter versteht – aber dass sie dort in der Sonne sein will, kann sie mühelos klarmachen.

Ich sehe, dass viele Leute aus dem Haus an ihr vorübergehen und sie nicht grüßen, sie schauen auch mich schief an und gehen weiter, sie haben keine Augen für die Fische, und also sage ich: Ciao.

Mit lauter Stimme, zu allen, um zu sehen, wie sie reagieren, einige murmeln ein Guten Tag oder Guten Abend, andere gar nichts, sie machen sich nicht einmal die Mühe, mir zu antworten, meinen Gruß zu erwidern.

Da ist eine Deutsche, die uns mit strengen Blicken von ihrem Fenster aus mustert und, wenn sie in den Hof herunterkommt, hin und her geht, den anderen Frauen zulächelt, aber uns nicht; sie sieht mich an und stemmt die Hände in die Hüfte, sie weicht zurück, dann dreht sie sich um und geht zur Portiersfrau, beschwert sich und verschwindet wieder. Eines Tages sehe ich, wie sie mit rotem Kopf – sie Armee, ich Bandit –, auf mich zustürzt und meine Hände aus dem Wasser reißt.

Jetzt reicht’s, so verdirbst du ihn, kreischt sie, sie hat blaue Augen und eine breite Stirn.

All der Trubel erschreckt die Fische, sie wirbeln in ihrem Becken herum, die Schwänze gerade aufgestellt, die Augen verzweifelt, Roberta regt sich auf und stampft mit den Füßen, die Deutsche packt mich am Handgelenk und schubst mich auf die Treppe zu, diejenige, die zu meiner Wohnung hinaufführt.

Geh jetzt, fordert sie mich ganz erregt auf, und ich laufe zwei Stufen auf einmal nehmend nach oben und suche meine Mutter.

Ich finde sie mit einem Zwilling am Hals und dem anderen ohne Hose auf dem Tisch, er wackelt mit dem Hintern, sodass es aussieht, als würde er tanzen.

Mà, sage ich, ganz verschwitzt von dem Lauf die Treppe hinauf. Die Deutsche hat mich wegen dem Brunnen ausgeschimpft, sie sagt, ich verderbe ihn.

Ich habe dir schon oft erklärt, dass du nicht im Hof spielen sollst, das ist nicht wie in der alten Wohnung, der Brunnen ist zur Zierde da, kapiert? Nicht zum Spielen, er soll das Haus verschönern, er ist wie eine Schleife.

Ich war ganz leise und habe die Fische angesehen, was wollen diese Blödis mit etwas Schönem, wenn niemand es anfassen darf?, entgegne ich.

Und was machen sie mit den Ketten, den Spitzen und Rüschen? Nichts, die Leute machen nichts aus nichts, sie machen sich schön und basta.

In den folgenden Tagen gehe ich am Brunnen vorbei und sehe ihn an wie einen verlorenen Geliebten, sogar die Fische sind Schmuckstücke, die Rosen sind Schminke, und niemand schert sich um sie.

Bald jedoch sehe ich, dass Roberta nicht mehr an ihrem Platz ist: Auch wenn die Tage sonnig sind, ist sie nicht mehr in den Garten gekommen, meine Mutter bemerkt es ebenfalls, also geht sie los, um zu fragen, warum.

Sie findet heraus, dass die Deutsche das verlangt hat, sie hat zur Portiersfrau gesagt, dass ihre sabbernde Tochter dort kein schöner Anblick sei, da seien ja schon die da – meine Familie und ich –, da würde sich ja niemand mehr eine Wohnung kaufen, wir würden die Immobilie abwerten.

Also wartet meine Mutter auf sie, nimmt die Zwillinge, Mariano und mich mit hinunter, sie befiehlt uns, uns an die Wand zu stellen, die Shirts auszuziehen, auch sie zieht ihres aus, im BH stellt sie sich an die Wand wie eine zur standrechtlichen Erschießung Verurteilte, und als die Deutsche und ihr Mann kommen, sagt sie zu ihr: Wenn Sie das Mädchen nicht in den Garten lassen, bleiben wir hier stehen, meine Kinder und ich, jeden Tag, ohne Kleider, aus Protest.

Das schreit sie heraus, und die Leute starren aus den Fenstern ringsum in den Innenhof, die Deutsche regt sich nicht, ist stocksteif wie ein Kleiderständer, dann sagt sie: Ich rufe die Carabinieri.

Rufen Sie sie nur, wir rühren uns nicht von der Stelle. Wie kann man nur einem Kind verbieten, in der Sonne zu sitzen? Einem Kind, das nicht laufen kann. Das werde ich den Carabinieri sagen, und wenn sie uns vertreiben, kommen wir wieder. Sie haben ja keine Ahnung, wie stur ich sein kann, wenn ich will, Sie haben ja keine Ahnung.

Der Ehemann der Deutschen mischt sich ein, und während sie zetern und wir halbnackt an der Wand stehen, hat Mariano sich bis auf die Unterhose ausgezogen, und ich habe den Rock hochgehoben.

Wir sind bereit für die Revolution.

Sehen Sie diese Gittertore?, fragt der Mann der Deutschen, der bestimmt zehn Jahre älter ist als sie. Die haben wir nach dem Krieg neu angebracht, weil die Faschisten sie gestohlen hatten, dieses Haus hat eine Geschichte, er wendet das mit Gelassenheit und noch größerer Wut ein, und vielleicht bringt diese giftige Ruhe des Mannes meine Mutter noch mehr in Rage.

Und wer sind jetzt die Faschisten, eh? Euch sind Gittertore wichtig und nicht die Kinder, ihr lasst sie nicht spielen, kein Gruß und kein freundliches Wort, nicht einmal im hintersten Winkel sollen sie sitzen dürfen, was für Menschen seid ihr? Ich habe mir fast AIDS geholt, damit meine Kinder spielen können.

Die Frau mit den roten Haaren schlägt sich mit der Hand auf die Brust, und macht eine Geste, als drücke sie sich eine Spritze in den Arm.

Die beiden wissen nicht, was sie antworten sollen, sind verstummt.

Auf ein vereinbartes Zeichen hin ziehen wir uns wieder an und folgen Antonia im Gänsemarsch in die Wohnung, sie erklärt laut, dass wir wiederkommen werden.

Und tatsächlich kommen wir wieder, jeden Nachmittag nach der Schule erregen wir im Hof Anstoß, bis Roberta ihren Platz in dem sonnigen Winkel wieder bezieht.

Man muss beharrlich sein, bis man erreicht, was man will, beharrlich sein, beharrlich sein, nichts widersteht der Beharrlichkeit, erklärt meine Mutter Mariano, als sie Roberta mit ihrem Frotteelätzchen sieht, wie sie die Hände in die Luft hebt und die Handgelenke dreht, sie wirkt glücklich.

Unsere Mutter kommt uns vor wie eine Comic-Heldin, wie Anna Magnani im Kino, sie, die zetert und nicht aufgibt, die alle zum Schweigen bringt.

Da stehen wir, in dem Flur, der zu den Zimmern führt, Mariano und ich in kurzen Hosen und mit steifen Waden und blicken unserer Angst ins Auge: nicht zu sein wie Antonia, nie zu genügen, keine Schlacht zu gewinnen.

Die versunkene Krippe

Eines Morgens komme ich in die Küche, Antonia drückt mir eine erbsengrüne Kappe mit krummem Schirm in die Hand und sagt: Ich bringe dich wohin.

Wo ist Mariano?, frage ich, weil seine Tasse für das Frühstück nicht auf dem Tisch steht.

Draußen, er kommt nicht mit, antwortet meine Mutter trocken. Zieh dich an, wir sind spät dran.

Und die Zwillinge und Papa?, frage ich weiter.

Nunzia sieht nach ihnen, sagt sie kurz angebunden. Du hast Sommersprossen auf der Nase, bemerkt sie und betrachtet mein Gesicht, als sähe sie es zum ersten Mal.

Ich bin sie in Klein, sie ist ich in Groß: das gleiche rote Kraushaar, die gleichen schlammgrünen Augen, die gleiche Unfähigkeit, Farben miteinander zu kombinieren, die gleiche Art, nicht aus schmalen Gläsern trinken zu können, und die gleichen Sommersprossen auf der Nase.

Jede unserer Eigenschaften ist für mich ein tödlicher Makel. Die Sommersprossen sind schlimmer als Pickel, die Augen sind weder wirklich grün noch richtig braun, die zu helle Haut kränklich, und die Haare – die mehr als alles andere – bringen Unglück.

Meine Mutter und ich nehmen den Bus, zwei U-Bahnen bis zur Valle Aurelia, von dort den Regionalzug einer erst kürzlich modernisierten Strecke, und mir kommt es vor, als würde ich eine intergalaktische Reise antreten, meine kurzen rosa Frotteehosen der Weltraumanzug und die Kappe der Helm, durch dessen Visier ich die Sterne im All sehe.

Die Sitze haben ein kleines Rhombenmuster, und die Kopfstützen sind elektrischblau, an der Seite aufgebauscht mit einem Wulst an der Seite, sodass man die Schläfe dagegenlehnen und ein Nickerchen machen kann.

Zum Entsorgen von Papier oder Müll kannst du einen Metallbehälter benutzen, er macht ein trockenes Geräusch, wenn du ihn schließt, und mich erinnert er an das Maul eines mechanischen Hais, ich spiele damit und klappe den Deckel auf und zu, es macht tick tack, bis eine Frau in unserer Nähe schnaubt und meine Mutter mir droht, sie werde mir die Kappe wegnehmen, und dann bekäme ich zu viel Sonne ab.

Die klimatisierte Luft steigt von unten auf, und in den Stoffschuhen kriegen wir kalte Füße, die Haltestellen haben Scheiben aus Plexiglas und grüne Sitze und Geländer, wenn ich frage, wo wir sind, um herauszufinden, wie weit weg von zu Hause wir schon sind, sagt Antonia: Im Zug, und beendet damit die Unterhaltung.

Sie hat Kreuzworträtsel mitgenommen und löst sie, ohne mich um Rat zu fragen, ich schiele hinüber, eben hat sie senkrecht das Wort KONSTELLATION eingetragen.

Welche?

Welche was?

Welche Konstellation?

Ich kenne die Sternbilder nicht.

Es könnte der Große Wagen sein.

Sie antwortet nicht, sie ist schon zum nächsten Wort übergegangen, 27 waagrecht.

Ich kann mich an keinen derartigen Ausflug erinnern, außer um zu unserer Großmutter nach Ostia zu fahren, was wir selten genug tun, weil mein Vater sonst alleine zu Hause wäre, meine Großmutter die Zwillinge nicht erträgt und meine Mutter denkt, dass Mariano am Ende noch auf eine Spritze treten wird, wenn er auch abends noch barfuß durch die Badeanstalten zieht.

Wohin fahren wir?, frage ich Antonia, während ich die Schenkel an den gepolsterten und rauen Sitzen reibe.

Eine Wohnung anschauen, antwortet sie, als würde sie von einem Sonnenschirm oder einem Liegestuhl reden, von einer ganz gewöhnlichen Sache.

Die Wohnung von wem?

Unsere Wohnung, antwortet Antonia, und ich habe das Gefühl, sie will mich auf den Arm nehmen, ihre roten Haare lügen, und der Zug wird uns in der Wüste absetzen.

Wir haben keine Wohnungen, die uns gehören, sondern nur Wohnungen, in denen uns jemand aus Freundlichkeit wohnen lässt, um nicht zu sagen aus Mitleid, aber vielleicht ist Mitleid das richtige Wort oder vielleicht auch nicht: Vielleicht ist Fürsorge das richtige oder Hilfe oder Notwendigkeit, vielleicht ist es Lüge.

Mit weit aufgerissenen Augen lese ich laut die Namen der Haltestellen, und sie erklärt mir, dass wir im Norden von Rom sind, das da ist die Via Cassia und das der Bahnhof von Cesano, wo die Militärkaserne ist, ich habe den Eindruck, wir durchqueren einen ganzen Kontinent, wir werden Völker und Stämme kennenlernen, werden in feindliches Gebiet vordringen.

Das blaue Schild der nächsten Station verkündet Anguillara Sabazia, und meine Mutter nötigt mich auszusteigen, ich spüre, wie meine Füße Widerstand leisten, aber ich bleibe ruhig, der Zug fährt weiter, und wir bitten um Auskunft.

Wie lange braucht man bis zum See?, fragt Antonia, und wir erfahren, dass es vier Kilometer sind, einen Bus gibt es nicht, entweder wir gehen zu Fuß oder suchen nach einer Mitfahrgelegenheit.

Da verlässt meine Mutter den Bahnhof, vor uns sind die Überdachungen, um sich bei Regen unterzustellen, ein Zeitungskiosk, eine Bude, an der es Espresso und Cappuccino gibt, eine Straßenkreuzung, an den Seiten erstrecken sich schon die Felder.

Weiter hinten sieht man eine Kirche, ich finde sie hässlich und traurig, man sieht, dass sie erst in jüngerer Zeit gebaut wurde, sie hat die Form eines Zirkuszelts, die Wände durchbrochen und eine Glastür mit Klinken wie im Krankenhaus, nur das Kreuz obenauf zeigt die Bestimmung des Baus an, dahinter die Sportplätze der Pfarrjugend und davor eine kleine Piazza mit einem schon kaputten Springbrunnen.

Antonia stellt sich dorthin und wartet, dass jemand stehenbleibt und anbietet, uns mitzunehmen, ihre Bewegungen sind steif, sie lächelt überhaupt nicht, niemand beachtet uns, und sie hält meine Hand, wie sie es mit einem Revolver machen würde.

Meine Mutter hat fast nie ausgeschnittene oder enganliegende Sachen an, sie trägt knielange Hosen mit Seitentaschen, Rundkragenshirts für Jungs mit Zahlen oder Logos von Bauunternehmen darauf, mein Vater sagt, sie sehe aus wie ein Maurer.

Der besagte Maurer und ich haben rote Haare, und wir verharren in der Pose derjenigen, die beten und warten müssen, dass jemand auf sie reagiert; auf der Straße kommen insgesamt drei Autos vorbei, niemand hält an.

Ich sage zu Antonia: Fahren wir zurück.

Sie wird nervös und zieht mich an sich: Sei nicht dumm, dieser Ort ist wunderschön, es gibt einen See, entgegnet sie überzeugt.

***

Von außen betrachtet wirkt das Gebäude wie eine kleine Fabrik, hier könnten Dosenthunfisch oder Schuhe mit breiten Schnürsenkeln hergestellt werden, es könnte hinten dran eine Müllhalde geben und Arbeiter, die sich jeden Morgen um sieben mit der Stechkarte anmelden, aber in Wirklichkeit ist es ein Komplex von Sozialwohnungen, ringsum kleine Einfamilienhäuser, zwei kleine Parks für Hunde und Kinder, ein rechteckiger Platz, hell wie der Sand von Hawaii und hart wie Beton.

Es liegt an der Hauptstraße des Orts, in der Nähe gibt es ein Geschäft für Baumaterialien, einen Optiker, der Rabatte verspricht, nimm zwei, zahl eins, und ein neues Haus im Bau.

Die Fenster sind alle auf gleicher Höhe, die Balkone quadratisch, höchstens ein Tischchen und zwei Hocker haben darauf Platz, der Blumentopf mit der Aloe und der Putzeimer, das Eingangstor, von dem aus symmetrisch die Treppenaufgänge abgehen, ein kompaktes Gebäude, weder alt noch neu, es ähnelt einer Frau mittleren Alters, die keine Rüschen oder Perlen trägt, aber nicht gern vor die Tür geht, ohne sich mit Abdeckstift die Augenringe zu übermalen.

Antonia führt mich in den zweiten Stock, und eine Frau in geblümtem Wickelkleid, eins von denen, die vorne V-förmig gekreuzt, aber hinten verknotet werden wie eine Schürze, schüttelt uns die Hand und lächelt, sie lächelt wirklich sehr, mit einer finsteren Begeisterung, die dich einen Raubüberfall befürchten lässt.

Sie stellt sie mir vor, und die Frau sagt: Mirella, freut mich.

Ich sage nur meinen Namen.

Die Wohnung ist fast so groß wie die am Corso Trieste, betont die Frau nachdrücklich, und sie hat einen großen Balkon, im Sommer ganz wunderbar, da kann man bequem die Wäsche zum Trocknen aufhängen, die Küche ist fertig eingerichtet, der Gasherd entspricht der Norm, sagt sie, ein ruhiger Ort, erzählt sie uns weiter, die Sozialwohnungen hier sind nicht wie die in Rom, die Familien hier arbeiten, die Kinder spielen im Park, das Bad ist groß, findet sie, es gibt eine Badewanne, sodass mein Vater sich mit ein paar Vorkehrungen problemlos waschen kann, das Sofa kann drinbleiben, auch die Schränke, Schlafzimmer gibt es drei, erklärt sie einladend, aber eins davon ist offensichtlich eher ein Kämmerchen, ich stelle mir vor, dass es für die Zwillinge gedacht ist, die wie Käsescheibletten dieselbe hautenge Verpackung teilen werden.

Meine Mutter sagt: Ich finde sie perfekt.

Ich frage: Perfekt wofür?

Keiner antwortet mir.

Die beiden tauschen Floskeln aus und schütteln Hände, reden über das, was drinbleibt, was wegkommt, was zu unterschreiben ist, und ich verstehe die Abmachung zwischen den beiden nicht, ich verstehe nicht, von welchem Geld wir diese neue Wohnung kaufen sollen und warum, da wir doch nun endlich eine Wohnung haben und zwar nicht in diesem abgelegenen Nest, wo es keine Busse gibt und die Kirchen so hässlich sind wie Supermärkte.

Ich betrete das Zimmer, das wohl Marianos und meines sein soll, ich betrachte es und bemerke die haigrauen Bodenfliesen, sie sind nicht blank, haben kein Muster, sie scheinen nicht wie Parkett, sind kein Terrakotta, sie sind nur rau, wirken wie Stahlbeton, an den Wänden klebt eine grauenhafte Tapete mit bunten Kugeln drauf, es scheint ein Zimmer für Kinder und Wickelkinder zu sein, für die von der lauten Sorte, für die, die Ärger machen, eine Wand ist aus Rigips, man hört jeden Mucks, und es ist sehr heiß, die Sonne knallt voll ins Zimmer, ein glühend heißes Gewächshaus und ich ein Zitronenbaum.

Zu wissen, dass mein Bruder und ich zusammen schlafen werden, ist das Einzige, was mich beruhigt, ihn im Schlaf atmen zu hören, ihn zu sehen, wie er das Licht ausmacht, die Art, wie er die Socken in den Wäschekorb wirft, zu hören, wie er in der Nacht im Tiefschlaf sagt: Jetzt reicht’s, Pferd, Mond, tschüss, ruf mich an, warum?

Signora Mirella und meine Mutter umarmen einander, und meine Mutter sagt: Diese Wohnung ist ein Segen.

***

Zum ersten Mal sehe ich den See nicht an dem Tag mit der Kappe, sondern am Tag des Umzugs.

Meine Mutter hat mit großem Vorlauf angefangen, unseren Wohnortwechsel zu organisieren, sie hat Listen angelegt, hat Kartons und Paketband besorgt und begonnen, alles einzupacken und dabei die Sachen fein säuberlich ineinander geschichtet, ich habe sie Kartons voller Teller und Gläser in Handtücher und Seidenpapier gewickelt verschließen sehen, mit mütterlicher Behutsamkeit hat sie Kleiderständer und Lampenschirme im Arm getragen, hat geschwitzt, geflucht, stundenlang allein Wäscheständer, Stühle mit Korbgeflecht und Regalbretter geschleppt.

Ich habe mich darauf beschränkt zu tun, was sie mir aufgetragen hat: die Kleider sortieren, für jeden von uns einen Haufen, Winter- und Sommerkleidung getrennt, in Kisten verpacken, sie beschriften und in einer Ecke stapeln.

Mariano hat währenddessen keinen Finger gerührt, aus Protest gegen die Entscheidung meiner Mutter, die er für verfassungswidrig und nazistisch hält.

Maicol und Roberto sind fünf Jahre alt, das gleiche Gesicht, sie unterscheiden sich nur durch ein Muttermal, aus den gleichen Augen sehen sie uns zu, wie wir uns plagen, uns beschimpfen, umziehen.

Nach der Ankunft beginnt die Wanderschaft der Kisten und Möbel von Neuem, da ist ein Freund meiner Mutter, der uns hilft, er heißt Vincenzo und kennt meine Mutter seit ihrer Kindheit, wir rufen ihn beim Vornamen, mein Vater nennt ihn nur der da.

Der Umzugswagen ist seiner, und sein ist auch die Kraft, mit der er unser spärliches Mobiliar hochwuchtet und in die neue Wohnung befördert, sein auch die Fähigkeit, meinen Vater mit dem Aufzug ins richtige Stockwerk zu bringen, und von ihm kommt auch der Vorschlag, den See wenigstens anschauen zu gehen, bevor er mit dem leeren Lieferwagen zurückfährt.

Er, meine Mutter und ich gehen an den See, wir lassen die Zwillinge in Marianos Obhut, der wie ein Außerirdischer durch die Wohnung irrt, auf der Suche nach der Milchstraße und der Leiter, über die er zurück ins Raumschiff gelangen und verschwinden kann.

Der Platz vor der Mole ist zugeparkt mit Autos, ein Eisengeländer läuft den ganzen asphaltierten Streifen entlang, ich gehe mit Antonia hinauf, während Vincenzo in der Bar nebenan einen Espresso trinkt.

Was ist da unten?, frage ich, wobei ich mich zu den Pfeilern hinabbeuge und auf das Wasser schaue, das dunkel ist und nichts Besonderes erkennen lässt.

Schlamm, antwortet meine Mutter und setzt hinzu: Schau nicht runter, schau dir doch die Aussicht an.

Sie hebt meinen Kopf und zeigt auf die Hügel und die anderen Ortschaften, das Schloss von Graciano, die Uferpromenade von Trevignano, den Wald, im Hintergrund die Monti Cimini, sie sagt, da hinten ist Viterbo, dort Manziana, sie sagt, dass man an der Promenade baden kann und dass diese Bäume Pappeln heißen, sie sagt, das Wasser ist nie richtig kalt, und ich schaue wieder hinunter.

Aber hier drunter, was ist da?, frage ich noch einmal, weil ich etwas habe blinken sehen.

Nichts, da ist Wasser, versetzt Antonia knapp und schaut weiter auf die anderen Ufer und die anderen Strände und die anderen Ortschaften.

Mir gefällt das Licht hier, über den Häusern, fügt sie hinzu.

Meine Augen sind unverwandt auf diesen Punkt gerichtet, wo das Phantom aufgeblitzt ist, eine Scherbe, ein Fisch, ein Ball ohne Luft.

Ein kleiner blonder Junge sitzt mit baumelnden Beinen auf dem Geländer und zeigt ebenfalls auf diesen Punkt, genau auf den Punkt meines Zweifels, er sagt, dort ist seit jeher die versunkene Krippe, da ist das Christkind, da sind Ochs und Esel, an den Feiertagen wird sie beleuchtet, das ist Tradition.

Ich beuge mich hinunter und schaue und schaue, aber ich sehe nichts mehr, das Wasser ist klar und zeigt nicht die Krippe, die ich suche.

Also sage ich: Das glaube ich nicht.

Und er sagt: Komm an Weihnachten her und guck’s dir an.

Ich sehe ihn herausfordernd an, er trägt komische kurze Camouflagehosen, er sieht aus, als wäre er geradewegs aus dem Wald gekommen.

Meine Mutter macht kurzen Prozess und führt mich weg, sie sagt, das sei Unsinn, an der Stelle würden kein Kopf, kein Auge, kein Fuß und kein Gewand erscheinen, und ich bin unentschlossen, ob ich meiner Mutter, die nichts sieht, recht geben soll oder dem Jungen, der alles sieht.

***

Mein Bruder ist fünfzehn, als wir Rom verlassen, und mit der Pubertät ist seine Nase immer unübersehbarer geworden, sie ist lang, aber schmal an den Nasenflügeln, die Spitze zeigt nach oben, und in der Mitte hat sie einen Höcker, sie könnte ein steiler Gebirgshang sein oder eine zerklüftete Meerküste im Norden.

Niemand von uns hat diese Nase, sie ist das Einzige, was ihm von seinem Vater geblieben ist, von dem er nicht einmal den Nachnamen kennt, weder Geburtsdatum noch -ort noch Beschäftigung, in einer Menschenmenge würde er ihn nicht erkennen und wüsste nicht, wie er ihn an Weihnachten für die üblichen Feierlichkeiten ausfindig machen sollte.

Diese Nase, die meine Mutter charakteristisch nennt und ich künstlich, weil sie nicht wirklich zu seinem Gesicht zu gehören, sondern wie zufällig dort hineingeraten scheint, haben weder Antonia noch Roberto noch Maicol noch ich, und mein Vater schon gar nicht.