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Die Lombardei im Zweiten Weltkrieg: Die Menschen suchen Zuflucht vor ständigen Bombenangriffen, deutsche Besatzer jagen Partisanen, das Essen wird rationiert. Die 13-jährige Giada wohnt bei ihrer Tante, einer gläubigen Faschistin, Gewalt und Entbehrung prägen den Alltag. Also träumt sich Giada fort, träumt vom »Großen A«: Afrika, wo ihre Mutter Adele in den italienischen Kolonien angeblich ein abenteuerliches, unabhängiges Leben führt. Und wirklich: Nach Kriegsende holt die Mutter sie zu sich nach Eritrea. Doch die großen Erwartungen werden enttäuscht: Dauerhitze und die Arbeit in Adeles Bar am Rand der Wüste haben so gar nichts Märchenhaftes an sich. Und sogar der Kaffee schmeckt nach Salzwasser. Eritrea ist auf dem Weg in die Unabhängigkeit, die verbliebenen Kolonisten ringen um eine Zukunft unter den neuen Machtverhältnissen. Und die schillernde Mutter erstickt jeden Freiheitsdrang, bis Giada den charmanten, aber undurchsichtigen Giacomo kennenlernt. Atmosphärisch und mit störrischer Poesie erzählt Giulia Caminito von zwei widerspenstigen, willensstarken Frauen, die auf sehr unterschiedliche Weise zur Selbstbestimmtheit finden.
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Seitenzahl: 380
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Caffè in der Wüste: Giulia Caminito erzählt vom italienischen Leben in Eritrea, von einer starken, übergroßen Mutter – und von einer jungen Frau, die sich ihre Freiheit erst nach und nach erkämpft. Ein historischer Roman von herber Schönheit.
»Es gibt Autorinnen, auf deren neues Buch man sich besonders freut, weil man ahnt, dass es uns einen neuen Blick auf die Welt eröffnet. Giulia Caminito ist so eine Autorin.«
Karen Krüger, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Giulia Caminito
Das große A
Roman
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner
Verlag Klaus Wagenbach Berlin
Drei Punkte und ein Strich.
Dieses Mal lachte Giadina. Die kleinen Italiener in Schwarz und alle in Reih und Glied außerhalb der Klassenzimmer.
Der wiederkehrende Ton war nur ein Liedchen, ein festliches Wiegenlied im Staub der Zelte, der dreibeinige Hund, die fette Frau in ihrem gestreiften Badeanzug, enorm dick und enorm dick geschminkt, die Ballerina, der Mann mit der roten Pappnase. Schichten von Schminke, wie man sie bei ihr zu Hause nie gesehen hatte, auch nicht, wenn Mariuccia am Fest des Schutzpatrons den Hof verließ. Schwarze Pampe auf den Augenbrauen ohne Krümmung, schmal in dem speckigen Gesicht und ein schiefes Lächeln. Dann bunte Bälle, in der Luft jongliert, ohne aneinanderzuprallen, in Fröhlichkeit getränkt, während die Reihe ganz gerade ging und die Lehrerin mit dem Rohrstock auf die Schultern schlug, damit sie in einer Linie blieben. Noch hatte es nicht angefangen und man betrachtete die Stände, ohne auch nur einen Centesimo zu zahlen. Das Wechselgeld, das man ihr gab, wenn sie mit der Lebensmittelkarte beim Bäcker ihre Ration von eineinhalb Brötchen pro Kopf abholte, hütete sie eifersüchtig. Es würden zehn und dann zwanzig werden, dann hundert und tausend und dann eine Lira, zwei Lire, zwanzig, hundert Lire. Mit hundert Lire konnte man aufbrechen, sogar die Großmutter konnte davon ein Lied singen. Mit hundert Lire konnte man aufbrechen, und das große A lag um die Ecke. Mit der Mama, die Tiger jagte; es musste dort voll sein von ganz langen Knochen und Tigern.
Sie liefen weiter in einer Reihe, machten schon abgenutzte Schuhe staubig.
Ähnlich wie auf der Fotografie von der Ferienkolonie in Riccione, in einer Reihe einer imaginären Linie folgend, der knappe Badeanzug, den es in die Arschfalte zog und der juckte wie ein Haufen Mückenstiche.
Giadina, gaff nicht so, geht weiter, es ist nicht die Zeit zum Lachen.
Aber dieses Mal lachte sie, allein, aber sie lachte. Die kleine Gilberti flüsterte dem Sohn des Lebensmittelhändlers am Corso Sempione – stechende Augen und böses Lächeln – zu, dass seine Mutter dicke Schenkel habe wie das Kanonenweib. Ohne zu zahlen, hatten sie nie eines gesehen, eines von diesen Weibern, die wie Raketen abgeschossen wurden, kostümiert und geschniegelt; doch das Fest musste zu Ende gehen.
Verlassene Verkaufsstände und zugezogene Vorhänge, trübe Luft und lauwarme Sonne unter einem Schwarm von plötzlich vorsichtigen Blicken.
Kommt mit den Kindern mit, lud die Lehrerin die Zirkusartisten ein, es ist noch Platz in der Hütte.
Giadina dachte an die Fibel, die in der Bank liegen geblieben war, und an den neuen Bleistift, der schon zerbrochen war, die Tante würde sie an diesem Abend eine Stunde im Klo im ersten Stock einsperren: Das war so sicher wie der Duce.
In diesem Klo stank es, und sie hatten einen komischen Namen dafür, sie nannten sie Türkenklos, und sie wusste nicht, wer das sein sollte.
Die werden dort sein, wo die Mama ist, dachte Giadina, bedroht von Affen, und sie werden wie sie Lastwagen fahren.
Aber von der Mama wurde nie gesprochen.
Ein komischer Mann mit einer rot angemalten Nase zog den Hut und stellte sich hinter ihnen in die Reihe, direkt hinter Morichelli, der Lockigen, die ihren Namen nicht richtig schreiben konnte.
Man rannte nie, auch nicht, wenn die Sirene heulte.
In Reih und Glied, rief die Lehrerin, und der Rohrstock schlug krachend auf das Pult. In Reih und Glied und wehe, wenn einer läuft. Das sind zehn Stockschläge für jeden.
Schlimmer als die Faustschläge der Großmutter vor dem Einschlafen, mitten auf den Kopf und die vorstehenden Knöchel gut sichtbar. Die blinde Alte war imstande zu treffen, auch wenn sie nur Dunkel sah, und Giadina kauerte sich auf ihre Seite des Bettes, ohne die Cousine bitten zu können, sie solle ihr Einhalt gebieten, denn die war groß und war ihre wirkliche Enkelin, der schauten die Deutschen schon auf die Beine, auch wenn sie die Blicke nie erwiderte.
Der Mann mit der roten Nase war zum Lachen, und Giadina sah sich nach ihm um.
Ein anmutiger, steifer Kragen, dann riesige gelbe Schuhe. Niemand im Hof trug gelbe Schuhe, auch keine roten oder grünen.
Seine Stirn aber war gerunzelt, und er hatte kurze Beine, die sich schnell und grob bewegten, als ob sie laufen wollten und es nicht konnten.
Er hatte den Bart nicht gestutzt, vielleicht hatte der Barbier geschlossen, obwohl er den Zirkusleuten immer Rabatt gab und den Rollladen nach acht noch oben ließ. Aber mittlerweile streckte nach acht niemand mehr die Nase aus dem Haus, wenn sie einen beim Herumgehen erwischten, gab’s Ärger.
Sie sagten, es sei die Schuld der Fabriken wie der Baumwollfabrik Cantoni, wo die Tante arbeitete; wenn um acht Uhr abends die Sirenen heulten, blieben alle zu Hause, und vielleicht war es nicht so schlecht, wenn man über die Piazza gehen und ohne was zu zahlen die Reste des Jahrmarkts ansehen konnte.
Sie sagten, dass die Tosi-Werke mit ihren Maschinen, die inzwischen ausschließlich für die Kriegsproduktion arbeiteten, das Hauptangriffsziel seien. Der Onkel arbeitete dort, und jeden Morgen, wenn er hinging, bekreuzigte er sich und setzte keine Mütze auf.
Der Rauch drang bis in die Via Pontida, ins Haus, in den Hof, bis zu den Fenstern im dritten Stock, das bedeutete also, dass alles funktionierte und dass sie ihre Arbeit nicht verloren hatten.
Noch hörte man nicht dieses Pfeifen und dann die Einschläge, wenn die kamen, krochen sie unter die Bänke, und die Wände zitterten genau wie die Landkarte Italiens hinter der Lehrerin.
Jetzt würde sogar ihre Fibel zittern, die sie unrechtmäßigerweise zurückgelassen hatte. Aber im Keller war kein Platz für unnötige Dinge.
Lasst die Bücher liegen und rennt nicht.
Zum Glück war Hans und die Bohnenranke zu Hause unter der Matratze, wo die Großmutter das Buch nie finden würde. Sie war so blind, dass sie Giadina höchstens das Essen wegnehmen konnte, aber man wusste ja nie, durch die Bomben war auch Papier genießbar geworden, und Hans und die Bohnenranke konnte durchaus Appetit machen.
Dieses Mal lachte sie am Tag, da abgesehen von den einsam in der Klasse zurückgebliebenen Heften die Luft frisch war und man endlich aus dem Klassenzimmer hinauskam. Außerdem hatten sie es nicht rechtzeitig geschafft, ihnen den Lebertran einzuflößen, was bedeutete, nicht einen halben Tag lang Brechreiz zu haben und nicht eine Viertelstunde lang zu husten, mit diesem Fischgestank bis über die Ohren. Den Lebertran zu verpassen war ein Fest, Sirene hin oder her.
Noch war es nicht so kalt, dass man Sidolflaschen mit kochendem Wasser füllen und in die Taschen stecken musste, es war auszuhalten. Alle sagten, in Mailand sei es kälter, wer weiß, warum da von allem immer etwas mehr war, auch wenn die Entfernung nur wenige Kilometer betrug.
Vorigen Samstag war die Tante mit dem Fahrrad hingefahren.
In Mailand ist es kälter als hier, wir müssen die dicken Schals aus dem Keller holen, hatte sie gesagt.
An diesem Tag, als sie in Reih und Glied über den Jahrmarkt gingen, war ihnen, dem Kanonenweib, dem dreibeinigen Hund, dem Mann mit der roten Nase, der Ballerina nicht kalt, aber der eine oder andere hustete und zitterte.
Seid still, seid still, schimpfte die Lehrerin sie, da sie beim Anblick der Kugeln mit den Goldfischen drin grinsten, die bald als Preis vergeben würden. Jetzt waren sie allein, weil die Signora mit den Fischen, deren Haare noch blonder waren als die des deutschen Jungen, der mittwochs die Wachrunde ging, sich ihnen anschloss und Schäufelchen und Netze dort liegen ließ. Das Geld steckte sie aber in die Tasche, bei Alarm gab es immer welche, die alles klauten, sagte die Tante immer.
Gesindel, das vom Alarm und der Ausgangssperre profitierte, alle auf der Straße, um an das verlassene Eigentum anderer zu kommen.
So kam Giadinas Meinung nach auch das Geld weg, das die Mama per Post schickte und das die Tante benutzte, um sich bei der Schneiderin Kleider zu kaufen. Aber das konnte sie nicht sagen, denn sonst hätte sie ihren festen Wohnsitz auf dem Türkenklo gehabt, fast noch schlimmer als das Ehebett mit der Großmutter und ihren geballten Fäusten.
Die Sirenen heulten jetzt lauter, begleiteten den Tanz zwischen den Zelten, die Ballerina mit dem rosaroten Röckchen stimmte mit ein, sie trug die Schühchen in der Hand, die wie der Hut des Mannes mit der roten Nase wertvoll sein mussten, und wer weiß, wie viel sie dafür bezahlt hatte. Bestimmt hundert Lire, so viel wie für die Fahrkarten nach Amerika oder Afrika. Die großen A, wo alles viel schöner war. Wo man auch zum Frühstück Schokolade aß und in den Sanddünen Gazellen jagte. Seit genau einem Jahr hatte sie keine Schokolade gesehen, denn auf dem letzten Jahrmarkt hatte Luisas Mutter ihr ein Stückchen gekauft, und sie hatte es in die Unterhose gesteckt, damit die Tante es nicht sah. Die hätte sie bestimmt ausgeschimpft und bezichtigt, nicht an sie zu denken, an den Säugling, der erst ein Jahr alt war, und an die Großmutter, und sich nur selbst vollzustopfen.
Aber dieses Stückchen Schokolade hatte Giadina für sich behalten, auch wenn es in der Unterhose halb geschmolzen war, sie hatte sich im Türkenklo eingeschlossen, wo es stank wie in dem Raum im Erdgeschoss von Signor Dell’Acqua, und hatte es ganz aufgegessen.
Ein Jahr danach hatte dieser alte Säufer den Löffel abgegeben, und Giadina hatte keine Schokolade mehr zu Gesicht bekommen.
***
Doch dann geschah es, dass Giadina wirklich einem Flugzeug begegnete. In der Schule erzählten, fantasierten alle davon, wie bauchig und laut sie waren, wie beunruhigend und doch majestätisch. Giadina dachte nicht allzu viel über die Flugzeuge nach, sie hörte bloß ihren Lärm, mit der Großmutter, die ihr ihren Atem ins Gesicht blies, unter dem Bett liegend, zwei Zentimeter von den verrosteten Bettfedern entfernt und in den Zentnern Staub, den auch die Tante nicht beseitigen konnte.
Vor den Explosionen musste man Angst haben, aber es war nicht wichtig zu wissen, woher sie kamen.
Eines Abends, als sie wie üblich mit der Lebensmittelkarte zurückkam, denn es war zur Gewohnheit geworden, dass sie sich um den Dreiviertelliter Milch und die anderthalb Brötchen pro Kopf kümmerte, gelangte das Flugzeug bis in den Hof. In der Dämmerung war es nur ein Schatten, riesig und ganz, ganz tief fliegend, eine anderthalb Meter hohe Zimmerdecke. Sie hatte es in der Kehle gespürt, dieses Flugzeug. Die weißen Sterne sahen in der Dunkelheit fast aus wie Menschen, die sie überfallen wollten, Gespenster mit Krallen und säuerlichem Lächeln. Das Konzert von dreihundert Posaunen gleichzeitig in die Ohren geblasen, dicht und schwarz. Das Flugzeug ließ sogar die Eingeweide erzittern, es zerrte an den Kleidern und entfachte einen Wind, der die ganze Wäsche der Tante durcheinanderwirbelte.
Die Wäsche landete im Staub, und daran war niemand anderes als Giadina schuld.
Du hättest sie vorher abnehmen müssen, sagte sie und ging mit dem Teppichklopfer auf sie los. Auf den Hintern.
Aber Giadina sagte nichts, die Augen auf den orangefarbenen Himmel gerichtet und diese noch flimmernde Spur, die dicht und rau an den Lidern klebte. Keuchend lief sie die Treppe hinauf bis zum Schlafzimmer, und dort kroch sie unters Bett. Mit dem Bauch am Boden und den Schultern im Staub der Federn. Ohne den Atem der Großmutter.
Ich komm hier nicht wieder raus, schrie sie, auch nicht für die Schokolade, die Salami oder die Mama.
Für die Mama wäre sie aber vielleicht doch herausgekommen. Sie hatte geweint und geweint, das Flugzeug fiel ihr auf den Kopf, länglich und grün, ein Ungeheuer mit aufgemaltem Maul wie ein Hai. Luisa sagte, der Hai sei ein Fisch und dass man ihn im großen A sicher finden würde. Die Mama musste ihn also gefangen haben, solche Sachen machte sie, und ob. Aber das Flugzeug fiel auf sie herab und brüllte, es war ein Hai mit Löwenstimme. Giadina presste sich auf den Boden, kreischte und schrie, bis die Tante sie da grob wieder herauszerrte.
Wir müssen in den Keller gehen, du dumme Giadina, was machst du da unten? Zählst du Spinnen? Genug von diesem Gezeter, alberne Giadina, wenn deine Mutter hier wäre, würde es was setzen.
Sie hatte sie bei den Handgelenken und dann bei den Haaren gepackt.
Alle, die am Hof wohnten, waren in den Keller gegangen. Luisa war bestimmt schon dort mit ihrer Cousine und mit Mariuccia bei den Säcken, in denen jetzt kein Reis und kein Mehl mehr waren. Er war fast leer, dieser Keller, ein Fläschchen tiefdunklen Rotweins hatte Dell’Acqua hinterlassen, sonst nur Jute und Schaben. Aber es fanden alle Platz dort, und wenigstens schlief die Großmutter nicht bei ihr.
Giadina setzte sich an die Ecke zur Waschküche und lehnte sich an den kalten Backstein, und da erzählte Luisa diese Geschichte aus der Fibel, wo sich zwei Buben an einem heißen Nachmittag am Hafen treffen:
Was war dein Großvater von Beruf?, fragt der eine. Seemann, sagt der andere.
Wie ist er gestorben?, fragt der eine. Auf dem Meer, sagt der andere.
Was war dein Vater von Beruf?, fragt der eine. Seemann, sagt der andere.
Und wie ist er gestorben?, fragt der eine. Auf dem Meer, sagt der andere.
Was bist du von Beruf?, fragt der eine. Seemann, wie sie, sagt der andere.
Und hast du keine Angst zu sterben, wenn du auf dem Meer fährst?, fragt der eine.
Nein. Was war dein Großvater von Beruf?, fragt der andere. Müller, antwortet der eine.
Und wie ist er gestorben?, fragt der andere. In seinem Bett, sagt der eine.
Was war dein Vater von Beruf?, fragt der andere. Schreiner, sagt der eine.
Und wie ist er gestorben?, fragt der andere. In seinem Bett, sagt der eine.
Und hast du keine Angst, abends in dein Bett zu gehen?, fragt der andere.
Da musste Giadina lachen, Luisa packte ihre dünnen Handgelenke und verdrehte sie ein wenig, wie um sie zu kitzeln, aber kitzeln durfte man sich nicht, sonst wurde die Tante böse.
Was gibt’s da zu lachen? Es fallen Bomben. Schau Giadina, das Flugzeug kommt genau wieder über deinen Kopf, die Amerikaner wissen, wo die bösen Kinder sind. Sie kennen sie, sie sind wie ihre eigenen. Nicht wie die, die der Duce erzogen hat, der weiß, wie man sie alle zum Spuren bringt. Sie sind wild und essen immer Zucker und sammeln Ansichtskarten mit Ballerinen.
Sie mochte Ballerinen wie die Ballerina vom Jahrmarkt, die sich auf einem kleinen Podest auf einem Bein drehte, und ihr Ballettröckchen blieb wie einbalsamiert an seinem Platz. Es erhob sich eine dichte Teerwolke, aber ganz weiß, nicht wie der Rauch von den Tosi- oder den Cantoni-Werken, es stank nicht so; eher wie die Kreide an den Händen der Lehrerin, nachdem sie Gleichungen an die Tafel geschrieben hat. Von Mathematik wollte Giadina wirklich nichts wissen, sie wäre lieber Ballerina geworden, die glänzenden Harre straff nach hinten gekämmt und ganz lange Beine, oder sie hätte es gemacht wie ihre Mama, die aufgebrochen war und vom Krieg noch nichts gesehen hatte.
Sie bat Luisa, eine Geschichte zu erzählen, in der eine Ballerina vorkam. Aber du kannst das ja nicht werden, sagte die Großmutter, und Mariuccia lachte.
Du bist zu klein, ein Knöchelchen, das nicht einmal für die Schweine taugt. Giadina war zierlich, kaum so hoch wie ein Fass, und ihre zwei Jahre jüngere Schwester Rina schien von den beiden die Ältere zu sein, sodass man in der Schule versucht hatte, sie in die gleiche Klasse zu stecken, weil man in der städtischen Schule die drei Jahre bei den Ursulinerinnen nicht anrechnete. Tabula rasa, als ob Giada und Rina zu Hause geblieben wären, um der Großmutter zu sagen, wann der Sugo fertig war, statt jeden Tag in die Schule zu gehen. Rina schien die Ältere und lebte bei den Vighis, zwei alten Leuten, die sich gut um sie kümmerten, sie klauten ihr nicht das Geld von der Mama, um bei der Schneiderin Vorhangstoff zu einer Bluse umarbeiten zu lassen, und sie verboten ihr nicht, Rührei mit Tomaten zu essen.
Vielleicht fragte Rina deshalb im Hof nicht nach Mama und war glücklicher bei ihren Spielen. Von den großen A wollte sie nichts wissen.
Wer weiß, was diejenigen machen, die zu diesen ganz schwarzen Menschen gehen, fragte Rina sich oft. Giadinas Meinung nach lachte die Mama bestimmt mit ihnen, sie konnte das am besten von allen.
Aber dass sie nie Ballerina werden würde, stimmte wohl, Rina vielleicht, die hatte lange Beine und sang gern. Sie sang immer, wenn sie zur Schule gingen, die Via Pontida oder den Corso Sempione entlang, vorbei am Lebensmittelgeschäft Bonetti und der Wäscherin, die die Wäsche zur Olona trug. Giadinas Gefühl nach sang sie gut, sie selbst konnte keine Noten lesen, und in der Schule, wenn sie im Chor für den Duce sangen, war sie still und bewegte nur die Lippen. Sie mochte keine Lieder auswendig lernen, und dann kratzte der schwarze Rock an den Beinen, genau wie bei Riccetta, Maria Pia, Cornelia und Anna.
Sie wollte ein steifes, einbalsamiertes Röckchen wie die Ballerina.
Nach drei Detonationen, man wusste nie, wo die Bomben einschlugen, fing Luisa an, die Geschichte der Ballerina zu erzählen, die immer übers Meer fuhr und tanzte. Sie hatte einen Seemann geheiratet.
Jedes Mal, wenn Luisa Seemann sagte, bekam sie feuchte Augen, ihr Verlobter Tonino war beim ersten Einsatz seines Schiffes vor Taranto geblieben.
Er und der Moro, dicke Freunde. Beim Versteckspiel gewannen sie immer, aber nur, wenn sie im Hof suchen mussten, da sie zu groß waren und man sich vor ihnen nicht verstecken konnte. Sie erinnerte sich an Tonino, wie er sich im Staub des Hofes herabbeugte und sagte, sie solle auf seine Schultern steigen.
Komm, Giadina, wir drehen eine Runde und Luisa gibt dir dann einen Buntstift, ich habe ihr gestern eine Schachtel geschenkt, sagte er.
Aber es kam der Moment, da sie sich nach dem Jahrmarkt in der Schule versteckten, die Tante bis zu den Reisfeldern bei Vercelli fünfzig und mehr Kilometer laufen musste, es kein Holz zum Feuermachen gab und sogar der Säufer Dell’Acqua gestorben war. Also spielten sie nicht mehr Verstecken, weder sie noch Luisa und Tonino war aufgebrochen und hatte von fern gegrüßt, als er durch das große Holztor schritt.
Sie konnten sich noch immer von Seemännern erzählen, auch wenn es da die Einschläge gab, weil ans Meer zu denken Luisas Meinung nach guttat. Bestimmt hatte die Mama jemanden kennengelernt, auch wenn der Papa wer weiß wo abgeblieben war, ihr Bruder in ein Internat in Cantù gesteckt worden, Giadina bei der Tante und dieser alten Hexe von Großmutter, die nicht einmal ihre Großmutter war, gelandet war und Rina bei den Alten.
Schließlich wurde die Tante ungeduldig und brachte sie zum Schweigen.
Machen wir das Radio an, damit wir hören, was diese Verräter anstellen.
Nur sie nannte sie so, die Italiener, die mit den Schokoladefressern gut Freund waren. Der Onkel sah sie schief an und richtete die Antenne aus, da dort unten miserabler Empfang war und alle sich auf die linke Seite setzen mussten, damit es funktionierte. Er machte sich ans Werk wie ein Einbrecher, drehte den Knopf in alle Richtungen, vor und zurück, und horchte, wie wenn er es mit einer Bronchitis zu tun hätte.
Irgendwann, nach all dem Drehen nach links und nach rechts, mit der Tante, die auf das Radio schimpfte, niederträchtiger Apparat, fanden sie einen Sender, gewöhnlich Radio London, jede Sendung begann mit den ersten Noten der fünften Symphonie von Beethoven, die Noten, die im Morsealphabet Sieg bedeuten, drei Punkte und eine Linie.
Giadina wusste von diesen Dingen nichts und sie verstand nicht, was im Radio gesagt wurde, sie sprachen von absurdem Zeug, das nichts mit dem Krieg zu tun hatte. Das waren chiffrierte Nachrichten. Die anderen um sie herum hörten zu und rieben sich das Kinn, sie warteten auf die Nachrichten, um die Bombenangriffe zu zählen. Als sie vor einem Jahr von dem Angriff auf Taranto gehört hatten, wo von Toninos Schiff die Rede gewesen war, war Luisa hinausgerannt, und niemand hatte sie bis zum nächsten Tag auf dem Hof gesehen.
In Rom regnet es und die Artischocken gedeihen gut, hieß es scheinbar auf Radio London, und Giadina wusste nicht einmal, was diese Artischocken waren. Die Tante erzählte, sie seien stachelig und schmeckten nach verrostetem Eisen, man verstand nicht, warum die in Rom sie aßen. Aber Giadina war nie in Rom gewesen, und es mochte dort auch stacheliges Gemüse zu essen geben, wie sie es noch nie gesehen hatte.
Bei sich wiederholte sie: In Rom regnet es und die Artischocken gedeihen gut. In Rom regnet es und die Artischocken gedeihen gut. In Rom regnet es und die Artischocken gedeihen gut. Wo ist Rom? Wo sind die Artischocken? Wer lebt dort, wer isst sie? Sie hatte Angst, dass sie das nie begreifen würde.
Warum ist im Radio die Rede von Stacheln, wenn es regnet?
Keiner wusste eine Antwort, der Onkel deutete hin und wieder etwas an von Partisanen oder Parmesanen, Giada verstand es nicht recht, jedenfalls waren das diejenigen, an die diese merkwürdigen Sätze gerichtet waren, aber nichts davon war wirklich klar, auch sie wussten nicht, ob es die von Treviso, die von Rimini oder die von Vercelli waren.
Aber gibt es bei uns welche?, fragte Giadina, und die Tante antwortete, Artischocken äßen sie zum Glück nur in Rom.
Dann bekam sie ein paar Rempler ab, weil alle sehr aufmerksam auf die Stimme im Radio lauschten, die die meteorologischen Bedingungen in der Hauptstadt durchgab, und Kinder ruhig sein mussten, sie verstanden ja ohnehin nichts.
Eines Tages fiel eine Bombe auf den Keller der Donzellis.
Nun ist es vorbei mit den Kellern, jetzt schießen sie uns in den Kopf und bringen uns um wie die Ratten, hatte die Tante geschrien. Es hieß, die Amerikaner würden die falschen Ziele wählen, weil sie glaubten, über Mailand zu sein. Die Tante antwortete, wenn der Duce das Kommando hätte, würde niemand auch nur einen Zentimeter daneben schießen. Er weiß, wie man sie alle zum Spuren bringt.
Giadina wusste nur, dass sie zu rennen anfing, wenn sie aus der Ferne dieses Beben in der Luft spürte und ein paar weiße Sterne auftauchen sah, und betete, zum großen A zu gelangen, sicher, dass es dort, wo die Mama war, keine Haie mit Löwenstimme gab.
Das große A musste voller Ballerinen sein, die mit Seemännern wie Tonino verheiratet waren.
Vermisst, so hatten ihr alle erklärt. Tonino war vermisst und man fand ihn nicht. Sie aber wusste, dass Tonino noch nie gut im Verstecken gewesen war.
Und auch Luisa wusste das.
***
Siehst du da drüben, die Autobahn?
Die Tante zerrte sie am Unterarm mit sich.
Die hat der Duce gebaut, es ist die erste in ganz Italien, sie geht bis Gallarate.
Einschlag.
Lauf, Giadina, verdammt noch mal. In deinem Alter habe ich Kilometer zurückgelegt.
Ohne ihn wären wir keine Stadt geworden, Bauern wären wir geblieben, hast du verstanden? Von wegen Bonbons und diese alberne Fahne mit Streifen, wie aus dem Zirkus.
Einschlag.
Wir sind schließlich nicht irgendein Dorf. Hier wurde Barbarossa geschlagen. Er weiß das.
Einschlag.
Schau, wo du deine Füße hinsetzt, da ist ein Graben, spring, Giadina, spring. Er hat die Cantoni-Werke besucht, du hättest ihn reden hören sollen, nicht wie die Rindviecher von hier. Er macht sich immer verständlich. Du hättest seine Hände sehen sollen, er hat gewichtige Hände.
Einschlag.
Auch die Spanische Grippe hat er ausgerottet, da bin ich sicher, meine Mutter ist an der Spanischen Grippe krepiert, erinnerst du dich? Aber was weißt du schon, ihr Kinder von heute erschreckt euch vor einem Schuss in die Luft.
Einschlag.
Dass dein Onkel und ich Arbeit haben, ist sein Verdienst, er ist persönlich zu den Tosi-Werken gegangen und er hat sie groß gemacht. Er, ja, er denkt an uns, wer sind dagegen diese Keksfresser, die auf uns schießen?
Nicht einmal im Keller ist man sicher.
Einschlag.
Der Hof der Termolis war bombardiert worden, vierzig Personen hatten darin Zuflucht gefunden, alle dicht gedrängt, um Platz zu finden. Sie waren nachschauen gegangen, was die Einschläge angerichtet hatten. Giadina hatte nur flüchtig eine im Baum gelandete Kinderhose gesehen und war davongelaufen.
Keller waren nicht sicher, Gehöfte waren nicht sicher, alle landeten beim Herrgott. Also brachen sie alle auf, sie, Luisas Eltern, der andere Onkel mit einem Säugling und seiner Frau, Toninos Eltern, die Mutter vom Moro, die Tochter von Terzo, den im September die Deutschen geholt hatten, die Vighis und Rina, und gingen auf die Felder. Vier Kilometer hin bis zur Autobahn und vier wieder zurück.
Kaum heulte die Sirene, ließen sie alles, womit sie gerade beschäftigt waren, stehen und liegen, das Radio, den Gemüsegarten, das Schränkchen mit den Putzlumpen, die Teller, die immer sauberer wurden, weil nicht von ihnen gegessen wurde, die einzige Flasche Rotwein im Keller, und machten sich im Gänsemarsch auf den Weg über die Felder.
Wenn noch Tag war, folgten sie den Pflugspuren. Giadina hatte ihren Spaß daran, für die Tante die liegen gebliebenen Ähren zu sammeln. Sie band sie zum Sträußchen, und die Tante tat sie in ihre Schürze.
Giadina, schau beim Gehen auf den Boden, wenn du nichts findest, kriegst du nichts zu essen, sagte die Tante.
Da dachte sie, dass die Großmutter, die nichts sah, eigentlich nicht essen dürfte, dabei bekam sie Körner extra.
Der Onkel hatte bei der Tosi gestohlen. Giadina begriff, dass diese Metallteile, die jedes Wochenende in der Küche im ersten Stock auftauchten, von dort kamen. Jedes Mal ein Teil, und er hämmerte emsig daran herum, um ein Gerät daraus zu machen. Sie nannten es Mühle, dieses Sammelsurium von Metallteilen von der Tosi. Um sie mitzunehmen, steckte der Onkel sich die Teile in die Unterhose, wie sie es mit der Schokolade gemacht hatte. Die anderen Männer des Hofs versammelten sich rund um den Küchentisch und debattierten.
Wer weiß, was für eine Mühle das wohl werden soll, dachte Giadina.
Das runde Ding ist zu klein. Wo zum Teufel sollen wir bei diesem kleinen Loch, das aussieht wie ein Knopf, die Weizenkörner reinstecken?, fragte der Vater von Mariuccia erbost. Und der Onkel antwortete ihm.
Willst du es machen, Gervaso? Willst du diese verdammte Mühle bauen? Holst du die Teile? Wenn sie die nämlich bei dir finden, knallen sie dich ab wie einen Partisan? Willst du’s machen?
Alle schrien durcheinander, bis die Tante mit dem Fleischhammer gegen die Wand schlug. Sie setzte sich an den Tisch und zeigte mit dem Finger auf jeden von ihnen.
Seid still, die Wache kommt.
Und sie waren still.
Am Ende kam dabei ein Ding mit einer Kurbel heraus, die sich ächzend drehte und dabei dasselbe Geräusch machte wie die schleifenden Gewehre, wenn ein Gefallener weggeschafft wurde.
Das steht schon in der Bibel, wenigstens die Ährenlese müssen sie uns lassen, sagte die Tante; und die ersten Male hatte sie verlangt, das Mehl, das dabei herauskam, zu sieben, die Spreu war hart. Aber das durch die Metallmaschen gesiebte Mehl war wenig, nicht einmal vier konnten davon essen. Also kam die Spreu wieder, alles kam wieder, die Ähren wurden ganz in die kleine Mühle gesteckt, und danach wurde nichts weggeworfen. Das Sieb hängten sie in der Küche an die Wand, und da blieb es.
Nachmittags, wenn gemahlen wurde, rief die Tante sie, die Cousine und vor allem Rina, die von den Vighis herunterkommen musste.
Wenn die Deutschen dieses Geräusch hören, kommen sie ins Haus, erklärte sie. Singt jetzt, ich mahle.
Sie stellten sich um den Tisch, die Fenster fest geschlossen. Manchmal kam Mariuccia dazu, Luisa aber nicht, sie kam selten in die Wohnung. Die Tante konnte sie nicht leiden.
Ihre Brüder am Fenster
Mamma mia lass sie gehen.
Geh, geh nur, undankbare Tochter,
etwas wird geschehen.
Singt, singt. Giadina, streng dich an mit deinem Mäusestimmchen.
Das Zermalmen der Ähren machte ein surrendes Geräusch, und die Tante stand auf, um die Kurbel zu drehen.
Ein einziges Scharren von Blechen der Marke Tosi in ihrer Küche.
Als sie waren auf hoher See,
ging das Schiff unter.
Fischer, der du Fische fischst,
Fisch mir meine Tochter.
Singt, singt, wir haben erst die Hälfte.
Dies macht einen Lärm wie Gervaso, wenn er schnarcht.
Giadina mit ihrem kreischenden Stimmchen übersprang Worte, sie schien ein Huhn, dem man den Hals umdreht.
Mein Blut ist rot und fein,
die Fische des Meeres werden es trinken.
Mein Fleisch ist weiß und rein,
der Walfisch wird es fressen.
Singt, singt sonst gibt’s heute Abend nichts zu essen, weder für vier noch für zwei.
Sie überprüften, dass alle Fenster geschlossen waren. Auf dem Balkon im ersten Stock vergewisserte sich Mariuccias Mutter, dass das Geräusch nicht nach außen drang und dass man aus dem Hof nur ein paar Frauen hörte, die ihre Scherze machten. Auch sie pfiff von draußen und warf einen Blick auf das große Holztor.
Der Rat meiner Mama
war ganz und gar wahr.
Während unter meinen Brüdern
der ist, der mich betrogen hat.
Giadina sang, Mamma mia lass sie gehen, nach Afrika will ich fahren, da Amerika ihr letztendlich gleichgültig war. Dort war die Mama nicht. Auch wenn die Sterne auf der Fahne hübsch waren.
Dieses Brot mit der Spreu drin und der ganzen fröhlichen Gesellschaft ärgerte sogar die Zunge.
Giadinas Zunge war immer geschwollen und voller Blasen, in der Schule hatte sie Mühe zu sprechen, und sie hustete so stark, dass sie manchmal auf die Toilette gehen musste, um Wasser zu trinken und sich zu stärken.
Dennoch hatten sie etwas zum Essen, nicht nur warmes Wasser mit ein paar Kartoffeln oder Reis zu Mittag. Seit der Säugling auf der Welt war, war er nur mit Milch und Kartoffeln großgezogen worden, weil er Salami noch nicht vertrug. Er war fetter als sie alle zusammen, dachte Giadina.
Sie versteckte ihr Stückchen Brot, voller Spreu und fast schwarz, in einem Strumpf unter dem Kopfkissen, denn wenn die Tante gesehen hätte, dass sie etwas aufhob, hätte sie es ihr weggenommen und ihrer Tochter gegeben.
Das unter Gesang gemachte Brot legte man nicht beiseite, um es zu betrachten.
Ab und zu suchte Giadina bei Luisas Eltern Zuflucht. Die ließen ihr, vor der Schule, ein ganzes Brötchen für sie allein in dem alten Schränkchen mit den Putzlumpen am Ende des Flurs. Manchmal stellte Luisas Mutter ihr sogar Rührei mit Tomaten beiseite und sie aß es in deren Küche am Boden sitzend. Die Tante sollte sie durchs Fenster nicht sehen. Wenn sie sie rief, während sie aß, lief sie zum Spülbecken, spuckte alles hinein und spülte sich den Mund aus. Wenn die Tante auch nur den Geruch bemerkte, würde es Ärger geben.
Gehst du bei anderen Leuten betteln?
Geben wir dir nicht genug zu essen?
Sie sagte, sie sei missraten, bekäme nie genug.
Man geht nicht zu Luisa und spielt die Arme.
Aber Giadina ging trotzdem wieder hin, und das eine oder andere Ei gelangte in ihren Magen, und sie war zufrieden.
Deshalb hielten Luisas Eltern sich auf den Feldern von ihnen fern. Die Hand fest um ihren Arm gelegt, trieb die Tante sie an, schneller zu gehen.
Im Keller schießen sie uns in den Kopf, auf den Höfen schießen sie uns in den Kopf, auf der Autobahn schießen sie uns in den Kopf.
Da blieb nichts anderes übrig, als still auf den Feldern auszuharren, bis der Alarm vorüber war.
Eingeschlummert, zusammengepfercht im Dunkel sitzend, die Knie an der Brust, manchmal ein leises Liedchen.
Die meiste Zeit waren sie still, so konnten sie die Sirene gut hören, und wenn sie aufhörte, konnten sie nach Hause zurückkehren. Der Säugling aber weinte, sie hatten keine Milch mitgenommen.
Bei jedem Einschlag mit beiden Händen die Ohren zuhalten.
Auf die Felder warfen sie keine Bomben. Nur aus Versehen. Und so beteten sie, dass denen mit den Sternen und Streifen kein Versehen unterlief.
Andere kleine Menschengruppen kamen vorbei, eine Laterne in der Hand, um sich Licht zu machen. Alle still, im Dunkeln erkannten sie einander nicht, und die Gesichter waren nur helle Flecken. Einschläge und Blitze, genau wie bei einem Gewitter.
Bleibt sitzen und zählt durch, sagte die Tante.
Jedes Mal tastete sie nach den Köpfen, um sicher zu sein, dass die Mädchen alle da waren. Der Kopf ihrer Tochter zuerst, Giadinas Kopf zuletzt.
Oh, da ist auch Giadina, dass wir sie ja nicht verlieren, krächzte sie.
Aber bis sie den ausgewählten Punkt weitab von der Straße erreichten, ließ sie den Unterarm nicht los, weil Giadina langsam war und immer zurückblieb.
Es sind nur vier Kilometer, faule Trine. Stampf gut auf mit den Füßen, dass ich dich höre. Und du auch, Rina, stampf gut auf, denn wenn ich euch verliere, bereitet eure Mutter mir ein Ende wie das von Barbarossa.
Den Mond sah man nie, der Rauch der Tosi-, Cantoni- und Bernocchi-Werke verdeckte ihn, und die Nacht erhob sich mit grauen Tüchern. Ein Schmuckkasten voller Asche über dem Leuchten der Einschläge.
Wie kleine Vulkane, sagte der Onkel; sie schienen aus der Erde auszubrechen, dagegen regneten sie vom Himmel.
Nachts sieht man die Flugzeuge wenigstens nicht, dachte Giadina.
Stumm und beinahe durchsichtig flogen sie über Legnano hinweg, aber wahrscheinlich suchten sie Mailand. Das jedenfalls sagten alle.
Eines Abends kamen sie nach beendetem Alarm von den Feldern nach Haus, und als sie wie üblich durch das große Holztor gingen, fing die Tante an zu rennen.
Die Fenster, die Fenster, die Fenster.
Im Erdgeschoss, im gemeinsamen Türkenklo, im Esszimmer, bis hinauf zur Wohnung der Vighi, zu ihren Schlafzimmern, auf der Seite von Luisas Eltern; Überall waren die Fenster geborsten.
Alle eilten atemlos herbei, alle schrien, alle weinten. Vielleicht waren die Deutschen ins Haus eingedrungen, hatten alles zerstört. Und die Tante sagte, sie habe das Parteibuch, man würde sie erkennen, sie hatte auch die Uniform, im Schrank hing die Uniform, die konnte sie vorweisen. Bei Alarm konnte man nicht in die Häuser. Sie schickten die Kinder in die Schule, und äußerstenfalls hatten sie in den Tosi-Werken ein paar Metallteile stibitzt und ein paar liegen gebliebene Ähren. Sie mussten schließlich essen, und Vercelli war weit weg, für ein knappes Kilo Reis konnte man diese fünfzig Kilometer nicht zurücklegen.
Die Milch war aus, wenigstens die verdammte Spreu … für diese Handvoll Spreu würde man doch nicht plündern.
Aber die Deutschen hatten nichts damit zu tun, und in den Häusern fehlte nichts.
Man nannte es Druckwelle, und Luisa erklärte Giadina, dass eins dieser Dinger, wenn es herunterfällt, auch weit weg, die ganze Luft verdrängt, sie vor sich hertreibt. Eine Art Mauer aus nichts, die sich erhebt und auf die Häuser prallt.
All der Staub und der Wind waren bis zu ihnen gelangt, waren durch das Eingangstor gesaust, hatten sich zwischen die Mauern gedrängt und alle Fenster bersten lassen. Keiner wusste, was diese Luft suchte.
Giadina, die Cousine und die Großmutter kontrollierten ihr Zimmer.
Und als die Großmutter ihre scheußlichen Hände auf das Bett legen wollte, hielt Giadina sie zurück.
Finger weg, auf dem Bett ist Glas, sagte sie zu ihr.
Und das stimmte, aber man sah es nicht. Das Glas der Fensterscheiben hatte sich in die Bettlaken gebohrt und der Luftwirbel hatte sie zusammengedreht. Zu einer dicken, prall gefüllten und festen Rolle gewickelt.
Die Bettlaken konnte man wegschmeißen, in den Glassplittern konnte man nicht schlafen.
Da legten Giadina und die Großmutter sich auf die Matratze, nachdem die Cousine geholfen hatte, alles Übrige einschließlich der Kissen auf den Boden zu werfen. Unbedeckt und ohne Fensterscheiben lagen sie da, aber mittlerweile waren sie es gewohnt, auf den Feldern im Stehen zu schlafen, und immerhin war drunter etwas Weiches geblieben, das selbst Hans und die Bohnenranke gut schützte.
***
Es war ein Tag im April, als der Himmel schwarz wurde. Giadina sah nach oben, und die Haie mit der Löwenstimme flogen so dicht wie ein Schwarm Fliegen, einer am anderen mit aufgerissenem Maul, man sah die Sonne nicht mehr. Eine einzige röhrende, metallene Fläche, unbeeindruckt von Wolken und Wind. Und die Leute, wirklich alle, hatten verstanden, was vorging. Alle außer ihr.
Sie schickten sich an wegzulaufen und die Tante mit ihnen.
Sie sagte, Giadina, wir müssen uns sputen, unsere Augenblicke sind gezählt, zieh die Schuhe an, sie haben den Himmel verdeckt. Wenn der Himmel so dicht ist, heißt das, dass wir tot sind, weil selbst Gott im Himmel uns nicht mehr sieht.
Da hatte Giadina sich beeilt, sie hatte nur Hans und die Bohnenranke mitgenommen, fest an die Brust gedrückt, und war die Treppen hinuntergelaufen, die Stufen gut im Blick, um nicht zu stolpern. Wenn sie hinfiel, würde die Tante sie bestimmt zurücklassen, aber sie musste fliehen, dann würde die Mama kommen und sie holen. Sie wollte diese dicht gedrängten Flugzeuge nicht über ihrem Kopf, sie musste zum großen A.
Sie haben sich zusammengezogen, schrien die Leute. Jetzt bringen sie uns um.
Aber warum? Hatten sie sich bis zu diesem Tag nur geirrt, fragte Mariuccia, und die Mutter antwortete ihr, die Deutschen hätten ihr Hauptquartier verlegt, wenige Kilometer von ihrem Haus entfernt hätten sie sich eingerichtet, weil sie in Mailand nicht mehr bleiben konnten. Und Giadina verstand nicht, was diese blonden Kerle wollten, die nur untereinander redeten, immer mit diesen ausgestreckten Fingern, um einem zu zeigen, wohin man gehen sollte.
Sie mochte keine Wachleute.
Sie mochte sie nicht seit der Geschichte mit den tausend Lire.
Als Dell’Acqua noch am Leben war, eingesperrt in seinem stinkigen Zimmerchen im Erdgeschoss des Hofs, ohne dass man wusste, wie einer der Industriellensöhne der Stadt dort hatte landen können, war Giadina die Einzige, die sich ihm näherte und für ein Dutzend Centesimi Toscano-Zigarren kaufen ging und Flaschen ganz schwarzen Rotweins, schwer und tödlich auch der.
Eines Tages hatte der Säufer sie an sein Bett gerufen.
Hast du jemals tausend Lire gesehen?, hatte er sie gefragt.
Und natürlich hatte Giadina den Kopf geschüttelt, denn nicht einmal aus Versehen waren ihr welche in die Hände gekommen.
Er hatte einen Schein so groß wie ihr Bohnenrankenbuch hervorgezogen und ihr gezeigt.
Das sind tausend Lire, mit tausend Lire kannst du dir den ganzen Hof kaufen, wenn du willst.
Der Säufer sagte ihr, dass ein Mann aus Siena den Schein gestaltet habe, aber ihr kam er bloß wie ein sehr großes Blatt vor, und in Siena war sie nie gewesen, sie war höchstens bis Riccione gekommen, mit den Piccole Italiane, alle in ihren gleichen, gestreiften Badeanzügen.
Die tausend Lire hatte sie schnell vergessen, bis sie eines Tages verschwunden waren und Dell’Acqua den Wachleuten sagte, dass Giadina die Einzige gewesen sei, die sie gesehen habe.
Die Tante hatte sie in die Kaserne gebracht, dort großes Tränenvergießen, Giadina habe sie nicht genommen.
Eine Tortur, tausend Fragen, die Ohrfeigen der Tante, wie ihre Familie jetzt dastehe, und wenn die Mama zurückkam, würde sie sie keines Blickes würdigen.
Da war Giadina noch klein und den Krieg kannte sie noch nicht, daher erschien es ihr wie der schlimmste Tag ihres Lebens. Dann hatte Dell’Acqua die tausend Lire hinter dem Bett wiedergefunden, nicht einmal entschuldigt hatte er sich, aber er hatte den Wachleuten gesagt, dass sie es nicht gewesen war.
Niemand entschuldigte sich, sie war ja noch ein Kind und verstand das überhaupt nicht. Doch seit jenem Tag wandte sie sich ab, wenn er sie auf seiner stinkenden Pritsche ausgestreckt rief, um sie um Zigarren oder diese schwarze Brühe zu bitten.
Deshalb mochte sie Wachleute nicht, weder die italienischen noch die deutschen und auch die mit den Sternen nicht.
Aber an dem Apriltag ohne Sonne, unter einem Himmel wie nachts auf den Feldern, verstand Giadina nicht, ob die italienischen Jungs, die so alt waren, wie Tonino gewesen wäre, die durch die Stadt liefen und Legnano ist befreit riefen, Wachleute waren. Sie wusste es nicht und hätte nie danach gefragt: Es gab anderes, woran man denken musste, und keiner hörte ihr zu. Doch als diese Jungs Feuerwerk zündeten wie beim Palio oder auf dem Jahrmarkt, wies die Tante sie an, schleunigst nach Hause zu gehen.
Und in kurzer Zeit war der Himmel wieder klar.
Sie flohen nicht mehr, jetzt konnte Gott sie wieder sehen, und all diese Jungs, die uneinheitlich gekleidet waren, aber stets mit Gewehr wie die Wachleute, hatten den Himmel mit Raketen gesäubert, die stanken und explodierten, aber wenigstens weit weg von der Erde.
Binnen kurzer Zeit wurden alle Blondschöpfe in der Stadt gefangen genommen, und sie verbarrikadierten sich im Haus, während die draußen sich balgten wie Wölfe und Hunde. Die jungen italienischen Befreier verteilten Flaschen an die Leute und sagten, man solle sie anzünden und werfen, wenn man einen Blondschopf auf der Straße sah.
Giadina rührte keine dieser Flaschen an, die waren wie die von Dell’Acqua, nur größer und schwerer.
Die Tante stellte sie in einer Reihe vor dem Fenster auf.
Rein gar nichts werden wir werfen für diese Verräter, sagte sie und betrachtete die Flaschenbatterie voller Hass.
Zum Glück sah man keinen Deutschen auf freiem Fuß, sie kamen nur gefesselt am Haus vorbei, alle in einer Reihe aneinandergekettet, die uneinheitlich gekleideten italienischen Burschen zogen sie, als wären es Schafe in den Bergen.
Da trat die Tante ans Fenster. Lasst sie laufen, das sind Christenmenschen wie ihr, lasst sie laufen, sie haben euch nichts getan, die Ärmsten, die Ärmsten, schrie sie. Und die Cousine zog sie am Rock, damit sie still wäre.
Halt den Mund, dreckige Faschistin, hatte ein Bursche mit staubigem Gesicht erwidert.
Und die Tochter hatte weiter an ihr gezogen, bis sie zu Boden fiel, bevor noch jemand auf die Idee kam, sie auf andere Weise zum Schweigen zu bringen.
Giadina trat ans Fenster und schaute hinaus. Sie waren die drei mit den Flaschen vor dem Fenster, während man in der Stadt von der Befreiung Legnanos sang.
Endlich sah Giadina diese Amerikaner. Sie drangen nicht mit Flugzeugen durch die Fenster, sondern kamen zu Fuß daher. Sie gestikulierten wie verrückt, schlimmer als die Deutschen, und man verstand nichts, aber es schien, als wäre das allen egal. Jeder von ihnen hatte ein großes Brot bei sich, riesig und sehr weiß, eine Packung gelber Butter und zehn Tafeln Schokolade.
Als sie in den Hof kamen, stürzten alle herbei und ließen sich etwas geben. Die Tante sagte, sie sollten sich zurückhalten, sie würde sich kümmern, und die Kinder sollten nicht mit den Soldaten sprechen.
Giadina bekam immer sehr wenig ab, nur das sehr weiße Brot mit ein bisschen Butter.
Unter diesen Keksfressern mit den Streifen auf der Fahne war einer, der größer war als die anderen. Er hieß John, ein merkwürdiger Name, von dem Giadina nicht einmal wusste, wie man ihn schrieb. Eines Tages machte John ihr Zeichen, während die Tante ins Haus zurückging. Mit seinen großen, kräftigen Händen formte er eine Ecke und gab ihr zu verstehen, dass sie sich dort sehen sollten, an der Ecke außerhalb des Gehöfts.
John war groß und roch gut, und wenn er eine Frau sah, nahm er immer die Mütze ab.
Von dem Tag an erwartete er sie immer an der Ecke und gab ihr eine Tafel Schokolade, ganz für sie allein.
Er musste bemerkt haben, dass sie in dem Durcheinander im Hof fast nichts bekam, mit der Tante, die sie zurückstieß, und der Großmutter, die blind herumtappte. Also hielt er jedes Mal eine Tafel zurück, gab sie dann Giadina und zeigte ihr, wie sie es machen sollte. Sie musste sie unter ihre Jacke stecken, unter die Achsel, und mitnehmen. Durch Gesten machte er ihr begreiflich, sie solle hinters Haus gehen und sie dort essen. Er steckte die Finger in den Mund, tat so, als würde er hineinbeißen, und zeigte auf die vom Hof am entferntesten gelegene Gasse.
Iss sie dort, die ganze Tafel Schokolade, sie ist nur für dich.
John sprach nicht oder wenn er sprach, redete er wer weiß was, aber auf seine Weise war das der Rat, den er ihr gab.
Giadina bedankte sich und steckte die Schokolade unter die Achsel, dann zeigte John ihr kleine Fotografien, durch die vielen Blicke darauf ganz zerknittert und verblasst, mit einer Frau und zwei Kindern darauf. Mit dem dicken Finger zeigte er auf ein Mädchen wie sie, die nun dreizehn Jahre alt war, aber aussah wie zehn. Vielleicht war das Mädchen ja wirklich zehn und keine kleine, magere Dreizehnjährige, aber John kümmerte das nicht. Er wies auf die Schokolade, dann auf Giadina, dann auf das Foto, und so war alles erklärt.
Er murmelte doter und Giadina verstand nicht, lächelte aber, um dann diese ganze Tafel amerikanische Schokolade zu verdrücken.
Am Tag der Befreiung zogen die unterschiedlich gekleideten jungen Italiener und die neuen Blondschöpfe mit den Sternen und Streifen in die Kaserne der Deutschen ein, das erzählte Luisa, wo die waren, die das Kommando hatten und die Wachdienste einteilten. Sie ließen die Türen offen, und die Leute gingen hinein. Der ganze Hof ging das anschauen, nur Giadina war gezwungen, zu Hause zu bleiben. Sie holten zu essen, um alle Familien satt zu kriegen, aber vor allem holten sie Fallschirmseide und die Wolle der Militärdecken. Von dem Tag an war Legnano voller Seidenblusen für die Damen und voller Wollmäntel für die Herren.
Die Tante ließ einen für den Onkel machen, und zu Hause färbte sie ihn in kochendem Wasser ochsenblutrot.
Giadina kam er hässlich und borstig vor, nicht wie der schöne grüne von John, aber das erzählte sie niemandem, denn es war besser, die Tante wusste nichts von ihrem Freund.
Der unerschrockene John zwinkerte ihr jeden Tag zu und redete immer von diesem doter, von dem man nicht wusste, was es bedeuten sollte, aber sicher sollte es heißen, dass der Krieg zu Ende war.
Habe eine Nähmaschine gekauft. Stopp. Mit dem Geld vom letzten Monat. Stopp.
Eine Signora. Meine Schwester hält sich für eine Signora