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Jeng Yah – diesen Namen flüstert der Zigarettenbaron Pak Raja immer wieder, als er im Sterben liegt. Er möchte sie noch einmal sehen, bevor er stirbt. Seine drei Söhne wollen dem letzten Wunsch ihres Vaters entsprechen. Was aber hat es mit dieser Frau auf sich, über die ihre Mutter vor Wut und Eifersucht nicht reden will? Die jungen Männer machen sich auf die Reise, die sie von Jakarta tief ins Herzen Javas führt – und in eine Vergangenheit, die von Schuld und Verrat, von Liebe und Freundschaft, von Neid und Eifersucht erzählt. Zwei Männer, die wegen einer schönen Frau zu bitteren Feinden werden, zwei Familien, deren Wege sich über drei Generationen immer wieder kreuzen, bis die Versöhnung unmöglich scheint … »Das Zigarettenmädchen«, der fünfte Roman der indonesischen Autorin Ratih Kumala, ist eine Geschichte über zwei Gründer von Zigarettenfabriken und die Entwicklung der Tabakindustrie, die das Land bis heute nachhaltig prägt. Dabei webt sie die politischen und gesellschaftlichen Hintergründe der jungen Republik ein, vom Ende der niederländischen Kolonialherrschaft und der Invasion der Japaner über die Massenmorde an den Kommunisten bis hin zum heutigen Indonesien. »Das Zigarettenmädchen« ist ein großer Familienroman, unterhaltsam und leichtfüßig, ein verrauchtes indonesisches »Buddenbrooks«. »Vater hat recht, dachte Tegar, Rauchen öffnet die Gedanken. Es war, als trüge der Rauch ihn in den Himmel hinauf.«
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Seitenzahl: 315
Jeng Yah – diesen Namen flüstert der Zigarettenbaron Pak Raja immer wieder, als er im Sterben liegt. Er möchte sie noch einmal sehen, bevor er stirbt. Seine drei Söhne wollen dem letzten Wunsch ihres Vaters entsprechen. Was aber hat es mit dieser Frau auf sich, über die ihre Mutter vor Wut und Eifersucht nicht reden will? Die jungen Männer machen sich auf die Reise, die sie von Jakarta tief ins Herzen Javas führt – und in eine Vergangenheit, die von Schuld und Verrat, von Liebe und Freundschaft, von Neid und Eifersucht erzählt. Zwei Männer, die wegen einer schönen Frau zu bitteren Feinden werden, zwei Familien, deren Wege sich über drei Generationen immer wieder kreuzen, bis die Versöhnung unmöglich scheint …
»Das Zigarettenmädchen«, der fünfte Roman der indonesischen Autorin Ratih Kumala, ist eine Geschichte über zwei Gründer von Zigarettenfabriken und die Entwicklung der Tabakindustrie, die das Land bis heute nachhaltig prägt. Dabei webt sie die politischen und gesellschaftlichen Hintergründe der jungen Republik ein, vom Ende der niederländischen Kolonialherrschaft und der Invasion der Japaner über die Massenmorde an den Kommunisten bis hin zum heutigen Indonesien.
»Das Zigarettenmädchen« – ein großer Familienroman, unterhaltsam und leichtfüßig, ein verrauchtes indonesisches »Buddenbrooks«.
Ratih Kumala wurde 1980 in Jakarta geboren. Sie arbeitet als freiberufliche Drehbuchautorin fürs Fernsehen und hat bisher bereits einige Romane sowie einen Kurzgeschichtenband veröffentlicht. Gadis Kretek (2012) greift ihren eigenen kulturellen (javanischen) Hintergrund auf.
Ratih Kumala
Das Zigarettenmädchen
Aus dem Indonesischen von Hiltrud Cordes
Digitales Original: © CulturBooks Verlag 2015
Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg
Tel. +4940 31108081, [email protected]
www.culturbooks.de
Alle Rechte vorbehalten Ratih Kumalas Roman heißt im Original Gadis Kretek und ist 2012 in Jakarta erschienen.
© PT Gramedia Pustaka Utama, Jakarta
Die Veröffentlichung dieses Buches wurde ermöglicht mit freundlicher Unterstützung durch das Übersetzungsförderungsprogramm des Ministeriums für Bildung und Kultur der Republik Indonesien.
Vielen Dank an Anita Djafari und Thomas Wörtche.
Mit 10 Illustrationen von Iksaka Banu.
Printausgabe: © CulturBooks Verlag 2015
Übersetzung: Hiltrud Cordes
Redaktion: Zoë Beck, Jan Karsten
Korrektur: Dörte Karsten
eBook-Cover: Magdalena Gadaj
eBook-Herstellung: CulturBooks
Erscheinungsdatum: 15.09.2015
ISBN 978-3-95988-016-9
Rauchen fügt Ihnen und den Menschen in Ihrer Umgebung erheblichen Schaden zu. Rauchen führt zur Verstopfung der Arterien und verursacht Herzinfarkte und Schlaganfälle. Rauchen kann zu Durchblutungsstörungen führen und verursacht Impotenz. Rauchen lässt Ihre Haut altern. Raucher sterben früher.
Für meinen Großvater, den verstorbenen H. Affandi, und seine Tochter Badriyah
Als Vater auf dem Sterbebett lag, murmelte er im Halbschlaf immer wieder einen Namen: Jeng Yah.
Dieser Name beschwor einen Geist aus der Vergangenheit herauf, von dessen Existenz ich nicht einmal etwas geahnt hatte. Offensichtlich war es meiner Mutter gelungen, diesen Geist in all den Jahren erfolgreich zu bannen. Auf ihrem Gesicht zeigte sich ein mir bisher gänzlich unbekannter Zug: Mutter war eifersüchtig. Ja, diese Frau, die längst nicht mehr jung war, raste mit einem Mal vor Eifersucht. Und Mutter war wirklich furchterregend in diesem Zustand – so, als könnte sie in der nächsten Sekunde zum Angriff übergehen: auf alles und jeden, überall und jederzeit. Sie schien bereit, auf der Stelle zu vernichten, was sie wütend machte.
»Ich bin es, die ihn pflegt, seit er krank ist, und nach wem ruft er? Nach dieser Frau!«, schimpfte Mutter, und ihr Mund verzog sich vor Ärger. Sie schleuderte das Döschen mit den Medikamenten, die sie Vater an diesem Vormittag hatte geben wollen, zu Boden. Ich hörte sogar, wie sie ein Schluchzen unterdrückend in ihrer Wut flüsterte, Vater solle doch am besten jetzt gleich auf der Stelle sterben. Dass meiner Mutter eine solche Verwünschung über die Lippen kommen könnte, hätte ich nie für möglich gehalten. Ungläubig hielt ich den Atem an.
Ich wäre im Traum nicht darauf gekommen, dass es jemanden gab, der zwischen meinen Eltern stand. Sie waren nun seit siebenunddreißig Jahren verheiratet, und gäbe es ein Regierungsprogramm für vorbildliche Familien, dann hätte man meine Eltern mit Sicherheit zum Modell genommen. Wir, ihre drei Söhne, hatten ihre Ehe jedenfalls immer als sehr harmonisch empfunden. Meine beiden älteren Brüder und ich kamen zu dem Schluss, dass diese Jeng Yah aus einer Zeit stammen musste, bevor Vater und Mutter geheiratet hatten.
»Was soll das? Warum sprecht ihr diesen verfluchten Namen aus?!« Wir hatten nicht gemerkt, dass Mutter unsere Unterhaltung mit angehört hatte. Wir zuckten zusammen, verstummten und taten so, als hätten wir noch etwas sehr Dringendes zu erledigen. Unter ihrem zornigen Blick schrumpften wir innerlich auf die Größe eines Basilikumsamenkorns. Während sie uns wütend anstarrte, schien es für zwei Sekunden, als wollten ihre Augenbrauen in der Mitte zusammenwachsen. Unsere Beratung war erst mal beendet, wir gingen auseinander.
Vater hatte vor neun Jahren einen Schlaganfall erlitten, seither war die Hälfte seines Körpers tot. Es kam mir vor, als habe ihm ein Todesengel seine Seele entreißen wollen, die Sache aber nicht zu Ende gebracht. Nach dem Schlaganfall stotterte Vater mühsam, dass er lieber gleich sterben wolle, als mit dieser halbseitigen Lähmung weiterzuleben. Man konnte ihn kaum verstehen. Aber mithilfe einer Therapie ging es ganz allmählich besser. Innerhalb eines Jahres konnte Vater wieder laufen, allerdings hatte er weiterhin kein Gefühl mehr in einem Arm, und seine Aussprache blieb schwer verständlich. Außerdem hatte er seine Emotionen nicht mehr unter Kontrolle: Wenn er lachte, dann hörte er gar nicht mehr auf – auch wenn die anderen schon längst nicht mehr lachten. Und wenn er gerührt war, wie bei der Hochzeit meines ältesten Bruders Mas Tegar, dann heulte er hemmungslos wie ein Schlosshund. Es hatte sozusagen in seinem tiefsten Inneren einen emotionalen Kurzschluss gegeben. Wahrscheinlich lag das auch an diesem Todesengel, der die Hälfte von Vaters Seele mitgenommen und seine Aufgabe nicht zu Ende gebracht hatte.
So lebte Vater also neun Jahre mit halber Seele. Im letzten Jahr war es mit seiner Gesundheit allerdings steil bergab gegangen, er wurde immer schwächer. Der Todesengel kam immer öfter vorbei und nahm ein kleines Stück von ihm mit, jedes Mal auch einen Teil seines Gedächtnisses. Vielleicht sollte Vater sich nicht mehr an bestimmte Ereignisse aus seiner Vergangenheit erinnern müssen. Doch etwas ging schief, die Büchse der Pandora öffnete sich, und heraus kam ein Name: Jeng Yah.
Ich hatte meine Eltern schon drei Monate lang nicht mehr besucht. Dabei wohnte ich genau wie der Rest meiner Familie in Jakarta. Ich zog es vor, in meinem Apartment zu bleiben und auf meinen kreativen Projekten herumzudenken, die mir am Herzen lagen. Mas Karim hatte mich zwar schon mehrmals angerufen und mir von Vaters Zustand berichtet, aber ich war nicht sofort nach Hause gekommen. Noch wurde Vater ja zu Hause gepflegt, Mas Tegar und Mas Karim waren auch ständig außerhalb der Stadt unterwegs, weil sie sich wie gewohnt um die Geschäfte kümmerten, also schien es nicht so schlimm zu sein. Als ich Vater und Mutter besuchte, tat ich es eigentlich nur, weil ich wusste, dass Mas Tegar am selben Tag von einem zweiwöchigen Singapur-Aufenthalt zurückgekommen war. Ich hatte ihn vorher schon ein paarmal angerufen, aber da hatte er nie Zeit für mich gehabt. Jetzt wollte ich ihn unbedingt sprechen. Es ging um etwas Geschäftliches, das aber nichts mit der Zigarettenfabrik unserer Familie zu tun hatte.
Vater lag in seinem Zimmer. Die Vorhänge blieben nun immer geschlossen, so, als könnten die Sonnenstrahlen ihm Schmerzen bereiten. Im Zimmer hatte sich ein säuerlicher Geruch von Alter und Krankheit ausgebreitet, dabei wusste ich sicher, dass sein Zimmer jeden Tag von der Haushaltshilfe gereinigt wurde. Ich würde ein andermal mit Mas Tegar über meinen Vorschlag sprechen, beschloss ich.
»Ich weiß nicht, wie viel Zeit ihm noch bleibt. Was machen wir, wenn er plötzlich abtritt?« Ich machte mir Sorgen um Vater.
»Wie – abtritt?«, fragte Mas Tegar.
»Na, wenn er stirbt.«
»Um Himmels willen, Lebas! Sag doch nicht so was Hässliches«, ermahnte mich Mas Karim.
»Wieso hässlich? Schließlich muss jeder irgendwann sterben.«
Meine beiden Brüder schwiegen.
»Also, wie soll es jetzt weitergehen?«, brach Mas Karim unser Schweigen.
»Ich denke, wir müssen Mutter fragen … wegen dieser Jeng Yah«, sagte ich.
»Hast du nicht Mutters Gesicht gesehen? Willst du, dass sie dir den Kopf abschlägt?«
Unwillkürlich griff ich mir an den Hals, als Mas Tegar das sagte. Ich konnte mir gut vorstellen, dass Mutter schon heimlich eine Machete besorgt und geschliffen hatte, um damit jedem, der den Namen Jeng Yah aussprechen sollte, die Kehle aufzuschlitzen. Wir wussten ja jetzt, wie eifersüchtig Mutter war. Sie könnte sich jederzeit in eine Ninjakämpferin verwandeln.
»Aber wenn Vater deshalb nicht in Frieden sterben kann?« Ich ließ nicht locker.
»So ein Blödsinn. Wenn jemand sterben muss, dann stirbt er!«
»Das kannst du so nicht sagen, Mas. Wenn jemand etwas Unerledigtes zurücklässt, dann kann er zum Gespenst werden.«
Mas Tegar verpasste mir eine Kopfnuss.
»Du hast zu viele Horrorfilme gesehen!«, sagte er verärgert. Ich strich mir die Haare glatt.
»Mas, sieh dir Vater doch an. Ständig ruft er nach Jeng Yah. Das ist bestimmt sein letzter Wunsch. Vielleicht will er sie noch mal sehen, oder er will wissen, wie es ihr geht. Jedenfalls will er etwas von dieser Jeng Yah. Sollen wir Vaters letzten Wunsch einfach nicht beachten? Wagst du das?«
»Du hast ja recht, aber dieser letzte Wunsch bringt Mutter zur Weißglut.«
»Wenn es Mutters letzter Wunsch wäre, ihre Jugendliebe wiederzutreffen, dann würde ich ihr den auch erfüllen. Das kannst du mir glauben!«, sagte ich so überzeugend wie möglich.
»Ist Jeng Yah denn wirklich Vaters Jugendliebe?«, fragte Mas Karim. Uns wurde bewusst, dass wir nicht das Geringste über Jeng Yah wussten. Das Wort Jugendliebe war mir einfach so rausgerutscht. Ich hatte es mir so zurechtgereimt, seit dieser Name zum ersten Mal gefallen war.
»Natürlich ist das seine Exfreundin.« Ich tat so, als sei ich absolut sicher. »Wieso sollte Mutter sonst so eifersüchtig reagieren?«
»Wenn das so ist, dann frag Mutter doch nach Jeng Yah.« Mas Karim zeigte auf meine Nase.
»Wer – ich?! Mas Tegar muss das machen. Dem wird sie sicher nicht den Kopf abschlagen, er leitet doch die Fabrik. Ich dagegen … ich bin völlig unwichtig, mich braucht niemand, für die Fabrik bin ich auch überflüssig.«
Mas Tegar holte tief Luft. Er ärgerte sich, weil ich recht hatte. Mas Tegar war der Lieblingssohn, die Hoffnung der Eltern, der Erstgeborene, der von Anfang an unsere Zigarettenfabrik weiterführen sollte. Die Fabrik unserer Familie, die die Marke Djagad Raja – ›Universum‹ – herstellte.
»Und wie wäre es, wenn wir Vater nach Jeng Yah fragen?«, schlug Mas Karim vor.
»Einverstanden!«
»Unmöglich!«
Mas Tegar und ich hatten gleichzeitig geantwortet. Nun starrten wir uns an. Bevor Mas Tegar etwas sagen konnte, fuhr ich fort: »Vater ist doch gar nicht mehr richtig bei Bewusstsein, wie sollen wir denn mit ihm reden?«
»Man könnte es ja mal versuchen!«
Ich dachte kurz nach. Es wäre tatsächlich besser, erst mal mit Vater zu reden, bevor wir direkt bei Mutter nachfragten.
»Also gut«, willigte ich zögernd ein. Mas Tegar rutschte auf seinem Stuhl nach vorn.
»Du bleibst doch heute Abend bei Vater, vielleicht ergibt sich eine gute Gelegenheit, ihn zu fragen.«
»In Ordnung.« Überzeugt war ich aber eigentlich nicht.
»Sei nur vorsichtig, dass Mutter nichts merkt«, ermahnte mich Mas Tegar.
Ich nickte. »Wenn ich es nicht schaffe, seid ihr dran. Wer von uns als Erster die Gelegenheit hat, der fragt Vater. Das ist unser Plan A.«
»Und was ist Plan B?«
»Mas Tegar fragt Mutter.«
Mas Tegar schaute weg. Er war schon wieder sauer auf mich. Jetzt würde es noch schwieriger werden, ihn auf mein Projekt anzusprechen.
Als Mas Tegar ging, beschloss ich, mit Mas Karim zu reden. Ich zeigte ihm mein Konzept als Powerpoint-Präsentation auf meinem Laptop. Mas Karim seufzte.
»Du weißt doch, dass ich dir in dieser Sache nicht helfen kann. Du musst mit Mas Tegar sprechen.«
»Aber könntest du mich nicht ein bisschen unterstützen?«
»Wie denn? Mas Tegar war da sehr deutlich.«
Ich war ziemlich wütend und enttäuscht. Ich, sein eigener Bruder, war genauso Erbe der Zigarettenmarke Djagad Raja. Aber man ließ mir keinen Handlungsspielraum. Ich war eben anders als meine beiden Brüder, denn als Einziger von uns bewegte ich mich in der Welt der Kunst. Jedenfalls nannte ich es Kunst. Meine Brüder dachten anders darüber.
Am nächsten Morgen zog ich mich ordentlich an, um Mas Tegar im Büro aufzusuchen. In seinem Vorzimmer warteten bereits Leute, die ich kannte: Ipung Wardoyo, ein Werbefilmregisseur. Natürlich erkannte er mich nicht. Außerdem war da Maria Johansyah, eine Kinoregisseurin, die sich neuerdings auch als Theaterproduzentin betätigte. Bei großen Events wie Theaterfestivals und Konzerten war Djagad Raja häufig Sponsor. Normalerweise kümmerte sich Mas Karim um solche Dinge, aber letztlich lag die Entscheidung nie bei ihm allein. Mas Tegar hatte immer das letzte Wort. Die beiden Besucher waren sicher hier, um Projekte zu präsentieren. Dann kam Jul herein, der mal mein Regieassistent bei einer Seifenoper gewesen war. Er setzte sich zu Maria Johansyah.
»Na, so was – Mas Lebas? Du hier?«
Ich lächelte.
»Ja. Und was machst du hier?«
»Pitchen. Du etwa auch?«
Ganz ehrlich, ich hatte nicht gewusst, dass an diesem Tag eine Pitch-Präsentation stattfinden sollte. Ich lächelte einfach weiter, um meine Unwissenheit zu überspielen. »Ich mache bei Mbak Maria mit. Ich lerne gerade, Werbespots zu drehen. Wahnsinn, jetzt kommt dieser Geburtstag von Djagad Raja, der wievielte war das doch gleich … na, jedenfalls kann man sich ja denken, dass es da einen Riesenetat für Werbung geben wird. Das ist eine andere Nummer als unsere Seifenopern, was? Jede Menge Arbeit und miese Bezahlung.« Jul lachte und schien an die Zeiten zu denken, als wir zusammengearbeitet hatten. »Aber die Konkurrenz ist natürlich auch nicht ohne, Mas …«, Jul warf einen Seitenblick auf Ipung Wardoyo, »… selbst die dicken Fische aus der Werbung sind zum Pitch angetreten.«
Heute war also der Pitch für den neuen Djagad-Raja-Werbespot, und alle Filmemacher wussten davon, nur ich nicht. Eine junge Frau kam aus dem Büro meines Bruders: Sabrina, seine Sekretärin. Sie lächelte mir freundlich zu.
»Ach, Mas Lebas … Sie waren aber schon lange nicht mehr hier. Möchten Sie zu Mas Tegar?«
»Ja, ist er da?«
»Ja.«
Jul stupste mich an und flüsterte: »Sag mal, kennst du Mas Tegar persönlich?«
»Er ist mein großer Bruder.« Grinsend ging ich in Mas Tegars Büro und ließ Jul staunend im Vorzimmer zurück.
Eigentlich war es nicht verwunderlich, dass mich kaum jemand als Sohn einer der größten Zigarettendynastien Indonesiens kannte. Ich hatte mit dem Zigarettengeschäft nicht viel zu tun. Ich betrat das Büro von Mas Tegar. Poster von vielen Kulturevents, die Djagad Raja gesponsert hatte, schmückten die Wände, ganz offensichtlich war Mas Tegar stolz auf diese Poster. Nur ich, sein Bruder, der ebenfalls im künstlerischen Bereich arbeitete, war noch nie gesponsert worden. Und dass, obwohl mir doch selbst ein Teil des Unternehmens gehörte. Bislang hatte ich überwiegend Auftragsarbeiten für Produktionsfirmen erledigt.
Dabei hatte ich durchaus Ambitionen, erstklassige Filme zu machen mit hohem Anspruch und Spitzenschauspielern wie Dian Sastrowardoyo, Nicholas Saputra, Kinaryosih oder Lola Amaria. Wenn ich ältere Schauspieler benötigen würde, dann nähme ich natürlich Didi Petet, Christine Hakim oder Tio Pakusadewo. Aber es war wie verhext: Obwohl ich aus einer steinreichen Familie kam und deshalb eigentlich selbst steinreich war, hatte ich Schwierigkeiten, meine Träume zu verwirklichen. Anfangs hatte es auch daran gelegen, dass ich mir selbst gegenüber sehr hart war: Ich wollte beweisen, dass ich auf eigenen Beinen stehen konnte, ich wollte ohne finanzielle Unterstützung von Djagad Raja Filmregisseur werden. Als ich aus Amerika zurückkam, bot mir eine Filmproduk-tionsfirma einen Regieauftrag an. Ich zögerte nicht lange und griff zu. Dem Chef hatten die Kurzfilme gefallen, die ich während meiner Studienzeit in Amerika gedreht hatte. Die Leute von der Produktionsfirma hatten mir versprochen, dass ich einen Film nach meinen Wünschen machen könnte, wenn ich erst mal ihren Horrorfilmauftrag erledigt hätte. Ich betrachtete den Horrorfilm als Prüfung. Ich gab mir wirklich Mühe, ihn so gut wie möglich zu machen. Zu meinem Unglück wurde er ein Kassenhit. Wer kennt nicht Der Geist der schönen Tänzerin? Warum das mein Unglück war? Weil der Chef der Filmfirma, dessen Familie aus Indien stammte, anschließend zu mir sagte: »Hey, mach einfach weiter Horrorfilme, das passt zu dir. Für den Idealismuskram habe ich kein Geld, da kann ich ja gleich Roulette spielen. Okay?«
Danach war ich offenbar in der Branche dazu verdammt, drittklassige Filme zu machen, oder allenfalls zweitklassige. Selbstverständlich sind Mas Tegar und Mas Karim schon von Natur aus Menschen der ersten oder sogar der Extraklasse. Drittklassige Horrorfilme mögen sie überhaupt nicht, sie sind der Meinung, dass solche Filme das indonesische Publikum auf der Stelle treten lassen. Wenn sie in einen solchen Film hineingeraten, verlassen sie spätestens nach einer Viertelstunde das Kino.
Als ich zufällig gerade keinen Auftrag hatte, bot mir der indischstämmige Filmproduzent an, eine Daily Soap für ihn zu machen. Natürlich mit den üblichen Beschränkungen: nur ein Drehort und möglichst viele Close-ups. Die Gedanken der Charaktere wurden als Voice-over eingebaut, damit man ja alles mitbekam, auch wenn man nicht hinschaute, sondern nebenher etwas anderes machte.
Ich hätte gern abgelehnt, aber der Produzent sagte: »Das ist deine Chance! Hier kannst du dich beweisen. Hör mir gut zu, Lebas, diesen Idealismusquatsch kann jeder, aber nicht jeder bekommt eine gute Daily Soap hin. Wenn du diesen Stier bei den Hörnern packst, dann kannst du später jeden Film machen, den du machen willst. Brauchst du Geld? Ist das genug?« Er schob mir einen Zettel über den Tisch, auf dem die Summe stand, die ich pro Folge bekommen sollte. Mas Tegars Kommentar war: »Ich korrigiere mich. Du lässt das indonesische Filmpublikum nicht auf der Stelle treten, du wirfst es um zehn Jahre zurück.«
Sosehr ich mich auch bemühte, Mas Tegar förderte nie ein einziges meiner Filmprojekte, obwohl ich ihm sensationelle Geschichten präsentierte, die höchst anspruchsvoll waren. Und selbstverständlich standen nur Topschauspieler auf der Castingliste.
»Was willst du mir verkaufen? Sag bloß, du willst beim Pitch mitmachen?«, fragte Mas Tegar zynisch, als ich sein Büro betrat. Ich verdrehte genervt die Augen.
»Nein, kein Pitch. Ich hätte sowieso keine Chance gegen Ipang Wardoyo. Ich will, dass du mir meinen Anteil an der Fabrik auszahlst.«
»Warum das denn?«
»Um einen Film zu machen.«
»Kommt nicht infrage!«
»Mas, ich will dir hier kein Projekt vorstellen und deine Filmstiftung um einen Zuschuss bitten. Ich verlange, dass mir mein Anteil ausgezahlt wird. Ich brauche das Geld, um damit einen Film zu produzieren.«
»Das erlaube ich nicht!«, sagte Mas Tegar mit Nachdruck.
»Es ist mein Recht, mir meinen Anteil auszahlen zu lassen, ich bin immerhin Miteigentümer von Djagad Raja.« So leicht gab ich nicht auf.
»Als jemand, der dieses Geschäft durch und durch kennt, und vor allem als dein älterer Bruder habe ich wiederum ein Mitspracherecht, wenn es darum geht, Firmenanteile auszuzahlen. Und für so ein undurchsichtiges Vorhaben werde ich meine Zustimmung bestimmt nicht geben.«
»Was heißt denn hier undurchsichtig, Mas? Der Film ist meine Welt. Ich möchte mich entfalten. Ist das etwa nicht erlaubt?« Ich fuhr meinen Stachel aus wie ein Insekt, das zum Angriff übergehen will.
Mas Tegar antwortete: »Ich glaube einfach nicht, dass du einen guten Film machen kannst. Das wird doch höchstens wieder so ein Pling-Pling -Filmchen mit Close-up-Einstellungen, wie wir das von deinen Seifenopern kennen.« Er betonte das Pling-Pling mit hoher Stimme, um damit die Hintergrundmusik einer Soap-Opera nachzuahmen. »Wenn du mich überzeugen kannst, dass du einen guten Film zustande bekommst, dann gebe ich dir das Geld. Aber bis jetzt war ich von deinen Präsentationen nicht sonderlich beeindruckt.« Das war’s. Ich hatte verloren.
Vater lag da wie ein Stück Holz. Einen alten Menschen zu betrachten ist merkwürdig. Vaters Haut war faltig wie Baumrinde, er erinnerte mich an das Holzstück, aus dem der Tischler Gepetto Pinocchio geschnitzt hat. Ja, mein Vater war Pinocchio. Die Seele seiner Jugend hatte er sich noch irgendwo im Innern des Holzstückes bewahrt. Die Narbe auf seiner Stirn schien immer tiefer zu werden. Noch vor wenigen Monaten, bevor Vater zum Holzstück wurde, war diese Narbe nicht so ausgeprägt. Anders als die Narbe von Harry Potter, die die Form eines Blitzes hat und ein Zeichen seiner Zauberkraft ist, war Vaters Narbe ein einfacher Strich. Man konnte auch noch die drei Einstiche erkennen, mit denen die Wunde genäht worden war. Die Narbe befand sich im Haaransatz, Vater hatte dort eine kleine kahle Stelle. Ich hatte Vater mehrmals nach dieser Narbe gefragt und immer sagte er, sie sei eine Erinnerung an seine wilde Jugend. Was Vater unter einer wilden Jugend verstand, konnte ich mir allerdings beim besten Willen nicht vorstellen. Ich kannte Vater nur diszipliniert, geradeaus und niemals wild. Er erzählte noch, er hätte sich mit jemandem geprügelt, und dieser Jemand habe ihm den Glaszylinder einer Petroleumgaslampe über den Schädel gezogen, während er selbst unbewaffnet gewesen sei. »Da hatte ich natürlich keine Chance!« So endete er immer, dazu noch mit einem heldenhaften Unterton – obwohl er doch den Kampf verloren hatte. Später, wenn ich selbst einmal so alt war, würden sich meine eigenen Kinder auch darüber Gedanken machen, wie ich in meiner Jugend war? Dann dachte ich: Kinder? Ach was … ich wusste ja noch nicht einmal, wer die Mutter dieser Kinder sein könnte.
Ich versuchte, mir das Gesicht von Jeng Yah vorzustellen. Hatte sie eine toupierte Hochfrisur? Trug sie einen weiten Rock, in dem sie sich immer im Kreis drehen wollte, damit er sich ausbreitete wie ein Teller? Offensichtlich hatte Jeng Yah Vater tief beeindruckt, sonst hätte er nicht jetzt, in seinen letzten Lebenstagen, ihren Namen so oft ausgesprochen. Ach ja … und wie war wohl ihr vollständiger Name? Ich betrachtete meinen schlafenden Vater. Er hüstelte ab und zu, und seine Augäpfel bewegten sich von rechts nach links. Dann schlug er die Augen auf.
»Junge …«, murmelte Vater. Ich rückte näher zu ihm hin.
»Ja, Vater?«
»Ich muss mal pinkeln. Bring mich bitte zur Toilette.«
»Du kannst einfach pinkeln. Du hast doch den Katheter.«
»Ach ja, das hatte ich vergessen.«
Vater schwieg und schien sich aufs Wasserlassen zu konzentrieren. Gelbe Flüssigkeit rann durch den Katheterschlauch. Wenig später schaute Vater wieder in meine Richtung.
»Junge …«
»Ja, Vater? Was ist? Möchtest du etwas trinken?«
»Ja.«
Ich füllte Trinkwasser in eine Plastikflasche und hielt ihm den Trinkhalm an den Mund. Langsam trank er ein paar Schlucke, dann sah er mich lange an.
»Du bist mein Sohn, Junge …«
»Ja, Vater.«
»Auch wenn du mit der Fabrik nichts zu tun haben willst, bist du doch trotzdem mein Junge«, sagte Vater leise.
»Ja, Vater.« Ich hatte einen Kloß im Hals und musste die Tränen zurückhalten. Bloß nicht weinen! Bloß nicht weinen!, sagte ich mir.
Was für ein Unterschied zu damals, als ich zum ersten Mal gesagt hatte, dass ich nicht in der Fabrik arbeiten wolle! Vater hatte mich verflucht und war sogar so weit gegangen, mich von der Liste der Erben der Djagad-Raja-Dynastie zu streichen. Der Anblick von Vaters niedergestrecktem Körper ließ mich an diese noch nicht sehr lange zurückliegenden Ereignisse denken. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen, dann würde ich mehr für meine Familie tun und mich Vaters Wünschen fügen. Ich hoffte, dass es noch nicht zu spät war.
»Vater …« Noch immer ruhte sein ausdrucksloser Blick auf mir. »Wer ist Jeng Yah?«, fragte ich vorsichtig.
»Woher kennst du diesen Namen?«
»Von dir selbst. Als du im Halbschlaf lagst.«
Vater stieß langsam ein meckerndes Lachen aus, so, als sei er sich einer großen Dummheit bewusst geworden.
»Träumst du von Jeng Yah?«
»Ja, ich träume von ihr. Weiß Mutter davon?«
»Ja.«
Wieder lachte Vater verlegen.
»Möchtest du Jeng Yah wiedersehen?«
»Ja … aber sag deiner Mutter nichts. Sie wird sonst wütend.«
»Wo ist Jeng Yah?«
»Zuletzt habe ich sie in Kudus getroffen, aber das ist schon lange her … vor deiner Geburt.« Kudus, die Heimatstadt von Djagad Raja – natürlich! Dort hatte Vater seine Jugend verbracht.
»Kannst du Jeng Yah suchen, Junge?«
»Ich weiß nicht, Vater«, antwortete ich. Wir schwiegen. Vater sah mich an, und ich sah Vater an.
»Ich bin müde«, sagte er unvermittelt.
»Ja, schlaf erst mal.« Es gab noch so viele Fragen, die ich ihm stellen wollte.
Vaters Blick ruhte auf mir, während seine Augen langsam zufielen. Dann schlief er ein.
»Jeng Yah ist in Kudus!«, berichtete ich am nächsten Tag meinen Brüdern. Lange sagten wir nichts. Vaters Frage ›Kannst du Jeng Yah suchen, Junge?‹ geisterte mir im Kopf herum. Zerstreut sagte ich: »Vater möchte, dass ich … äh … dass wir Jeng Yah suchen.«
Meine Brüder sahen sich an.
»Also gut, du fährst nach Kudus!«
»Wie bitte?« Was Mas Karim da gesagt hatte, gefiel mir überhaupt nicht. Ich fuhr nicht gern nach Kudus. Dort war es heiß, und es gab nichts, was man dort tun konnte, außer den Turm zu besichtigen oder Kudussuppe zu essen. Ach ja, natürlich waren da noch die Nelkenzigarettenfabriken. Vaters Frage spukte weiter in meinem Hirn. Verdammt!
»Du hast doch absolut nichts zu tun. Du hast alle Zeit der Welt, um durch die Gegend zu fahren. Mas Tegar und ich, wir müssen uns um die Fabrik kümmern.«
Sicher, das stimmte. Aber nach Kudus fahren? Musste das sein? Immer lauter dröhnte die Frage ›Kannst du Jeng Yah suchen, Junge?‹ in meinem Schädel. Und schließlich löste sich ein Wort von meinen Lippen: »Ja.«
»Perfekt, dann fährst du morgen los. Du fliegst nach Semarang, und ich sage dem Fahrer, er soll dich dort abholen und nach Kudus bringen.«
»Ach was! Ich fahre mit dem Auto!«
»Was?«
»Ich fahre selbst, ganz einfach. Außerdem haben wir noch gar nicht genug Informationen über Jeng Yah. Mas Tegar, du wolltest doch Mutter nach ihr fragen, oder?«
Mas Tegar warf mir einen bösen Blick zu. Er hatte gehofft, ich hätte es vergessen.
»Ich habe keine Lust, in Kudus lange zu warten, wenn wir noch nichts Genaues wissen. Und außerdem will ich einen Freund in Cirebon besuchen. Da komme ich sowieso vorbei. Ich fahre die Strecke Jakarta-Bekasi-Karawang-Cirebon-Semarang und dann weiter nach Kudus. In Cirebon bleibe ich nur einen Tag.«
»Willst du da übernachten?«
»Ja. Bei einem Freund, mit dem ich in Amerika studiert habe«, antwortete ich.
Zwischen Mas Tegars Augenbrauen wurde eine Zornesfalte sichtbar. »Sonst geht’s dir aber gut? Wir haben keine Zeit zu vertrödeln, wir müssen diese Jeng Yah so schnell wie möglich finden.«
»Es geht um einen Film. Ich bleibe auch nur einen Tag – versprochen!« Ich hatte nicht aufgehört, über mein Projekt nachzudenken, seit Mas Tegar es abgelehnt hatte. Ich war fest entschlossen, die Sache durchzuziehen. Ich würde einen abendfüllenden Spielfilm unabhängig von Vorgaben irgendwelcher Auftraggeber machen, und dafür wollte ich erstens mein eigenes Geld verwenden und zweitens einen anderen Sponsor als Djagad Raja suchen. Außerdem wollte ich meine Freunde fragen, ob sie gegen eine kleine Bezahlung (oder noch besser ganz umsonst) dabei sein würden. Immerhin hatte ich einige Freunde, deren Herz für die freie Kunst schlug.
»Na bitte, wie du willst.« Wahrscheinlich waren die beiden froh, dass ich überhaupt fahren wollte.
Ich stopfte ein paar Kleidungsstücke, Hygieneartikel und ein kleines Handtuch in meinen Rucksack. Natürlich nahm ich auch meine Kamera mit, vielleicht fand ich unterwegs ein paar interessante Fotomotive. Auch meinen iPod steckte ich ein, damit ich auf der Fahrt entspannt Musik hören konnte.
Bevor ich losfuhr, weckte ich Vater auf und küsste seine Hand. Der Geruch des Alters drang aus seiner faltigen Haut. »Vater, ich gehe jetzt und suche Jeng Yah«, flüsterte ich in sein Ohr.
»Woher weißt du von Jeng Yah?«
»Von dir, Vater. Gestern hast du mir von ihr erzählt.«
»Wirklich?«
»Ja.«
»Das habe ich ganz vergessen.«
»Aber du willst Jeng Yah doch wiedersehen, oder?«
»Ja gern.« Vater schwieg lange. Sein Blick ruhte auf meinem Gesicht, bis seine Augen sich wieder schlossen. Schnell verließ ich den Raum.
Zu Mutter sagte ich, dass ich nach Kudus wollte, um ein paar Dinge in der Fabrik zu regeln. Sie sah mich ungläubig an. Bevor sie anfangen konnte, Fragen zu stellen, sagte Mas Karim rasch: »Lass ihn doch, Mutter. Vielleicht hat Lebas endlich was kapiert, jetzt wo Vater so krank ist.«
Ich startete den Motor, zündete mir eine Djagad Raja an und warf meine Sachen auf den Rücksitz. Eine Liedzeile, die mich auf meinen Reisen immer begleitet, kam mir in den Sinn: I’m a poor lonesome cowboy, I’m a long long way from home.
Der Cowboy, der schneller zieht als sein Schatten, musste kurz in den Hintergrund treten. In Cirebon kannte er sich nicht aus. Lebas rief seinen Freund Erik an, den er aus Amerika kannte, aber der ging nicht ans Telefon. Dann verstummte die Musik. Lebas erschrak und zog seinen iPod heraus.
»Mist!« Der Akku war leer. Er drehte das Radio an, zu hören war die geschäftige Stimme einer Ansagerin. Ihm fiel auf, dass er schon lange nicht mehr darauf achtete, welches Datum und welcher Wochentag gerade waren. Das war eine Begleiterscheinung seines Daseins als Freiberufler – eine Bezeichnung, die Lebas dem Status arbeitslos vorzog. Endlich klingelte sein Handy. Er schaltete das Radio aus und nahm das Gespräch an.
»Mann, du bist wohl schwer beschäftigt, was? Ich bin in Cirebon. Wo genau wohnst du?« Am anderen Ende der Leitung lachte Erik vergnügt. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Lebas ihn wirklich besuchen würde. Erik erklärte Lebas den Weg zum Rasta-Haus, wie er es nannte, ein Musikstudio, das Erik gegründet hatte.
Als Lebas dort ankam, ließ er sich erst mal auf eine platt gelegene Schaumstoffmatratze fallen, die in einer Ecke des Studios lag.
»Echt, die Matratze kannst du frittieren und zu Tofu-Chips verarbeiten, so dünn ist die!« Lebas holte eine Stange Djagad Raja aus seinem Rucksack. Erik grinste erfreut und nahm das Geschenk in Empfang.
»Das ist extra so, damit die Musiker nicht nur zum Pennen hierherkommen!«, lachte er und kratzte sich am Kopf. Eriks Dreadlocks steckten unter einer gestrickten Mütze in den Farben Gelb, Rot und Grün. An der Uni in San Francisco war er ein paar Semester weiter gewesen als Lebas. Er hatte von Anfang an Musik studiert. Er hatte ein Universitätsdiplom aus San Francisco, zog es aber vor, in Cirebon zu leben – einer Stadt, die für eine musikalische Karriere rein gar nichts zu bieten hatte. Mit seinem musikalischen Talent und seinem familiären Hintergrund würde Erik in Jakarta wesentlich weiterkommen. Erik war glühender Bob-Marley-Fan, seit er während des Studiums einmal nach Jamaika gereist war.
Lebas hatte auf Befehl seines Vaters zunächst ein Wirtschaftsstudium begonnen. Ein Jahr lang mühte er sich in San Francisco damit ab, bis ihm klar wurde, dass dies nicht seine Bestimmung sein konnte. Heimlich wechselte Lebas zum Studienfach Film. Als Vater schließlich davon erfuhr, zerriss er sein Testament, in dem er die Aufteilung seines Vermögens unter den Familienmitgliedern festgelegt hatte. Alle im Haus hielten den Atem an, während Vater vor Wut tobte. Drei Monate lang sprach er kein Wort mit Lebas. Wie sehr sich Lebas auch bemühte, Vater freundlich zu stimmen, er behandelte ihn wie Luft. Bis Vater eines Morgens der Schlag traf. Seither war er halbseitig gelähmt. Mutter sagte später, dass sie an jenem Morgen ohne besondere Absicht erzählt hatte, Lebas wolle ein Praktikum als Regieassistent bei einer unabhängigen Filmproduktion machen. Vater schimpfte und fluchte, und in diesem Augenblick griff der Todesengel nach ihm und holte seine halbe Seele. Zwar besserte sich danach ihre Beziehung, nicht jedoch Vaters Gesundheitszustand. Vater verzieh Lebas, er sagte – wenn auch stammelnd und stotternd –, dass Vergebung die wirksamste Medizin für ihn sei. Ihm war völlig klar, dass Lebas der Grund für seinen Schlaganfall war. Zwei Tage später kam ein Rechtsanwalt ins Haus und setzte ein neues Testament auf. Lebas’ Name stand nun wieder auf der Liste der Erben.
Als Lebas später entschied, erneut das Studienfach zu wechseln, erzählte er niemandem davon. Er fand, dass das Filmstudium doch nicht das Richtige für ihn war, denn nun fühlte er sich zur Musik hingezogen. Dazu war es gekommen, als Lebas sich mit Erik und drei amerikanischen Kommilitonen für ein Gruppenprojekt angemeldet hatte. Während er selbst noch für den Studiengang Film eingeschrieben war, studierten die anderen Musik. Ziel des Projektes war, Lieder eines bestimmten Komponisten neu zu arrangieren. Der Dozent stellte ihnen die Aufgabe, sich intensiv mit einem Komponisten ihrer Wahl zu beschäftigen. Sie sollten sich in seine Persönlichkeit, seine Biografie und sein Werk hineindenken. Anfangs war er nur nach Jamaika mitgefahren, weil die anderen es vorgeschlagen hatten, aber dann wurden die Songtexte von Bob Marley für Lebas eine Erleuchtung. Er ließ sich Dreadlocks wachsen. Und während er eines Abends den Redemption Song sang und sich dazu auf der Gitarre begleitete, kam ihn eine Inspiration: Er wollte Musiker werden! Als das neue Semester begann, fand Lebas sich in der Musikklasse an einem Schlagzeug wieder. Bühne, Kostüme und dicke Textbücher, die es auswendig zu lernen galt, hatte er hinter sich gelassen.
Acht Monate lang war Lebas ein Fan von Bob Marley. Läuse, die es sich in seinen Dreadlocks gemütlich gemacht hatten, beendeten die Sache: Er kratzte sich am Kopf und fand zwei Läuse unter seinen Fingernägeln. Eine Laus entkam, die andere zerquetschte er mit dem Daumennagel, Blut spritzte. Lebas stieß einen Schrei aus und schüttelte sich vor Ekel. Läuse saugten Blut aus seinem Kopf! Kein Wunder, dass er sich in letzter Zeit so dumm fühlte – oder lag das doch eher an seinem exzessiven Marihuanakonsum? Jedenfalls beschloss Lebas, seinen Kopf kahl zu rasieren. Nun hatte er eine Glatze, und voller Wut warf er alles, was ihn an Bob Marley erinnerte, in den Müll. Glücklicherweise hatten seine Haare wieder eine normale Länge, als Karim ihn besuchte. Das Einzige, was an seine Zeit als Bob-Marley-Fan erinnerte, war ein Poster, das den Musiker in seiner klassischen Pose zeigte: einen Joint rauchend.
Karim, der geschäftlich in Amerika zu tun hatte, staunte nicht schlecht, als er in dem kleinen Apartment seines Bruders eine umfangreiche Sammlung von Musikinstrumenten entdeckte. Lebas hatte sie für wenig Geld auf Flohmärkten zusammengekauft. Es blieb ihm nichts anderes übrig als zuzugeben, dass er den Studiengang gewechselt hatte. Karim wusste nicht, was er tun sollte, als Lebas ihn inständig bat, zu Hause nichts davon zu erzählen. Doch dann erzählte er es Tegar, der berichtete es Mutter, und die sagte es Vater. Dies war die Reihenfolge, und am Ende rief Vater Lebas an und sprach zu ihm mit seiner vom Schlaganfall holprigen Stimme.
»Ich bin nicht wütend. Aber wenn du noch einmal das Studienfach wechselst, dann streiche ich dir den Unterhalt und das Geld für die Studiengebühren!«
So kam es, dass Lebas schleunigst sein Studium zum Abschluss bringen musste, obwohl ihn die Musik mittlerweile langweilte, und er doch wieder davon träumte, Regisseur zu werden. Zu dieser Zeit trat Danish in sein Leben. Sie hatte haselnussbraunes Haar und ebensolche Augen, und sie machte ihn mit der Welt der Werbung bekannt, in der ein jedes Produkt und eine jede Dienstleistung wie durch Zauberhand für den Konsumenten unentbehrlich wird. Lebas’ Tage waren erfüllt davon, Danish überallhin zu begleiten, er ging immer seltener zur Uni. Sogar wenn sie Unterricht hatte, wartete er in der Nähe. Und dann brach ihm Danish das Herz. Sie teilte ihm mit, Lebas sei ihr zu besitzergreifend und denke zu wenig an die Zukunft. Er versuchte, sie zu halten, indem er ihr erzählte, er sei der reiche Erbe einer indonesischen Zigarettendynastie und sie brauche sich deshalb um die Zukunft keine Sorgen zu machen. Doch dann eröffnete Danish ihm, dass sie jetzt mit einem verheirateten Dozenten zusammen sei. Wütend schloss Lebas sich in seinem Apartment ein und drehte die Musik auf volle Lautstärke. Er spielte das Album einer Punkband, deren Leadsänger Tierlaute von sich gab. Danach nahm Lebas sein Studium wieder auf und brachte es mit einiger Verzögerung tatsächlich zu Ende. Ja, er schaffte es sogar, im Filmgeschäft Fuß zu fassen, auch wenn es sich um den Unterhaltungsbereich handelte und er von seinem ersten eigenen Film träumte.
Als Einziger der fünf Studenten, die seinerzeit zusammen in Jamaika waren, hatte Erik Bob Marley die Treue gehalten. Seine ganze Aufmachung war Bob Marley, die ganze Nacht über lief Bob Marley, er schrieb Songs wie Bob Marley, und sogar Eriks Gesicht glich sich ganz allmählich dem Aussehen von Bob Marley an.
»Was führt dich hierher, man?«, fragte Erik in der typischen Jamaika-Intonation, die er ebenfalls angenommen hatte. Alle seine Freunde sprach er mit man an, wobei er das Wort mit einem lang gezogenen A aussprach. Lebas berichtete von seinem Filmprojekt und bat Erik, ihn zu unterstützen. Er fügte hinzu, dass er leider nicht viel Geld zur Verfügung habe und deshalb darauf setze, dass Erik in dieser Hinsicht keine großen Ansprüche stelle. Vielleicht könne Erik ihm sogar ganz ohne Bezahlung helfen. Erik lachte.
»Man, hältst du mich für bescheuert? Warum solltest du denn kein Geld haben?«
»Nein, wirklich! Mein Bruder will mich nicht unterstützen«, beteuerte Lebas mit enttäuschter Miene.
Erik lachte wieder und fasste Lebas an die Schulter. »Kein Problem. Ich mache die Musik für deinen Film. It’s for our brotherhood, rite man?«
Lebas lächelte erleichtert. Auf Erik war Verlass.
Später am Abend wurde das Rasta-Haus zu einer klebrigen Fliegenfalle. Erik hatte herumtelefoniert und überall erzählt, dass Lebas zu Besuch sei und stangenweise Djagad Raja mitgebracht habe. Das war der Lockstoff. Erik spielte mit ein paar Freunden, die ebenfalls Ähnlichkeit mit Bob Marley hatten, eine akustische Version von No women, no cry.
Good friends we have, oh, good friends we’ve lost, along the way. In this great future, you can’t forget your past.
So dry your tears, I say …
Meine Güte, dachte Lebas, mittlerweile klingt sogar seine Stimme wie die von Bob Marley.
Der Inhalt einer Djagad-Raja-